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Auf dem Rücken von Tränen und Schweiß: Syrer in der türkischen Textilindustrie | Türkei | bpb.de

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Auf dem Rücken von Tränen und Schweiß: Syrer in der türkischen Textilindustrie

Ayşegül Kayaoğlu

/ 9 Minuten zu lesen

Die Türkei ist einer der größten Bekleidungslieferanten der Welt. Die Textil-Produktion ist dabei stark auf billige Arbeitskräfte angewiesen. Viele von ihnen sind mittlerweile syrische Flüchtlinge.

Ein syrisches Flüchtlingskind aus Aleppo arbeitet mit anderen Syrern in einer Bekleidungswerkstatt in Gaziantep im Südosten der Türkei (2. Juni 2016). (© picture-alliance/AP, Lefteris Pitarakis)

Die Türkei zeichnet sich durch eine große informelle Wirtschaft aus. Gleichzeitig lebt dort gegenwärtig die größte Flüchtlingsbevölkerung der Welt. Die Kombination dieser beiden Herausforderungen führt zu einer enormen Zahl von Geflüchteten, die informell arbeiten und gleichzeitig vielen Formen von Diskriminierung, Missbrauch und Ausbeutung ausgesetzt sind. Und dieses Problem wird nicht so bald verschwinden.

Der Syrienkonflikt hat seit 2011 zu etwa sechs Millionen Flüchtlingen geführt. Mehr als die Hälfte dieser Kriegsflüchtlinge Interner Link: lebt heute mit einem vorübergehenden Schutzstatus in der Türkei. Die überwältigende Mehrheit der rund 3,5 Millionen offiziell im Land registrierten Syrerinnen und Syrer lebt entweder in den geschäftigen Produktionszentren des Landes – wie dem Schwergewicht Istanbul – oder in verschiedenen Provinzen entlang der syrischen Grenze, wo die Schattenwirtschaft mit intensiver nichtlandwirtschaftlicher und landwirtschaftlicher Tätigkeit ein nicht minder großes Problem darstellt – wie etwa Gaziantep, Şanlɪurfa und Hatay.

Syrer auf dem türkischen Arbeitsmarkt

Mit Stand Juni 2023 hatten etwa 1,6 Millionen syrische Flüchtlinge Anspruch auf eine monatliche Unterstützung von 300 Türkischen Lira (etwas mehr als zehn Euro). Diese wird im Rahmen des von der Europäischen Union finanzierten humanitären Programms „Soziales Sicherheitsnetz für Notsituationen“ (Emergency Social Safety Net, ESSN) gewährt. Sobald jedoch eine formelle Beschäftigung aufgenommen wird, können sie diese Hilfe nicht mehr erhalten. Daher beantragen viele Syrerinnen und Syrer keine Arbeitserlaubnis, obwohl sie seit 2016 rechtlich dazu berechtigt sind. Diejenigen, die dennoch eine solche Genehmigung erhalten und eine formelle Beschäftigung aufnehmen wollen, dürfen dies nur in den Provinzen tun, in denen sie offiziell registriert sind, und die Anträge, die jedes Jahr erneuert werden müssen, können nur von ihren Arbeitgebern gestellt werden. Darüber hinaus gibt es eine Quotenbeschränkung für Arbeitgeber, da sie per Gesetz nur einen syrischen Flüchtling pro zehn einheimische Arbeitskräfte einstellen dürfen. Das Resultat dieser Bedingungen ist nicht überraschend: Obwohl 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei im erwerbsfähigen Alter sind, gehen nach Schätzungen der Interner Link: Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nur etwa eine Million einer Arbeit nach. Die große Mehrheit von ihnen ist in informellen Jobs beschäftigt: Nach den jüngsten Statistiken des türkischen Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit wurden im Jahr 2021 lediglich 91.500 Arbeitsgenehmigungen für Syrerinnen und Syrer erteilt. Darunter befinden sich auch syrische Staatsangehörige, die nicht als Flüchtlinge, sondern als Arbeitsmigranten in die Türkei gekommen sind. Selbst wenn alle diese Genehmigungen für syrische Flüchtlinge ausgestellt worden wären, würde das bedeuten, dass von allen syrischen Flüchtlingen im arbeitsfähigen Alter in der Türkei nur 4,2 Prozent eine formelle Beschäftigung haben.

Kinderarbeit

Nicht nur erwachsene Syrerinnen und Syrer sind mit den Risiken informeller Arbeitsverhältnisse – wie etwa Ausbeutung – konfrontiert. Auch Kinder sind davon betroffen – vor allem, wenn sie nicht zur Schule gehen. Von den 1,37 Millionen syrischen Kindern im schulpflichtigen Alter gehen 393.547 nicht zur Schule. Von ihnen werden Jungen am ehesten als Kinderarbeiter in informelle Unternehmen wie Sweatshops geschickt; Mädchen hingegen verrichten meist unsichtbare Hausarbeit und werden oft schon in jungen Jahren verheiratet, weil ihrer eigenen Familie die Mittel fehlen, um sie zu versorgen.

Was sind Sweatshops?

Bei Sweatshops handelt es sich zumeist um informelle Produktionsstätten, in denen die Beschäftigten unter unsicheren und ungesunden Bedingungen arbeiten, z. B. mit wenig Pausen, schlechter Belüftung, unzureichender Beleuchtung und hoher Lärmbelastung. Sie haben lange Arbeitszeiten und erhalten niedrige Löhne. Sweatshops sind besonders in der Textilindustrie in der Türkei weit verbreitet.

Kinderarbeit ist in der Türkei kein neues Phänomen. Sie ist tief in der Gesellschaft verwurzelt und zwar aus verschiedenen komplexen strukturellen Gründen: etwa Armut, niedrige Bildung, mangelnder sozialer Schutz, Land-Stadt-Migration oder begrenzte Möglichkeiten, Arbeit in einem formellen Beschäftigungsverhältnis zu finden. Obwohl die Gesamtzahl der Kinder, die in der Türkei einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen, seit den 1990er Jahren deutlich zurückgegangen ist, gab es laut der jüngsten Erhebung des türkischen Statistikinstituts über Kinderarbeit im Jahr 2019 immer noch schätzungsweise 720.000 Kinderarbeitskräfte. In dieser Zahl sind syrische Kinder nicht enthalten, da sie bei der Erhebung nicht berücksichtigt wurden. Doch angesichts der oft prekären Situation, in der sie leben, sind syrische Kinder in besonderem Maße dem Risiko ausgesetzt, in Kinderarbeit zu geraten.

Unabhängig von ihrem Alter sind Syrerinnen und Syrer, die in der informellen Wirtschaft in der Türkei arbeiten, in der Regel in schlecht bezahlten und prekären Jobs beschäftigt, vor allem wenn sie nicht gut Türkisch sprechen und vorher keine einschlägige Berufserfahrung hatten. Oft übernehmen sie Aufgaben, die sonst nur wenige für den gezahlten Lohn übernehmen würden. In vielen Sweatshops, die ich im Rahmen meiner Feldforschung in Istanbul persönlich besucht habe, handelt es sich um Arbeitsplätze in der lautesten und dunkelsten Ecke eines zum Atelier umfunktionierten Depots im Keller eines schlecht gewarteten Gebäudes. Dort ist eine typische Arbeitswoche, wenn man Glück hat, nur sechs Tage lang und umfasst etwa 60 Arbeitsstunden. Viel zu oft liegt die Entlohnung dabei unter dem Mindestlohn.

Informalität und die Rechte von Arbeitnehmenden

Allerdings ist auch die Informalität in der Türkei kein neues Phänomen. Verschiedenen Schätzungen zufolge war bereits vor der Ankunft der syrischen Flüchtlinge etwa ein Drittel der nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigung informell. Und schon bevor Syrerinnen und Syrer in die informelle Wirtschaft strömten, litten (und leiden) türkische und kurdische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitskräfte anderer ethnischer Herkunft unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die mit geringer Bezahlung und prekären Arbeitsverhältnissen einhergehen. Untersuchungen zeigen, dass syrische Flüchtlinge, darunter auch Flüchtlingskinder, vor allem in den ersten Jahren des Konflikts eine noch ungünstigere Position innehatten, die sich später mit ihrer größeren Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern leicht verbesserte. Ungeachtet dessen arbeiten sie aber nach wie vor zu niedrigeren Löhnen, was die Spannungen zwischen einheimischen Arbeitnehmenden und Flüchtlingen in der Interner Link: Textilindustrie verschärft. Da sie jedoch befürchten, ihre einzige Einkommensquelle zu verlieren, beschweren sich die meisten informell Beschäftigten weder bei ihren Arbeitgebern noch bei den Behörden über schlechte Arbeitsbedingungen. Generell sind in der Türkei die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schwach – auch derjenigen, die formell beschäftigt sind. Laut dem Global Rights Index 2023 des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) gehört die Türkei aufgrund der Unterdrückung von Streiks, der willkürlichen Verhaftung von Gewerkschafter*innen und der systematischen Zerschlagung von Gewerkschaften durch die Entlassung von Beschäftigten, die versuchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, weltweit zu den zehn schlechtesten Ländern für Arbeitnehmende.

Informalität und Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie

Die Bekleidungsindustrie ist ein wichtiger Sektor der türkischen Wirtschaft. Nach Angaben des türkischen Handelsministeriums war das Land im Jahr 2022 der sechstgrößte Bekleidungslieferant der Welt und der drittgrößte Exporteur von Bekleidung in die EU. Gleichzeitig ist die Textilindustrie einer der wichtigsten Wirtschaftszweige, in denen die Flüchtlingsbevölkerung beschäftigt ist, da sie in hohem Maße auf informeller Produktion, billigen Arbeitskräften und prekären Beschäftigungsbedingungen aufbaut. Der Wettbewerbsdruck in der Textilindustrie ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Informalität in diesem Sektor in der Türkei so stark ausgeprägt ist. Insgesamt sind in der türkischen Textilindustrie mehr als zwei Millionen Menschen beschäftigt, von denen etwa eine Million informell arbeiten.

Das Kernproblem der globalen Bekleidungsindustrie besteht darin, dass sie auf sehr kurze Produktionszyklen setzt und einen hohen Preisdruck auf die Auftragnehmer ausübt, was zu einer starken Nachfrage nach kostengünstigen und flexiblen Arbeitskräften führt. Untersuchungen zeigen, dass globale Marken zwar die legalen Textilhersteller direkt beauftragen, informelle Subunternehmerinnen und -unternehmer jedoch sofort – in der Regel uneingestanden – in diese Geschäftsbeziehung einbezogen werden. Die Art und Weise, wie sich der informelle und der formelle Sektor ergänzen, kann als Ergebnis des Zeit- und Kostendrucks seitens der globalen Auftraggeber betrachtet werden. Die Beschäftigten im informellen Textilsektor arbeiten extrem lange unter schlechten Arbeitsbedingungen, um die Aufträge fristgerecht auszuführen. Mit anderen Worten: informelle Sweatshops ergänzen den formellen Bekleidungssektor und erhalten die Wettbewerbsfähigkeit vieler Auftragnehmer in den wichtigsten Bekleidungsexportländern. Deshalb gibt es bei einigen dieser großen formellen Auftragnehmer Angestellte, deren einzige Aufgabe darin besteht, die Produktionsqualität und die Preise in informellen Ausbeuterbetrieben rund um Produktionszentren wie Istanbul zu kennen, damit sie ihren Arbeitgebern helfen können, jeden noch so großen Auftrag, den sie von einer bekannten Marke erhalten haben, problemlos auszulagern. Wenn globale Marken ihre legalen Auftragnehmer inspizieren oder Arbeitsaudits durchführen, besuchen sie nur die formellen Produktionsstätten. So bleiben ihnen die ausbeuterischen Bedingungen verborgen, unter denen die informellen Arbeitskräfte, die die Aufträge zu einem Großteil ausführen, arbeiten. Auf dem Papier gibt es also keine Ausbeutung von Arbeitskräften und keine Verstöße gegen die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dennoch: den Akteuren des Sektors können diese Verstöße schlichtweg nicht völlig verborgen bleiben, da die Auslagerungspraxis so weit verbreitet ist und die informellen Ausbeuterbetriebe infolgedessen wie Pilze aus dem Boden schießen und im Stadtbild sichtbar werden.

Der Elefant im Raum

Unterm Strich ist die globale Bekleidungsindustrie auf eine Produktionslinie angewiesen, die schnell liefert und wenig kostet. Dies scheint unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen nur durch die Massenbeschäftigung billiger Arbeitskräfte in Entwicklungs- und Schwellenländern wie der Türkei möglich zu sein. Der Preisdruck hat sich in den letzten Jahren so sehr verschärft, dass sogar einige türkische Marken die Produktion in Länder wie Vietnam, Kambodscha und Bangladesch auslagern, wo die Arbeitskräfte noch billiger sind. Daher ist eine gemeinsame Anstrengung erforderlich: 1) von Regierungen mit starken Mandaten, die Gesetze zum Verbot solcher Arbeitsrechtsverletzungen strikt durchzusetzen, 2) von globalen Marken, die sich entschieden dafür einsetzen, dass nichts von dem, was sie verkaufen, von unregulierten Auftragnehmern stammt, sowie 3) von Verbrauchern, die nie ein unter ausbeuterischen Bedingungen hergestelltes Kleidungsstück kaufen würden. In Anbetracht der Tatsache, dass es fast unmöglich erscheint, eine solche Allianz zu schmieden, und angesichts des anhaltenden strukturellen Problems der Armut außerhalb der entwickelten Welt, scheint eine schnelle Lösung für das derzeitige System von Missbrauch und Ausbeutung illusorisch.

Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel

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Dr. Ayşegül Kayaoğlu ist außerordentliche Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Istanbul, Türkei, und Senior Researcher im Welfare Program am International Security and Development Center (ISDC), Deutschland. Außerdem ist sie Fellow im Projekt Flucht- und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer (FFVT) am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Ihre Forschungsinteressen umfassen Migrationsökonomie, Arbeitsökonomie und informelle Institutionen.