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Bulgarien und Rumänien in der EU: Eine Bilanz

Christian Hagemann

/ 14 Minuten zu lesen

Seit 2004 sind 13 Staaten aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa der EU beigetreten. Christian Hagemann diskutiert, welche Lehren die EU-Kommission für künftige Beitritte gezogen hat.

"Neues Europa" heißt die Donaubrücke, die Calafat (Rumänien) mit Vidin (Bulgarien) verbindet. Im Sommer 2013 wurde sie eröffnet, etwa sechs Jahre nach den EU-Beitritten der beiden Staaten. (© picture-alliance/dpa, Elena Lalowa)

Wie bilanziert man die EU-Erweiterung?

Eine Bilanz der Erweiterungen der Europäischen Union (EU) muss notwendigerweise von einem Maßstab ausgehen, der vor dem Beitritt von der EU selbst an die Kandidatenstaaten angelegt wurde. Dieser Maßstab sind die zu Beginn der 1990er Jahre formulierten Kopenhagen-Kriterien, die Staaten erfüllen müssen, um Mitglied der EU zu werden. Dazu gehören politische Voraussetzungen (Etablierung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit; Wahrung der Menschenrechte; Schutz von Minderheiten), wirtschaftliche Voraussetzungen (funktionierende Marktwirtschaft; Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck in der EU standzuhalten) sowie die Fähigkeit, die Pflichten der Mitgliedschaft, insbesondere die Übernahme des EU-Rechts (den sog. acquis communautaire), zu erfüllen.

Betrachtet werden hier mit Bulgarien und Rumänien zwei Mitgliedstaaten, denen vor ihrem Beitritt im Jahr 2007 selbst durch die Europäische Kommission attestiert wurde, in vielen Bereichen mangelhaft auf die Mitgliedschaft vorbereitet zu sein. Wie haben sich beide Länder in der EU entwickelt? Haben sie Fortschritte gemacht, oder ist es zur Stagnation oder sogar zu Rückschritten gekommen? Welche Lehren hat die EU-Kommission aus dieser Erweiterungsrunde gezogen?

Die "neuen" Mitgliedstaaten: Acquis-Übernahme und Wirtschaft

Die politikwissenschaftliche Europäisierungsforschung blickte von Anfang an pessimistisch auf die in Zukunft mögliche Beeinflussung der neuen Mitgliedstaaten nach dem Beitritt, zeigten doch Untersuchungen, dass diese vor allem aufgrund des Anreizes der Mitgliedschaft und weniger aus eigenem Antrieb die Kopenhagen-Kriterien erfüllt hatten. Eine Rücknahme der Reformen schien daher vor allem im eher technischen acquis-Bereich möglich. Im Bereich der Demokratisierung war diese Befürchtung für die meisten Länder jedoch weniger stark ausgeprägt, da sich diese in der Regel schon vor der Beitrittsperspektive aus eigenem Antrieb demokratisiert hatten. Hier wurde inzwischen von einer als relativ stabil eingeschätzten Spaltung des postkommunistischen Raums ausgegangen in ein demokratisches Ostmitteleuropa und Südosteuropa auf der einen und einen im wesentlichen nicht-demokratischen postsowjetischen Raum auf der anderen Seite.

In vieler Hinsicht kam es dann aber genau andersherum als erwartet. Mit Blick auf den eher technischen Bereich der EU-Mitgliedschaft, die Übernahme und Anwendung des EU-Rechts, wurden die pessimistischen Erwartungen schnell korrigiert. Hier gab es in den ersten Jahren nach dem Beitritt eine geradezu begeisterte Stimmung gegenüber den neuen Mitgliedstaaten. Diese schienen den Alten bei der Umsetzung neuer EU-Regeln sogar überlegen zu sein, und ausgerechnet Bulgarien schaffte es als erstes Land überhaupt, kein Defizit in dieser Disziplin zu verzeichnen. Während sich diese weitgehend formale Übernahme offenbar problemlos gestaltete, hegten einige Forscherinnen und Forscher allerdings Zweifel an der praktischen Anwendung dieser Rechtsakte – eine Überlegung, für die viele Beispiele genannt wurden (z. B. die in einigen Staaten beobachtete Nicht-Anwendung der formal implementierten EU-Sozialpolitiken), die aber als Syndrom für alle EU-Regeln in den neuen Mitgliedstaaten nicht systematisch belegt werden konnte. Die weitere Umsetzung des acquis, also des EU-Rechts, ist zumindest in formaler Hinsicht in Bulgarien und Rumänien auch heute noch relativ gut. Trotz einer gewissen Verschlechterung seit dem Beitritt sieht eine aktuelle Analyse beide Länder nicht schlechter als die anderen neuen oder auch alten Mitgliedstaaten. Insofern lässt sich in diesem Bereich also kein nennenswertes "Abrutschen" hinter die Zeit vor dem Beitritt beobachten.

Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung als Indikator der Erfüllung eines weiteren Kopenhagen-Kriteriums zeigt sich auch hier eine positive Entwicklung. Die Europäische Statistikbehörde Eurostat bietet ein kaufkraftbereinigtes Bruttosozialprodukt pro Kopf der Mitgliedstaaten an, welches in Relation zum Durchschnitt der EU-27 (=100) angegeben wird, um die Wirtschaftsleistungen vergleichen zu können. Bulgarien (43) und Rumänien (52) lagen im Jahr 2008 noch hinter Kroatien (64), haben sich inzwischen (2019) aber beide deutlich dem Gesamtdurchschnitt angenähert: Während es Bulgarien (53) damit aber im innerregionalen Vergleich auch weiterhin nur knapp vor die Westbalkan-Staaten schafft, hat Rumänien (70) deutlich mehr Plätze gutgemacht und inzwischen nicht nur Kroatien (65), sondern mit Griechenland (67) auch einen "alten" Mitgliedstaat knapp überholt, und sich sogar Polen (73) angenähert.

Grafik 1

In den Bereichen der formalen Übernahme von EU-Recht und der wirtschaftlichen Entwicklung zeigt sich also ein insgesamt zufriedenstellendes, besonders im Fall von Rumänien sogar eher positives Bild. Schwierigkeiten der beiden Länder als EU-Mitglieder zeigen sicher aber, wenn man einen Blick auf die Bereiche Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Governance (in etwa "Regierungsführung") wirft.

Die "neuen" Mitgliedstaaten: Entwicklung der Demokratie

Grafik 2 zeigt die Bewertung der Demokratiequalität (2019) durch die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation "Freedom House" in den Mitgliedstaaten Ostmittel- und Südosteuropas, beginnend mit dem am besten bewerteten Estland bis hin zum unter diesen "neuen" Mitgliedstaaten am schwächsten bewerteten Ungarn. Der Demokratieindex von Freedom House speist sich aus umfangreichen jährlichen Expertenberichten, welche z. B. den Wahlprozess, die Transparenz der Regierung, oder auch Rechtstaatlichkeit und Medienfreiheit in den einzelnen Ländern bewerten. Insgesamt werden dabei 25 Aspekte von liberaler Demokratie beleuchtet und mit Punkten bewertetet, die dann wiederum für jedes Land auf eine Skala umgerechnet werden. Die Zahlenwerte auf der Skala von 1 bis 7 vermitteln einen Eindruck, wie gut die Länder jeweils abschneiden. Gleichzeitig macht die Organisation "Freedom House" noch eine weitere qualitative Unterscheidung: Sie betrachtet Länder mit Bewertungen von 5 bis 7 ("konsolidierte Demokratien") bzw. 4 bis 5 ("semikonsolidierte Demokratien") als Demokratien verschiedener Qualität, wohingegen Länder mit Bewertungen unter 4 ("transitionale Regime" oder "hybride Regime") schon Elemente von Demokratien mit denen autoritärer Systeme verbinden – es handelt sich bei diesem Wert demnach nicht mehr um reine Demokratien.

Betrachtet man nun die Positionen Bulgariens und Rumäniens so wird deutlich, dass sich diese unter den "neuen" EU-Mitgliedstaaten zwar im unteren Drittel befinden, gleichzeitig aber doch klar im Lager der Demokratien verortet werden können. Dies ist insofern relevant, als dass es für Ungarn seit 2019 laut diesem Ranking nicht mehr gilt.

Grafik 2

Ebenfalls aus Grafik 2 abzulesen ist, wie sich die Bewertung der Demokratiequalität der Länder seit den EU-Beitritten verändert hat. Hier wurden die Werte des jeweiligen Beitrittsjahrs mit dem letzten zur Verfügung stehenden Jahr (2019) verglichen. Es fällt auf, dass sich alle Länder – außer Estland – mehr oder weniger stark verschlechtert haben. Am deutlichsten ist diese erneut im Fall Ungarns, aber auch Polen und die Slowakei schneiden hier schlecht ab. Im Gegensatz dazu lässt sich in Bulgarien und vor allem Rumänien nur eine relativ geringe Verschlechterung der Demokratiequalität beobachten. Beide Staaten stagnieren allerdings auch auf niedrigem Niveau.

Interessant ist auch der Vergleich mit den Westbalkan-Staaten als "Nachzüglern" im EU-Erweiterungsprozess (in Grafik 2 mit Sternchen gekennzeichnet). Diese teilen mit den beiden Mitgliedstaaten wichtige strukturelle Merkmale, welche die Entwicklung von Demokratie und guter Regierungsführung erschwert haben und erschweren, wie zum Beispiel schwache Verwaltungskapazitäten und ein von alten Eliten gestalteter Übergang vom Sozialismus zur Demokratie. Hier wird schnell deutlich, dass sich die Länder bis auf Kroatien alle mehr oder weniger klar unter der Schwelle von 4 befinden, und gleichzeitig auch fast alle im Vergleich zum Jahr 2007 Demokratiequalität eingebüßt haben. Dieser Vergleich legt nahe, dass sich Bulgarien und Rumänien auch ohne EU-Mitgliedschaft bzw. mit einem längeren Beitrittsprozess in diesem Zeitraum mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht besser entwickelt hätten.

Die ehemaligen Beitrittskandidaten als Mitgliedstaaten: Rechtstaatlichkeit, "gute Regierungsführung" und Korruption

Während in Bezug auf die Demokratieentwicklung vor allem Ungarn und Polen immer wieder Schlagzeilen machen, werden Bulgarien und Rumänien häufig mit Blick auf Korruption, organisiertes Verbrechen und die Unabhängigkeit der Justiz kritisch betrachtet. In der Tat war sich die Europäische Kommission im Jahr 2007 bewusst, dass beide Länder in diesen Bereichen noch nicht die nötigen Standards erfüllten. Sie führte daher für beide mit dem sogenannten Kooperations- und Kontrollverfahren (KKV) ein neues Instrument ein, um die Entwicklung in halbjährlichen Berichten weiter zu überwachen. Konkret überprüft werden sollte die Umsetzung klar formulierter Reformaufgaben (sog. benchmarks), vor allem in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung.

Grundsätzlich lässt sich als schlechtes Zeichen werten, dass dieses Instrument nun nach über einem Jahrzehnt der Mitgliedschaft immer noch benutzt wird, obwohl es nur auf eine kurze Übergangszeit angelegt war. Einige Analysen sehen Erfolge des Verfahrens zumindest mit Blick auf die Umsetzung der formalen Vorgaben, vor allem in Rumänien mit dessen Kampf gegen die Korruption. Darüber hinaus wird betont, dass die regelmäßigen Berichte die Aufmerksamkeit auf das Thema in der Öffentlichkeit der Länder lenken und auch den Widerstand der politischen Eliten gegen Reformen offenlegen, was kritischen Akteuren in den Ländern Rückenwind verschaffen kann.

Die kritische Perspektive auf das KKV stellt diese Ergebnisse nicht in Abrede. Autorinnen und Autoren betonen hier aber, dass durch die Herangehensweise der EU nicht die Wurzel der eigentlichen Probleme berührt werde. Diese wird in den bestehenden partikularistischen Mechanismen in den Ländern gesehen, die weder im Beitrittsprozess noch danach reformiert wurden und gegen deren Reform starke innenpolitische Interessen stehen. Es geht dabei um die Governance, d. h. die grundsätzlichen Regeln und Institutionen, die darüber entscheiden, wer in der Gesellschaft was bekommt. Während in einer universalistischen Ordnung alle Bürgerinnen und Bürger gleichbehandelt werden, haben in einer partikularistischen Ordnung vor allem die Mächtigen sowie Personen aus ihrem persönlichen Netzwerk Zugang zu öffentlichen Ressourcen.

Expertinnen und Experten argumentieren hier, dass es nach Ende des Kommunismus an strukturellen Reformen gefehlt habe. Politische Akteure blieben demnach von der staatlichen Verteilung öffentlicher Gelder abhängig. Das schaffe die Voraussetzungen für anhaltende politische Korruption (u. a. Klientelismus der Parteien; Verquickung von Politik und kriminellen Geschäftsinteressen; Politisierung von Institutionen; Widerstand gegen Reformen). Während das KKV die Übernahme und Implementierung von bestimmten Regeln fordert, scheitert deren Umsetzung an der partikularistischen Governance-Logik der Länder, welche grundsätzlich einer unabhängigeren Justiz und Kontrollbehörden im Wege steht.

Ein interessantes Beispiel hierfür ist der Kampf gegen die Korruption in Rumänien. Hier kam es auf allen Ebenen zu letztinstanzlichen Verurteilungen (u. a. ehemalige Minister und Premierminister, sowie Tausende weitere Funktionsträger und Geschäftsleute), eine deutlich bessere Bilanz als in Bulgarien. Diese Leistung muss aber auch vor dem Hintergrund der regelmäßigen Verwendung geheimdienstlicher Methoden in den Verfahren gesehen werden, z. B. bei der oft sehr umfangreichen Telefonüberwachung. Von mancher Seite wird kritisiert, dass diese Vorgehensweise Rechte von Angeklagten verletzt habe und beim Kampf gegen die Korruption oft politische Rivalitäten ausgetragen würden. Diese Argumentation unterstreicht also, dass nicht das systemische Governance-Problem gelöst, sondern dass der Kampf gegen die Korruption vielmehr in die Logik dieses Systems überführt worden sei. Für dieses Argument sprechen die späteren Verurteilungen früherer Korruptionsbekämpfer/-innen, sowie die jüngste Annäherung der rumänischen Korruptionsratings an die Werte Bulgariens, was gegen einen grundsätzlichen Wandel spricht (siehe Grafik 2).

Grafik 3

Betrachtet man die Ungleichbehandlung der Bürger (Partikularismus) in Europa anhand von Daten der Weltbank im Vergleich (Indikator Control of Corruption), so zeigt sich in 2019 auch hier eine große Streuung (Grafik 3: desto dunkler die Länder, desto weniger Korruption gibt es). Während hier vor allem alte Mitgliedstaaten sehr gut abschneiden, trifft dies lange nicht auf alle zu (vor allem Italien und Griechenland zeigen hier Defizite). Gleichzeitig ist erneut mit Estland (und mit Abstrichen auch Slowenien) ein „neues“ Mitgliedsland unter den Besten vertreten. Bulgarien und Rumänien schneiden hier erneut sehr schwach ab, heben sich aber wieder deutlich von den noch nicht der EU beigetretenen Westbalkan-Staaten ab. Auch wenn Bulgarien und Rumänien hier erneut auf den hinteren Plätzen liegen wird deutlich, dass es sich beim Thema Partikularismus nicht um ein originäres Problem der beiden Länder oder sogar der neuen Mitgliedstaaten handelt, sondern vielmehr eines der EU insgesamt.

Grafik 4

Der Wandel weg vom Partikularismus hin zu universalistischen Systemen ist ein langer Prozess, der vor allem von der Motivation und Stärke der Reformakteure in den Ländern selbst abhängt. Während die gesellschaftlichen Werte, das vorhandene Sozialkapital und die Stärke der Zivilgesellschaft als strukturelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen, sind es auf Seiten der Akteure vor allem freie und unabhängige Medien sowie gut funktionierende politische Organisationen, die sich für Reformen einsetzen. Was diese Bedingungen angeht, sieht die Lage aktuell in Rumänien etwas optimistischer aus als in Bulgarien: Hier haben sich mit Staatspräsident Klaus Johannis und seiner Partei PNL sowie dem Reformbündnis USR-PLUS Kräfte im politischen System etabliert, die sich vor allem über Reformversprechen legitimieren. Die am 23. Dezember 2021 von diesen Parteien und der Partei der Ungarischen Minderheit (UDMR) gebildete Koalition hat in den nächsten Jahren eine Chance zu beweisen, wie willig und fähig sie ist, ihre Reformversprechen in Politik umzusetzen. Besonders interessant ist dabei, dass das Reformbündnis USR-PLUS mit den Ministerien für Justiz, Gesundheit, Transport, EU Fonds und Wirtschaft Schlüsselposition für die anstehenden Reformaufgaben besetzen konnte.

Im Gegensatz dazu sieht sich die in Bulgarien seit 2008 fast durchgehend regierende und ursprünglich als Reformerin angetretene GERB-Partei als Reaktion auf zahlreiche Skandale immer wieder Massenprotesten gegenüber. Aktuell verfügt keine relevante politische Formation über besondere Glaubwürdigkeit als Reformakteur. Nachdem die jüngsten Wahlen im Frühjahr 2021 zu keinem klaren Ergebnis führten, sieht sich das Land vor Neuwahlen mit ungewissem Klärungspotenzial. Gleichzeitig sieht "Reporter ohne Grenzen" die Medienfreiheit des Landes nicht nur auf dem letzten Platz in der Region, sondern weltweit sogar noch hinter Ländern wie Kuwait und Angola (Bulgarien: 112, Rumänien: 48) . Dies liegt vor allem an der Kontrolle von Medien durch politische und wirtschaftliche Interessen (oft beides) sowie der Einschüchterung kritischer Journalistinnen und Journalisten durch offene Drohungen oder auch Gerichtsverfahren, die zu hohen Geldstrafen führen können.

Die Rolle der EU und Lerneffekte seit 2007

Was hat die EU aus der Erweiterung um Bulgarien und Rumänien für Lehren gezogen? Im Fall Kroatiens, das gut sechs Jahre später der EU beigetreten ist, wurde der Druck in den Bereichen Korruption und Justizreform schon vor dem Beitritt deutlich erhöht. Insgesamt wurde in verschiedenen Etappen den sich mit Rechtstaatlichkeit und Grundrechten beschäftigenden Kapiteln 23 und 24 mehr Raum im Erweiterungsprozess eingeräumt, zuletzt im Rahmen der Reform des Beitrittsprozesses Anfang 2020. Unklar ist hier aber, wie effektiv diese Reform sein wird: Auf der einen Seite hat die EU in den letzten zehn Jahren wenig Einfluss in den verbliebenen Kandidatenstaaten ausgeübt, vor allem aufgrund der wenig glaubwürdigen und wenn überhaupt in entfernter Zukunft liegenden Beitrittsperspektive. Die bisher gezeigten Daten zu den Westbalkan-Staaten zeigen entsprechend auch eher Stagnation oder Verschlechterung anstelle der erwarteten Fortschritte. Einige Expertinnen und Experten argumentieren sogar, dass die EU in Ländern wie Serbien oder Montenegro inzwischen eher Teil der autoritären Herrschaftslogik geworden sei, da sie den Regierungen durch den Beitrittsprozess zusätzliche Legitimität verleihe.

Darüber hinaus haben einige EU-Mitgliedstaaten dazu beigetragen, die so wichtige konsistente Anwendung der Kriterien des Beitrittsprozesses sowie dessen Glaubwürdigkeit zu untergraben. Ein Paradebeispiel dafür ist die Republik Nordmazedonien: So blockierte Griechenland jahrelang aufgrund eines Streits um den Landesnamen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Als dieser Konflikt endlich gelöst war, eine historische Leistung der Regierungen in Athen und Skopje, weigerte sich die französische Regierung, der versprochenen Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zuzustimmen. Nachdem auch dieses Veto inzwischen überwunden ist, blockiert Ende 2020 die bulgarische Regierung die Verhandlungen mit Nordmazedonien – und das alles, obwohl in Skopje eine (noch) EU-freundliche und reformorientierte Regierung an der Macht ist.

Eine Bilanz muss auch über die Kopenhagen-Kriterien hinausblicken

Bulgarien und Rumänien sind nach über 13 Jahren schon lange keine "neuen" Mitgliedstaaten mehr, sondern klar in der Gemeinschaft angekommen. Beide Länder haben bereits erfolgreich den Vorsitz im Rat der EU übernommen, setzen weiterhin europäisches Recht um und besonders Rumänien hat auch wirtschaftlich deutlich aufgeholt. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass die EU-Mitgliedschaft in dieser vergleichsweisen kurzen Zeitspanne keine Wunder bewirken konnte: In Demokratie- und Korruptionsrankings belegen beide Länder weiterhin die hinteren Plätze unter den Mitgliedstaaten. Auch das nach dem Beitritt eigentlich nur für eine Übergangszeit eingeführte KKV hat sich zu einem dauerhaften Mechanismus entwickelt. Schon im Beitrittsprozess war klar, dass Wandel nur auf Basis der mutigen Initiative von Reformkräften in den Ländern selbst gelingen kann. Viele der Instrumente der EU haben sich in der Vergangenheit als stumpfe Schwerter erwiesen – dass der Wandel aber ohne die EU nicht besser und vermutlich sogar schlechter läuft, zeigen die verbliebenen Kandidatenstaaten in Südosteuropa.

Neben aller kritischen Betrachtung gehört zu einer realistischen Bewertung der Zeit seit 2007, dass trotz aller Befürchtungen Bulgarien und Rumänien nicht zu den größten Problemfällen in der EU geworden sind. Es lässt sich sogar feststellen, dass beide Länder an den existenziellen Problemen der EU der letzten Jahre (Schuldenkrise, Rechtspopulismus, Austrittspläne, Migration, demokratische Rückschritte, Kooperation von Staaten mit autoritären externen Akteuren) so gut wie keinen Anteil haben.

Gleichzeitig hat sich der Integrationsprozess auf gesellschaftlicher Ebene dynamisch und positiv entwickelt. Menschen aus Rumänien und Bulgarien belegten in 2019 bei der Einwanderung nach Deutschland die Plätze 1 und 3 und trugen damit aktiv dazu bei, dem Arbeitskräftemangel in der Wirtschaft zu begegnen. Dabei sollte auch hervorgehoben werden, dass im letzten Jahr vor der Covid-19-Pandemie (2019) die Beschäftigungsquote von Menschen aus Bulgarien und Rumänien in Deutschland mit 67 Prozent deutlich über der für Zuwanderer allgemein (58,8 Prozent) sowie der von Beschäftigten aus der Erweiterungsrunde von 2004 (56,8 Prozent) lag, was deutlich gegen die Vorwürfe einer angeblichen vorwiegenden "Armutszuwanderung" aus diesen Ländern spricht. Interessant ist auch, dass die sächsische Stadt Görlitz in 2019 mit Octavian Ursu einen aus Rumänien stammenden Oberbürgermeister wählte, während sich in 2020 die Bürgerinnen und Bürger der drittgrößten rumänischen Stadt Temeswar mit Dominic Fritz für einen jungen deutschen Einwanderer aus dem Schwarzwald als Rathauschef entschieden. Beispiele wie diese zeigen, dass von Eliten in den Hauptstädten versäumter oder blockierter Wandel trotzdem nicht immer Stillstand im ganzen Land und auf allen Ebenen bedeuten muss.

Angesichts des breiten Konsenses in der deutschen Politik über die Wichtigkeit der Erweiterungspolitik und zumindest ihre mehrheitliche Unterstützung in der EU ist festzuhalten, dass es bei einer kritischen Bilanz nicht um das ob, sondern vor allem um das wie der Integration der neuen Mitglieds- und verbliebenen Kandidatenstaaten in die EU gehen kann. Die Überwindung der jahrzehntelangen Teilung des Kontinents ist eine Errungenschaft, deren Wert für Frieden in Europa, aber auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Handelsnation Deutschland nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Nach einem Jahrzehnt der Krisen in der EU wird es Zeit, der Region und dem Integrationsprozess wieder deutlich größere Aufmerksamkeit zu schenken.

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Dr. Christian Hagemann ist stellvertretender Geschäftsführer der Südosteuropa-Gesellschaft. Er hat sich an der Ludwig-Maximilians-Universität in Politikwissenschaft mit einer Arbeit zur Nutzung von EU-Fördermitteln in den neuen Mitgliedstaaten der EU promoviert. Anschließend war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vertretungsprofessor für Policy Analyse an der Technischen Universität München tätig. In seiner Forschung beschäftigt sich Hagemann vor allem mit (dem EU-Einfluss auf) Regierungsführung und Demokratieentwicklung in den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas.