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45 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament: ein Überblick | Die Wahlen zum europäischen Parlament 2024 | bpb.de

Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 Editorial 45 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament: ein Überblick Funktionsweisen des EP: ein Überblick Das EP in der Praxis: die Wahlperiode von 2019 bis 2024 Ausblick Literatur- und Onlineverzeichnis Impressum
Infoaktuell Nr. 41/2024

45 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament: ein Überblick

Nicolai von Ondarza Dominik Rehbaum

/ 5 Minuten zu lesen

Seit 1979 wählen die EU-Bürgerinnen und -Bürger das Europäische Parlament direkt. In 45 Jahren hat sich viel verändert – so wurde das EP mit dem Vertrag von Lissabon gestärkt.

Wer wählt, leistet einen wichtigen Beitrag zur Demokratie. Eine Woche vor den Wahlen zum Europäischen Parlament demonstrieren im Mai 2019 zahlreiche Menschen in München unter dem Motto „Ein Europa für Alle! Deine Stimme gegen Nationalismus!“. (© picture-alliance, SZ Photo | Florian Peljak)

Seit 1979 wählen die Bürgerinnen und Bürger der EU das Europäische Parlament (EP) direkt. Es ist damit eine der zentralen Säulen der demokratischen Legitimation der EU. Über die vergangenen 45 Jahre hinweg hat es sich in seiner ­Zusammensetzung und in seinen Kompetenzen stark verändert. Während 1979 noch 410 Abgeordnete aus 9 Mitgliedstaaten im Parlament zusammenkamen, werden für die ­Legislaturperiode 2024 bis 2029 nunmehr 720 Abgeordnete in 27 EU-Mitgliedstaaten gewählt. Damit gehört das EP zu den weltweit größten Parlamenten. Es hat knapp weniger Abgeordnete als der aktuelle ­Deutsche Bundestag, der sich aus 735 Abgeordneten zusammensetzt [Stand März 2024].

Das Europäische Parlament unterscheidet sich in mehreren Aspekten von anderen Parlamenten. Dies fängt bereits bei den Wahlen an, die zwar in den 27 Mitgliedstaaten gleichzeitig stattfinden, aber nach national unterschiedlichen Regeln verlaufen. In Deutschland beispielsweise wurde das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt, während die Bürgerinnen und Bürger in den meisten anderen EU-Staaten ab 18 Jahren wählen dürfen. Gewählt wird dabei auch über Listen, die nationale Parteien zusammenstellen, die sich aber im Europäischen Parlament zu europäischen Fraktionen zusammensetzen, wie etwa die Europäische Volkspartei (EVP), die Europäischen Sozialdemokraten (SPE, als Fraktion, S&D) oder die liberale Renew-Fraktion. Die EU-Abgeordneten arbeiten daher immer in europäischen Fraktionen zusammen und debattieren im Parlament in allen EU-Sprachen.

Die Zeiten, in denen das Europäische Parlament nur debattieren, aber nicht entscheiden konnte, sind (fast) vorbei: Seit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon wird wichtige EU-Gesetzgebung etwa zum Binnenmarkt, der Regulierung von Technologien wie Künstlicher Intelligenz oder die EU-­Klimagesetzgebung vom Europäischen Parlament und den nationalen Regierungen im Ministerrat gemeinsam beschlossen. Bei diesem „‚ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ (siehe Interner Link: "Funktionsweisen des EP" ) kann der Rat keine EU-Gesetzgebung ohne Zustimmung der Mehrheit des Parlaments verabschieden. Dasselbe gilt für den EU-Haushalt.

Auch die Kommissionspräsidentin bzw. den Kommissionspräsidenten wählt das Europäische Parlament mit seiner Mehrheit – allerdings auf Vorschlag der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Diese schlugen 2019 mit Ursula von der Leyen eine Kandidatin vor, die selbst nicht bei den Europawahlen angetreten war. Allerdings verfügt das EP anders als nationale Parlamente nicht über ein eigenes Initiativrecht [also das Recht, Gesetzesentwürfe einzubringen], denn in der EU hat die Kommission das alleinige Vorschlagsrecht. In Ausnahmefällen gibt es zudem immer noch Politikbereiche, in denen das EP nur zustimmen, aber Beschlüsse nicht ändern kann – zum Beispiel bei Handelsverträgen –, nur befragt wird oder sogar ganz umgangen werden kann.

Die Stärkung des EP im Rahmen des Lissabon-Vertrags galt auch als eine Reaktion auf die Kritik des Demokratiedefizits des europäischen Integrationsprozesses. Als einzige direkt legitimierte demokratische Institution im politischen System der EU kommt dem EP hier eine wichtige Rolle zu. Dass die demokratische Repräsentation der EU-Bürgerinnen und -Bürger auf EU-Ebene jedoch weiterhin ein ungelöstes Problem ist, zeigt der Blick auf die formalen und tatsächlichen Kompetenzen des EP. Während die Abgeordneten bei der ordentlichen Gesetzgebung voll mitentscheiden, agierten die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und die EU-Kommission in den vergangenen Krisen oftmals mit nur geringer Beteiligung des Europäischen Parlaments, etwa bei der Coronavirus-Pandemie oder der Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So ist das Europäische Parlament heute beides – ein mächtiges Abgeordnetenhaus, in dem wichtige Gesetzgebung für die EU beschlossen wird, die manchmal sogar auf die ganze Welt ausstrahlt, und ein zahnloser Tiger, der in einigen Bereichen von EU-Politik weiterhin nur Zuschauer ist.

Die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen

Lange galten die Europawahlen als Wahlen zweiter Klasse, in der die Wählerinnen und Wähler ihren nationalen Regierungen eher einen Denkzettel verpassten, anstatt die Zusammensetzung des EP zu gestalten. Europapolitische Themen spielten in den EP-Wahlkämpfen oftmals nur eine untergeordnete Rolle. Doch mit den wachsenden Mitentscheidungsrechten des EP und der gestiegenen Bedeutung von EU-Beschlüssen für Bürgerinnen und Bürger hat sich dieser Trend zu wandeln begonnen. Im Jahr 2019 verzeichneten die Wahlen zum EU-Parlament erstmals einen deutlichen Anstieg der Wahlbeteiligung auf knapp 51 Prozent, in Deutschland waren es etwas über 61 Prozent. Die vielen Krisen in der EU, die Wahl des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien sowie der Brexit und die Sorge vor einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union hat das Interesse an EU-Politik ebenso gestärkt wie die klimapolitischen Transformationsaufgaben, die vor der EU und ihren Mitgliedstaaten liegen. Mit Blick auf die bevorstehenden Europawahlen 2024 werden zwei Entwicklungen erkennbar:

Erstens sieht sich das europäische Parteiensystem einer tiefgreifenden Veränderung ausgesetzt. Während die etablierten Parteien in den meisten EU-Staaten an Unterstützung verlieren, haben rechtspopulistische und EU-skeptische Parteien europaweit zugelegt. Dies äußert sich vor allem in einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung, die sich oftmals in der Diskussion um Flucht und Migration, klimapolitische Maßnahmen sowie kulturellen Themen wie Geschlechtergerechtigkeit entlädt. In der Legislaturperiode von 2019 bis 2024 war das EP in der Folge so fragmentiert, dass für eine Mehrheit die Zustimmung von mindestens drei Fraktionen notwendig war. Die beiden großen Fraktionen, die EVP und die S&D, verloren erstmals in der Geschichte der EU ihre gemeinsame Mehrheit und mussten sich auf eine enge Zusammenarbeit mit anderen Parteien einlassen, um eine funktionierende Mehrheit im EP zu erreichen.

Diese Fragmentierung dürfte sich 2024 weiter fortsetzen. Die zunehmende Polarisierung zwischen pro- und anti-europäischen Parteien hat zudem das Selbstverständnis des EP als „Motor der Integration“ ins Wanken gebracht. Auch die Kritik am Green Deal (siehe Interner Link: „Das EP in der Praxis“) und der selbst deklarierten Vorreiterrolle der EU in der internationalen Klimapolitik hat in vielen EU-Staaten zugenommen. Die Europawahlen werden daher auch eine Abstimmung darüber, wie ambitioniert EU-Klimapolitik bleiben soll und welche Balance mit der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der EU gefunden werden sollte. Auch die hoch umstrittene Migrationspolitik der EU dürfte ein zentrales Thema werden, zwischen weiterer Abschottung der Grenzen der Union und Schutz der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen – insbesondere falls die Reform des EU-Asylsystems noch vor der Wahl wie beabsichtigt verabschiedet wird (siehe Interner Link: „Das EP in der Praxis“).

QuellentextPro und Kontra: Begrenzung der Asylzahlen in Europa

PRO

Die EU einigt sich auf eine Reform der Asylpolitik. Deutschland betätigt sich nicht als Blockademacht. Bitte weiter so. Europa steht vor vielen Herausforderungen, die sich nicht auf Ebene der Nationalstaaten lösen lassen. Kompromisse setzen voraus, dass alle Beteiligten sich am mutmaßlichen Mehrheitswillen der Europäer orientieren. Und Abstriche an ihren nationalen Vorstellungen machen.

Vor dieser Verantwortung stehen Polen und Ungarn, aber auch Deutschland. Und hier besonders die Kräfte, die bei vielen Europäern im Verdacht stehen, lieber zu predigen als zuzuhören – mit einem missionarischen Eifer, als solle an ihrem Wesen Europa genesen. Migration ist nur eines von mehreren Feldern, auf denen deutsche Regierungen lange auf einem Sonderweg beharrten. Das Scheitern ist offenkundig. Die Kommunen sind überfordert.

Sonderwege hat Berlin lange in der Energie- und Russlandpolitik verfolgt, ist damit gescheitert und hat an Vertrauen verloren. Den Doppelausstieg aus Kohle und Gas macht niemand nach. Er ist nur dank des europäischen Strommarkts möglich, der uns in der Dunkelflaute versorgt. In der Klimapolitik geht Deutschland doppelte Sonderwege. Es fordert immer ­schärfere Emissionsobergrenzen immer früher, die die Partner irreal nennen, hält aber an Eigenheiten – kein Tempolimit – und einer Industriepolitik fest, die im Widerspruch dazu stehen.

Bei Europas Verteidigung warnt die Regierung, Donald Trump könnte 2024 erneut Präsident werden und die Bündniszusage infrage stellen. Sie hat aber keinen Plan, wie sie Sicherheit ohne die USA garantiert. Von dauerhaft zwei Prozent für Verteidigung ist in der Finanzplanung nichts zu sehen.

Der Asylkompromiss weist den Weg. Schluss mit dem deutschen Hochmut, andere Europäer sollten sich an uns orientieren. Europa wird nur gelingen, wenn Deutschland Sonderwege aufgibt und sich an der Mehrheit der EU-Partner ausrichtet. (Christoph von Marschall)

KONTRA

Wäre die Verzweiflung nicht über das große Ganze so groß, man könnte sich über Weniges freuen: Erstmals sollen Länder, die sich strikt weigern, Geflüchtete aufzunehmen, zahlen. Ein einfaches Rausstehlen aus der Verantwortung soll es nicht mehr geben.

Im Augenblick ist das aber nichts weiter als ein Schleifchen an einer veritablen Katastrophe: Am Donnerstag [8. Juni 2023 – Anm. d. Red.] hat Europa den Flüchtlingsschutz de facto abgeschafft. Mit der Auslagerung von Asylverfahren an die EU-Außengrenzen bleibt davon wenig mehr als Papier. Wer ankommt, wird kaserniert, das Elendssystem der griechischen Inseln wird offizielle Politik. Zum Argument, so werde man die wahrhaft Bedürftigen identifizieren: Die EU nahm 2022 gerade einmal 217 Afghan:innen in Schutzprogramme, 0,1 Prozent der anerkannt Schutzbedürftigen.

Auch wenn Ungarns Demokrator [Diktator, der sich als demokratisch gewählter Regierungschef ausgibt – Anm. d. Red.] ­Viktor Orbán sogar die ge­plan­ten Strafzahlungen gegen den Strich gehen: Die Einigung von Donnerstag hat die Ungarisierung der EU-Migrationspolitik besiegelt. Der einstige Paria hat sich durchgesetzt. Niemand darf mehr legal in die Union, es sei denn, an den Grenzen hebt je­mand den Daumen, nach Kriterien, über die nur noch das Gutdünken der EU-Länder entscheidet, aber nicht mehr tatsächliche Not.

Der real regierende Orbánismus lehrt noch etwas anderes: Gegen „Fremde“, Flüchtlinge, Migranten geht es nie allein. Wer Mitmenschlichkeit ihnen gegenüber lächerlich macht, hält auch nichts von der Freiheit von Frauen, Minderheiten, von Selbstbestimmung überhaupt und der Freiheit, den Mund aufzumachen.

Freiheit, Sicherheit und Rechte derer, die an Europas Grenzen ankommen, stehen seit dieser Woche nicht einmal mehr auf dem Papier. Europas Bürgerinnen und Bürger sollten sich nun ernsthaft Sorgen machen um ihre eigene Freiheit, Sicherheit und um ihre Rechte. (Andrea Dernbach)

„Ist der Asylkompromiss gut für Europa?“, in: Tagesspiegel vom 10. Juni 2023. Alle Rechte vorbehalten: © Verlag Der Tagesspiegel GmbH

Zweitens fallen die Europawahlen im Jahr 2024 in ein schwieriges geostrategisches Umfeld. Nach der Coronavirus-Pandemie hat vor allem der russische Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine und seit Oktober 2023 die Terrorattacke der Hamas auf Israel und der daraus resultierende Krieg zwischen Israel und der Hamas die Europäische Union als geopolitische Akteurin neu herausgefordert. Das Schwinden globaler Ordnungsstrukturen sowie zunehmend transnationale Herausforderungen wie der Klimawandel, Sicherheitsbedrohungen sowie Lebensmittel- und Gesundheitskrisen haben viele Gewissheiten erschüttert, auf denen die EU aufbaut. Zudem fallen die kommenden Europawahlen in ein Superwahljahr im Westen. Neben der EU wird (voraussichtlich) auch im Vereinigten Königreich über ein neues Parlament und insbesondere in den USA über einen Präsidenten bzw. eine Präsidentin abgestimmt. Bei den kommenden Wahlen entscheidet sich daher auch, welche Rolle die EU als demokratische Akteurin im globalen System einnehmen kann – in einer Zeit, in der das Potenzial für Desinformation besonders hoch ist und liberale Demokratien weltweit unter Druck geraten sind.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die EU-Institutionen, Demokratie in der EU und die britische Europapolitik. 2023 war er Mitglied der deutsch-französischen Expertengruppe zu EU-Reform und Erweiterung.
Kontakt: E-Mail Link: Nicolai.vonOndarza@swp-berlin.org

Dominik Rehbaum ist Forscher und promoviert am Department für Politik- und Sozialwissenschaften am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Bis August 2023 war er Forschungsassistent in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Kontakt: E-Mail Link: Dominik.Rehbaum@eui.eu