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Kinderpolitik(wissenschaft) – eine Einführung | Kinder und Politik | bpb.de

Kinder und Politik Editorial "Ich finde, man sollte eine Lösung für alle finden, nicht nur für die Mehrheit". Ein Gespräch Globale Kinderpolitik "Angemessen" oder "vorrangig"? Zur Diskussion um "Kinderrechte ins Grundgesetz" aus kinderrechtlicher Perspektive Demokratie mit Kindern in der Kita Kinderpolitik(wissenschaft) – eine Einführung Wie geht es den Kindern in Zeiten von Corona? Leitbilder "guter Kindheit" "Ein bisschen Licht in diese Dunkelheit". Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder in Erziehungsverhältnissen

Kinderpolitik(wissenschaft) – eine Einführung

Michael Klundt

/ 16 Minuten zu lesen

Kinderpolitik ist ein breites Feld, das in viele andere Politikfelder ausstrahlt. Was ist unter "Kinder- und Jugendpolitik" zu verstehen? Welche Akteure sind aktiv? Wie stellen sich Kinderrechtepolitik und Kindersozialpolitik, insbesondere in Zeiten der Pandemie, dar?

Dort, wo sich Politik mit den Lebenslagen und den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen beschäftigt sowie gesellschaftliche Bilder von Kindheit(en) und reale Kindheiten beeinflusst, müssen sich Kindheitswissenschaften und speziell Kinder-Politikwissenschaft damit befassen. Dort, wo sich Kinder, Jugendliche, Kinderrechtsorganisationen und Jugendverbände mit politischen Themen, Ursachen und Folgen für ihr Leben auseinandersetzen, sollten wissenschaftliche Kinderpolitik und Kindheitswissenschaften ebenfalls analytisch und kritisch ihren Fokus setzen. Darum bemüht sich auch dieser Beitrag, wenngleich er nur einen geringen Ausschnitt des breiten Feldes kinderpolitischer Themen beleuchtet. Denn in der Tat ließe sich ganz schön lange darüber grübeln, welches Politikfeld eigentlich nichts mit Kinderpolitik zu tun hat. Die fängt bei Familien- und Bildungspolitik an, geht über Soziales und Gesundheit und hört auch bei Fragen nach Rente und Rüstung sowie Finanzen und Klima nicht auf. In diesem Beitrag wird zunächst erörtert, was unter Kinderpolitik verstanden wird und welche Akteure auf diesem Feld aktiv sind. Anschließend wird Kinderpolitik als Kinderrechtepolitik und als Kindersozialpolitik in den Blick genommen, insbesondere unter Pandemiebedingungen.

Kinderpolitik: für Kinder, mit Kindern oder vor allem durch Kinder?

Orientiert man sich an der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) von 1989, sind laut Artikel 1 unter Kindern alle Menschen unter 18 Jahren zu verstehen. Damit ist die Kinderrechtskonvention auch eine Jugendrechtskonvention. Kinderpolitik umfasst somit auch das, was im Alltagsverständnis als Kinder- und Jugendpolitik verstanden wird. Wenn also im Folgenden von Kinderpolitik gesprochen wird, sollen Jugendliche mit gemeint sein, und ist die Rede von Jugendpolitik, so seien (zumindest ältere) Kinder ebenfalls inbegriffen.

Wie der Politikbegriff und die jeweilige Definition je nach wissenschaftlicher Prämisse und Perspektive umstritten sind, so stellt sich eine ähnliche Bandbreite an Verständnissen zur Kinderpolitik in der Forschung dar. Ausschlaggebend für die jeweilige Bestimmung sind beispielsweise verschiedene Annahmen über die rechtlichen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Kinderpolitik. Ferner ist entscheidend, welche Ziele Kinderpolitik zugeschrieben werden und welche Folgen politische Entscheidungen auf diesem Feld haben. Schließlich stellt sich die Frage nach den Akteurinnen und Akteuren. Soll Kinderpolitik (ausschließlich von Erwachsenen) für Kinder gemacht werden oder vor allem mit ihnen? Oder versteht man Kinderpolitik gar als etwas, das maßgeblich von Kindern und selbst organisierten Kinder- und Jugendverbänden gestaltet wird?

Nach den Soziologen Kurt Lüscher und Manfred Liebel lässt sich Kinderpolitik grob in zwei Formen unterscheiden: in eine Kinder(schutz)politik, in der besonders Erwachsene die bestimmenden Subjekte sind und Kinder vornehmlich zu schützende Objekte, und in eine Kinder(befreiungs)politik, die die Emanzipation von aktiv-tätigen Kindern als Subjekte vorsieht, die bei Bedarf mit Erwachsenen kooperieren. Für die Pädagogen Heinz Sünker und Thomas Swiderek wiederum sind Diskussionen über "Konzeptualisierungsansätze einer Kinderpolitik, die sich zwischen den Polen ‚Politik für Kinder‘ und ‚Politik mit Kindern‘ bewegen, daraufhin zu befragen (…), ob sie als zivilisatorischer Fortschritt, also als Fortschritt im Interesse der Kinder, damit auch demokratische Kompetenzen entwickelnd – womöglich begünstigt durch ‚unkonventionelle politische Lernprozesse‘ –, zu verstehen sind". Wie Liebel zeigt, sind "die Interessen der Kinder" jedoch gar nicht so leicht zu definieren. Deren Bestimmung durch Erwachsene und Kinder schwanke immer wieder "zwischen Paternalismus und Partizipation".

Im 14. Kinder- und Jugendbericht von 2013 wird Kinder- und Jugendpolitik als "Lebenslagenpolitik für alle jungen Menschen und als Querschnittsaufgabe, zu der alle Politikfelder ihren Beitrag zu leisten haben" beschrieben. Und der UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder in Genf fordert in seinen Abschließenden Bemerkungen zum Staatenbericht Deutschlands 2014 von der Bundesrepublik eine "umfassende und kohärente Kinderrechtepolitik". Im 14. Kinder- und Jugendbericht wird zudem zu bedenken gegeben, dass bei allen Debatten um eine eigenständige Jugendpolitik nicht der Fehler gemacht werden sollte, Jugendpolitik aus dem generationalen Gesamtkontext herauszulösen. Schließlich sei sie "auch Teil einer Kinder- und Jugendpolitik insgesamt (…) und damit als eine auf die gesamte junge Generation – von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter – bezogene Gesellschaftspolitik zu verstehen". Somit sei Jugendpolitik "einzubetten in eine Gesamtpolitik für junge Menschen bei Berücksichtigung der Spezifika der einzelnen Altersgruppen".

Dabei lassen sich unterschiedliche Typen von Jugendpolitik auch in Bezug auf Funktionen und Grenzen sowie Akteure und Verfahren untersuchen. Der Sozialpädagoge Richard Münchmeier unterscheidet etwa Jugendpolitik als Ressortpolitik, Querschnittspolitik, Zukunftspolitik sowie Beteiligungs- und Befähigungspolitik. Ähnlich hat bereits das Bundesjugendkuratorium (BJK) in seiner Stellungnahme 2009 zur "Neupositionierung der Jugendpolitik" vier bislang vorherrschende Formen von Jugendpolitik festgestellt: erstens Jugendpolitik als Ressortpolitik, die sich im Kontext rechtlicher und institutioneller Handlungsmöglichkeiten bewege, über Mittel aus Haushaltsplänen verfüge und damit gestaltende Qualität erlangen könne; zweitens Jugendpolitik als Querschnittspolitik, die zu erweiterten Zuständigkeiten führe und hierdurch zugleich die Gefahr ihrer Auflösung in sich berge; drittens Jugendpolitik als Interessenpolitik, deren Bewegungsspielraum sich zwischen anwaltschaftlicher Interessenwahrnehmung durch (erwachsene) Akteure und eigenem Engagement jugendlicher Subjekte politischen Handelns bewege, und schließlich, viertens, Jugendpolitik als Rhetorik und Diskurspolitik, die einseitige Jugendbilder und -rhetoriken vertreten oder bezüglich zentraler Interessen und Problemlagen der Jugendgeneration kritisch reflektieren könne.

Angelehnt an das BJK-Konzept zur Jugendpolitik ließe sich Kinder- und Jugendpolitik folgendermaßen einteilen: erstens Jugendpolitik als Schutz- und Unterstützungspolitik, die im Bereich Jugendschutz und Jugendhilfe auf die Förderung und Begleitung des Erwachsenwerdens auf Basis eines differenzierten Konzepts sozialer Ungleichheit ziele; zweitens Jugendpolitik als Befähigungspolitik im Bereich Förderung, Bildung, Qualifikation, die sich für Bildung als Bürgerrecht einsetze und zur reflexiven und selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit der Gesellschaft befähige. Die Jugendpolitik als Schutz- und Unterstützungspolitik und als Befähigungspolitik charakterisiert das BJK als sogenannte klassische Form von Jugendhilfepolitik, wobei der Entwicklungsgedanke und der Zukunftsbezug vorherrschten. Drittens nennt das BJK Jugendpolitik als Teilhabepolitik, die sich gegenwartsbezogen auf die Verbesserung der Teilhabe junger Menschen an den gesellschaftlichen Chancen und auf die Stärkung der Partizipation etwa im Bereich politische Rechte ziele; viertens wird die Jugendpolitik als Generationenpolitik verstanden, die die Frage einer intergenerational gerechten Ressourcenverteilung in den Mittelpunkt rücke. Die Jugendpolitik als Teilhabepolitik und als Generationenpolitik wird vom BJK als moderne Form von Jugend(hilfe)politik bezeichnet. Alle vier Politiken zusammen machen für das BJK eine kohärente Form von Jugendpolitik aus, die vom Generationengedanken und vom Gegenwartsbezug geprägt sei.

Soll Kinderpolitik näher bestimmt werden, so kann man sich auch an der üblichen Dreiteilung des Politikbegriffes orientieren. Dabei lassen sich die institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Polity, die inhaltliche Dimension, Ziel-, Aufgaben- und Gegenstandsbestimmung der Policy und die prozessuale Betrachtung von politischer Willensbildung und Interessensvermittlung in Konsens und Konflikt der Politics voneinander unterscheiden. Solcherart ließen sich nunmehr die Dimensionen der Kinderpolitik erörtern: rechtliche Rahmenbedingungen (Polity), inhaltliche Politikfelder (Policy) wie etwa Bildungspolitik oder Armutspolitik sowie konfliktive/konsensuale Interessens- und Willensbildungsprozesse (Politics) anhand der Kämpfe um Kinderöffentlichkeit oder um Kinderrechte im Grundgesetz.

Ressortmäßig ist Politik für Kinder in erster Linie beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgehängt. Im Deutschen Bundestag gibt es einen Unterausschuss des Familienausschusses, die Kinderkommission (KiKo). Neben den halb-staatlichen Akteuren wie dem BJK und der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) gibt es im Feld der Kinderpolitik in den vergangenen Jahren immer sichtbarere nicht-staatliche Institutionen, die in die institutionalisierte (Kinder-)Politik hineinwirken. Zu ihnen gehören – im Rahmen eines Mehrebenenmodells – zum Beispiel auf globaler Ebene der UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder und (sowohl national als auch international) das Kinderhilfswerk UNICEF. Auf EU-Ebene wäre etwa die NGO Eurochild zu nennen, die kinderrechtsspezifische Maßnahmen kritisch begleitet. Auf Bundes-, Landes- und Kreisebene gibt es unzählige Familien-, Jugend- und Kinderrechtsorganisationen sowie Sozialverbände, die sich für Kinder einsetzen, vertreten etwa im Netzwerk Kinderrechte, der über 100 Organisationen vereinigenden National Coalition zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Dazu gehören unter anderem der Deutsche Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk, die Deutsche Liga für das Kind, der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Arbeiterwohlfahrt, die Diakonie, die Caritas, der Verein Kinderfreundliche Kommunen, die Kindernothilfe, Save the Children e.V. oder Terre des Hommes.

Kinderpolitik als Kinderrechtepolitik

In den vergangenen zwei Jahren ließ sich der Eindruck nicht vermeiden, dass in der deutschen Corona-Politik seit März 2020 besonders hart gegenüber Kindern und Jugendlichen, Familien und Bildungseinrichtungen vorgegangen wurde. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, fand bereits im August 2020 deutliche Worte: "In der Coronakrise war schon früh zu beobachten, dass die ersten Fitness- und Nagelstudios aufmachten, ehe sich in den Schulen und Kitas etwas tat. Die Rechte von Kindern auf Bildung, auf Spielen, auf Freundschaft, auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und auf Schutz – weil soziale Kontrolle ein wichtiger Schutz für Kinder ist – alle diese Rechte werden bis heute sehr viel mehr eingeschränkt als zum Beispiel das Recht auf Gewerbefreiheit. Oder sogar das Recht auf Feiern". Daraus schließt Hilgers: "Unsere Gesellschaft hat die Kinderrechte nach wie vor nicht anerkannt, übrigens auch deren Beteiligungsrecht. Umfragen unter Kindern und Jugendlichen zeigen: Sie haben den Eindruck, dass sie überhaupt nicht gefragt werden. Ihre Rechte werden nicht ernst genommen. Und ich sage das deutlich: Das gilt leider auch für die Rechte vieler Mütter, die in der Krise benachteiligt wurden und ihren Beruf nur noch teilweise ausüben konnten. Da hat ein gesellschaftlicher Rückschritt stattgefunden, sowohl was die Rechte der Kinder als auch die Rechte der Frauen angeht."

Entsprechend rügte die Kommissarin für Menschenrechte des Europarats, Dunja Mijatović, am 13. Juli 2021 in einem Brief an die damalige deutsche Justiz- und Familienministerin Christine Lambrecht die Bundesrepublik Deutschland bei der Umsetzung der Kinderrechte im Vergleich zu den anderen 46 Europarats-Mitgliedsstaaten nicht nur in Bezug auf die gescheiterte Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz, sondern auch wegen der besonderen Schärfe der Corona-Maßnahmen gegenüber Kindern und Bildungseinrichtungen seit März 2020. In ihrer Antwort vom 24. August 2021 auf den Brief der Europarats-Kommissarin musste die Ministerin diesen Vorwurf einräumen: "Soweit Sie anmerken, Deutschland habe im europäischen Vergleich einen besonders strikten Kurs eingeschlagen, was Schulschließungen angeht, gebe ich Ihnen zunächst Recht: Deutschland ist zu Beginn der Pandemie angesichts der noch unerforschten Krankheit und der dünnen, zum Teil noch gar nicht vorhandenen Datenlage hinsichtlich der Auswirkungen des Virus auf Kinder sowie deren Rolle im Infektionsgeschehen in der Tat mit besonderer Vorsicht vorgegangen."

Auch der Report der interministeriellen Arbeitsgruppe "Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona" des Bundesgesundheitsministeriums und des Bundesfamilienministeriums vom 15. September 2021 gesteht eine zumindest bislang nicht ausreichende Berücksichtigung des Kindeswohls und der Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung mehr als indirekt ein: "Zu beachten ist, dass Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie erlassen werden, nicht nur mit den Grundrechten, sondern auch mit der VN-Kinderrechtskonvention (VN-KRK) in Einklang stehen müssen, zu der u.a. das Recht auf Bildung (Art. 28 VN-KRK), das Recht auf Freizeit (Art. 31 VN-KRK) und das Recht auf Gesundheit (Art. 24 VN-KRK) zählen. Diese Vorgaben sind ebenfalls zu berücksichtigen." Wenn solche völkerrechtlichen und rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten von einem interministeriellen Bericht für das Bundeskabinett explizit eingefordert werden, ist das bezeichnend für deren bisherige Berücksichtigung. Dass dabei der Kindeswohlvorrang (nach Art. 3 UN-KRK) und die Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung noch nicht einmal (ausreichend) Erwähnung finden, kann ebenfalls als Ausdruck für deren bisherige Relevanz im Regierungshandeln betrachtet werden.

"Hat Deutschland ein Problem mit Kindern?", fragte Ende 2021 auch die "Süddeutsche Zeitung" und konstatierte: "Verlass ist in der deutschen Pandemiepolitik bisher fast immer darauf gewesen, dass die Kinder in der Debatte um Maßnahmen zunächst mal vergessen wurden". Kindern wurden dabei durchaus in der Öffentlichkeit Rollen zugewiesen, zuerst jene als "potenzielle Virenüberträger und folglich Gefährder der öffentlichen Erwachsenengesundheit", in der Folge als Betreuungsobjekte oder Leistungserbringer. Ein Blick in andere Länder zeigt dabei, dass eine andere Prioritätensetzung in der Pandemie, um Kinderrechte zu wahren, durchaus möglich ist, etwa beim Offenhalten von Schulen und Kitas wie in Frankreich oder Dänemark.

Kinder- und Jugendrechte sind keine Schönwetter-Angelegenheit für pandemiefreie Zeiten, sondern in der UN-KRK verankertes Völkerrecht sowie seit 1992 geltendes Bundesgesetz, seit 2010 explizit vorbehaltlos. Darin verpflichtet sich die Bundesrepublik etwa, dass bei "allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das Wohl des Kindes (…) vorrangig zu berücksichtigen ist" (Art. 3 UN-KRK). Was sich auf dem Papier gut liest, ist in der Praxis in den vergangenen Jahren weitgehend versäumt worden. Sinnbildlich für die Umsetzungsschwäche ist der letztlich gescheiterte Regierungsentwurf zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz vom 19. Januar 2021. Entgegen der expliziten Formulierung in der Kinderrechtskonvention, dass das Kindeswohl "vorrangig" zu berücksichtigen ist, sollte hier nur eine "angemessene" Berücksichtigung festgeschrieben werden. Auch die Verengung der Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen auf "rechtliches Gehör" fällt hinter die Regelungen aus der UN-KRK zurück. Insofern ist der Anfang Juni 2021 von Lamprecht als gescheitert bezeichnete Gesetzentwurf zu Kinderrechten im Grundgesetz (Art. 6) tatsächlich kein großer Schaden. Dass man es besser hätte machen können, zeigen die Kinderrechtsformulierungen in 15 Landesverfassungen (zuletzt – mit Volksabstimmung – in Hessen und in Bremen) oder der entsprechende Artikel der EU-Grundrechtecharta (Art. 24). Womöglich lässt sich der Entwurf aber auch als Ausdruck der Umsetzungsprobleme bei den Kinderrechten in der Corona-Krise einordnen.

Kinderpolitik als Kindersozialpolitik

Wie reagierte die Politik auf die wahrgenommenen Defizite ihrer Corona-Politik? Der bereits genannte Report der interministeriellen Arbeitsgruppe von September 2021 fasste den Forschungsstand zu den psychosozialen Folgen von (Regierungsmaßnahmen gegen) Corona klar zusammen: "Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen während der Phase des Lockdowns auf erhebliche psychische, aber auch auf körperliche Belastungen bei Kindern und Jugendlichen, teilweise auch auf Entwicklungsverzögerungen bei Kindern, verursacht durch die bisherigen pandemiebedingten Einschränkungen, hin. Insbesondere für vulnerable Gruppen von Kindern und Jugendlichen ist ein verlässlicher Bildungs- und Betreuungsbetrieb die zentrale Maßnahme, um bestehende Belastungen nicht weiter zu erhöhen, sondern bewältigen zu können." Auch gesteht der Bericht zur "Nutzung bereits entwickelter Regeln und Hygienekonzepte zum vereinsbasierten Sporttreiben und zur außerschulischen Jugendbildung" einigen Verbesserungsbedarf ein: "Die zentrale Bedeutung sportlicher Aktivität für die physische und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen muss im Falle der Erwägung neuerlicher Einschränkungen organisierter Sportangebote stärkere Berücksichtigung finden als bisher."

Der Bericht lässt durchblicken, dass er zwischen Pandemiefolgen und Auswirkungen von Maßnahmen zu unterscheiden weiß, wenn es heißt: "Die Beschränkungen haben zu erheblichen psychischen, aber auch zu körperlichen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen und teilweise auch zu Entwicklungsverzögerungen geführt. Welche langfristigen Folgen das reduzierte Bildungs- und Betreuungsangebot auf Kinder und Jugendliche haben wird, ist noch nicht abschätzbar." Nur sehr rudimentäre Hinweise finden sich auf durch Corona(-Maßnahmen) verstärkte Kinderarmut, das Feld der Kinder- und Jugendpartizipation wird praktisch gar nicht beachtet. Bei der Vorstellung erklärte die Bundesfamilienministerin Lambrecht jedoch: "Mit unserem Aufholprogramm geben wir Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, die Pandemie hinter sich zu lassen: mit Bildungs- und Freizeitangeboten, die jetzt helfen, Einsamkeit, Bewegungsmangel und Lernrückstände zu überwinden."

Dieser Anspruch erscheint angesichts des geringen finanziellen Umfangs im Verhältnis zu dringend notwendigen Mitteln fragwürdig. Noch ohne einen Cent für dringend notwendige Schulsozialarbeit, Jugendhilfe und eine armutsfeste Kindergrundsicherung bilanziert zu haben, weist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft schon auf einen Sanierungsstau an Schulen in Höhe von 44,2 Milliarden Euro und 9,7 Milliarden Euro an Kitas hin, der endlich aufgelöst werden müsse. Angesichts dieser dringend notwendigen Mittel allein im Bildungsbereich ist das Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" in Höhe von insgesamt zwei Milliarden Euro nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Dies betrifft insbesondere auch den Kampf gegen Kinderarmut. Mitte 2020 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung Zahlen, nach denen jedes fünfte Kind, das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, in Armut aufwachse. Etwa 1,87 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben im System der Grundsicherung (Sozialgesetzbuch II, "Hartz IV"). Die Kinder- und Jugendarmut verharre seit Jahren auf hohem Niveau und sei trotz langer guter wirtschaftlicher Entwicklung kaum zurückgegangen, Kinderarmut somit seit Jahren ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. Davon ausgegangen wird, dass "die Corona-Krise (…) die Situation für arme Kinder und ihre Familien weiter verschärfen" werde und "mit einem deutlichen Anstieg der Armutszahlen zu rechnen" sei. Im Februar 2022 hat ein Bündnis von 17 Kinderhilfsorganisationen und Sozialverbänden ein Eckpunktepapier vorgelegt, in dem die Unterzeichnenden fordern, zur Umsetzung des in der EU-Kindergarantie beschlossenen Nationalen Aktionsplans in Deutschland den Kampf gegen Kinderarmut nachhaltig, partizipativ und multidimensional anzugehen. Als wichtiger Baustein in der Gesamtstrategie wird dabei die Kindergrundsicherung genannt.

Das Problem am bisherigen System der Ehe- und Familienleistungen (Kindergeld/Kinderfreibeträge, Ehegattensplitting und weitere) ist unter anderem, dass die reichsten Haushalte gegenüber den ärmsten Haushalten bevorzugt werden, wie eine Kurzexpertise im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung bereits 2016 ergab: "Während 13 Prozent der Ausgaben an die reichsten 10 Prozent der Haushalte gehen, erhalten die ärmsten 10 Prozent lediglich 7 Prozent der Ausgaben." Zudem sind im System der Grundsicherung immer noch keine bedarfsgerechten Regelleistungen für Kinder vorgesehen, und der Kinderzuschlag wie auch das Bildungs- und Teilhabepaket erreichen seit Jahren regelmäßig nicht einmal die Hälfte der berechtigten Kinder. Diesen und weiteren dringenden Reformbedarf versuchen Konzepte einer Kindergrundsicherung gebündelt und verknüpft mit Infrastrukturleistungen zu bearbeiten, um Kinderarmut wirksam zu vermeiden und zu vermindern. Das Bündnis Kindergrundsicherung beispielweise spricht sich für eine Kindergrundsicherung in Höhe von 695 Euro aus; eine Summe, die sich aus dem verfassungsrechtlich bestimmten sächlichen Existenzminimum von 451 Euro und dem Freibetrag für die Betreuung und Erziehung beziehungsweise Ausbildung (BEA) in Höhe von 244 Euro ergibt. Dabei sollen nur Familien ohne oder mit geringem Einkommen den vollen Betrag erhalten. Unter Annahme eines Wegfalls anderer Familienleistungen sowie eines Rückflusses von Steuereinnahmen kommt das Bündnis auf einen Nettofinanzierungsbedarf von 20,5 Milliarden Euro.

Die aktuelle Regierung hat sich die Einführung einer Kindergrundsicherung auf die Fahnen geschrieben. Bisherige finanzielle Unterstützungen wie Kindergeld, Leistungen aus SGB II/XII für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie der Kinderzuschlag sollen in einer einfachen Förderleistung gebündelt werden. Diese soll einen Garantiebetrag für alle Kinder und Jugendlichen sowie einen vom Elterneinkommen abhängigen Zusatzbetrag umfassen. Bei den Überlegungen zur Ausgestaltung einer Kindergrundsicherung ist zu beachten, dass Kinder und ihre Familien durch die anvisierten Maßnahmen dauerhaft aus Armut und Hilfsbedürftigkeit befreit werden. Kinder abzusichern ist wichtig, doch lassen sich diese nicht "autonom" aus dem Familienkontext herauslösen und mit einer "eigenständigen Kindergrundsicherung" oder ähnlichem scheinbar aus der Bedürftigkeit holen, während der Rest der Familie weiterhin dort verbleibt. Arme Kinder sind in der Regel Kinder armer Eltern(teile) und sollten nicht gegen sie ausgespielt werden. Konzepte, die pauschal allen und damit auch vielen nicht-bedürftigen Eltern und Kindern mit enormen Finanzmitteln unter die Arme greifen sollen, müssen kritisch geprüft werden, ob diese tatsächlich geeignet sind, Kinderarmut zu vermindern und zu verhindern, das heißt, die Ziel-Mittel-Relation bedarf einer präzisen Analyse. Außerdem ist es auch und gerade in der politischen Debatte über soziale Polarisierung wichtig, die Primärverteilung des gewachsenen gesellschaftlichen Reichtums bei allen sinnvollen Forderungen von Maßnahmen gegen Kinderarmut im Blick zu behalten. Schließlich kann ein arm gemachter Staat nur schwerlich Armut bekämpfen und Kinderrechte garantieren.

Fazit

An Kinderperspektiven anknüpfende Strategien sollten Konzepte der Armutsbekämpfung, der Partizipation junger Menschen und der Förderung sozialer Infrastruktur vereinen, die den gesellschaftspolitischen Kontext nicht aus den Augen verlieren. Erstens müssen dringend Maßnahmen gegen Armut und zur sozialen Absicherung von Kindern und ihren Familien ergriffen werden. Zweitens müssen die kinderrechtlichen Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der Förderung und vor allem der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Jugendverbänden (wieder) aufgebaut beziehungsweise umgesetzt werden. Damit verbunden sind, drittens, Maßnahmen für einen pandemiegerechten Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld – vor allem mittels Jugendhilfe und offener Arbeit. Zur wirksamen Revitalisierung von Kinderrechten und zur effektiven Bekämpfung von Kinderarmut werden somit ausreichende Mittel benötigt. Wenn jedoch ab 2023 die Schuldenbremse wieder eingehalten werden soll, stellt sich nicht nur hinsichtlich der Umsetzung von Kinderrechten und der Bekämpfung von Kinderarmut die Frage, wie notwendige Investitionen in Kindergrundsicherung, Bildung und Jugendhilfe adäquat finanziert werden sollen.

ist Professor für Kinderpolitik am Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal und leitet den Masterstudiengang "Kindheitswissenschaften und Kinderrechte".
E-Mail Link: michael.klundt@h2.de