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Fremd im eigenen Land? Ostdeutsche als Migrant:innen? Eine skeptische Entgegnung. | Zugehörigkeit und Zusammenhalt in der Migrationsgesellschaft | bpb.de

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Fremd im eigenen Land? Ostdeutsche als Migrant:innen? Eine skeptische Entgegnung.

Patrice G. Poutrus

/ 6 Minuten zu lesen

Können die Erfahrungen von Ostdeutschen mit denen von Migrant:innen verglichen werden? Historiker Patrice G. Poutrus findet, alles kann verglichen werden, aber dadurch ist es noch längst nicht das Gleiche.

Von der Hauswand eines Hotels in Erfurt wird realsozialistische Auftragskunst des SED-Regimes entfernt (Aufnahmedatum 21.08.1992). (© picture-alliance, ZB)

In der öffentlichen Debatte um Interner Link: Identitätspolitiken gesellschaftlicher Minderheiten hat sich erstaunlich unhinterfragt der Topos etabliert, dass identitätspolitische Interventionen die innergesellschaftlichen Spannungen vergrößern würden oder sogar zu einer Entsolidarisierung in der Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit führen könnten. Ausgenommen von dieser Kritik werden bemerkenswerterweise auf die Verhältnisse im Osten des vereinten Deutschlands bezogene identitätspolitische Interventionen, wie die der Soziolog:innen Naika Foroutan und Interner Link: Daniel Kubiak. Diese haben öffentlichkeitswirksam eine Analogie zwischen der Lage von Migrant:innen in der Bundesrepublik und Ostdeutschen postuliert. Beide Gruppen seien "stark von symbolischen Ausschlüssen" gekennzeichnet. Auch werden institutionelle Diskriminierung, Konfrontation mit Vorurteilen und materielle Benachteiligung attestiert.

Unterstützt wird diese Parallelisierung gesellschaftlicher Verhältnisse bisher hauptsächlich von einer soziologisch inspirierten Publizistik, die ein ostdeutsches Opfernarrativ fortschreibt. Sie stellt die Härten des Interner Link: Transformationsprozesses nach der Überwindung der Interner Link: SED-Diktatur als Unterdrückung bzw. Unterwerfung durch eine externe Macht, den Westen bzw. die Bunderepublik, dar. Beklagt wird, dass die Interner Link: DDR erfolgreich zum Unrechtsstaat deklariert worden sei. Die DDR-Vergangenheit positiv zu besetzen, sei nur schwer möglich, weil ostdeutsche Lebenserfahrungen weitgehend "durch das alte Regime politisch kontaminiert" seien, so Steffen Mau. Eine Mehrheit der Ostdeutschen fühle sich als Bürger:innen zweiter Klasse. Es ist von traumatischen Erfahrungen die Rede, welche selbst später geborene Ostdeutsche noch prägten, würden diese doch Kulturkonflikte, Zurücksetzung und Ausgrenzung bis in die Gegenwart erleben.

Aufstiegswillige Ostdeutsche würden Teile ihrer Lebensgeschichte verschweigen, was für viele Minderheiten typisch sei. So werde eine Kultur bzw. Lebensweise, wie sie sich in der DDR herausgebildet hatte, entwertet. Wissenschaft, Kunst, Film, Architektur, kurz alles werde als bedeutungslos abgetan. Insbesondere der Austausch der Eliten in Folge der Interner Link: friedlichen Revolution in der DDR und der daraus resultierenden Interner Link: Deutschen Einheit habe zur "Überschichtung der Sozialstruktur" geführt. Aus der Perspektive von Foroutan/Kubiak hätte dies eine "Repräsentationslücke" zur Folge. In einer Kurzschluss-Analogie wird aus dieser Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland ein strategisches Bündnis zwischen Migrant:innen und Ostdeutschen für erstrebenswert angesehen. Dass ist insofern überraschend, als an anderer Stelle die negativen Einstellungen gegenüber Migrant:innen und Geflüchteten in Ostdeutschland mit den Folgen der sozialen Erschütterungen im Kontext der Transformation legitimiert wurden.

Diese Sichtweise behauptet letztlich, dass die Ostdeutschen gänzlich unbeteiligt waren an dem Prozess, der zu den dramatischen Transformationen in Ostdeutschland führte. Tatsächlich haben viele Menschen in Ostdeutschland die rasanten Veränderungen seit 1989 als Zumutung und Überforderung empfunden. Nicht wenige hegen deshalb einen Groll gegen die aktuellen Verhältnisse. Damit ist aber weder die Frage beantwortet, wie es zum dramatischen Interner Link: Wandel der politischen und Interner Link: wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR bzw. Ostdeutschland kam, noch, wer dafür jeweils verantwortlich war. Unklar bleibt auch, warum die Mehrheit der Ostdeutschen bei der Volkskammerwahl im März 1990 und später – insbesondere in den 1990er Jahren – die Regierungen in Bund und in den Ländern immer wieder bestätigte. Sicher ist nur, dass die Deutsche Einheit und die damit verbundene Politik der sozialen und ökonomischen Transformationen in Ostdeutschland kein Schicksal war, das über die DDR-Bürger:innen hereinbrach. Vielmehr handelte es sich um Mehrheitsentscheidungen, die vor allem aus den ökonomischen, ökologischen und sozialen Zuständen des untergegangenen SED-Staat herrührten und damit erklärt werden können. "Der Westen" hat "den Osten" nicht einfach übernommen, sondern die Ostdeutschen haben sich Westdeutschland angeschlossen, und die Gründe dafür waren vielfältig und schwerwiegend.

Schon deshalb sind die Ostdeutschen keine Migrant:innen im eigenen Land, denen ihre Heimat verlustig gegangen ist, wie wiederholt formuliert wurde. Von manchen ostdeutschen Akteur:innen wurde sogar die These aufgestellt, die ostdeutschen Länder seien eine Art Kolonie "des Westens". Beide Behauptungen vereinfachen die Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart auf höchst problematische Weise, wenn z.B. aus disparaten Tatbeständen, wie Interner Link: Elitenbildung und Eigentumsstruktur in der ostdeutschen Gesellschaft, die Forderung nach einer Solidaritätsgemeinschaft "der Ostdeutschen" begründet wird. So werden aber die Gegensätze und Konflikte in Ostdeutschland weitgehend ignoriert. Und das Opfer-Narrativ in Ostdeutschland nur bestätigt. Dies ist umso problematischer, wenn man bedenkt, dass es letztlich besonders den rechtsradikalen Menschenfeinden in die Hände spielt, denn es stützt deren Vorstellung von Gleichheit nach Herkunft, die darüber entscheidet, wer welche soziale Unterstützung und gesellschaftliche Anerkennung verdient. Das aber ist das praktische Gegenteil von innergesellschaftlicher Solidarität, die nach der Bedürftigkeit von Menschen fragt, und zwar von allen Menschen in Ostdeutschland, wie auch in der übrigen Bundesrepublik.

Schon der genaue Blick auf die sogenannte Wendezeit (eine Vokabel der SED-Führung) bzw. die "friedliche Revolution" zeigt: Die Menschen aus der DDR haben diese aufregende Periode – wie auch die Deutsche Einheit – höchst unterschiedlich erlebt. Die unterschiedlichen Erfahrungen hingen u.a. davon ab, wie die Menschen zum ruinierten SED-Staat standen und welche Hoffnungen und Erwartungen sie mit den sich anbahnenden Veränderungen verbanden. Es gab Vorstellungen, die vom Reform-Kommunismus, einen sozialdemokratischen dritten Weg, einen liberalen Verfassungspatriotismus, über eine ökologische Erneuerung, einen feministischen Aufbruch, ein neoliberales Wirtschaftswunder, eine Rückkehr zum Nationalstaat bismarckscher Prägung, bis hin zu einer rassistischen Volksgemeinschaft reichten. Schon deshalb kann eine Ostdeutschland-Erzählung jenseits von Opfermythos und Menschenfeindlichkeit weder eine Erfolgs- noch eine Verlustgeschichte sein. Vielmehr sollte es eine Erzählung von vielen und doch miteinander verbundenen Geschichten sein und es sollten dabei auch diejenigen Stimmen einbezogen werden, die bisher kaum zu Wort kamen.

In diesem Zusammenhang sei auf einen Kritikpunkt verwiesen, den die ostdeutsche Soziologin Katharina Warda schon vor einiger Zeit formulierte: Im vorgestellten ostdeutschen Opfer-Narrativ kommen Migrant:innen und BPoC in bzw. aus Ostdeutschland schlicht nicht vor. Diese Menschen haben aber Interner Link: vor und nach der Deutschen Einheit in Ostdeutschland Erfahrungen mit der ostdeutschen Mehrheitsgesellschaft machen müssen, die sich nicht in eine Anklage an "den Westen" – wer oder was das auch sein sollte – einbauen lassen und wohl auch deshalb darin nicht vorkommen. Ähnlich undifferenziert erscheint auch das Bild von den Migrant:innen zu sein, die gleichsam als rein westdeutsche gesellschaftliche Gruppe markiert werden, weil die Migrationsgeschichte der DDR ausgeblendet wird. Auch die migrantische Bevölkerung ist eine sehr heterogene Gruppe mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen hinsichtlich der Migrationswege, Statusgewährung und Integrationserfahrungen. Auch ist es zweifelhaft, dass beobachtete soziologische Ähnlichkeiten von abstrakten Großgruppen – Ostdeutsche hier und Migrant:innen in Westdeutschland da – zu tatsächlichen Interessengemeinsamkeiten führen können. Dieser Zweifel entsteht konkret aus der Unfähigkeit oder dem Unwillen, den virulenten Rassismus in Ostdeutschland als ein spezifisch ostdeutsches Problem anzuerkennen. Darüber hinaus sind aber auch sehr grundsätzliche Zweifel angebracht, weil soziale Ungleichheit und rassistische Ausgrenzung keine identischen Phänomene sind, auch wenn diese gleichzeitig auftreten.

Nichtsdestotrotz gibt es in Ostdeutschland eine weit verbreitete Unzufriedenheit. Ihre Gründe sind so vielfältig wie der Osten es ist. Gerade die ökonomischen Verhältnisse hierzulande sind aber keineswegs allein auf die ostdeutschen Länder beschränkt, sondern waren und sind Teil eines Veränderungsprozesses nach der Überwindung der kommunistischen Herrschaft, Interner Link: der ganz Mittel- und Osteuropa erfasst hatte. In Ostdeutschland vollzog sich eine radikale Privatisierungslogik, die auf Regulierungsskepsis und Marktglauben beruhte – und vor eben diesem historischen Kontext betrachtet werden sollte. Manche nennen das Ergebnis Turbo-Kapitalismus, andere Neoliberalismus. Auf jeden Fall gewannen dabei nur wenige, viele mussten den Preis dafür bezahlen – und dies nicht nur in Ostdeutschland. Diese Fehlentwicklungen müssen benannt und wo möglich in der Gegenwart korrigiert werden. Dafür sind gesellschaftliche Bündnisse sicher eine notwendige Voraussetzung. Allerdings machen die skizzierten unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensrealitäten deutlich: "Ostdeutsch" zu sein ist Interner Link: keine alles überwölbende Identität. Ostdeutschland ist aber sehr wohl eine Region mit einer besonderen Geschichte und mit sehr unterschiedlichen Menschen, u.a. Mitgrant:innen und BPoC. Diese Vielfalt ist ein Reichtum, aus dem Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit gewonnen werden kann.

Quellen / Literatur

  • Foroutan, Naika / Kubiak, Daniel (2018): Ausgeschlossen und abgewertet: Muslime und Ostdeutsche. In: Blätter für neue deutsche und internationale Politik. 7, 2018, S. 93–102.

  • Hensel, Jana / Foroutan, Naika (2020): Die Gesellschaft der Anderen. Aufbau, Berlin.

  • Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp-Verlag, Berlin.

  • Ther, Philipp Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Suhrkamp, Berlin 2014,

  • Warda, Katharina (2020): BLM – Zwischen "Dunkeldeutschland" und "Friedliche Revolution" – Die Wiedervereinigung aus intersektionaler Sicht. Externer Link: https://podcasts.apple.com/de/podcast/blm-zwischen-dunkeldeutschland-und-friedliche-revolution/id1535296304?i=1000501654303 (Zugriff: 24.3.2022).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Fotroutan/Kubiak (2018), S. 94.

  2. Mau (2019), S. 205.

  3. Milev (2019).

  4. Mau (2019).

  5. Mau (2019), S. 177.

  6. Foroutan/Kubiak (2018), S. 95.

  7. Jana/Foroutan (2020).

  8. Mau (2019), S. 234.

  9. Warda (2020).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Patrice G. Poutrus für bpb.de

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Weitere Inhalte

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik an der Universität Erfurt im Projekt "Diktaturerfahrung und Transformation – Partizipative Erinnerungsforschung".