Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Artikel 2 | APuZ 10/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 10/1957 Vom Wesen menschlicher Freiheit. Erziehung zu Freiheit und Mitverantwortung am Humanistischen Gymnasium Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6

Artikel 2

lektüre und auch im Geschichts-und Sozialkundeunterricht ist es methodisch wichtig, daß wir uns von allem Historismus freihalten. Nicht die traditionellen Fragen nach den geschichtlichen Voraussetzungen. Abhängigkeiten und Entwicklungen, wobei der Entwicklungsgedanke meist im naturwissenschaftlichen Sinne eines linear-kontinuierlichen Fortschritts bedenkenlos übernommen wird, auch nicht die Einzeldaten und die aktuellen Anspielungen dürfen im Vordergrund des Interesses stehen, sondern die sozialen, politischen und geistigen Probleme. Diese gilt es in ihrem überzeitlichen Wahrheitsgehalt zu erfassen und für die Gegenwart zu aktualisieren.

Wir wollen dabei die Schwierigkeiten nicht verkennen, die dem Versuch einer Aktualisierung entgegenstehen. Die Demokratie eines antiken Stadtstaates weicht sowohl in ihrer äußeren wie in ihrer inneren Organisation erheblich von der modernen ab. Die perikleische Demokratie beruht darüber hinaus auf ganz besonderen historischen Voraussetzungen, auf einer einzigartigen politischen Konstellation, in der es einem geistig überragenden adligen Staatsmann gelungen ist, mit Hilfe des Diätenprinzips nahezu die gesamte attische Bürgerschaft über einen längeren Zeitabschnitt hinweg zur aktiven Teilnahme an den gemeinsamen politischen Aufgaben zu gewinnen und seine politischen Absichten demokratisch durchzuführen. Der Erfolg seiner Politik beruhte nicht zuletzt darauf, daß die attische Polis ein relativ kleines Territorium mit einer geringen Bevölkerungszahl umfaßte und daß die Finanzierung durch Athens Führung im attischen Seebund sichergestellt war.

Durch die Tagegelder wurden auch die unbemittelten Schichten in die Lage versetzt, als gleichberechtigte und gleichverantwortliche Bürger politisch mitzuarbeiten. Es leuchtet ein, daß ein solcher Staat in einer späteren Zeit weder wiederholt noch nachgeahmt werden kann. Gleichwohl aber können seine gedanklichen Grundlagen für unsere Gegenwart durchaus von Bedeutung sein und uns wertvolle Anregungen für den Neubau unserer demokratischen Ordnung vermitteln.

So sind die tragenden Ideen von Perikies’ Staatsbau: die Volkssouveränität, die demokratische Gleichheit im Sinne der Aufhebung aller Vorrechte durch Geburt und Vermögen und die Gleichheit der Bürger vor dein Gesetz auch für uns heute noch vorbildlich und durchaus zu realisieren. Ja, die Demokratie des 20. Jahrhunderts ist in der Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit noch über Perikies hinausgegangen, bei dem bekanntlich die Frauen und Sklaven noch keine politischen Rechte besaßen. Schwieriger ist es, den Gedanken der proportionalen Gleichheit in der veränderten sozialen und politischen Struktur unseres Zeitalters sinnvoll zu erneuern. Die Zuerkennung des politischen Einflusses im Staate je nach Bildung, Charakter und Leistungsfähigkeit war noch am ehesten in der klassisch-liberalen Demokratie des 19. Jahrhunderts zu verwirklichen. Der aristokratische Grundcharakter der attischen Demokratie bis 400 v. Chr. hat eine vergleichbare Entsprechung in der politisch geistigen Elite, die im vorigen Jahrhundert die parlamentarischen Körperschaften gebildet hat, zumal zu ihr auch die fähigsten Köpfe des Adels Zutritt hatten. Aber Perikies brauchte nicht unter den Bürgern so drastische Wahlrechtsbeschränkungen vorzunehmen, wie dies im 19. Jahrhundert geschehen ist. Im attischen Staatswesen lag die politische Initiative bis zu Perikies’ Tod weitgehend bei den führenden Persönlichkeiten des Adels, die sich auf die freiwillige Gefolgschaft der Bürger stützen konnten, ohne sie in ihren politischen Rechten zu schmälern.

In der Demokratie des 20. Jahrhunderts dagegen liegt das politische Schwergewicht bei den Parteien. Sie allein sind in der modernen Massengesellschaft in der Lage, die Millionen Wähler zu einer einheitlichen politischen Willensbildung zusammenzufassen und dem Volke Einfluß auf das politische Geschehen im Staate zu verschaffen. Mit Recht weist Gerhard L e i b h o 1 z in seiner ausgezeichneten Studie „Der Strukturwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert“ 13) darauf hin, daß in der modernen Form der Demokratie die Parteien das Volk repräsentieren und daß es kein Zurück mehr gibt zum liberal-demokratischen, repräsentativen Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts. Für den gegenwärtigen demokratischen Parteienstaat mit seiner ausgesprochenen Tendenz, das Prinzip der Gleichheit auf Kosten der Freiheit, 13 die arithmetische Gleichheit gegenüber der proportionalen auf allen Gebieten des politischen und sozialen Lebens durchzusetzen, ist der perikleische Gedanke der bürgerlichen Freiheit besonders wichtig Wir dürfen das Vermächtnis von Perikies’ Staatsentwurf vor allem in dem Gedanken sehen, daß die politische Freiheit nur durch aktive Teilnahme möglichst des ganzen Volkes erreicht und bewahrt werden kann. Keine Freiheit ohne politische Aktivität! Im antiken Stadtstaat bedeutete Bürger sein: „Mitentsd^eiden in der Politik und vor Gericht sowie Teilhaben an der Staatsregierung“ (Aristoteles, Pol. 1275 a 22 f.). Damit sich der moderne Parteienstaat nicht zum totalitären Einparteienstaat entwickelt, ist es notwendig, die politischen Parteien mit demokratischem Geiste zu durchdringen. Die politische Aktivität des perikleischen Stadtstaates müßte auf die politische Arbeit innerhalb der Parteien übertragen werden. Die sogenannte Parteilinie darf nur auf Grund der Willensbekundung der unteren Parteigremien, d. h. auf demokratische Weise, zustande kommen. Die unteren Parteiorganisationen müssen die verschiedenen Wünsche der ihnen nahestehenden Bürgerschaft wie durch einen Kanal den Führungsgremien zuleiten. Nur durch echte politische Aktivität der Mitglieder kann verhindert werden, daß die Partei-bürokratie und -hierarchie ihren Willen der Wählerschaft von oben her aufzwingt. Hier liegt die große Chance, aber auch die Gefahr des modernen Parteienstaates. Deshalb sollten gerade die Besten und Fähigsten des Volkes in die Parteien gehen. In der heutigen Demokratie ist Aktivbürgerschaft auch noch auf andere Weise möglich, ohne daß sie parteipolitisch gebunden zu sein braucht, und zwar in Gemeindevertretungen, kommunalpolitischen Deputationen und Ausschüssen, nicht zuletzt in Sozialorganisationen (Gewerkschaften usw.). Da viele Bürger zu rein ehrenamtlicher Mitarbeit nicht in der Lage sind, empfiehlt sich das Diätensystem (d. h.der Ausgleich des Lohnausfalls durch Sitzungsgelder) als wirksames Mittel, die politische Aktivität zu steigern.

Das geringste Maß demokratischer Bürgerschaft ist die Beteiligung an den Wahlen. Aber das ist zu wenig, und wenn alle Staatsbürger sich hierauf beschränkten, wäre bald das Ende der Freiheit da. Politische Freiheit im perikleischen Sinne können wir nur so verwirklichen, daß wir uns politisch mitverantwortlich fühlen. Jeder einzelne muß sich bewußt sein, daß die Politik seines Staates ihn ganz persönlich angeht; er muß bestrebt sein, die gemeinsamen Dinge gemeinsam mit anderen gleichberechtigten Bürgern zu tun, und er muß gegebenenfalls auch den Mut aufbringen, öffentlich Kritik an Parlament und Verwaltung zu üben, vor allem dann, wenn sie ihre Machtbefugnisse mißbrauchen.

Daß das Aktivbürgertum des perikleischen Staates auch bei uns Nachahmung findet, ist geradezu eine Existenzfrage unserer jungen traditionsschwachen Demokratie, in der der Geist der politischen Abstinenz besonders die gebildeten Schichten beherrscht 14). Leider ist auch der Neuhumanismus an dem Durchbruch des heute nahezu unüberwindbaren Dualismus von Geist und Politik beteiligt durch die Jugend-schrift Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, die er 1792 unter dem Eindruck der Französischen Revolution und seiner persönlichen Erlebnisse als Bürger eines Polizeistaates geschrieben hat. Diese, 1851 von E. Cauer herausgegebene, Schrift hat dem modernen Liberalismus, der den Staat als notwendiges Übel, als bloßes Mittel für die Lebens-zwecke der Bürger betrachtet und die Flucht in die Innerlichkeit propagiert, erheblichen Vorschub geleistet. Ich erinnere nur an den Einfluß, den Wilhelm von Humboldt durch sie auf John Stuart Mills Schrift „On liberty" (1859) ausgeübt hat 15). Der Neuhumanismus hat leider nie eine so politische und gesellschaftliche Bedeutung gewonnen wie etwa der Humanismus in Frankreich und England. An dem Erbe dieses modernen Liberalismus leiden wir heute noch; und gerade der Humanismus der Gegenwart ist verpflichtet, die verhängnisvolle Wirkung

Fussnoten

Weitere Inhalte