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"Wer kann, schickt seine Kinder auf eine bessere Schule" | Bildung | bpb.de

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"Wer kann, schickt seine Kinder auf eine bessere Schule" Interview mit Heike Solga

Heike Solga

/ 7 Minuten zu lesen

In Deutschland hängt der schulische Erfolg von Kindern stark von ihrer sozialen Herkunft ab. Deshalb sind Gemeinschaftsschulen und Ganztagsunterricht wichtige Voraussetzungen für gerechte Bildungschancen, meint die Soziologin Heike Solga.

Unterricht in der Freien Schule Bröbberow. Die Mittelschicht tut was sie kann, um ihren Kindern eine höhere Bildung zu ermöglichen. Daher werden auch Privatschulen immer beliebter. (© dpa)

Frau Solga, stellen wir uns ein zehnjähriges Kind aus einem sozialen Brennpunkt in Hamburg oder Frankfurt vor. Beide Eltern sind schon lange arbeitslos, die Familie hat viele Belastungen. Aber das Kind bekommt eine klare Gymnasialempfehlung. Was ist da gut gelaufen?

Vielleicht ist das Kind sehr begabt, und es fällt ihm leicht, die Noten zu bekommen, die es fürs Gymnasium braucht. Oder die Förderung durch die Lehrer funktioniert sehr gut. Oder irgendeine Freundin ist eine Art Vorbild, und das Kind sieht, was es erreichen könnte. Aber ich weiß schon, worauf Sie anspielen: Das kommt nicht so oft vor. Wenn man in die Forschung blickt, sieht man, dass es so ein Kind selten ganz allein schafft. Welche Kraft müsste es da haben! Meistens gibt es eine Tante, einen Onkel oder manchmal sogar einen Sporttrainer, der das Kind besonders fördert.

Warum ist der Bildungserfolg eines Kindes in Deutschland noch immer so stark abhängig von seiner Herkunftsfamilie?

Tatsächlich läuft das in vielen anderen Ländern besser als bei uns. Obwohl wir relativ viel Geld in Bildung stecken und unsere Lehrer vergleichsweise gut bezahlen. Aber in Deutschland haben wir einen offenen Widerspruch zwischen Chancengleichheit und dem Primat der Familie. Wir wissen ja, was wir bräuchten für mehr Chancengleichheit: eine längere gemeinsame Schulzeit und die verpflichtende Ganztagsschule zum Beispiel. Aber die gemeinsame Beschulung bis zur neunten oder zehnten Klasse ist hierzulande nicht durchsetzbar. Und die Ganztagsschule ist in den seltensten Fällen obligatorisch, sondern meist offen. Hier haben Eltern viel Mitsprache, und dadurch entsteht ein stark segregiertes Bildungssystem, durch welches die familiäre Herkunft noch einen stärkeren Einfluss gewinnt.

Als "segregiert" werden Schulen bezeichnet...

… an denen der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund und sozial benachteiligten Schülern überdurchschnittlich hoch oder unterdurchschnittlich niedrig ist.

Warum sind die Halbtagsschule und eine kurze gemeinsame Schulzeit keine gute Idee, wenn man mehr Chancengleichheit im Bildungssystem erreichen möchte?

Die Halbtagsschule gleicht Leistungsunterschiede zwischen Kindern aus Familien mit unterschiedlichen Ressourcen nicht genug aus. Das ist in Ländern wie Finnland oder Kanada anders, da gibt es auch nachmittags Unterricht oder gezielte Fördermöglichkeiten, um soziale Benachteiligung besser zu kompensieren. Und eine längere gemeinsame Beschulung, etwa bis zur neunten Klasse, ist sinnvoll, um die soziale Durchmischung zu fördern. Denn Mitschüler aus Schichten mit höheren Bildungsambitionen können positive Rollenmodelle sein für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Andersherum funktioniert das auch: Privilegierte Schüler können so mehr Empathie für andere Milieus entwickeln. Je mehr hochgebildete Eltern ihre Kinder aber aufs Gymnasium schicken, umso weniger durchmischt sind die Gesamtschulen. Wenn Kinder so früh so stark segregiert werden, werden ihnen meiner Meinung nach wichtige Umwelterfahrungen vorenthalten.

Warum ist ein längerer gemeinsamer Unterricht in Deutschland so ein Angstthema?

Dass Kinder nur in der Grundschule gemeinsam unterrichtet werden, ist international vollkommen lächerlich. Meine Kollegen im Ausland fragen mich immer wieder, welche Kämpfe wir hier eigentlich kämpfen, es sei doch vollkommen logisch, dass Kinder bis zum Ende der Pflichtschulzeit gemeinsam lernen sollten. Überall gibt es das, in England, den USA, in Kanada, in Skandinavien. Aber wir leben schon sehr lange mit diesem Bildungssystem, und da ist es unheimlich schwer, das jetzt zu verändern. Man braucht eben einen längeren Atem. Wichtig ist nun, dass in die Gemeinschaftsschulen sehr viel Energie und Geld gesteckt wird, damit sie möglichst erfolgreich sind. Dann könnte man die nächsten Schritte gehen.

In Ländern wie den USA und England gibt es aber trotz der gemeinsamen Beschulung auch keine nennenswerte Chancengleichheit im Bildungssystem.

Das stimmt. Daran sieht man, wie stark Bildungspolitik auch mit Wohnungspolitik zu tun hat. Gemeinschaftsschulen sind eine gute Entwicklung, sowohl pädagogisch als auch im Sinne der sozialen Gerechtigkeit. Aber sie werden im Zweifelsfall konterkariert durch eine zunehmende soziale Segregation im Wohngebiet. In den USA gehen zwar alle auf die Highschool, aber da kommt es eben auf die Stadtteile an, in denen die Kinder wohnen. Es ist ein Unterschied, ob eine Highschool in einem Ghetto oder einem privilegierten Viertel liegt. Wer kann, schickt seine Kinder auf eine Schule in einem besseren Stadtteil.

Sind denn Schulen überhaupt in der Lage, Bildungsungerechtigkeit auszugleichen?

Solange Sie Ungleichheit in der Gesellschaft haben, haben Sie auch ungleiche Bildungschancen. Ich kenne derzeit kein Bildungssystem dieser Welt, in dem es annähernd gleiche Bildungschancen gibt. Das gilt selbst für ein Land wie Finnland. Wenn man ein gutes Bildungssystem haben will, kann man nicht nur über die Schule nachdenken, es geht auch um Arbeitslosigkeit, Armutsrisiken, kulturelle Angebote im Umfeld, Wohnungspolitik und so weiter. Die Schule kann das alles nur begrenzt kompensieren. Aber natürlich dürfen wir nicht die Hände in den Schoß legen und sagen, unter diesen Bedingungen können wir nichts tun. Wir können etwas tun. Es gibt aber eine Verengung auf Schule, wenn es um die Chancengleichheit geht.

Was sollten wir – außer der Gemeinschaftsschule und dem Ganztagsunterricht – anstreben, um die Chancengleichheit im Bildungssystem zu verbessern?

Wir brauchen mehr ganzheitliche Lösungen, weil die Bildungschancen eines Kindes immer die Gesamtgesellschaft widerspiegeln. Erstens ist für die Schullaufbahn wichtig, was vor der Schulzeit passiert: Lernen die Kinder zu Hause oder im Kindergarten gut Deutsch, wird ihnen vorgelesen, stimmt das Familienklima? Da muss man ansetzen. Mit dem Kita-Ausbau sind wir schon auf einem ganz guten Weg. Zweitens sind Kinder nur eine begrenzte Zeit des Tages in der Schule und ansonsten in ihren Umfeldern, die in Bezug auf die Bildungsaspirationen eines Kindes stark prägend sind. In dieser Hinsicht ist das Quartiersmanagement ein guter Ansatz, also die gezielte Unterstützung von prekären Stadtteilen.

Und in schulischer Hinsicht?

Schulen sollten die Kinder fordern und ihnen gleichzeitig mehr Spaß machen. Dazu gehört ein stärkeres individualisiertes Lernen. Die Grundschulen kommen damit schon gut klar, man wundert sich, warum das nicht im Fachunterricht in der Sekundarschule besser klappt.

Ich plädiere auch sehr für eine stärkere Diversität des Personals an Schulen. Wir sollten nicht nur in den Kategorien Lehrer, Erzieher und Sozialpädagoge denken, sondern mehr Angebote in Musik und Sport schaffen, mit qualifizierten Sporttrainern und Musiklehrern. Das wäre wieder eine neue Erfahrung für Kinder und bietet ihnen Chancen, die sie sonst zu Hause vielleicht nicht bekommen. Gerade benachteiligte Kinder brauchen Angebote über die Schulen, die dann in der Regel günstiger sind, als wenn die Eltern sie komplett privat finanzieren müssten.

Gefühlt verschärft sich die Chancenungleichheit in Deutschland, das haben ja auch die Wahlergebnisse der letzten Bundestagswahl gezeigt.

Die Einkommensungleichheiten nehmen in der Tat zu. Aber die gefühlte Angst ist größer als die reale Zunahme von Ungleichheit, auch das haben viele Studien gezeigt. Deshalb tut die Mittelschicht derzeit was sie kann, um ihren Kindern eine höhere Bildung zu ermöglichen. Sie sucht nach neuen Wegen. Wir haben inzwischen einen deutlichen Anstieg von Privatschulen.

Auch Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und ehemalige Familienministerin, hat ihr Kind gerade auf eine weiterführende Privatschule gegeben.

Das sendet kein gutes Signal. Genau dieses Problem sehen wir aber auch in der Bildungsforschung: Viele Eltern plädieren für die Gemeinschaftsschule, wenn es aber um das eigene Kind geht, schicken sie es aufs Gymnasium und nicht auf die Gemeinschaftsschule. Das ist einerseits verständlich: Sie wollen für ihre Kinder das Beste, und Gesamtschulen sind noch nicht immer da, wo sie sein könnten und sollen. Allerdings trägt dieses Verhalten zur Segregation auch unter den neuen Bedingungen bei.

Welche Probleme haben Gemeinschaftsschulen?

Durch die Inklusion landen fast alle Kinder mit Förderbedarf auf Gemeinschaftsschulen, nur da kann man in unterschiedlichen Geschwindigkeiten lernen, und nicht auf dem Gymnasium. Die Inklusion ist eine tolle Sache, funktioniert für die Grund- und Sekundarschule aber nur, wenn wir viel Geld in die Hand nehmen: Um ein Bildungssystem umzustellen, das so stark auf eine Gliederung gestrickt ist, benötigt man zusätzliches Personal für individuell angepasstes Lernen sowie Freiräume für das Lehrpersonal für Weiterbildung und etwas Zeit, da es nicht von heute auf morgen geht. Es war aber gut, beides gleichzeitig zu machen, die Inklusion und die Gemeinschaftsschulen, lieber einmal alles zusammen als fortlaufende Veränderungen.

Die Zahl der Schulabbrecher ist in Ostdeutschland am höchsten.

Das liegt aber nicht unbedingt daran, dass die Schulen schlecht sind. Das Bildungssystem in Sachsen ist, zumindest wenn es um die obere Spitze geht, sehr gut. Aber die Arbeitslosenzahlen sind im Osten Deutschlands sehr hoch, und je höher die Arbeitslosenquote, umso höher der Anteil derjenigen, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Unter diesen Bedingungen ist es sehr schwer, den Kindern überhaupt eine Bildungsmotivation zu vermitteln. Gerade bei vielen Jungs stellt sich im Osten die Sinnfrage nach Bildung. Sie sehen, dass die eigenen Eltern langzeitarbeitslos sind, obwohl sie einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung und vielleicht sogar ein Studium haben. Und fragen sich dann, warum sie sich überhaupt anstrengen sollen. Viele verlassen die Schule ohne Abschluss und jobben auf dem Bau. Das ist kurzfristig gedacht, aber in Regionen von Langzeitarbeitslosigkeit vielleicht eine verständliche Reaktion. Da müssen wir ansetzen.

Was würden Sie sich als Bildungsforscherin von der Politik wünschen?

Die Bildungspolitik muss sich viel stärker mit Bildungsarmut – also den fehlenden Kompetenzen von Schülern – beschäftigen als per se mit dem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Anders gesagt: Wir sollten viel stärker die Prävention von Leistungsversagen und die sofortige Förderung bei Lernschwierigkeiten in den Blick rücken, statt immer nur nachträglich etwas reparieren zu wollen. Wir brauchen auch neue Strategien für die Ausbildung und den Übergang ins Berufsleben. Eine gute Idee sind zum Beispiel die schulischen Berufsausbildungsangebote in manchen Regionen Deutschlands, wenn betriebliche Ausbildungsplätze fehlen. Wir müssen also am Wohle jedes einzelnen Kindes ansetzen und uns ganz konkret fragen, wie wir es hinkriegen, dass alle Kinder so gefördert werden, dass sie später an der Gesellschaft teilhaben können.

Das Interview führte Anne-Ev Ustorf.

Quelle: Psychologie heute, März 2018. Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, Externer Link: http://www.psychologie-heute.de/

Bildungschancen in Deutschland

Aufgrund der Kulturhoheit der Bundesländer liegt in Deutschland die Zuständigkeit für das Schulwesen jeweils bei den Ländern. Dennoch folgt unser Bildungssystem einer ähnlichen Struktur. Üblicherweise umfasst die Grundschule die ersten vier Schuljahre, in Berlin und Brandenburg gibt es jedoch eine sechsjährige Grundschule. Darauf bauen verschiedene Schultypen auf. Während einige Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg die Dreiteilung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium weiterführen, haben viele andere Länder ihr Schulsystem umgestellt und bieten nur noch die weiterführenden Schultypen Gemeinschaftsschule und Gymnasium an. Das Konzept der Gemeinschaftsschule – in Hamburg Stadtteilschule, in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Berlin Sekundarschule genannt – beruht auf der Forderung nach mehr Chancengleichheit im Bildungswesen und möchte der frühen Bildungslaufbahnentscheidung und den sozialen Selektionstendenzen im Bildungswesen entgegenwirken. In Stadtstaaten wie Hamburg und Berlin ist auf der Sekundarschule sogar das Abitur möglich.

Endlich Bildung für alle?

Die Chancengerechtigkeit im deutschen Schulsystem macht langsam Fortschritte. Während Deutschland im Jahr 2000 noch einen der weltweit schlechtesten Werte für die Durchlässigkeit des Bildungssystems aufwies, lag es 2012 bereits im Mittelfeld. Der aktuelle Chancenspiegel von Bertelsmann-Stiftung, Technischer Universität Dortmund und Friedrich- Schiller-Universität Jena zeigt, dass heute weniger Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen und der Anteil der Jugendlichen, die Fachhochschul- oder Hochschulreife erlangen, gestiegen ist. Auch eine neue Studie um die Ökonominnen Christina Anger und Anja Katrin Orth vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft zeigt, dass die Bildungsungerechtigkeit unter Schülern langsam zurückgeht. Die sogenannte Risikogruppe der Jugendlichen, die mit 15 Jahren nicht richtig lesen können, und der Leistungsunterschied zwischen den Schülern mit und ohne Migrationshintergrund sinken langsam. Dennoch ist der Bildungserfolg nach wie vor stark von der sozialen Herkunft abhängig: Dem Nationalen Bildungsbericht 2016 zufolge erreichen Kinder mit ausländischen Wurzeln dreimal seltener die Hochschulreife und verlassen mehr als doppelt so häufig die Schule ohne Abschluss wie Kinder mit deutschen Wurzeln.

Weitere Inhalte

Die Soziologin Heike Solga ist Direktorin der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professorin an der Freien Universität Berlin.