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Psychische Gesundheit von radikalisierten Straftätern in Haft und Bewährungshilfe Die Bedeutung multiprofessioneller Kooperationen

Kerstin Sischka Heiner Vogel

/ 14 Minuten zu lesen

Welche Rolle spielt die psychische Gesundheit für das Gelingen von Distanzierungs- und Ausstiegsprozessen aus dem politisch oder religiös begründeten Extremismus? Diese Frage erhält in der Fachöffentlichkeit seit einiger Zeit erhöhte Aufmerksamkeit. Auch Menschen, die im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe arbeiten, brauchen ein Verständnis von den komplexen Beziehungen zwischen der psychischen Verfassung eines Menschen und einer potenziellen (De-)Radikalisierung.

Der folgende Beitrag liefert einen Überblick über empirische Befunde zur psychischen Gesundheit im Kontext der Extremismusprävention. Er skizziert Möglichkeiten und Herausforderungen einer wirksamen Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit in der Haft und in der Bewährungshilfe. Thematisiert wird auch die Zusammenarbeit zwischen Justiz und externen Trägern der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung. Auf dieser Basis werden Empfehlungen entwickelt, wie Fachkräfte in einem multiprofessionellen Kontext mit psychisch stark belasteten beziehungsweise auffälligen Inhaftierten und Haftentlassenen arbeiten können.

Studien zufolge könnten bei mehr als einem Drittel der Personen, die aufgrund extremistisch motivierter Straftaten oder terroristischer Delikte inhaftiert sind, psychische Störungen vorliegen. (© Adobe-Stock/Eberhard)

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Aktuelle empirische Befunde zu Mental Health bei Radikalisierten und extremistischen Straffälligen

Empirische Studien deuten darauf hin, dass ein hoher Anteil Inhaftierter unter psychischen Störungen leidet – darunter Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, Substanzkonsumstörungen, Depressionen oder psychotische Störungen (vgl. Durcan/Zwemstra 2014: 87). Allerdings liegen bislang nur wenige Daten zur psychischen Gesundheit Inhaftierter vor, die aufgrund extremistisch motivierter Straftaten oder terroristischer Delikte verurteilt wurden oder die von Sicherheits- und Justizbehörden als empfänglich für extremistische Einstellungen eingeschätzt werden.

Es gibt jedoch einige Studien, die darauf hinweisen, dass bei mehr als einem Drittel der aufgrund extremistisch motivierter Straftaten oder terroristischer Delikte verurteilten Personen psychische Störungen vorliegen könnten (vgl. Thijssen et al. 2021). So weisen Thijssen et al. (2023) auf eine erhöhte Prävalenz (Häufigkeit) psychischer Störungen bei einer kleinen Subgruppe einschlägig Verurteilter hin, die sie als „verhärtet ideologisch“ bezeichnet, und die zu 38,5 Prozent schwere psychische Störungen und zu 46,3 Prozent Persönlichkeitsstörungen zeigen. Thijs et al. (2023) haben auf der Basis von Akten der Bewährungshilfe herausgefunden, dass sich in der Teilgruppe der sogenannten Foreign Fighters bei 38,2 Prozent psychische Problemlagen zeigten. Und Kenyon et al. (2023) zeigen, dass bei 42 Prozent der Inhaftierten, die sich primär im Online-Umfeld radikalisierten, psychische Erkrankungen, Autismus-Spektrumsstörungen und Störungen der Persönlichkeitsentwicklung vorhanden waren. Zudem ergab eine Analyse forensischer Gutachten durch den Psychiater Nils Duits, dass bei 81 Prozent der einschlägig verurteilten Jugendlichen beziehungsweise 73 Prozent der Erwachsenen Symptome psychischer Erkrankungen und Belastungen feststellbar waren (vgl. Duits et al. 2022). Ein Teil der Inhaftierten zeigte außerdem nicht nur eine, sondern mehrere psychische Störungen, die sich gegenseitig verstärken können (vgl. Thijssen et al. 2021; Duits et al. 2022). Bei Inhaftierten, die mit dem islamistischen Extremismus sympathisieren, liegen Befunde zu einem – allerdings nicht näher spezifizierten – Anteil psychischer Problemlagen zwischen 50 und 70 Prozent vor (vgl. Duits et al. 2022; King 2018). Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass es sich um einzelne Erhebungen handelt, die weder Verallgemeinerungen zulassen, noch Vergleiche zu Extremist:innen anderer Phänomenbereiche erlauben.

Allerdings zeigen sich ähnliche Beobachtungen, wenn der Blick auf islamistisch radikalisierte Personen außerhalb der Haftanstalten gerichtet wird: Weenink (2015; 2019) diagnostizierte bei einer Untersuchung von niederländischen Dschihadisten bei rund 28 Prozent der Personen psychische Erkrankungen. Psychosoziale Problemlagen stellte er in 60 Prozent der Fälle fest. Die vor allem im Bereich der Sekundärprävention tätige deutsche Beratungsstelle SALAM stellte bei rund einem Drittel ihrer Klient:innen psychische Problemlagen fest (vgl. Möller et al. 2021:90). Grimbergen/Fassaert (2022) untersuchten mithilfe psychiatrischer Diagnostik eine Gruppe junger Menschen aus einem tertiärpräventiven Programm in Amsterdam. Sie fanden komplexe, teilweise mehrfache und sich gegenseitig verstärkende psychische Störungen. Ein systematisches Review bislang veröffentlichter Studien zur Prävalenz von psychischen Problemen und Störungen unter terroristischen Attentäter:innen unterschiedlicher Couleur bemängelt allerdings die begrenzte Aussagekraft vieler Studien aufgrund der unzureichenden Datenlage und methodischer Defizite (vgl. Sarma/Carthy/Cox 2022).

Darüber hinaus arbeiten die zitierten Studien nicht genauer heraus, in welcher Weise die psychopathologischen beziehungsweise persönlichkeitsstrukturellen Auffälligkeiten zur Radikalisierung beigetragen haben. Psychische Vorbelastungen reichen oftmals weit in der Biografie zurück und existierten in vielen Fällen bereits vor dem Einstieg in die radikale Szene. Somit speisen sie auch die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und können bestimmte Lebensentscheidungen und Taten beeinflussen. Manche der Problemlagen entstehen bereits in der Kindheit und Jugend (vgl. Rolling/Corduan 2018; vgl. Duits et al. 2022; Al-Attar 2021). Hier können widrige und traumatische Erfahrungen eine Rolle spielen (Weenink 2019; Windisch/Simi et al. 2022; Oppetit 2019 et al.; Rolling et al. 2022; Grimbergen/Fassaert 2022).

Ein Teil der später Inhaftierten wurde bereits im Jugendalter institutionell betreut (vgl. Thijssen et al. 2021, Möller et al. 2021). Bei manchen der später Inhaftierten entwickelten sich während der Zeit in der extremistischen Szene psychische Erkrankungen – wie etwa Traumafolgestörungen oder Störungen der Persönlichkeitsentwicklung. Dies lässt sich zum Beispiel bei Personen beobachten, die viele Jahre in Kriegsgebieten gelebt haben oder dort aufgewachsen sind (vgl. Dhumad et al. 2020). Mitunter überlagern sich traumatische Erlebnisse in der Adoleszenz mit belastenden Fluchterfahrungen und späteren Integrationshemmnissen – wie beispielsweise bei Menschen mit Fluchthintergrund, die straffällig werden. Psychische Störungen können sich auch während der Radikalisierung herausbilden oder verstärken (Weenink 2019; Köhler 2020) und schließlich auch Gewaltakte begünstigen (vgl. Corner/Gill 2015; Reid Meloy/Yakeley 2014). Zudem können sich psychische und psychosoziale Probleme während der Haft verschärfen (vgl. Hill 2021). Nicht selten gehen diese mit Depressionen, Suchtmittelkonsum oder Psychosen einher (vgl. Al-Attar 2021).

Aus den Studien geht nicht hervor, welchen Einfluss psychische Problemlagen auf eine (potenzielle) Distanzierung und Deradikalisierung haben können. Es spricht vieles dafür, dass persönliche Problemlagen in der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung ein zusätzliches Hindernis sein könnten. Solche Belastungen beeinflussen etwa die eigene Fähigkeit zu reflektieren, mit dem Umfeld zu interagieren oder Hilfe anzunehmen. Auch auf die Fähigkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu planen und zu gestalten, nehmen sie Einfluss. Aus den Befunden können daher Schlussfolgerungen für die Prävention, Deradikalisierung und das Risikomanagement während und nach der Haftentlassung gezogen werden. Es scheint notwendig, die Befunde besonders unter dem Aspekt einer multiprofessionellen Kooperation genauer zu betrachten. Die wichtigsten Akteure sind hierbei die Justiz, das Gesundheitswesen und zivilgesellschaftliche wie auch staatliche Fachträger der Extremismusprävention.

Der Umgang mit einschlägig verurteilten Inhaftierten, die psychisch belastet sind

Die deutschen Strafvollzugsgesetze sehen vor, dass bei jedem und jeder Gefangenen zu Beginn der Haft ein Aufnahme- und Diagnostikverfahren erfolgt. Daraus resultiert ein Vollzugs- und Eingliederungsplan, welcher der inhaftierten Person Orientierung und Rechtssicherheit vermitteln soll. Auf Basis einer psychologischen und sozialen Diagnostik werden im Vollzugsplan individuelle Maßnahmen definiert, wie der Strafvollzug für die betreffende Person zu gestalten ist. Dies zielt darauf ab, den Vollzugszielen gemäß § 2 StVollzG – Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten – möglichst nahe zu kommen.

Während der Diagnostik werden Faktoren ermittelt, die die Straffälligkeit begünstigen. Gleichzeitig sollen auch Umstände ermittelt werden, die einer erneuten Straffälligkeit der Gefangenen entgegenwirken können, wenn sie gestärkt werden. Daher können im Vollzugsplan auch einzel- und gruppentherapeutische Maßnahmen oder die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Einrichtung und Teilnahme an deren Behandlungsprogrammen enthalten sein.

Gesetzlich ist vorgegeben, dass die Vollzugs- und Eingliederungsplanung mit den Vollzugsplankonferenzen bei erwachsenen Inhaftierten meist alle sechs bis zwölf Monate fortgeschrieben wird. Ziel ist es, den Entwicklungs- und Behandlungsstand im Sinne des gesetzlichen Auftrags zu überprüfen ¬– also das individuelle Vollzugsziel sowie die Prognose. Die Überprüfung stützt sich auf aktuelle Einschätzungen der Gefangenen selbst sowie Stellungnahmen der Fachdienste. Bei Jugendlichen hat der Vollzug insbesondere einen Förder- und Erziehungsauftrag, der sich grundsätzlich in der Gestaltung des Vollzugs widerspiegeln muss. Im Folgenden soll differenziert auf die Teilgruppen der erwachsenen Inhaftierten (männlich und weiblich) sowie auf Jugendliche beziehungsweise Heranwachsende eingegangen werden.

Erwachsene im Strafvollzug

Die überwiegende Mehrheit der Personen, die aufgrund von terroristischen Delikten im Kontext Islamismus verurteilt wurden, sind männliche Erwachsene. Den Angaben der Sicherheitsbehörden zufolge war Mitte 2022 eine hohe zweistellige beziehungsweise geringe dreistellige Anzahl von „Gefährder:innen“ im Strafvollzug inhaftiert (vgl. Deutscher Bundestag 2022). Hinzu kommen Inhaftierte, die wegen allgemeinen Delikten verurteilt wurden, jedoch von den Vollzugs- und Fachdiensten als offen für extremistische Ideologien und Zugehörigkeiten eingeschätzt werden.

Das Gefängnis ist für Inhaftierte ein „Ort der Verwundbarkeit“ (Neumann 2010). Der Verlust persönlicher Autonomie, Kränkungen des Selbstwertgefühls sowie das vorherrschende Machtgefälle führen viele Gefangene in individuelle Sinnkrisen. Diese können sie empfänglich für extremistische Botschaften machen. Wie mit Inhaftierten umgegangen wird, beeinflusst wesentlich, wie sie ihre Zeit in Haft erleben und bewerten. Jeder positive, respektvolle Kontakt, jede prosoziale Interaktion zwischen Mitarbeitenden der Justizvollzugsanstalt (JVA) und den Inhaftierten fordert die Schwarz-Weiß-Logik der extremistischen Ideologie heraus.

Die Haftzeit verläuft jedoch individuell sehr unterschiedlich. Insofern können sich im Haftalltag psychische und verhaltensspezifische Auffälligkeiten auf verschiedene Weise zeigen. Mitarbeitende des Allgemeinen Vollzugsdienstes und des Sozialen Dienstes können im Laufe der Zeit fundierte Vermutungen anstellen. Mitunter thematisieren Mitgefangene Probleme und Leidenszustände oder geben Hinweise. Oder die inhaftierte Person äußert sich selbst und bittet um Unterstützung. (Mit dem Thema „Haftentlassung islamistischer Straftäter:innen“ beschäftigt sich auch der bpb-Beitrag „Interner Link: Und was nun?“)

Der Umgang mit psychisch belasteten oder auffälligen Inhaftierten gehört zum Alltag für den Allgemeinen Vollzugsdienst und für den Sozialen und Psychologischen Dienst. Die Mitarbeitenden der Fachdienste haben spezifische Möglichkeiten im Rahmen ihrer jeweiligen Rolle den Kontakt zu „schwierigen Inhaftierten“ zu pflegen. Dem Sozialdienst kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Sofern psychische Krisen durch bestimmte Belastungen bedingt sind, kann der Sozialdienst weitere Hilfen vermitteln, wie etwa Beratungsangebote, Suchtberatung, Schuldnerberatung oder auch bei der Freizeitgestaltung der Gefangenen mitwirken. Nicht selten werden hierfür auch Kontakte zu den Gefängnisseelsorger:innen hergestellt. All dies kann zu einer psychischen Stabilisierung der Inhaftierten beitragen. Ein wichtiger Bereich sind dabei Kriseninterventionen in psychischen Ausnahmesituationen und die Abklärung von Suizidalität. Es können auch ärztlich-psychiatrische Sprechstunden durch den Medizinischen Dienst vermittelt werden und bei akuten Notfällen kann eine Überweisung ins Haftkrankenhaus vorgenommen werden.

Der Sozialdienst kann die Inhaftierten auf psycho- und sozialtherapeutische Behandlungsmaßnahmen aufmerksam machen und sie dabei unterstützen, sich darauf zu bewerben. In manchen Fällen können psychische Probleme auf diese Weise gut behandelt werden. In vielen Fällen werden Inhaftierte jedoch aufgrund mangelnder Behandlung mit weiter bestehenden psychischen Problemen entlassen. Gründe dafür können fehlende Kapazitäten für Behandlungsmöglichkeiten oder auch die fehlende Bereitschaft der Inhaftierten sein, sich selbst in Behandlung zu begeben. Je nach Problemlage kann dies die allgemeine Kriminalitätsrückfallgefahr oder sogar das deliktspezifische Rückfallrisiko erhöhen.

Die Verurteilung von islamistisch motivierten Frauen im Kontext von Terrorismusstraftaten ist im Gegensatz zu männlichen Islamisten für die deutsche Justiz erst im Zuge der Rückkehr aus den ehemaligen „IS“-Gebieten zu einem wichtigen Thema geworden. Einschlägig verurteilte Frauen sind aber weiterhin für den Frauenvollzug eine Seltenheit. Sofia Koller hat herausgearbeitet, dass zwischen 2017 und Mitte 2022 mehr als 26 Rückkehrerinnen verurteilt wurden (vgl. Koller 2021: 38ff.). Sowohl männliche als auch weibliche Straffällige verbringen oft viel Zeit in Untersuchungshaft. Daher kann es passieren, dass bereits ein großer Teil der Haftzeit vergangen ist, wenn schließlich ein rechtskräftiges Urteil vorliegt.

Auch bei den weiblichen Inhaftierten wird im Rahmen eines Aufnahme- und Diagnostikverfahrens eine Vollzugs- und Eingliederungsplanung durchgeführt. Vorab wird geprüft, welche Vollzugsform für die Inhaftierte in Frage kommt. Die Erfahrungen zeigen, dass bei Frauen, die aufgrund von islamistisch motivierten Terrorismus- oder Extremismusdelikten verurteilt wurden, alle drei Vollzugsformen repräsentiert sind: Regelvollzug, offener Vollzug und Sozialtherapeutische Anstalt (SoThA). Mittlerweile kommt es häufiger vor, dass den weiblichen, aber auch männlichen Inhaftierten die Aufnahme in eine SoThA angeboten wird. Voraussetzung ist, dass die restliche Haftzeit (mindestens zwölf Monate) ausreicht, damit eine sozialtherapeutische Behandlung wirksam sein kann. Diese Entwicklung lässt sich positiv bewerten. Denn viele der Inhaftierten haben extreme Belastungen, Verluste und Traumata erfahren und haben persönlich oft massive Gewalt erlebt (vgl. Speckhard/Ellenberg 2020). Hinsichtlich der innerseelischen Folgewirkungen ähnelt ihre Situation häufig der Situation anderer traumatisierter Straffälliger.

Die SoThA ermöglicht oft ein günstiges psychotherapeutisches Umfeld. Denn die Behandlung ist hier immer mit intensiver einzel- und gruppentherapeutischer Arbeit verbunden. „IS“-Rückkehrer:innen bekommen dort die Möglichkeit, ihre Biografie, die eigenen Entscheidungen sowie deren Konsequenzen in einem geschützten therapeutischen Rahmen zu verarbeiten. Auch für sehr junge Inhaftierte kann die Behandlung in einer SoThA Sinn ergeben, um Entwicklungsschritte nachzuholen. Zudem ermöglicht die SoThA eine Nachsorge über die Haftentlassung hinaus. Damit profitieren Inhaftierte von einer therapeutischen Kontinuität, die es in dieser Weise im Regelvollzug nicht gibt. Zwar gibt es auch dort die Möglichkeit, eine externe Psychotherapie in Haft zu beginnen und diese im offenen Vollzug oder während der Bewährung fortzusetzen, aber die Schwellen dafür sind höher.

Jugendstrafvollzug

Die Debatte um minderjährige Straffällige mit Bezug zu islamistisch motivierten Straftaten ist noch relativ jung. In Syrien und im Irak sind bereits seit Jahren Tausende Jugendliche in Gefangenenlagern inhaftiert – in Syrien bis heute ohne Gerichtsurteile. Nur ein geringer Teil von ihnen – besonders im Alter ab 14 Jahren – ist in Rehabilitationseinrichtungen untergebracht. International besteht Einigkeit, dass es dezidierter Ansätze einer Rehabilitation bedarf. Auch in Deutschland dürfte dieses Problem in den nächsten Jahren an Relevanz gewinnen.

Aktuell sind strafrechtliche Verurteilungen von Jugendlichen aufgrund von Terrorismusparagrafen in Deutschland selten, auch wenn es Einzelfälle gibt und beispielsweise erwachsene Rückkehrer:innen aus Syrien nach Jugendstrafrecht verurteilt wurden. Für die Behandlung dieser Menschen liefert das Jugendstrafvollzugsgesetz den rechtlichen Rahmen. Dabei steht der Erziehungs- und Resozialisierungsgedanke im Vordergrund. Nicht immer münden die Maßnahmen in Haftstrafen, auch eine Aussetzung zur Bewährung mit entsprechenden Auflagen ist denkbar. Sofern es um schwerwiegende Taten und damit um langwierige Gerichtsprozesse geht, stehen die Jugendstrafanstalten vor der Herausforderung, den Heranwachsenden bereits während der Untersuchungshaft Perspektiven der Teilhabe und Förderung zu eröffnen.

Zusammenarbeit von Haftanstalten mit externen Angeboten der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung

Im Justizvollzug arbeiten seit einigen Jahren auch externe Fachträger mit Personen, die aufgrund von Radikalisierungstendenzen in Haft auffällig werden oder aufgrund von einschlägigen Delikten inhaftiert sind. Diese Unterstützungsangebote lassen sich unterteilen in staatliche und zivilgesellschaftliche Angebote. Sie ergänzen die internen Regelstrukturen des Justizvollzugs und können durch die Haftanstalten für die sekundär- oder tertiärpräventive Arbeit mit Inhaftierten hinzugezogen werden.

In den Bundesländern wurden dafür seit 2015 eigene Konzepte entwickelt, welche die Zusammenarbeit mit externen Trägern regeln. Darunter sind zivilgesellschaftliche Angebote (zum Beispiel „Violence Prevention Network“, das in der Bundesarbeitsgemeinschaft Strafvollzug und Bewährungshilfe organisiert ist), staatliche Angebote (die zum Beispiel bei Innenministerien oder Landeskriminalämtern angesiedelt sind) und spezialisierte Facheinrichtungen (zum Beispiel im Kontext Islamismus „Grüner Vogel“ als Teil des BAMF-Netzwerks). Die Facheinrichtungen arbeiten in der Interner Link: Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention mit einer Reihe etablierter Ansätze. Dort sind unterschiedliche Professionen tätig, beispielsweise Islam- und Religionswissenschaftler:innen, Pädagog:innen, Berater:innen oder Psycholog:innen. Im Folgenden soll ein Blick auf die Tertiärprävention geworfen werden.

Tertiärprävention

Die tertiäre Extremismusprävention umfasst die Ausstiegsbegleitung beziehungsweise die Deradikalisierungs- oder Distanzierungsarbeit. Zu den Zielgruppen der Tertiärprävention gehören auch Inhaftierte, die entweder aufgrund eines einschlägigen Delikts verurteilt wurden, oder in deren Gefangenenakte entsprechende Vorfälle oder Sachverhalte zweifelsfrei vermerkt sind. Solche Inhaftierten sind bei den Sicherheitsbehörden oft als „sicherheitsrelevante Fälle“ beziehungsweise „Gefährder:innen“ oder „relevante Personen“ vermerkt.

Die Zugänge zu diesen Personen sind sowohl sicherheitsbehördlich als auch durch die Haftanstalten stark reguliert, da Zuständigkeiten und Befugnisse der Träger variieren. Bei weitem nicht jede:r Inhaftierte:r ist dafür geeignet, durch staatliche oder zivilgesellschaftliche Ausstiegsprogramme und Deradikalisierungsmaßnahmen angesprochen zu werden – auch wenn nach der Haftentlassung der Bedarf eines Risikomanagements besteht. Es gibt jedoch unter den Straftäter:innen einen bedeutsamen Anteil, der ansprechbar für eine Ausstiegs- und Deradikalisierungsbegleitung ist.

Die Fachträger der Tertiärprävention haben unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu solchen Inhaftierten: In manchen Bundesländern steht ein proaktiv aufsuchender Zugang im Vordergrund, der von staatlichen Beratungsangeboten gewählt wird. Zivilgesellschaftliche Beratungsstellen, wie etwa „Grüner Vogel“, richten sich an Personen, die sich (teils bereits vor der Inhaftierung) eigenständig um die Aufnahme in das Beratungsangebot bemühen. Ein dritter Weg gestaltet sich über die Haftanstalten selbst. Sie beauftragen etablierte Träger – wie beispielsweise Violence Prevention Network – mit der Ausstiegsbegleitung und Distanzierungsarbeit. Voraussetzung ist dabei, dass die inhaftierte Person zustimmt.

Die Auswahl der Behandlungsmaßnahmen für Inhaftierte erfolgt durch die Haftanstalten immer einzelfallbezogen. Spezifische Interventionsangebote im Zusammenhang mit extremistischer Radikalisierung sind dabei nur ein „Baustein einer ganzheitlichen Vollzugs- und Behandlungsplanung“ (Pelzer/Moeller 2020:14). Interventionsmaßnahmen für Gefährder:innen, Sympathisant:innen und Gefährdete überschneiden sich zu großen Teilen mit denen, die auch anderen Inhaftierten im Sinne des Resozialisierungsgrundsatzes zustehen.

Die Haftanstalten tragen dabei eine große Verantwortung für die Inhaftierten. Sie müssen in der Lage sein, die passende Beratungs- oder Behandlungsmaßnahme für die inhaftierte Person zu finden, nicht zuletzt um das Rückfallrisiko effektiv zu reduzieren beziehungsweise eine Reintegration nach der Haft zu ermöglichen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die inhaftierte Person auf sehr unterschiedliche Weise psychisch belastet sein kann: Traumafolgen und Entwicklungsstörungen aber auch schwere und komplexe Erkrankungen können vorliegen. Ebenso möglich sind Erkrankungen, die sich mit der Haft verstärken, wie etwa Depressionen und Ängste. Daher sollten die haftinternen Möglichkeiten von psychotherapeutischer Unterstützung ausgeschöpft werden, und wenn es sich anbietet, externe Psychotherapeut:innen einbezogen werden.

Gleichzeitig liegt es in der Verantwortung der Haftanstalten, einzuschätzen, ob ein haftexternes Angebot in einem konkreten Fall geeignet ist. Das setzt voraus, dass das entsprechende Angebot in der Haftanstalt und bei der übergeordneten Fachaufsicht im Detail bekannt ist – insbesondere wie das Angebot funktioniert (Konzept-, Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität). Denn die psychische Verfassung hat immer eine Auswirkung darauf, ob Maßnahmen der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung angenommen werden, wie sie wirken, aber auch mit welchen möglichen Nebenwirkungen sie einhergehen.

Ausblick: Psychotherapeutische Beiträge zur Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung

Es wurde gezeigt, dass innerhalb der Gruppe einschlägig verurteilter beziehungsweise radikalisierter oder radikalisierungsgefährdeter Inhaftierter ein erhöhter Anteil von psychischen Auffälligkeiten und Belastungen bestehen könnte. Diese psychische beziehungsweise psychosoziale Ausgangslage beeinflusst immer auch das Erleben eines Menschen. Sie kann in unterschiedlicher Weise auf die Hinwendung zu Ideologien, extremistischen Gruppenangeboten oder Gewaltbereitschaft einwirken. Zudem wirkt sich die psychische Situation auch auf die Möglichkeit und Bereitschaft aus, professionelle Hilfen anzunehmen und ist relevant für die Prognose nach der Haft und das Risikomanagement.

Für Akteure des Justizvollzugs ist daher relevant zu wissen, wie psychische Belastungen und Hinwendungs-, Verbleibs- oder Ausstiegsprozesse in Wechselwirkung zueinander stehen. Auch wenn der Umgang mit psychisch auffälligen oder belasteten Menschen zum Alltag gehört und psychologische Dienste etabliert sind, sollte insbesondere das psychotherapeutische Angebot als Teil der Regelstruktur in Gefängnissen weiterhin gestärkt werden. Basierend auf bereits existierenden Praxiserfahrungen, lassen sich folgende Empfehlungen ableiten:

Querschnittsthema: Erarbeitung einer Fallkonzeption mit Arbeitshypothesen zur Radikalisierung und Deradikalisierung
Die Wechselwirkung von psychischer Verfassung und Extremismusdistanzierung sollte genauer berücksichtigt werden, wenn Vollzugspläne erarbeitet werden. Dies sollte bereits nach dem Haftantritt frühzeitig in den jeweiligen Einweisungsabteilungen geschehen. Die Fachdienste können hier einen zentralen Beitrag in der Erarbeitung einer Fallkonzeption leisten, aus der Hypothesen für die Förderung von Distanzierungs- und Ausstiegsprozessen abgeleitet werden. Diese können im Verlauf der Haft weiterentwickelt werden.

Justizinterne Regelstrukturen für die Distanzierungsarbeit nutzen
Die Mitarbeitenden der JVAs sollten Inhaftierten frühzeitig Hilfsangebote unterbreiten. Hier ist es zudem wichtig, die Gesprächsbereitschaft zu fördern. Dies ist eine nicht unwesentliche Aufgabe der Fachdienste. Die Haftanstalten sollten ihre eigenen Regelstrukturen und Kompetenzen auch im Bereich der Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit verstärken und den Inhaftierten diejenigen Angebote zugänglich machen, die am besten für ihre spezifische individuelle, auch psychische und soziale Situation geeignet sind. Auch die Option einer Behandlung in einer Sozialtherapeutischen Anstalt sollte dafür in Erwägung gezogen werden.

Psychotherapeutisch-psychiatrische Netzwerke stärken, die mit Inhaftierten und Haftentlassenen arbeiten
Wenn eine SoThA keine Option ist, sollte erwogen werden, verstärkt externe Psychotherapeut:innen in die Arbeit mit psychisch belasteten Inhaftierten einzubeziehen. Bestenfalls sollten dies Psychotherapeut:innen sein, die bereits Erfahrung mit dem Phänomenbereich haben oder diese ausbauen möchten. Es sollte eine haftinterne Stelle geben, die ein solches Angebot an die Inhaftierten vermitteln und dafür Motivationsarbeit leisten kann.

Außerdem sollte das Übergangsmanagement psychotherapeutisch verstärkt werden. Während und in Folge der Haftentlassung wäre es günstig, wenn die Fachdienste sich mit psychotherapeutisch-psychiatrischen Stellen vernetzen würden, die bereit sind, mit den Inhaftierten und Haftentlassenen zu arbeiten. Im Gesundheitswesen sind an der Schnittstelle zur Justiz verstärkte Angebote der Aus-, Fort- und Weiterbildung notwendig. Um fachkundige Psychotherapeut:innen und Psychiater:innen für die Arbeit mit inhaftierten und haftentlassenen Personen zu gewinnen, sollte es bereits während der Aus- und Weiterbildung entsprechende Seminar-, Supervisions- und Fachberatungsangebote geben. Ziel sollte sein, die multiprofessionellen Netzwerke mit der Gesundheitsversorgung zu verstärken.

Psychologisch-psychotherapeutische Ressourcen für die Bewährungshilfe bereitstellen
Auch Fachkräfte der Bewährungshilfe sollten auf Fallhilfen, Fortbildungen oder themenspezifische Angebote zurückgreifen können. Besonders geeignet erscheinen Möglichkeiten für Einzel- oder Gruppenfallbesprechungen, in denen sie sich in einem kollegialen Rahmen mit psychotherapeutischen Fachkräften über ihre Arbeit austauschen können (Supervision).

Darüber hinaus ist es sinnvoll, wenn es in der Bewährungshilfe eine:n direkt integrierte:n Psychotherapeut:in gibt, die den Klient:innen externe Sprechstunden und Behandlung vermitteln kann.  

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Quellen / Literatur

Al-Attar, Zainab (2020): Severe Mental Disorder and Terrorism: When Psychosis, PTSD and Addictions Become a Vulnerability, in: The Journal of Forensic Psychiatry & Psychology, Vol. 31 (6), S. 950-970.

Al-Attar, Zainab (2021): Autism Spectrum Disorders and Terrorism: How Different Features of Autism Can Contextualise Vulnerability and Resilience, in: The Journal of Forensic Psychiatry & Psychology, Vol. 31 (6), S. 926-949.

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Fussnoten

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Kerstin Sischka, Dipl.-Psych. & M.A., ist psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin (DPV/IPA/DGPT). 2018 hat sie gemeinsam mit psychoanalytischen Kolleg/-innen die Fachstelle Extremismus und Psychologie (FEP) mit dem Projekt "NEXUS – Justiz und Extremismus" ins Leben gerufen. Seit 2023 hat sie die Leitung des psychotherapeutisch-psychiatrischen Beratungsnetzwerkes NEXUS inne, welches unter dem Dach der Charité Universitätsmedizin durch das BAMF und die Landeskommission Berlin gegen Gewalt (im Rahmen des Landesprogramms Radikalisierungsprävention) als Psychotherapeutisch-Psychiatrisches Beratungsnetzwerk gefördert wird.

Heiner Vogel ist Politikwissenschaftler. Er hat in Freiburg im Breisgau und in Jena studiert. Er ist Autor des Fachblogs "Erasmus Monitor" und wissenschaftliche Begleitung des Beratungsnetzwerkes NEXUS.