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Die beiden Wiegen der jüdischen Freiheit. Die neue Welt und das Vaterland | APuZ 44/1954 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 44/1954 Postscriptum zur EVG Die beiden Wiegen der jüdischen Freiheit. Die neue Welt und das Vaterland

Die beiden Wiegen der jüdischen Freiheit. Die neue Welt und das Vaterland

Cecil Roth

Einige Monate lang haben in Amerika umfangreiche Vorbereitungen stattgefunden, um der 300jährigen Wiederkehr der Gründung jüdischer Niederlassungen in Amerika zu gedenken. Formell begannen die Feierlichkeiten im September des Jahres. Mit Genehmigung des Verlages entnehmen wir der Zeitschrift . COMMENTARY“, herausgegeben von der Vereinigung der Juden in Amerika, den Gedächtnisartikel des britischen Historiker Cecil Roth, dessen hervorragende Arbeiten sowohl auf dem Gebiete der jüdischen wie der allgemeinen Geschichte in England und Amerika sehr bekannt sind.

Wir alle in England oder sonstwo in der Welt begrüßen die Bekanntgabe der Pläne, die 300ste Wiederkehr der Ansiedlung von Juden in dem heutigen Gebiete der Vereinigten Staaten zu feiern. Solche Feiern haben ihr Gutes und diese Feier ganz besonders, weil sie das Verständnis für das Erbe der Freiheit vermehren und dazu beitragen werden, das angenehme Leben höher einzuschätzen, dessen sich die Juden und auch die anderen Menschen im Westen erfreuen. Den Historiker aber wird es erfreuen, daß das ihm am Herzen liegende Material nun auch für viele Unkundige wieder lebendig wird. Mancher Historiker hat sogar die kühne Vorstellung, die Kenntnis geschichtlicher Tatsahen könnte den Stolz auf das eigene Land heben und das Verständnis für die eigenen Aufgaben erhöhen.

Doch darf nicht verschwiegen werden, daß der Historiker offiziellen Feiern auch mit einem großen Unbehagen entgegensieht, da sie den Legenden und Mythen einen neuen Auftrieb zu geben pflegen, die dann unser Verständnis für den wahren Verlauf der Geschichte eher vermindern als vertiefen.

Deshalb haben einige von uns in England gewisse, wenn auch vielleicht ganz ungerechtfer-tigte Bedenken, die Feier dieses großen Geburtstages könne zum Wiederaufleben einer heute überholten, melodramatischen Darstellung der frühen geschichtlichen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem englischen Vaterlande beitragen. Die Geschichte der ameri-kanishen Juden würde somit in der Form einer alten — und historisch ungenauen — Erzählung vorgetragen werden und eine altertümliche — und irreführende — Moral enthalten.

Eine Kindererzählung

Mühelos erinnern wir uns der alten Kinder-erzählung von unserer frühen Geschichte. Sie berichtet, daß eine Gruppe von Juden vor den Unterdrückungen der alten Welt Zuflucht suchte im neuentdeckten Lande jenseits des atlantischen Ozeans. Dort wurde sie bereitwillig ausgenommen. Noch vor der amerikanischen Revolution verankerte sie ihre Rechte und schuf damit inmitten der harten Pioniere ein Vorbild für die Freiheit, wie es die alte Welt niemals gekannt hatte. Von Anfang an scheint auf der einen Seite des atlantischen Ozeans die Sonne hell, während auf der anderen alles (oder fast alles) ins Dunkle getaucht ist.

Das Bild entfernt sich weit von der Wirklichkeit — vielleicht nicht in jeder Einzelheit, bestimmt aber im Kolorit. Auch wir in England wollen in zwei Jahren die 300ste Wiederkehr der Bildung unserer modernen jüdischen Gemeinde feiern. Wenn wir schon jetzt einmal die englisch-jüdische Geschichte im Geist an uns vorüberziehen lassen, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß sie der amerikanisch-jüdischen Geschichte ähnelt.

Wegen der eingangs erwähnten vorgefaßten Meinung — das klingt höflicher als „Vorurteil“ — wird es den amerikanischen Lesern in vielen Fällen schwer fallen, den wahren Sachverhalt einzusehen. England wird in der frühen amerikanischen Geschichtsperiode immer als Erzunterdrücker dargestellt. Ergo gehört England in der Geschichte des 18. Jahrhunderts zu den dunklen Mächten. Die neue Welt brachte die Befreiung, während die alte (England einbegriffen) nur die Unterdrückung kannte. Selbst in der neuesten Literatur über die amerikanisch-jüdische Geschichte, die sich weitgehend auf dokumentarische Unterlagen stützt und im großen und ganzen objektiv geschrieben ist, wird dieser Standpunkt vertreten. Aber er beruht auf einer zu weitgehenden Verallgemeinerung. Zwei Punkte sind besonders wichtig: Erstens ist das rosafarbene Bild von den Lebensbedingungen der Juden in Amerika übertrieben. Ich behaupte nicht, daß sie unterdrückt wurden oder ähnliche Unbill erlitten; doch wurden sie gelegentlich behelligt. Auch kamen gewisse Diskriminierungen vor. Zweitens, obgleich sie in der alten Welt ganz allgemein unterdrückt wurden, wurden sie doch nicht überall unterdrückt und in der Zeit, mit der wir uns beschäftigen (d. h. in dem Jahrhundert vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung)

bildete England im großen und ganzen eine ehrenvolle Ausnahme. In dieser Zeitspanne gab es tatsächlich kaum Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen der Juden im englischen Vaterland und in den amerikanischen Kolonien, die die englische Tradition und Einstellung übernommen hatten. Das, was man als die neue Einstellung des 18. Jahrhunderts gegenüber den Juden bezeichnen könnte, war keine amerikanische Neuerung, sondern eine allgemeine Entwicklungserscheinung in der angelsächsischen Welt. Wenn die jüdische Diaspora sich in der Zukunft fast ganz in den englisch-sprechenden Ländern konzentriert haben wird, eihält diese Tatsache mehr als nur eine akademische Bedeutung. Wir sprechen nicht nur die gleiche Sprache, wir haben auch weitgehend die gleichen geschichtlichen Erfahrungen hinter uns.

Wir haben uns gleicher Privilegien erfreut und unsere Gemeinschaft unter gleichen Umständen aufgebaut.

In der alten Welt

Wir wollen uns ein ungefähres Bild von der alten Welt gegen Ausgang des 17. Jahrhunderts machen, als die Geschichte der amerikanischen Juden ihren Anfang nahm. Die mohammedanischen Länder brauchen wir in diesem Zusammenhang kaum zu berücksichtigen. Die dort lebenden Juden bildeten ein Volk für sich — ob sie brutal behandelt wurden wie in Nordafrika oder loyal wie in der Türkei. Sie waren besonderen Gesetzen, besonderen Steuern und besonderen Lebensbedingungen unterworfen. Im christlichen Europa wurden sie außerordentlich unterschiedlich behandelt. Spanien und Portugal ließen gar keine Juden herein, und jede Person jüdischer Abstammung, die bei der Ausübung jüdischer Riten und Gebräuche überrascht wurde, lief Gefahr, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden.

Das gleiche gilt für das südliche Italien und für Sizilien. In den Landstrichen Norditaliens, in denen Juden zu leben erlaubt war, wurden sie in Ghettos gesperrt, aus denen sie sich nicht über Nacht zu entfernen getrauten. Sie mußten besondere Abzeichen tragen, waren von allen Gewerben ausgeschlossen mit Ausnahme des Großhandels, der Pfandleihe, des Hausierens und des Handels mit getragenen Kleidern, und waren vielerlei schimpflicher Behandlung und Nachteilen ausgesetzt. Selbst die Kinder konnten ihnen unter einem fadenscheinigen Vorwand weggenommen werden, damit sie als Christen aufgezogen wurden.

Die Lebensbedingungen in Deutschland waren die gleichen oder sogar noch schlechter. Ganze Landstriche und große Städte waren den Juden vollkommen verboten. Man zwang sie zur Bezahlung besonderer Zölle auf den Landstraßen. Die Anzahl ihrer Eheschließungen war begrenzt, um die jüdische Bevölkerung zahlenmäßig klein zu halten, und die Tatsache, daß es hier und da einflußreiche Hofjuden (wie z. B.den berühmten Jud Süß) vorübergehend zu großem Einfluß und zu Wohlstand brachten, kann den düsteren Farben des Bildes auch keinen Glanz verleihen. 1670 wurden die Juden aus Österreich, 1738 aus Württemberg, 1745 aus Prag und ganz Böhmen vertrieben. Im 14. Jahrhundert wurden sie aus Frankreich verjagt und hatten in der hier behandelten Zeit noch nicht wieder die offizielle Erlaubnis erhalten, dort zu leben. In den neuerworbenen französischen Ostprovinzen (Elsaß und Lothringen) gab es ein paar alteingesessene Gemeinden, die unter den gleichen elenden Lebensbedingungen wie die Juden in Deutschland mühselig ihr Leben fristeten. Einigen Marrano-Flüchtlingen aus Spanien und Por-tugal war es in den Seehäfen des südwestlichen Frankreich Bordeaux und Bayonne erlaubt, mehr oder weniger heimlich ihrem jüdischen Glauben anzuhängen. Der größte Teil der europäischen Juden lebte in Polen — eine rechtlose, hoffnungslose, elende, rassische Minderheit, die unter dem dauernden Druck der Anklage stand, Ritualmorde zu begehen und nur wenig Hoffnung hatte, auswandern zu können. Rußland war „judenrein“. Es erlaubte den Juden nicht, sich anzusiedeln. Auf dem europäischen Kontinent bot nur Holland ein im allgemeinen günstiges Bild. Die jüdischen Gemeinden in England und in den Vereinigten Staaten stammten weitgehend aus Holland, dessen Geist sie beeinflußte. Holland muß tatsächlich von den in diesem Artikel vorgebrachten Verallgemeinerungen ausgenommen werden, da seine jüdische Gemeinde sozusagen dem neuen angelsächsischen (oder vielmehr atlantischen oder auch puritanischen) Kreis augehört. Doch selbst in Holland gab es trotz der im allgemeinen glücklichen Umstände gewisse Einschränkungen. In einigen Teilen des Landes (z. B. in Utrecht) durften sich Juden nicht niederlassen; es gab eine besondere Form des jüdischen Eides und eine besondere Besteuerung der Juden, und auch Gewalttätigkeiten kamen vor.

Wiederansiedlung in England

Wie der Zufall so manchmal spielt. Ungefähr zur gleichen Zeit, als die die „St. Charles“ die erste Gruppe jüdischer Auswanderer nach Neu-Amsterdam brachte, ließen sich die ersten Juden in England nieder (oder vielmehr wieder nieder nach einer Abwesenheit von 31/2 Jahrhunderten). Es ist nicht notwendig, hier auf die Umstände oder auf die der Wiederbesiedlung vorausgegangenen Ereignisse einzugehen. Es darf nur ganz kurz gesagt werden, daß die ersten heimlichen-jüdischen Siedler um 1632 eintrafen, daß 165 3 versichert wird, „es riecht in einigen Teilen unserer Stadt so offenkundig nach Juden“ wie in Amsterdam selbst, daß Menasseh ben Israel versuchte, die Wiederbesiedlung auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen, als er 1655 nach London kam, und daß 1656 eine »offene“ oder „halboffene“ jüdische Gemeinde gebildet wurde. Es verdient besondere Beachtung, daß es keine offizielle Zulassungsgenehmigung gibt — kein formales Übereinkommen zwischen den jüdischen Vertretern und der Regierung, auf Grund dessen die Gemeinde gebildet wurde. Ein charakteristischer Zug der Wieder-besiedlung ist die Formlosigkeit, mit der sie geschieht: Oliver Cromwell entschloß sich, die Anwesenheit von Juden stillschweigend zu dulden, nachdem er erfolglos versucht hatte, den Rat zu seiner Ansicht zu bekehren (Cromwell dachte dabei an die Hilfe, die ihm die Juden leisten konnten. Außerdem war Cromwell religiös tolerant.). Da keine formale Genehmigung oder Abmachung vorlag, gab es natürlich auch keine Vorschriften; und da es keine Vorschriften gab, konnte sich das englische Judentum vollkommen ungehindert entwickeln. Dementsprechend erfolgte die Wiederansiedlung der Juden in England in einer Atmosphäre fast unbegrenzter Freiheit. Das war das Charakteristische an der neuen Periode jüdischer Geschichte in den angelsächsischen Ländern, und das strahlte auch vom englischen Vaterlande auf die neue Welt aus.

Wie ich schon bei mehr als einer Gelegenheit an anderer Stelle sagte, setzte sich sozusagen von Anfang an eine soziale Emanzipation durch, wenn auch an eine politische Emanzipation nicht zu denken war (wie wäre das auch möglich gewesen, da Nicht-Konformisten und Römisch-

Katholische davon ausgeschlossen waren). Die Juden, die sich von der Mitte des 17. Jahrhunderts an und weiterhin in England niederließen, konnten in jeder Stadt, die ihnen gefiel, und in jedem Stadtteil leben. Sie konnten sich nach ihrem Geschmack kleiden. Sie konnten mit gewissen Einschränkungen jeden Beruf ergreifen.

Sie waren keinen kränkenden Sondervorschriften oder Einschränkurgen unterworfen. Sie durften christliche Diener und Angestellte beschäftigen.

Sie brauchten vor dem Gericht keine erniedrigende Eidesformel zu sprechen oder besondere Steuern zu zahlen; und Nachteile, unter denen sie litten, richteten sich nicht gegen sie, sondern gegen alle, die nicht der anglikanischen Kirche angehörten.

Um es kurz zu sagen: Das Ghetto-System (hier mehr in seinem allgemeinen als in seinem wörtlichen Sinne: Bedrückung und Diskriminierung waren auch ohne die formale Einrichtung abgegrenzter jüdischer Statteile möglich) wurde zu jener Zeit in ganz Europa — ausgenommen in Holland — angewandt. Es war in England und in den von England abhängigen Ländern nach der Wiederansiedlung der Juden im allgemeinen unbekannt.

Das bedeutet einen grundlegenden Unterschied zwischen der Vergangenheit der Juden und der jüdischen Emanzipation in den angelsächsischen Ländern und in anderen Teilen der Welt: Ein Unterschied, den kontinentale Historiker außer acht lassen, der aber den Hintergrund der jüdischen Geschichte in diesen Ländern in der bedeutsamsten Weise von dem in Mittel-

und Osteuropa unterscheidet. Weder in England noch in Amerika handelt es eich um eine „Emanzipation“

in kontinentalen Sinne — das heißt um die Entwicklung aus dem Zustand der Versklavung zur Freiheit — sondern um eine sich von Fall zu Fall langsam ausweitende Freiheit auf dem verfassungsmäßigen Sektor, -wobei vielleicht eine gewisse gesetzliche Unterstützung eine Rolle gespielt haben mag. Manche von denen, die von 193 3 an in unserer Mitte Zuflucht suchten und manche, die das Leben der Juden überhaupt auf eine ganz andere Grundlage stellen wollten, warnten uns dringend vor einem Rückfall in das Ghettoleben. Es ist hier nicht meine Aufgabe zu untersuchen, ob dieser Pessimismus gerechtfertigt war oder nicht. Doch darf hier die Tatsache hervorgehoben werden, daß unsere Vergangenheit kein Ghetto kennt.

Die einzelnen Phasen

Es lohnt sich vielleicht, die einzelnen Phasen des Konsolidierungsprozesses der jüdischen Siedler in den künftigen Vereinigten Staaten mit dem gleichen Vorgang in England zu ungefähr der gleichen Zeit zu vergleichen. Ich benutze zu diesem Zweck die vom amerikanisch-jüdischen 300-Jahresfeier-Ausschuß veröffentlichte sorgfältige Zusammenstellung. Wir haben gehört, daß die ursprünglichen Siedler, „Wanderer auf der Suche nach der Freiheit, einen Schimmer ihres Zieles in diesem kleinen niederländischen Dorf zwischen Wildnis und See“ — später als Neu-Amsterdam bekannt — erhaschten. Ihr erster Sieg war die am 16. April 165 5 von der Niederländischen Ostindienkompagnie erhaltene Aufenthaltsgenehmigung. Seit Anfang des Jahrhunderts ist den Marrano-Siedlern in England das Wohnrecht tatsächlich nie bestritten worden.

Auf der Whitehall-Konferenz, die im Dezember 1655 zusammentrat, um über Menasseh ben Israels Vorschlag zu beraten, die Juden wieder zuzulassen, verkündeten die Rechtssachverständigen, es gäbe kein Gesetz, das die Juden aus England ausschlösse. Ein Marrano spanischer Geburt, gegen den Klage als Verbündeter eines Feindes erhoben worden war, inachte im Mai 1656 geltend, er sei Jude. Die Richter gaben seinem Einspruch statt. Damit war die Rechtmäßigkeit des Wohnsitzes von Juden in England als gesetzliches Recht und nicht als Sonderprivileg verankert — eine Tatsache, die zweifellos bei der 1664 unter englischer Herrschaft erfolgten Ansiedlung von Juden in Amerika nicht ohne Einfluß geblieben ist.

In der zweiten Konsolidierungsphase in . New York, d. h. in Amerika, errangen die Juden das Recht, in der Bürgerwehr zu dienen. Diese Tatsache ist von amerikanischen Historikern vielleicht überbewertet worden — in einer Grenzstadt ist es weder leicht noch verständig, auf die Unterstützung eines brauchbaren Mannes zu ver-

zfchten. Die Lage in England war in dieser Hinsicht deshalb nicht die gleiche, und das Problem drängte noch nicht so bald auf eine Lösung. Nichtsdestoweniger stellte die Londoner Synagoge spätestens von 168 5 an drei voll bewaffnete Soldaten der Bürgerwehr, die einberufen wurde, wenn der Friede bedroht war, und ein größeres Ausmaß an freiwilligem Militärdienst ließ nicht lange auf sich warten.

Als nächstes erwarb die amerikanische Gemeinde in New York das Recht zu reisen und zu handeln — in der ersten Phase entlang dem Hudson und dem Delaware Fluß (November-Dezember 1655). In diesem Zusammenhang ist für die englischen Juden etwas Wichtiges zu vermerken. Das Recht, frei zu reisen und Handel zu treiben, scheint von Anfang an im Wohnrecht einbegriffen gewesen zu sein. Die Art des Handels mag manchen örtlichen Beschränkungen unterworfen gewesen sein (wir müssen auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen), aber die den Juden gegebene Reiseerlaubnis ist, soweit ich weiß, zu keiner Zeit ernsthaft bestritten worden. Das Recht zum und vom Wohnsitz zu reisen, und somit ganz allgemein das Recht zu reisen, war im Wohnrecht einbegriffen. Weiterhin war das Recht nicht örtlich begrenzt oder an irgendeine Stadt gebunden. Als den Juden gestattet wurde, sich in London niederzulassen, geschah dies auf Grund der Tatsache, daß sie gesetzlich das Recht hatten, ihren Wohnsitz im Lande zu nehmen, und es konnte ihnen nicht das Recht bestritten werden, sich irgendwo ihren Wohnsitz zu suchen. Sehr wenige Jahre nach der Wieder-ansiedlung, in einigen Fällen sogar vor Ende des 17. Jahrhunderts, leben schon Juden außerhalb Londons. In den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts wurden in verschiedenen Provinzstädten besondere Gemeinden gebildet — lange bevor Spuren dauernder jüdischer Gemeinden in irgendeiner Stadt außerhalb New Yorks in den späteren Vereinigten Staaten zu finden sind. Ich glaube, England war zu jener Zeit das einzige Land in der westlichen Welt, in dem die Juden das uneingeschränkte Recht der Wohnsitzwahl besaßen.

Der Tatsache, daß die Neu-Amsterdamer Juden sich im Februar 1656 das Recht erwarben, einen eigenen Friedhof zu besitzen, darf nicht allzu große Bedeutung beigemessen werden. Wenn den Juden überhaupt die Erlaubnis erteilt wurde, im Lande zu wohnen, war das eine unvermeidliche Folge. Genau einen Monat und zwei Tage, nachdem den Neu-Amsterdamer Juden gestattet worden war, einen eigenen Friedhof zu besitzen, unterbreitete die von Menasseh ben Israel geführte Gruppe der Marranos Oliver Cromwell die Bitte, eine Synagoge besitzen zu dürfen, damit „die Toten unseres Volkes außerhalb der Stadt auf einem Platz begraben werden können in Übereinstimmung mit den Eigentumsgesetzen der Gegend, wo der Platz liegt". Cromwells Antwort darauf ist uns nicht erhalten (sie wurde vermutlich mündlich erteilt), doch wurde das Totenhaus schon Anfang des folgenden Jahres übergeben, und kurz danach fanden dort öffentliche Begräbnisse statt. Die englischen und amerikanischen Konzessionen -folgten somit fast gleichzeitig. Um fast die gleiche Zeit (vermutlich im Sommer 1656) wurde, wie uns überliefert ist, eine eigene Gemeinde in London ins Leben gerufen, und Anfang 1657 eine halböffentliche Synagoge eröffnet. Die Leiter der Niederländischen Westindien-Kompagnie hatten am 14. Juni 1656 die Weisung erteilt, den Juden die Abhaltung öffentlicher Gottesdienste in Neu-Amsterdam nicht zu erlauben. Bis zum Jahre 1730 ist dann auch nichts vom Bau einer Synagoge bekannt; die besonders schöne Bevis Marks-Synagoge in London hatte ihre Pforten zu jener Zeit schon 28 Jahre geöffnet.

Das Recht, eigene Häuser zu besitzen

Der nächste Schritt, durch den die kleine Gruppe New Yorker Juden ihre Stellung befestigte, war die Erlangung „des Rechts, eigene Häuser zu besitzen". Die Tatsache allein läßt nicht erkennen, daß es sich hier um eine verworrene und in mancher Beziehung sogar widersprechende Maßnahme handelt. Der oben erwähnte Erlaß vom 14. Juni hatte die Juden ermächtigt, Handel zu treiben und Grundbesitz zu kaufen. Die Frage des Eigentums von Grundstücken ist leichter in einem neuen Lande als in einem alten zu lösen. In England gab es auf diesem Gebiete allerhand Schwierigkeiten. Zuerst scheinen im Lande geborene oder eingebürgerte Juden tatsächlich Grundbesitz gekauft zu haben; manchmal sogar in großem Umfange. Als später ein überholtes mittelalterliches Gesetz ausge-graben wurde, das den Erwerb angeblich verbot, entstanden Zweifel, ob er gesetzlich gestattet sei. Von nun an wurde der Erwerb eingeschränkt.

Nichtsdestoweniger bot sich in zweifelhaften Fällen ohne Schwierigkeit eine andere Möglichkeit:

Der Erwerb mittels einer unbegrenzt langen Pachtzeit (z. B. auf 999 Jahre) zu einem tatsächlichen oder symbolischen Pachtzins — eine in England allgemein geübte Praxis. Im technischen Sinne „gehörte“ dem Inhaber das Land nicht, aber es wäre spitzfindig zu behaupten, daß ihm sein Haus nicht gehörte. Dieser Zustand beunruhigte niemanden, noch war der auf diesem Gebiet zwischen englischen und amerikanischen Juden bestehende Unterschied von wirklicher Bedeutung.

Das Bürgerrecht

Andererseits verwehrte die oben erwähnte Vorschrift vom 14. Juni 1656 den Juden in Neu-Amsterdam das Recht, Einzelhandelsläden zu eröffnen oder Handwerke zu betreiben. Bei Behandlung dieses Punktes müssen wir auch das der kleinen jüdischen Gruppe als nächstes gewährte Recht in Betracht ziehen — nämlich das Bürgerrecht (20. April 1657). Das ist nun eine äußerst wichtige Angelegenheit, denn der Besitz des Bürgerrechtes war von großer Bedeutung. Dr. Jakob Marcus jedoch, der als die größte, heute lebende Autorität für die Geschichte der amerikanischen Juden gilt, äußert hierzu nach reiflicher Überlegung, daß „die Juden... Bürger zweiter Klasse waren mit begrenzter wirtschaftlicher Freiheit... sie sind nicht... in den offiziellen Listen der .freien Bürger der Stadt zu finden“. In England — oder zumindest in London, denn ich glaube nicht, daß in anderen Orten ähnliche Beschränkungen galten — waren die entsprechenden Bedingungen besonders schlecht; denn nach anfänglichem Zögern wurden die Juden vom Bürgerrecht der Stadt London formell ausgeschlossen, was ihnen die Ausübung handwerklicher Berufe und das Betreiben von Einzelhandelsläden im Stadtgebiet untersagte, auf das sich diese Vorrechte bezogen. Jedoch waren zu jener Zeit — und das ist wichtig — „London“ und die „Stadt London“ zwei verschiedene Gebiete, denn das Wohn-undHandelsarsenal dehnte sich weit, weit über den vom Bürgermeister und Gemeinderat regierten alten Stadtkern hinaus. Daher war diese Beschränkung praktisch bedeutungslos, obgleich sie eigentlich ärgerlich war. Wenn ein Jude die Absicht hatte, ein Einzelhandelsgeschäft oder eine kleine Fabrik zu eröffnen, dann mußte er sich außerhalb der Stadtgrenzen begeben. In New York gab es diese Ausweichmöglichkeit nicht. Für den Großhandel gab es natürlich keine Beschränkungen; und als die Londoner Börse (die sorgfältig von der Effekten-börse zu unterscheiden ist, mit der sie selbst Fachleute häufig verwechseln) 1697 reorganisiert wurde, wurde ein Zwölftel der Plätze jüdischen Maklern und Agenten reserviert.

Politisch ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege zur Emanzipation im kolonialen Amerika war im 18. Jahrhundert die Zuerkennung des Wahlrechtes an die Juden, was es auf dem europäischen Kontinent bis zur fanzösischen Revolution nicht gab. Erst viel später wurde es ein allgemeines Recht. Im Jahre 1737 wurden bei einer in New York bezeugten Wahl die von den Juden abgegebenen Stimmen für ungültig erklärt mit der Begründung, die Juden in England besäßen kein Wahlrecht. 1761 jedoch wurden die Juden augenscheinlich ohne Schwierigkeiten zu;

Wahl zugelassen. Es ist nicht einfach, zuverlässig zu sagen, wie die Verhältnisse in England zu jener Zeit lagen. Der Wahlkommissar war ermächtigt, von den Wählern den Abschwörungseid zu verlangen, der gegen die Römisch-Katholischen gemünzt und in einer das jüdische Gewissen verletzenden Form abgefaßt war. Aber von diesem Recht wurde selten Gebrauch gemacht, und es darf angenommen werden, daß längere Zeit schon vor der amerikanischen Revolution im Lande geborene englische Juden, die die erforderlichen Voraussetzungen besaßen, sich an den Parlamentswahlen beteiligten, wenn sie wollten. Die politische Emanzipation der Juden im Jahre 1858 — von der wir wegen des Dramas, das sich während des Kampfes um die Gewährung abspielte, am meisten wissen — betraf nur ihre Zulassung zum Parlament.

Es ist notwendig, im Zusammenhang mit dieser Frage an dieser Stelle einige Zeilen einer berühmten früheren Episode der Geschichte der englischen Juden des 18. Jahrhunderts zu widmen, die gewöhnlich auf beiden Seiten des atlantischen Ozeans falsch gedeutet wird und das ganze Bild zu verfälschen droht. 1763 stimmte das englische Parlament einem Gesetz über die Naturalisierung der Juden zu. Dies erregte Aufmerksamkeit, wurde von der Opposition aufgegriffen, rief eine übermäßige Erregung hervor und das Gesetz wurde daher noch vor Ende des Jahres widerrufen. Wegen dieses Vorfalls stellten ein paar Geschichtsforscher fest, daß das Judentum in England noch einmal in den Zustand des dunklen Mittelalters zurückgeworfen wurde. Der Kontrast zwischen diesem Rückschlag und dem Zustand der halben Emanzipation in Amerika ist oft genug betont worden. Aber diese Deutung ist vollkommen unzutreffend. Das jüdische Naturalisierungsgesetz beschäftigte sich nicht mit der Naturalisierung der englischen Juden. In England geborene Juden wurden von Anfang an als englische Untertanen betrachtet und auch entsprechend behandelt (auch in diesem Punkte war der Unterschied zu den Verhältnissen in einigen Ländern des Kontinents außerordentlich groß). Sie waren im Besitz aller Rechte eines Engländers mit Ausnahme derjenigen, von denen auch andere Nicht-Mitglieder der anglikanischen Kirche oder Nicht-Protestanten ausgeschlossen waren. Ausländische Juden kamen in den Genuß der gleichen Rechte, wenn sie naturalisiert oder „eingebürgert" waren, aber das war eine schwierige und teuere Angelegenheit. Das sogenannte „Juden-Gesetz" war nur gemacht worden, um die Durchführung zu erleichtern und zu beschleunigen, und die Juden, die von ihm Gebrauch machten, würden nur die gleichen Rechte erreicht haben wie ihre in England geborenen Kinder. Nach Widerruf des Gesetzes mußten sie ihre Zuflucht wieder zu dem alten schwerfälligen Verfahren nehmen. Die Naturalisierung der Juden steht daher in gar keiner Beziehung zu der Frage der jüdischen Emanzipation. Die Aufhebung des Gesetzes war ein politisches Manöver. Doch trotz der flammenden Propaganda der Opposition sind, soweit ich es beurteilen kann, keine Gewalttätigkeiten vorgekommen. Einige Jahre vorher wurde in den amerikanischen Kolonien eine sehr ähnliche parlamentarische Maßnahme zugunsten ausländischer Juden ohne Widerspruch angenommen, die ihre Ansiedlung fördern sollte. Es wurde davon nicht viel Gebrauch gemacht, abgesehen von einem wichtigen und erwähnenswerten Falle. Unter Berufung auf diese Maßnahmen wandte sich Aaron Lopez, der große Kaufmann von Newport, zusammen mit anderen ortsansässigen Juden um 1761 an das Unterhaus der Provinz Rhode Island. Sie wurden jedoch auf Grund eines örtlichen Gesetzes aus dem Jahre 1663 abschlägig beschieden, das bestimmt, daß „keine Person, die nicht dem christlichen Glauben angehört, als freier Bürger in diese Kolonie ausgenommen werden darf“. Hier ist die traditionelle Vorstellung von dem Unterschied zwischen dem untoleranten Vaterland und den toleranten Kolonien gerade auf den Kopf gestellt worden; das englische Parlament und die Kolonien hatten verschiedene Auffassungen, wobei sich die letzten im schlechtesten Licht zeigten und das in einer Zeit, in der, ganz abgesehen von den Bestimmungen des kurzlebigen „Judengesetzes", viele Juden in Westminster zwanglos „eingebürgert" wurden. Lopez erreichte schließlich sein Ziel in Massachusetts. Es ist interessant — ich weiß nicht, ob es auch von Bedeutung ist — daß diese Kolonie zu diesem Zeitpunkt keine jüdische Gemeinde hatte.

Ich möchte nicht behaupten, daß die Juden in England im 18. Jahrhundert nur rosige Zeiten erlebten. Es gab genügend niederträchtige Angriffe in der Literatur. Es gab manche Mißhelligkeiten, sogar Schlägereien. Wenn auch keine Gewalttätigkeiten während der Aufregungen um das „Judengesetz" überliefert worden sind (bis auf das Verjagen eines bekannten Juden aus dem Theater!), so muß doch für Juden das Leben in jenen Tagen nicht gerade erfreulich gewesen sein. Die bärtigen, seltsamen, jüdischen Hausierer machten manchmal böse Erfahrungen. Als 1771 einer Bande jüdischer Übeltäter eines besonders unerfreulichen Typus das Handwerk gelegt wurde, wurden fremde Juden in den Straßen angepöbelt. Aber im großen und ganzen fiel das nicht sehr ins Gewicht, und es war geringfügig im Vergleich mit den dauernden und vor allem physischen Bedrückungen, denen zu jener Zeit die kontinentalen Juden ausgesetzt waren. Auch in Amerika waren dergleichen Vorgänge nicht unbekannt. 1743 druckte eine der New Yorker Zeitungen einen Augenzeugenbericht ab über schmachvolle Szenen bei einem jüdischen Begräbnis, wo „ein lärmender Volkshaufen erschien, so daß die Leiche nur unter großen Schwierigkeiten beerdigt werden konnte“ und augenscheinlich christliche Worte am offenen Grabe heruntergebetet wurden. Ich kann mich nicht an ähnliche Vorfälle im 18. Jahrhundert in England erinnern.

Nichtdestoweniger wäre es absurd zu leugnen, daß es den Juden im 18. Jahrhundert leichter fiel, sich der amerikanischen Umgebung als der ihres englischen Vaterlandes anzupassen. In einem neuen Lande ist der soziale Aufbau loser. Daher ist es für den Neuankömmling leichter, sich einzugliedern. Selbst an Orten, wo die anglikanische Kirche die offizielle Religion war, waren die Geister noch nicht so weit uniformiert, daß die Isolierung der Nicht-Konformisten gefordert wurde, während es an anderen Orten die verschiedensten Glaubensformen gab, von denen die jüdische Religion zwar als eine besondere exzentrische aber keineswegs anstößige Spielart angesehen wurde. In einer kleinen Gesellschaft wird jeder nach seinem Verdienst gewürdigt; selbst Fanatiker konnten es sich nicht erlauben, eine interessante und gebildete Person nur auf Grund ihres Glaubens aus dem Kreise auszustoßen. Eine sich ausdehnende Wirtschaft bot für jeden Entwicklungsmöglichkeiten, ohne dem Nachbarn dabei ins Gehege zu kommen. Es gab keine traditionellen Handels-und Industrieorganisationen, die sich gegen neue Gesichter und neue Methoden sträubten. Der jüdische Einwanderer-und natürlich auch der nichtjüdische — hatte es daher leichter sich einzuleben. Aber abgesehen von diesen Einschränkungen glichen sich der englische und der amerikanische Hintergrund weitgehend. -Benjamin Disraelis Großvater würde nie von London in sein Geburtsland Italien zurückgegangen sein, wo er wieder im Ghetto gelandet wäre und wo man ihn gezwungen hätte, das schmachvolle jüdische Abzeichen zu tragen. Aber Franks'Kinder aus New York hätten wohl kaum einen Unterschied in ihrem persönlichen Dasein bemerkt, wenn sie in jenen Tagen zur Erziehung „nach Hause“ nach England gesandt worden wären.

Religiöse Gleichberechtigung

Auf den vorangegangenen Seiten wurden natürlich nicht alle die sozialen Hindernisse und Schwierigkeiten aufgezählt, unter denen englische Juden zu jener Zeit wegen ihres Glaubens zu leiden hatten. Sie durften zum Beispiel keine Universitäten besuchen. Sie konnten somit nicht Ärzte werden (wenn sie sich jedoch woanders ausbildeten — zum Beispiel in Schottland, wo es keine Schwierigkeiten machte — konnten sie eine ärztliche Praxis ausüben). Sie waren nicht zur Rechtsanwaltschaft zugelassen, obgleich sie Rechtsanwälte werden konnten(und auch wurden). Es gab noch andere Beschränkungen und Ärgernisse, die ihr Leben erschwerten. Es waren jedoch alles keine „antisemitischen“ Maßnahmen: Gegen die Juden als Juden gemacht. Kein Gesetz aus jener Zeit richtete sich besonders gegen sie; sie wurden in keinem Parlamentsgesetz erwähnt — ausgenommen als das „Judengesetz“ widerrufen wurde — es sei denn, ihre Rechte wurden bestätigt oder erweitert. Alle Nachteile, unter denen sie litten, trafen alle, die nicht der anglikanischen Kirche angehörten. Für die Nicht-Konformisten waren sie weniger kränkend und konnten leichter umgangen werden. Für die Römisch-Katholischen waren sie drückender und wurden auch weitaus konsequenter gehandhabt.

Die Formel, die die Juden so lange vom Unterhaus ausschloß, richtete sich ursprünglich gar nicht gegen die Juden. Ähnliche religiöse Einschränkungen gegenüber unpopulären religiösen Minderheiten gab es im 18. Jahrhundert auch in vielen Gebieten der amerikanischen Kolonie, und auch hier litten bei Gelegenheit die Juden zufällig darunter.

Die soziale Emanzipation, die ein Teil des gemeinsamen Erbes der englischsprechenden Welt ist, erhielt ihren formalen Ausdruck und ihre Vollendung bei der Bildung der amerikanischen Unabhängigkeit. Die Verfassung, die die Vereinigten Staaten 1787 annahmen, setzt fest, daß kein Religionstest als Qualifikation für ein Amt verlangt werden dürfe. Stärker als die französischen Verordnungen der späteren Jahre begründete diese Bestimmung die Tradition der jüdischen Emanzipation in der modernen Welt. Der Leser darf daran erinnert werden — vielleicht sogar auch der amerikanische Leser — daß diese Bestimmung nur für Positionen im Bereich der Bundesregierung galt. In den Einzelstaaten hinkte die Emanzipation jämmerlich nach. Die religiöse Gleichberechtigung war in der Verfassung des Staates New York (1777) verankert. Virginia gewährte in Jeffersons berühmtem Gesetz aus dem Jahre 1785 volle religiöse Freiheit Aber die Verfassung von North-Carolina schloß Juden und Katholiken ausdrücklich von allen öffentlichen Ämtern aus. Obgleich diese Einschränkung bald nachlässig gehandhabt wurde, konnte Jacob Henry nach den Wahlen im Jahre 1808/09 nur mit den größten Schwierigkeiten seinen Sitz in der gesetzgebenden Körperschaft einnehmen. Die Klausel blieb bis 1868 in Wirkung. In Marylane wurde die Emanzipation erst 1825 Wirklichkeit. In New Hampshire konnten Juden und Katholiken bis 1876/77 für gewisse Ämter nicht gewählt werden. Zu jener Zeit waren die englischen Juden schon seit fast einer ganzen Generation vollkommen emanzipiert. Der Grund, warum die formale Vollendung des Emanzipationsprozesses so lange in Anspruch nahm, mag zu suchen Zeit darin sein, daß die Nachteile, unter denen die englischen Juden zu leiden hatten, relativ gering waren. 1858 war es ihnen nur noch untersagt, einen Sitz im Parlament einzunehmen — eine Einschränkung, die vielen gleichgültig war. Ein trockener Vergleich von Daten kann natürlich zu Irrtümern führen, und es besteht dann die Gefahr, daß die ganze Argumentation in Spitzfindigkeiten endet. Es ist ein Irrtum, die englischen Juden bis 1858 für rechtlos, wie die amerikanischen Juden bis 1877 für nicht emanzipiert zu halten. Ich weiß nicht genau, ob die Ausnutzung der politischen Rechte — abgesehen von ihrem Besitz — nicht in England schnellere Fortschritte machte als in den Vereinigten Staaten. Gewiß gab es in England eine Anzahl Juden in hohen Stellungen, lange bevor dies der Fall in den Vereinigten Staaten war.

Dieser Aufsatz beschäftigte sich zwangsläufig in der Hauptsache mit Einzelfragen. Dadurch wurde das allgemeine Bild und besonders seine positiven Seiten beeinträchtigt. Denn das Wichtigste an der sozialen Emanzipation der Juden in England und auch in Amerika in den vor-revo-lutionären Tagen war nicht die Überwindung dieser oder jener Benachteiligung oder der Besitz dieser oder jenes Privilegs, sondern ihre allgemeine Stellung innerhalb der Gesellschaft. Nicht die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen leiteten die neue Epoche jüdischer Geschichte zu beiden Seiten des atlantischen Ozeans ein, sondern die neue gesellschaftliche Stellung der Juden.

Gemeinsame geschichtliche Erfahrungen

In Amerika wurde die Entwicklung vermutlich dadurch beschleunigt, daß die gehobene Gesellschaftsschicht klein neu war. In England und dürfte die große Masse neu ankommender armer Juden aus Mitteleuropa sie verzögert haben, doch bietet sich im großen und ganzen das gleiche Bild. Die Juden lebten in denselben Straßen oder in Landhäusern in denselben Landstrichen wie ihre christlichen Mitbürger, und sie hatten den gleichen Lebensstil. Sie zogen sich nach der gleichen Mode an, sie aßen weitgehend die gleichen Speisen (obgleich die eine oder andere vielleicht nach jüdischem Ritus zubereitet war und wehmütige Erinnerungen an den Kontinent wach-rief). Ihre Haushalte ähnelten sich. Sie gingen ins gleiche Schauspielhaus, sie zerstreuten sich bei den gleichen sportlichen Spielen, sie lasen weitgehend die gleichen Bücher, sie schimpften zusammen über die Regierung, sie ließen die königliche Familie hochleben oder verjagten sie, sie verloren ihr Geld bei den gleichen Glücksspielen, sie verbrachten die Sommer in den gleichen Badeorten, sie verkehrten miteinander auf gleichem Fuße.

Solomon da Costa Athias, der 1761 den Grundstock zur hebräischen Sammlung im Britischen Museum legte, war ein ländlicher Philan-

trop, der in der Gesellschaft der Umgebung seines Wohnsitzes in Essex eine gewisse Rolle spielte und dessen Stimme bei den Landbesitzern seiner Nachbarschaft viel Gewicht hatte. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen der anglo-amerikanischen Familie Franks in Isleworth bei London und ihren Nachbarn gaben während der Aufregung über das „Judengesetz" zu boshaften Kommentaren Anlaß. Horace Walpole, der Briefschreiber, verkehrte frei mit seinen jüdischen Nachbarn in Twickenham — besonders mit den Familien Franks und Salvador (die letztere hatte auch amerikanische Verwandte) und mit dem Gartenliebhaber Abraham Prado, wie aus einem halben Dutzend Stellen seiner Korrespondenz hervorgeht. Judith Levy, „die Königin von Richmond Green", die noch als sehr alte Frau die Große Synagoge wieder aufbaute, war gegen Ende des Jahrhundert eine geachtete Persönlichkeit der Gesellschaft. Sie spielte mit ihren aristokratischen Bekannten, unter denen sich die Gräfin von Yarmouth, Lady Holderneß und Lord Stormont befanden, Quadrille (Kartenspiel) um eine halbe Guinee. Der Tod von Moses Franks im Jahre 1789 betrübte seinen engen Freund und Nachbarn General Cowper sehr. Sampson Gideon und Joseph Salvador berieten die englische Regierung in Finanzfragen.

Ein Jude beteiligte sich an der Verschwörung für den ältesten Sohn Jakobs II. und wurde in den Gordon-Aufständen hingerichtet. Einem halben Dutzend Personen jüdischer Abstammung wurde die begehrte Ehre zuteil, in die Royal Society (Vereinigung Gelehrter) gewählt zu werden, deren Schriftführer der eigensinnige Emanuel Mendes da Costa war. Solomon Mendes war ein enger Freund der Dichter Richard Savage und James Thomson (Autor des Buches „Die Jahreszeiten") und stand in freundschaftlichem Briefwechsel mit dem Verleger Robert Dodsley. Man könnte sicher mühelos weitere Beispiele familiärer Vertraulichkeiten in den niedrigeren — und auch niedrigsten — Kreisen der Gesellschaft finden. Die soziale Emanzipation bereitete den Boden für die politische Emanzipation (die dadurch andererseits an Dringlichkeit einbüßte). Die wahllos herausgegriffenen Beispiele genügen sicher als Beweis, daß es sich hier um kein auf die neue Welt beschränktes Phänomen handelte.

Im großen und ganzen stellte das amerikanische Judentum in der Periode seiner Bildung im 18. Jahrhundert nur einen Mikrokosmos — nicht bis in alle Einzelheiten zwar — des eng-liehen Judentums dar. Wir Juden der angelsächsischen Welt haben nicht nur durch ein gemeinsames Schicksal und die gleiche Sprache, sondern auch durch ähnliche geschichtliche Erfahrungen ein Gemeinschaftsgefühl erworben.

Anmerkung Cecil Roth, geb. 1889 in London, Universitätsausbildung in Oxford. Autor zahlreicher Veröffentlichungen über die jüdische Geschichte, Standartwerk: Geschichte der Juden in England“ (1941)

Fussnoten

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