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Das Amerikanisch-Russische Verhältnis | APuZ 51/1954 | bpb.de

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APuZ 51/1954 Das Amerikanisch-Russische Verhältnis Des Winfrid-Bonifatius geschichtliche Sendung Das Ziel der amerikanischen Außenpolitik ist Friede

Das Amerikanisch-Russische Verhältnis

George F. Kennan

Mit Genehmigung der DEUTSCHEN VERLAGSANSTALT GMBH., Stuttgart, setzen wir in dieser Ausgabe mit dem vierten und letzten Vortrag „Rückschau" den Abdruck der Vorlesungen des ehemaligen amerika-nischen Botschafters in Moskau, George F. Kennan über das Amerikanisch-Russische Verhältnis fort

Rückschau

Rückschau Inhalt dieser Beilage: George F. Kennan: Theodor Schieffer: Des Winfrid-Bonifatius geschicht-liehe Sendung (S. 674) John Foster Dulles: Das Ziel der amerikanischen Außenpolitik ist Friede (S. 680)

In den drei ersten Vorlesungen haben wir in etwas groben Umrissen die Vorgänge, die sich zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten abspielten, bis zum zweiten Weltkrieg verfolgt. Ich werde midi nicht unterstehen, diese geschichtliche Darstellung bis in die jüngste Zeit weiterzuführen. Uns allen liegt diese Zeit zu nahe, als daß wir zu ihr die notwendige wissenschaftliche Distanzierung finden könnten, und mir persönlich liegt sie noch näher, weil ich selber ab und zu mit der Entwicklung der Dinge etwas zu tun hatte, was für einen Historiker keine gute Empfehlung ist. Anstatt aber mit unserer Darstellung in die unmittelbare Gegenwart vorzudringen, wollen wir heute das Thema noch einmal als Ganzes betrachten und sehen, ob aus den Vorgängen, die wir hier geschildert haben, nicht einige Schlüsse zu ziehen wären, die uns helfen können, unsere Einstellung zu den Problemen der Gegenwart zu festigen.

Das erste, was wir hier zu notieren hätten, wäre, wie mir scheint, die Tatsache, daß von Anfang an für dieses sowjetrussisch-amerikanische Verhältnis keine Präzedenz, keine Tradition, keine tiefere geschichtliche Erfahrung vorhanden war. In der ersten Vorlesung hatten wir Gelegenheit festzustellen, daß es der amerikanischen Öffentlichkeit bis zur russischen Revolution an tieferem Verständnis für diejenigen Wesenszüge des Bolschewismus fehlte, die aus der russischen Vergangenheit ererbt worden waren. Auch konnten die Amerikaner sich in die Gestaltung ihres Verhältnisses zur Sowjetmacht nicht damit behelfen, wie es andere Mächte teilweise machten, von den Grundsätzen einer traditionellen Bündnispolitik auszugehen. — Ich weiß auch nicht, ob das viel geholfen hätte. — Denn der Bolschewismus hat doch das alte Gesicht Rußlands als eines möglichen Bündnispartners so entscheidend verändert, daß sich die alten Maß; Stäbe jetzt nicht mehr anwenden lassen.

So muß gleich am Anfang berücksichtigt werden, daß der Bolschewismus im Jahre 1917 ausgerechnet in einem Lande entstand, dessen Verhältnis zu Amerika noch keine Form angenommen hatte. Auch wenn die russische Revolution überhaupt nicht stattgefunden hätte, würden die russisch-amerikanischen Beziehungen sowieso im ersten Teil dieses Jahrhunderts einer grundsätzlichen Klärung bedurft haben. Bei einer solchen Klärung wären dann sicher zwei große, entgegengesetzte Momente, die in den späteren amerikanisch-sowjetischen Beziehungen eine führende Rolle gespielt haben, stark zutage getreten: erstens die große Verschiedenheit der politischen Tradition, die sich schon bei der Judenfrage am Anfang dieses Jahrhunderts bemerkbar machte, und zweitens der deutsch-englische Gegensatz, der ja, solange Rußland auf der englischen Seite stand, die Vereinigten Staaten immer wieder an die russische Seite gezogen hätte.

Diese Klärung des russisch-amerikanischen Verhältnisses wäre also schwierig genug gewesen, auch wenn Rußland nicht unter kommunistische Herrschaft gefallen wäre. Wie viel schwieriger mußte sie aber werden, nachdem plötzlich — und zur Überraschung der ganzen Welt — der traditionelle Staat Rußland von einer Macht 'n Besitz genommen worden war, die sich zur ganzen westlichen Welt feindselig verhielt, den Fortschrittsbegriff der abendländischen Zivilisation in Bausch und Bogen verneinte und den westlichen Regierungen, die gerade damals in eine verzweifelte militärische Auseinandersetzung auf Leben und Tod verwickelt waren, effektiv sagte, daß sie nur dann zu retten seien, wenn sie Selbstmord begehen würden? Dem Problem, was für ein Verhältnis man zu einer solchen Macht begründen sollte, standen die amerikanischen Staatsmänner zuerst fassungslos gegenüber.

Dabei muß berücksichtigt werden, daß keinem Volk der Erde der doktrinäre Marxismus ferner lag als dem amerikanischen. Nicht nur wußten die Amerikaner fast überhaupt nichts von der marxistischen Lehre oder von der von den Marxisten beseelten Arbeiterbewegung, sondern es fiel ihnen auch schwer, sich so etwas überhaupt vorzustellen. Sie konnten das Privateigentum durchaus nicht für etwas Böses und Unheilbringendes halten — im Gegenteil, es wurde allgemein als Fundament eines geordneten Gesellschaftswesens betrachtet, als etwas, was mit den tiefsten und zugleich positivsten Zügen der menschlichen Natur eng verbunden war: mit dem Fleiß des Menschen, mit seiner Familientreue, mit der Liebe zu seinen Kindern, mit seinem Kulturniveau, mit seiner geistigen und zivilrechtlichen Unabhängigkeit, mit seiner Selbstachtung und seiner Zivilcourage. Die gewissenhafte und faire Ordnung der Vermögensrechte galt doch als Kernpunkt der angelsächsischen Gesellschaft. Daran zu rütteln, erschien als eine Art Wahnsinn, als Auflehnung gegen die Zivilisation und den Fortschritt schlechthin. Und wenn dann dieselben Leute, die daran rüttelten, noch weiter gingen und die These vertraten, daß alle Regierungen, die das Privatvermögen und die Privat-initiative duldeten und begrüßten, ganz gleich, ob sie auf Grund demokratischer Wahlen von der unbestrittenen Mehrheit des Volkes getragen wurden, als verwerflich zu gelten hatten und unbedingt mit Gewalt zu stürzen und durch Regierungen zu ersetzen waren, die überhaupt keine Mehrheit hinter sich hatten und bloß auf dem Machtanspruch einer kleinen herrschsüchtigen Minderheit beruhten — das schien dann mehr als Wahnsinn zu sein, das grenzte an Kriminalität, mit solchen Leuten konnte man sich nicht ernstlich unterhalten, an ein normales Verhältnis mit ihnen war nicht zu denken.

Dazu kam noch jenes andere Moment, das ich in den ersten Vorlesungen wiederholt betont habe: nämlich die Tatsache, daß während der ersten Periode der kommunistischen Herrschaft in Rußland die Welt in einen Krieg verwickelt war, der die Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit fast ausschließlich in Anspruch nahm. Sie müssen bedenken, bis dahin hatten die Amerikaner keinen großen ausländischen Krieg erlebt. Es war auch ihre erste Bekanntschaft mit den sehr gefährlichen und mächtigen emotionellen Impulsen, die im modernen demokratischen Nationalstaat von so großen Erlebnissen wie dem Kriege ausgelöst und dann mit allen Mitteln der modernen Propaganda hochgeschürt und bis zu einer Massenpsychose gesteigert werden können. Mir scheint, daß in der heutigen Zeit — und ich stelle es mit tiefster Genugtuung fest — die großen Völker des Westens allmählich eine Art Resistenz gegen solche Beeinflussungen entwickeln. Für diese Art Begeisterung sind sie jetzt nicht mehr so leicht zu haben. Aber damals war das für die Amerikaner alles neu. Der Kriegsbegeisterung verfielen sie wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln. Und in diesem Zustand der schwärmerischen Verblendung waren sie nicht imstande, das Phänomen Sowjetrußland mit der Nüchternheit und der scharfen Aufmerksamkeit anzuschauen, die es seiner Bedeutung nach zweifellos verdiente.

Kompromißbereitschaft der Bolschewiki

hinter solchen Umständen ist es nicht überraschend, daß man in den ersten Jahren der Sowjet-herrschaft Dummheiten machte, zu denen die zwei Interventionen wohl auch zu rechnen sind, und wahrscheinlich auch Gelegenheiten verpaßte, auf die Entwicklung des Verhältnisses der Sowjetmacht zur Außenwelt einen nützlichen Einfluß auszuüben. Ganz besonders konnte es der damaligen amerikanischen Regierung zum Vorwurf gemacht werden, und es ist ihr auch zum Vorwurf gemacht worden, daß sie sich übermäßig von den anderen Alliierten beeinflussen ließ, und vor allem, daß sie es versäumte, auf die verschiedenen Anregungen zur Herstellung eines ordentlichen Verhältnisses, die von sowjetrussischer Seite im Jahre 1919 ausgingen (die Bullittschen • Vorschläge waren ja nur ein Beispiel dafür), näher einzugehen. Eine Reihe von bedeutenden Männern, Bullitt eingeschlossen, war damals schon der Meinung, daß die amerikanische Regierung wertvolle Gelegenheiten versäumte und dadurch den künftigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern einen vermeidbaren Schaden zufügte.

Ich glaube aber nicht, daß diese Frage sich so eindeutig entscheiden läßt. Man muß bedenken:

die Bolschewiki waren damals noch schwach und in einer sehr bedrängten Lage. Sie brauchten dringend wirtschaftliche Hilfe. Sie spürten ein verzweifeltes Bedürfnis, irgendwie eine Bresche in die Reihen der kapitalistischen Mächte zu schlagen und sich dadurch vorläufig aus der Klemme zu ziehen. Aus diesen Gründen waren sie bereit, auf Kompromisse einzugehen. Aber ob diese Kompromißbereitschaft die damalige Situation überdauert hätte, ist eine andere Frage.

Gewiß hätte die amerikanische Regierung besser daran getan, den Bolschewiki gegenüber eine etwas unabhängigere Politik zu treiben, etwas selbstbewußter mit ihnen umzugehen, sich geistig und politisch mit ihnen auseinanderzusetzen und de facto Beziehungen zur Sowjetregierung zu unterhalten, solange diese bereit war, den amerikanischen Vertretern den notwendigen Respekt zu zollen. Gewiß wäre es besser gewesen, den Kommunisten bei allen Gelegenheiten die brutale Wahrheit zu sagen, als ihnen überhaupt nichts zu sagen, und die verschiedenen sowjetischen Anregungen auf die Probe zu stellen, anstatt sie von vornherein abzuschlagen oder zu ignorieren. .

Man darf aber seine Zweifel haben, wie weit auch eine solche Berührung geführt hätte. In einer späteren Zeit, wo der gute Wille, weiß Gott, bei den Amerikanern reichlich vorhanden war, sollte es sich herausstellen, daß einem wirklich gesunden Verhältnis zwischen den beiden Ländern viele grundsätzliche Hindernisse im Wege standen. Diese Hindernisse bestanden zum Teil in Wirklichkeit auch schon 1919 und hätten mit der Zeit ihre Wirkung ausgeübt, auch wenn die Westmächte auf Bullitts Vorschläge eingegangen und die diplomatischen Beziehungen schon da-mals wiederhergestellt worden wären. Damals, wie auch später, nahmen die Leiter der russischen kommunistischen Partei in ihren Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern eine zynische und zweideutige Haltung ein. Zweck einer Zusammenarbeit mit den Kapitalisten konnte ihrer Überzeugung nach nur sein, die eigene Stellung zu stärken, damit man am Ende imstande sein würde, diejenigen, mit denen man heute zusammenarbeitet, morgen zu zerschlagen.

Dies war eine grundsätzliche Haltung. Sie wurde nie verhehlt und von Lenin in ausführlicher Weise wiederholt betont. Man braucht nur an den berühmten Zettel zu erinnern, der zur Zeit der Brest-Litowsker Krise von Lenin an seine Kollegen geschrieben wurde und der heute im Museum zu Moskau zu sehen ist. Seine Kollegen hatten sich schriftlich mit der Frage an Lenin gewandt, ob man im Falle der Verlängerung des deutschen Angriffs von den westlichen Alliierten Hilfe annehmen dürfe. „Ich bin dafür", so etwa schrieb Lenin mit eiserner Verbissenheit, „daß man von den Banditen des englisch-französischen Imperialismus Kartoffeln und Waffen annimmt." In demselben Geiste hätte er .

im Jahre 1919 auch dann gehandelt, wenn irgend•eine offizielle Beziehung zu den westlichen Mächten zustande gekommen wäre. Darüber waren sich die amerikanischen Staatsmänner jener Zeit ganz im klaren.

Nun — wer unter solchen Umständen sich auf ein Verhältnis zu einem anderen einläßt, wer also weiß, daß der andere, sobald es die Lage erlaubt, dieses Verhältnis gegen ihn und zu seinem Verderben ausnützen wird, der tut das auf eigenes Risiko. Und es kann niemandem übelgenommen werden, wenn er es vorzieht, doch lieber von einer solchen Bindung abzusehen. Das ist ja immer das Problem der bürgerlichen Parteien und Persönlichkeiten gewesen, die zu gewissen Zeiten von den Kommunisten plötzlich dringend aufgefordert werden, zusammen mit ihnen irgendeine Einheitsfront gegen irgendeine vermeintliche gemeinsame Gefahr zu bilden. Es ist ein gefährliches Spiel — so etwa wie das russische Roulette.

Einer bleibt am Ende dabei immer auf der Strecke. So wurden auch damals die russischen Anregungen zur Wiederherstellung der Beziehungen von den amerikanischen Staatsmännern empfunden. Man kann wohl der Meinung sein, daß sie besser daran getan hätten, eine etwas andere Stellung einzunehmen: man darf sie aber nicht für Narren oder Schelme halten, weil sie so reagierten, wie sie es taten.

Die Haltung der ersten republikanischen Regierung

So kam es zu der langen Periode der Nichtanerkennung — einer Periode, die sich im allgemeinen mit der langen Amtszeit der republikanischen Partei deckte. Charakteristisch war es für die damalige Denkweise der amerikanischen Staatsführung, daß die Staatsmänner sich nicht imstande fühlten, das Wesentlichste, was sie an der Haltung des Kremls auszusetzen hatten, als Begründung ihrer politischen Linie anzuführen.

Der Hang zum Juristischen War bei ihnen so stark, daß nur diejenigen Momente herausgestellt und betont wurden, die auf das formelle Völkerrecht gestützt werden konnten: also die Weigerung, für die Schulden früherer Regierungen aufzukommen, oder die Ablehnung der Verantwortung für die Schäden, welche ausländische Bürger durch die Enteignung erlitten hatten, und endlich — drittens — die propagandistische Tätigkeit der Komintern.

Die ersten zwei dieser Gründe, welche die Anerkennung so lange verhinderten, waren — wie sich später in der Praxis zeigen sollte — reine Ba-gatcllen im Vergleich zu dem, was wirklich auf dem Spiele stand. Der dritte Grund war nur eine Teilerscheinung von etwas viel Tieferem. Wesentlich war hier das ideologische Moment — die grundsätzlich feindselige Einstellung der Machthaber im Kreml zu den westlichen Regierungen und Regierungssystemen und vor allen Dingen ihr ununterbrochenes Bemühen, durch Parteien, die sie mit eiserner Disziplin und konspiratorischen Mitteln leiteten, in den westlichen Ländern Unheil zu stiften und ganzen Bevölkerungsteilen das Vertrauen zur eigenen Regierung, zum eigenen Regierungssystem, ja zur eigenen Tradition selber zu nehmen. Die amerikanischen Staatsmänner der zwanziger Jahre waren sich dieses Momentes im höchsten Grade bewußt, wie es ja auch die heutigen sind. Präsident Coolidge hat es im Jähre 1923 sehr gut als „den aktiven Geist der Feindschaft gegen unsere Institutionen“ bezeichnet. Aber sie empfanden diesen Geist als ein allzu politisches und zu wenig juristisches Phänomen, um der amerikanischen Politik als formelle Begründung dienen zu können.

Jedoch wäre an dieser Stelle auf einen wichtigen Unterschied zwischen der republikanischen Einstellung von damals und der republikanischen Einstellung von heute hinzuweisen. Damals war man sich der möglichen machtpolitischen Bedeutung des Kremls kaum bewußt. Der russische Kommunismus wurde eher verachtet und verab-scheut als gefürchtet. Trotz des ersten Weltkriegs hatten die Amerikaner noch nicht verstanden, in welchem Grade die eigene Sicherheit mit der Einigkeit Europas zusammenhing und in welchem Maße die Sowjetunion im Augenblick, da diese Einigkeit ernstlich gestört werden sollte, eine machtpolitische Gefahr nicht nur für Europa, sondern auch für die Vereinigten Staaten selbst sein würde.

So verfielen die republikanischen Staatsmänner der zwanziger Jahre dem irrtümlichen Glauben, daß es genüge, wenn sie mit der Sowjetregierung formell einfach nichts zu tun hätten — d. h. zu ihr keine diplomatischen Beziehungen unterhielten. Sie haben nicht recht begriffen, daß es für sie aus machtpolitischen Gründen an der Beseitigung der gefährlichen Spannungen mitzuarbeiten, von der die Einigkeit Westeuropas immer noch bedroht wurde. Es stimmt schon, daß sie sehr vieles unternahmen, was ihrer Ansicht nach in diese Richtung führte. Sie haben an den langen Abrüstungsverhandlungen in Genf teilgenommen. Der sogenannte Kellog-Pakt war zum Teil ein Ergebnis ihrer Politik. Aber das waren meistens Sachen, die aus der traditionellen moralisierenden und universellen Einstellung der amerikanischen Politik stammten, wenig realistisch waren und erst recht nicht aus einem tieferen Verständnis für die mögliche machtpolitische Bedeutung der Sowjetunion resultierten.

Die Politik dieser ersten republikanischen Regierung hatte aber den Vorteil, daß jedenfalls in der formellen Verhältnis zwischen den beiden Regierungen Klarheit herrschte. Das Fehlen einer amerikanischen Botschaft in der russischen Hauptstadt hatte doch seine Vorteile. Der Zynismus und die Heuchelei, die mit dem Versuch, ein äußerlich normales diplomatisches Verhältnis zwischen zwei ideologisch entgegengesetzten und theoretisch nicht miteinander verträglichen Systemen zu unterhalten, nicht völlig auszuschalten sind, kamen hier einfach nicht vor. Als dann 1933 die Demokraten ans Ruder kamen und die formellen Beziehungen wieder anknüpften, da fehlte es ihnen nicht nur, wie den Republikanern, an dem notwendigen Verständnis für die mögliche machtpolitische Bedeutung des Sowjetstaates, sondern auch an Verständnis für das ideologische Moment, das die Republikaner sehr gut verstanden hatten. Natürlich waren die Demokraten sich dieses Momentes bewußt, aber sie legten ihm längst nicht dieselbe Bedeutung bei, wie es die Republikaner getan hatten. So gingen die Demokraten in den dreißiger Jahren einen Weg, bei dem sie in erster Linie weder von machtpolitischen noch von ideologischen Gedanken geleitet wurden. Sie versuchten hauptsächlich, zu den Sowjetführern ein persönliches Verhältnis zu schaffen und sie in den Widerstand gegen den europäischen Faschismus einzureihen.

Ein verlorener Traum

Dann kam der zweite Weltkrieg, und erst als dieser Krieg zu Ende war, erst als Moskau sich im Besitz der guten Hälfte Europas und in einer Lage befand, geeignet, dem Rest dieses Erdteils die Wiederherstellung der politischen Gesundheit und Stärke zu erschweren, erst als es sich herausstellte, daß die Sowjetregierung scheinbar nichts von ihrer ideologischen Voreingenommenheit gegen den Westen verloren hatte, sondern offensichtlich gewillt war, die Erholung Westeuropas und auch Japans zu verhindern, die noch andauernde Schwäche dieser Gebiete auszunützen und dadurch in ganz Europa und Asien jeden anderen ihr irgenwie unangenehmen Einfluß auszuschalten und auf diesen ganzen eurasischen Erdteil den eigenen Einfluß — und bei ihnen hieß das, die eigene Macht — auszustrahlen, erst als dies alles geschah, wurden dem amerikanischen Volk zum erstenmal beide Momente, das ideologische und das machtpolitische, zugleich klar, und es empgalt, fand plötzlich in der politischen Linie des Kremls sowie in der militärisch-geographischen Lage, in welche die Kriegsereignisse die Sowjetunion versetzt hatten, eine Bedrohung nicht nur der eigenen Sicherheit, sondern jeder denkbaren internationalen Ordnung, auf welcher man hoffen konnte, eine friedliche und bessere Welt aufzubauen.

Man muß immer bedenken, daß die Amerikaner im zweiten ebenso wie im ersten Weltkrieg tatsächlich glaubten, für eine neue Weltordnung zu kämpfen, der es gelingen sollte, den Krieg auszuschalten und für die enormen Möglichkeiten, die ein wirklich friedliches und freundschaftliches Zusammenleben der Völker eröffnete, freie Bahn zu schaffen.

Heutzutage mag das naiv klingen, aber damals war es todernst gemeint. Man war sogar bei uns bereit, sich von der traditionellen Politik, die das Land im Laufe von immerhin 150 Jahren hauptsächlich in Frieden und Wohlstand gehalten hatte. zu trennen und sich auf neue und unerforschte Wege zu wagen, um dieses Ideal zu verwirklichen. Darin lag für viele Amerikaner die symbolische Bedeutung der Vereinten Nationen. Ohne dieses Ideal wäre es für sie, besonders in bezug auf den europäischen Schauplatz, schwierig gewesen, zu verstehen, wofür sie kämpften.

Das ging sehr tief. Hier in Europa besteht, wie ich fürchte, eine Neigung, anzunehmen, daß der Krieg für Amerika eine Bagatelle war, daß er die Amerikaner nichts kostete und ihnen wenig bedeutete. Ich bitte Sie zu berücksichtigen, daß — wenn auch nicht in demselben Maße wie anderswo — auch unsere jungen Männer zu Hunderten und Tausenden auf den Schlachtfeldern umkamen, daß große Opfer gebracht, daß unzählige Familien durch Trauer und Trennung erschüttert, daß die Kinder vernachlässigt wurden und daß überhaupt die sozialen Verhältnisse in eine gefährliche Einordnung gerieten.

Die Menschen konnten nicht umhin, die Frage zu stellen: Wozu das alles, in wessen Namen geschieht das? Lind viele fanden gerade in der Hoffnung die Antwort, daß es jetzt endlich eine bessere und friedlichere Welt geben würde, daß dieser Alpdruck aus Völker-und Klassenhaß, aus politischer Hetze, Lüge und Gewalt endlich von der Menschheit weichen würde und daß man sich daranmachen könnte, die materielle und moralische Not, in der große Teile der Weltbevölkerung doch immer gelebt hatten, zu beseitigen und eine Welt zu schaffen, in der man wirklich ohne Angst und ohne Erniedrigung leben und für die eigenen Kinder hoffen könnte, daß sie es noch besser haben würden.

Dann aber, als die kommtinistische Hand sich kalt und unerbittlich auf Ost-und Zentraleuropa legte, als es sich als unmöglich herausstellte, die Probleme der Zukunft in einem menschlichen Geiste mit den Russen zu besprechen, als es sich zeigte, daß die Sowjetführer ihre Pläne und Gedanken weiter verheimlichten und mit der westlichen Welt spielten wie eine Katze mit der Maus, und als es endlich klar wurde, daß hier keine Bereitschaft vorhanden war, gemeinsam mit anderen Ländern eine bessere Zukunft zu suchen, sondern immer nur ein rücksichtsloser, von der Ohnmacht und Schwäche der anderen Völker geradezu gesteigerter Machtdrang, — da ging den Amerikanern dieser ganze Traum verloren, und sie befanden sich plötzlich in der neuen, ungeahnten Welt außenpolitischer Wirklichkeiten, in der die alten Auffassungen und Pläne nicht mehr galten und aus der es keine Rückkehr gab in die gemütliche Welt der amerikanischen Isolation, die jetzt als ein Kinderparadies erschien.

Das führte zu einem Meinungsumschwung von nicht geringem Ausmaß. — Ein solcher Vorgang geht nicht streng rationell vor sich; er hält sich nicht an die Logik, er stellt eine emotionelle Bewegung dar, die wie eine enorme Welle durch die Herzen und Köpfe des Volkes fegt und von den ruhigeren und besonneneren Geistern nicht leicht einzudämmen ist.

So schlug die amerikanische Politik in den Jahren 1946— 1952 völlig um. Die Sowjetunion wurde nicht mehr wie im ersten Weltkrieg als etwas Nebensächliches betrachtet, sondern umgekehrt, sie wurde von vielen Amerikanern irrtümlicherweise für das einzig Wichtige gehalten. Die machtpolitische Bedeutung des Kremls wurde nicht mehr wie in den zwanziger und dreißiger Jahren übersehen, sondern sehr ernst genommen, ja, man befaßte sich allzu unmittelbar und ausschließlich mit der militärischen Seite des Konfliktes. Die ideologische Ernsthaftigkeit der russischen Kommunisten und die Tiefe ihrer Voreingenommenheit gegen den Westen wurden nicht mehr wie zu Zeiten Roosevelts unterschätzt. Jetzt erzeugten diese Teile der sowjetischen Gedankenwelt eine solche Voreingenommenheit, daß man für die hofnungsvolleren Momente, für die Spannungen und Schwierigkeiten, die im kommunistischen Lager auftraten, und für alle Wandlungen und Änderungen, denen die Zeit letzten Endes das Wesen der Sowjetmacht doch unterwarf, keine Aufmerksamkeit mehr übrig behielt.

Bei dieser Einstellung wirkten der Sieg der Kommunisten in China und der Angriff auf Südkorea natürlich wie Öl aufs Feuer. Als dann gleichzeitig dem amerikanischen Volk richtig zum Bewußtsein kam, daß einzelne verhältnismäßig hochstehende amtliche Persönlichkeiten in Wa-shington einmal in einer engen und scheinbar unlauteren Beziehung zur Sowjetmacht gestanden hatten, so konnte das, obwohl es lange her war, obwohl die betreffenden Leute nicht sehr zahlreich waren und obwohl sich alles in einer völlig anderen Atmosphäre abgespielt hatte, von einem erheblichen Teil des Volkes doch nicht mit Gelassenheit hingenommen werden.

Es trat ein Zustand ein, der die innenpolitische Ausbeutung geradezu herausforderte. So kamen die Dinge zustande, die hier wie bei uns in den letzten Monaten so viel besprochen wurden und über die noch immer heftig gestritten wird.

Jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob in der amerikanischen Politik den dunklen und gefährlichen Seiten der kommunistischen Denkart oder der machtpolitischen Bedeutung des Kremls Rechnung getragen wird. Jetzt geht es darum, ob ein großes demokratisches Volk, den Einflüssen der Demagogie und der bewußt verantwortungslosen Vereinfachung aller Werte wie jedes andere ausgesetzt, auf die Dauer mit einem äußerst komplizierten, subtilen, an Weitsicht und ruhige Überlegung die höchsten Ansprüche stellenden Problem der Außenpolitik und der Staatskunst fertig wird.

Der traditionelle politische Geist

Soweit die Geschichte der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. — Erlauben Sie mir zum Schluß einige Bemerkungen über das Wesen und die tiefere Bedeutung der enormen Spannung, die auf jeder Seite dieser Geschichte zutage tritt.

Es sind hier drei Momente, die es, wie mir scheint, verdienen betont zu werden: Das erste wäre der traditionelle politische Geist, der von Anfang an in den Vereinigten Staaten geherrscht hat und für ihre Beziehungen zur Außenwelt maßgebend gewesen ist. Es war der spezifisch merkantile Geist der britischen Inseln und des Nordseeraumes in der Zeit nach der Entdeckung der großen Seewege und der Herstellung der Handelsverbindungen zwischen Europa und den entfernten Erdteilen. Es war der Geist der Seemacht, der Geist von Völkern, deren Blick auf die Meere gerichtet ist. Die mit diesem Geist verbundene politische und wirtschaftliche Zivilisation hat gewiß ihre Schattenseiten gehabt — sie führte unter anderem zu der im Grunde genommen ungesunden, aber vielleicht gerade für diese Epoche unvermeidlichen Erscheinung des Kolonialismus — aber ich möchte die Behauptung wagen, daß dieser merkantile Geist sich auch durch gewisse Positiva, besonders im Hinblick auf das Zusammenleben der Völker untereinander, auszeichnet: durch ein zuversichtliches inneres Selbstbewußtsein, eine große Ruhe und Bedachtheit des politischen Handelns, einen ausgeprägten Kosmopolitismus und eine lebendige Toleranz dem Auslande und dem Ausländer gegenüber, eine Abneigung gegen alles Doktrinäre und Theoretisch-Künstliche in der Politik, eine instinktive Achtung für die Eigenart und Souveränität anderer Staaten und vor allen Dingen durch einen starken Hang zur Idee des Völkerrechts als Grundlage internationaler Beziehungen. Es ist oft gesagt worden, die Seemacht sei humaner als die Landmacht. Das scheint mir im allgemeinen richtig zu sein; und ich möchte noch hinzufügen, daß der merkantile Geist besonders geeignet ist, das friedliche Zusammenleben einer aus vielen souveränen Staaten bestehenden Völkergemeinschaft sicherzustellen.

Die Russen hatten das umgekehrte Erlebnis.

Sie fanden den Weg zur nationalen Größe in einer Welt, in der die Landmacht entscheidend war. Hier war an der Politik alles absolut, nichts relativ. Hier gab es keine Freundschaft, kein Sich-

abfinden mit der dauerhaften Existenz und den Rechten des Nachbarn. Hier ging es immer um Unterwerfung oder Ausmerzung. Hier mußte man tatsächlich immer wieder wählen, ob man Hammer oder Amboß sein wollte. Hier waren die Kriege grausam und erbittert, und es wurde nicht wie in der merkantilen Welt um begrenzte Ziele, sondern um das Letzte gekämpft. Hier ging es immer um die nationale Unabhängigkeit, um die Heimat, um das Leben selbst. Hier gab es viele Waffenstillstände, aber selten einen Frieden; denn Frieden war nur dann zu haben, wenn der Gegner vollkommen geschlagen, seine Unabhängigkeit verloren, sein Gebiet verheert und einverleibt war. Der eigene Gewinn war immer nur in der Katastrophe des anderen zu suchen.

In diesem harten und unerbittlichen politischen Klima bildete sich die russische Staatskunst und die russische Einstellung zur Außenwelt. In der Zeit, in der Petersburg die Hauptstadt des Landes war, wurde dieses politische Klima durch die Beteiligung des russischen Hofes an der großen Politik der europäischen Kabinette allerdings etwas milder, denn die dynastische Politik war wie die merkantile trotz all ihrer Schattenseiten doch hauptsächlich auf begrenzte Ziele gerichtet.

Aber die Einstellung des Petersburger Hofes hatte auf die tieferen Geistesströmungen im rusisschen Einfluß, und als dann das Zarentum und die Hauptstadt wieder in das traditionelle Moskau zurückverlegt wurde, kehrte das neue bolschewistische Regime in seinen außenpolitischen Auffassungen zu dem alten Geiste des Moskowiter Fürstentums zurück. Der von Lenin umgearbeitete Marxismus, nach russischer Art zu einer starren, formellen, mit vielen Zeremonien umgebenen Doktrin umgestaltet, diente an Stelle der alten religiösen Orthodoxie als Quelle der Ablehnung und Verachtung der Außenwelt, als Quelle des Fremdenhasses und der Selbstverherrlichung, als Grundlage für den messianischen Anspruch auf die Weltherrschaft.

Die Ideologie

Das bringt mich nun zu dem zweiten Moment, der Ideologie. Und hier möchte ich betonen, daß cs eigentlich nicht der sozialwirtschaftliche Inhalt der marxistischen Lehre war, der zu den größten Schwierigkeiten führte. Dieser Inhalt wirkte zwar bei uns befremdend und abstoßend. Aber er hätte auch von der amerikanischen Öffentlichkeit ruhig hingenommen werden können, wenn er nicht mit dem anmaßenden Anspruch auf Weltgeltung und vor allen Dingen mit der heftigen, leidenschaftlichen Ablehnung der ganzen westlichen Gesellschaftsordnung verbunden gewesen wäre. Wenn die Russen nur bei sich zu Hause mit dem Kommunismus herumexperimentieren wollten, so hätte uns das im Grunde nichts geschadet. Aber daß sie es sich zum Ziel setzten, der noch übrig-bleibenden kapitalistischen Welt bei ihrem vermeintlichen Untergang behilflich zu sein — das war der Stein des Anstoßes.

Wir fangen jetzt an zu verstehen, daß dieses starke antiwestliche Ressentiment nur ein Phase, und zwar die erste, einer viel größeren geschichtlichen Entwicklung war, das heißt jener gewaltigen Auflehnung gegen den Westen, die heute alle Völker erfaßt hat, welche im Schatten der englischen Weltmacht und des Kolonialismus zum nationalen Bewußtsein kamen und zu der auch die chinesische Revolution und die allgemeine Verbitterung der asiatischen Intelligenz gegen die Anschauung und das Beispiel des Westens zu rechnen wären. Wir haben es hier offenbar mit einer Art von geistiger Auflehnung des Sohnes gegen den Vater zu tun — des Sohnes, der sich gerade deshalb gegen den Vater wendet, weil er sich seiner geistigen Abhängigkeit schämt und nicht mehr das Produkt fremder Beeinflussung, sondern etwas für sich sein will. Wir stehen hier vor einer Revolution der Peripherie der abendländischen Welt gegen das Zentrum, von dem sie erweckt und zum nationalen Bewußtsein gebracht wurde. Die russische Revolution war nur ein Teil dieser Entwicklung. Und die Vereinigten Staaten, die nicht umhin können, heute als stärkster Exponent der abendländischen Welt hervorzutreten, ernten in dieser Hinsicht nur, was die kolonialen Mächte in den vergangenen Jahrhunderten gesät haben.

Die Expansion der Sowjetunion

Dazu kommt nun das letzte Moment: der Drang der Sowjetunion als machtpolitisches Gebilde zur geographischen Expansion auf dem eurasischen Erdteil. Ich glaube, daß diese Erscheinung, obwohl sie gewiß mit den eben erwähnten geschichtlichen und ideologischen Elementen zusammenhängt, doch etwas Unabhängiges darstellt. Sie ist eine Erscheinung, die sich meines Erachtens automatisch aus dem inneren Wesen der Sowjet-macht ergibt. Sie besteht in der einfachen Tatsache, daß es einer Macht, die nur diktatorisch und totalitär zu regieren versteht, immer schwer fällt, zu den Nachbarn ein normales und dauerhaftes Verhältnis zu unterhalten. Der Erfolg der totalitären Innenpolitik wird immer nur dann vollständig sein, wenn man das Volk davon überzeugen kann, daß es sonst nirgends ein größere Freiheit gibt als die, welche es genießt, und daß es also vergebens ist, auf mehr zu hoffen. Ein Regime, das mit diesen Mitteln arbeitet, wird sehr schlecht die Nachbarschaft einer anderen und mehr liberalen Ordnung ertragen. Jede angrenzende freie oder auch nur freiere Gesellschaft muß ihm auf die Dauer lästig und schwer ertragbar werden. Bei einem solchen Regime wird immer, wie ich befürchte, die Neigung bestehen, auch wenn es sich eben erst ein Land einverleibt hat, sich auch das nächste noch einzuverleiben.

Es liegt auf der Hand, daß die Vereinigten Staaten sich keineswegs mit einer unbegrenzten Expansion der Sowjetmacht in Europa oder Asien abfinden können. Dazu ist der eurasische Erdteil viel zu wichtig, viel zu entscheidend, nicht nur vom machtpolitischen, sondern auch vom kulturellen und politisch-philosophischen Standpunkt aus. Die Grenzen, bis zu denen sich die faktische russische Herrschaft infolge der Auswirkungen des letzten Krieges und der chinesischen Revolution ausgedehnt hat, bilden schon eine schwerwiegende Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses, eine schwere Belastung der Stabilität der internationalen Beziehungen und folglich einen Zustand, der die Sicherheit auch des nordamerikanischen Kontinents auf das empfindlichste berührt. Aber die Bedeutung dieser Expansion für die Vereinigten Staaten wird mit dem machtpolitischen Moment nicht erschöpft. Bei einem vom Kommunismus beherrschten Europa würden die Vereinigten Staaten auch in geistiger und kultureller Hinsicht isoliert dastehen, denn ich kann nicht glauben, daß in der kommunistischen Welt für die humane und christliche Tradition des Abendlandes ein Platz vorhanden wäre.

Und ich weiß nicht, ob Amerika ohne das Band, das es immer mit Europa wie mit einer Mutter verbunden hat, stark genug sein würde, allein die abendländische Tradition am Leben zu erhalten und unversehrt für eine bessere Zukunft zu bewahren.

Ein Buch mit sieben Siegeln

So haben wir es hier mit einer von der Logik der Geschichte erzeugten Spannung zu tun, einer Spannung von ungeheurer Tiefe und Schärfe. Aber gerade deshalb — und das wäre der letzte Gedanke, dessen Erwägung ich Ihnen anheimstel-len möchte — gerade weil diese Spannung so tief im Werdegang unserer Epoche verwurzelt ist, soll man anerkennen, daß sie nicht auf einmal, nicht mit irgendeinem einzelnen Handgriff und erst recht nicht mit den fatalen Mitteln aggressiver Gewalt zu lösen ist. Das soll nicht besagen, daß man nicht bereit sein sollte, das Eigene mit Gewalt zu verteidigen, wenn es darauf ankommt. Aber es soll besagen, daß die Gewalt immer als etwas Schlimmes zu betrachten ist, auf die man nur dann zurückgreifen sollte, wenn es darum geht, noch Schlimmeres zu verhüten, und daß man nicht von der Gewalt erwarten sollte, sie könne allein eine Spannung von diesem Ausmaße und von dieser geschichtlichen Weite überwinden und heilen. Dazu gehört noch ganz anderes: eine positive Idee, Menschenliebe und eine auf Vertrauen und Verständnis beruhende Menschenführung.

Dazu gehört auch, daß dem langen, gewaltigen und trüben Prozeß des geschichtlichen Wandels die Möglichkeit gegeben wird, sich zu vollenden.

Und ich möchte darauf aufmerksam machen, daß wir diesen geschichtlichen Prozeß nicht bis ins letzteDetail zu verstehenbrauchen, um ihm unser Vertrauen schenken zu dürfen. Im Gegenteil, wir müssen so einsichtig sein zu erkennen, daß Gegenwart und Zukunft für uns ebenso ein Buch mit sieben Siegeln sind wie die Vergangenheit — ja noch mehr —, daß es uns nicht gewährt ist, sehr weit in die geheimnisvollen Wirkungen der Geschichte hineinzuschauen, und daß wir nicht in jedem beliebigen Augenblick imstande sind, alle Wege zu übersehen, auf denen die großen Probleme des menschlichen Zusammenlebens gelöst werden können. Bei dem Konflikt zwischen der Sowjetmacht und der abendländischen Welt muß man der Geschichte die Zeit erst recht lassen, die Spannung mit ihren eigenen, für Menschen nicht ganz erforschbaren Mitteln allmählich abzudämpfen, ihre Voraussetzungen abzuändern und sie auf diese Weise auf ertragbare Ausmaße zu reduzieren, wie sie es bei so vielen Spannungen der Vergangenheit getan hat.

Das heißt nicht, daß man passiv beiseite stehen oder gar keine Anstrengung machen soll, die Geschichte zu verstehen oder zu beeinflussen. Man muß beides tun, soweit es geht. Es ist sogar von größter Wichtigkeit, daß man nie aufhört, beides zu tun. Man muß aber bescheiden sein. Man muß nicht darauf bestehen, alles klar und auf längere Sicht voraussehen zu wollen, bevor man sich zum Handeln bequemt. Man muß auf die Mittel achten, daß sie anständig und lauter sind, denn mit anderen ist wenig zu erreichen. Und wenn der einzelne — ich sage der einzelne, denn der Mensch ist in seinem Verhältnis zu den großen politischen Problemen ebensosehr ein einsames Wesen wie in seinem Privatleben und letzten Endes auf sich selbst und sein Gewissen angewiesen — wenn der einzelne das Tägliche und Erfaßbare getan hat, dann kann er sich für den Rest nur auf all das verlassen, was Goethes Faust in dem Moment tiefster Verzweiflung verfluchte: auf die Hoffnung, den Glauben und vor allem auf die Geduld.

Ich habe versucht, nur von unseren amerikanischen Problemen zu sprechen. Aber ich hatte zuweilen das Gefühl, daß es vielleicht doch nicht nur die unsrigen waren und daß aus dieser Betrachtung der Beziehungen zwischen zwei großen Völkern und Systemen vielleicht manche Erkenntnis gewonnen werden könnte, die für die ganze Menschheit und nicht zuletzt für die Jugend Deutschlands im Jahre 1954 ihre Bedeutung hat.

Fussnoten

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