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Des Winfrid-Bonifatius geschichtliche Sendung | APuZ 51/1954 | bpb.de

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APuZ 51/1954 Das Amerikanisch-Russische Verhältnis Des Winfrid-Bonifatius geschichtliche Sendung Das Ziel der amerikanischen Außenpolitik ist Friede

Des Winfrid-Bonifatius geschichtliche Sendung

Theodor Schieffer

Der folgende Aufsatz wurde mit Zustimmung der Redaktion übernommen aus dem ARCHIV FÜR MITTEL-RHEINISCHE KIRCHENGESCHICHTE Bd. 6 (1954). )

Die Kirchengeschichte ist reich an Heiligen, die durch den Flug des Geistes oder durch die himmelstürmende Inbrunst mystischer Hingabe an Gott für Mit-und Nachwelt hinreißendes Vorbild geworden sind. Zu diesen Gestalten gehört der historische Bonifatius, so wie er wirklich war, nicht, mit einem Augustinus oder einem Franziskus hat er nicht allzu viel gemein. Joseph Bernhard gibt im Vorwort seines Bonifatius-Büchleins die Meinung Peter Dörflers wieder: „. . aus dem Ängstlichen, Pedantischen sei keine pak-kende Gestalt zu machen", und er findet auch selbst, „Bonifatius sei kein Mann, der Dichter oder Essayisten groß begeistern könnte“. Das ist richtig, — freilich sind wir versucht hinzuzufügen: das ist auch ein Glück, denn der geschichtlichen Wahrheit hat es kaum je gedient, wenn Dichter und Essayisten da ernten wollten, wo der Historiker gesät hatte; der angerichtete Schaden ist sogar meist nicht mehr gutzumachen.

Zu den elementaren, unabweisbaren Wahrheiten gehört es aber, daß Bonifatius in einem entscheidenden Augenblick bestimmend, wegweisend in unsere Geschichte eingegriffen hat. Ein lebendiges Gefühl dafür geht auch dem allgemeinen, volkstümlichen Geschichtsbewußtsein keineswegs ab, und es hat sich auch seiner Persönlichkeit bemächtigt, aber es war — wie so oft — nicht imstande, die komplizierte, differenzierte historische Wirklichkeit als ganze in sich aufzunehmen; es will ein Bild, das sich einprägt und die Phantasie anspricht, es vereinfacht die Wirklichkeit, es wählt packende, mitreißende Züge und Szenen aus: wir sind gewohnt, in Bonifatius den „Apostel der Deutschen“ zu sehen, aus seiner Lebensgeschichte kennt jeder die Fällung der Donarseiche in Geismar und das blutige Ende in Dokkum, dessen wir in diesem Jahre gedenken.

Nun, wir wollen den durch eine jahrhundertealte Gewohnheit sanktionierten Ehrentitel des Apostels der Deutschen niemandem verleiden, aber wir können nicht verschweigen, daß diese Bezeichnung historisch unscharf und, wenn sie sich mit der Vorstellung verbinden sollte, Bonifatius habe ein noch heidnisches Deutschland bekehrt, einfach falsch ist. Eine Einzelpersönlichkeit, der ausschließlich oder auch nur mit Vorrang die Kennzeichnung als Apostel Deutschlands zu-käme, gibt es nicht. Die Christianisierung der deutschen Lande setzt bereits mit der Selbstbehauptung des römischen Provinzialkirchentums in den Rhein-und Donaugebieten ein, sie ist ein Vorgang, der sich auf lange Jahrhunderte und auf zahlreiche, zum guten Teil namenlose Kräfte verteilt. Zudem haben wir längst gelernt, den Begriff „Deutsch“ sehr bestimmt vom „Germanischen“ abzuheben: er ist erst für die Zeit von 900 an verwendbar, als die Stämme der Franken, Schwaben, Bayern und Sachsen zu einer gesonderten politischen Gemeinsamkeit fänden. Bonifatius war ein angelsächsischer Germane — und er war sich dieser Volkszugehörigkeit mit Stolz bewußt —, der Schauplatz seines Wirkens war das Reich der Franken, ein unmittelbarer Bezug zur eigentlichen deutschen Geschichte ist bei ihm nicht gegeben.

Die Tat von Geismar

Ebenso wenig dürfen wir uns der Einsicht verschließen, daß die Szenen von Geismar und Dokkum, so wie sie gemeinhin verstanden werden, in der Geschichte des Bonifatius „atypisch“ sind (wenn wir uns dieses Ausdrucks aus anderen Wissenschaftszweigen hier einmal bedienen dürfen). Allerdings müssen wir gleich präzisieren: was in Geismar geschah, war schon eine charakteristische Tat, aber nicht in dem heroischen Sinne, den ihr das volkstümliche Geschichtsbild beizulegen pflegt. Die Vorstellung, Bonifatius sei hier todes-mutig einer erregten, in ihren Reaktionen unberechenbaren Heidenmenge entgegengetreten, ist ganz und gar ungeschichtlich. Er befand sich in einem Lande, das fest in die fränkische Herrschaft einbezogen war, er stand für seine Person unter dem besonderen Schutz des Hausmaiers Karl Martell, und zu allem spielte sich der Vorgang im Schatten der fränkischen Festung Büraburg ab!

Daß Bonifatius sich einer sonderlichen Gefahraussetzen mußte, ist kaum denkbar und wird von der maßgebenden Quelle auch gar nicht behauptet.

Die wahre Bedeutung der Tat von Geismar liegt auf ganz anderer Ebene: was hier geschah, war eine Demonstration, und sie war charakteristisch für die Germanenmission. Die Wege der Germanenbekehrung waren grundverschieden von der frühchristlichen Mission, die sich in einer Hochkultur, in der hellenistisch-römischen Umwelt, hatte behaupten und durchsetzen müssen. Im Vordergründe stand jetzt nicht mehr die rational unterbaute Argumentation, das Werben um den Einzelmenschen, um seine Überzeugung, seine Entscheidung, sein Bekenntnis, auch nicht so sehr die Einsicht in die Irrealität der heidnischen Göttervorstellungen; die Christianisierung bedeutete bei den Germanen den offiziellen, mehr oder minder spontanen Übertritt ganzer Gruppen und Gemeinschaften zum neuen Gott, zum neuen Kult, und das hieß in der Praxis: es war eine Christianisierung von oben her, sie mußte ansetzen mit dem Versuch, den König, die Fürsten, die Großen zu gewinnen, nur in Anlehnung an eine christliche Staatsgewalt versprach die Glaubenspredigt Erfolg. Jeder andere Ansatz, so mutig er war, ist gescheitert; der Versuch der machtlosen Predigt führte die Ewalde bei den Sachsen in den Untergang, führte zum Fehlschlage Winfrids bei seinem ersten Auftreten in Friesland. Nicht das Pathos der Todesbereitschaft, an das wir so leicht bei der Heidenmission denken, ist der hervorstechende, bestimmende Zug bei der Bekehrung der heidnischen Germanen, sondern die Demonstration der Überlegenheit des Christentums schon auf Erden: Christus ist der stärkere Gote! So rief der noch heidnische Franken-könig Chlodwig in der Bedrängnis der Alamannenschlacht zum Gott der Christen, und so ist auch die öffentliche, ostentative Zerstörung heidnischer Heiligtümer eine häufige Geste der Glaubensboten geworden; was Bonifatius in Geismar tat, wird in ähnlicher Art aus England, von Gallus, von Willibrord berichtet.

Damit ist zugleich schon gesagt, was in einem richtig gesehenen Geschichtsbilde der blutige Tag von Dokkum bedeutet. Was sich am 5. Juni 754 zutrug, war eben darum ein so erschütterndes, ein unerhörtes Ereignis, weil es ganz aus dem Rahmen dessen fiel, worauf die Zeitgenossen und auch die Glaubensboten selber gefaßt sein mußten. Das heroische Zeitalter der Märtyrer lag in einer schon fernen Vergangenheit, im 8. Jahrhundert stand nicht mehr zu erwarten, daß die Predigt des Evangeliums ihre Erfüllung im Blut-zeugnis finden werde. Auch Bonifatius hatte sich seit seinem Mißerfolg von 716 der Erfahrung gebeugt und sich bei der Mission des Rückhaltes am fränkischen Staate versichert. Der dramatische Ausgang in dem gleichen friesischen Lande, wo er vierzig Jahre zuvor begonnen, hat wahrlich etwas Packendes, Bewegendes, aber dieser Eindruck darf darum doch nicht die Vorstellung von einem gewollten, organischen Abschluß suggerieren. Fast die gesamte bisherige Literatur ist dieser Suggestion erlegen, indem ein Autor nach dem andern wiederholt, Bonifatius habe den Märtyrer-tod gesucht. (Ich kann mich selber davon nicht ausnehmen; vgl. „Angelsachsen und Franken" S. 6). Das aber ist keineswegs glaubhaft; Bonifatius hatte sich nicht mutwillig in die Gefahr gestürzt, er war zwar in die noch ungenügend gesicherten Randgebiete vorgedrungen, aber in fränkisch beherrschtem Lande geblieben. Auch spricht nichts dafür, daß es sich bei dem blutigen Geschehen um eine Art „Überzeugungstat“ friesischer Heiden gehandelt habe; es war ein primitiver Raub-und Mordüberfall . . .

Apostel Hessens ..

Die bevorzugte, ja isolierte Blickrichtung des gängigen Wissens um Bonifatius auf Geismar und Dokkum ist eben darum eine so bedenkliche Fehlerquelle, weil das volkstümliche Geschichtsbild ohnehin den Heidenmissionar zu sehr, fast ausschließlich, in den Vordergrund rückt. Gewiß hat sich Bonifatius auch der Heidenbekehrung gewidmet, und wenn er es tat, dann mit aller Kraft und Hingabe. Er hat als Heidenmissionar begonnen und geendet, aber diese seine Wirksamkeit hat sich doch, zeitlich sowohl wie räumlich, nur in klar umrissener Begrenzung entfaltet. Auf kurze Zeit, wahrscheinlich nicht einmal zwei volle Jahre lang, war er Schüler und Gefährte Willibrords in Friesland; seine eigene große Leistung dieser Art war dann die Gewinnung Hessens als der letzten heidnischen Insel im damaligen Frankenreich. Legen wir auf die elementare Christianisierung den Ton, dann war Bonifatius der Apostel Hessens, nicht Deutschlands, — wobei noch zu beachten bleibt, daß wir unter „Hessen“ nur die eigentliche, historische Landschaft dieses'Namens um Fritzlar und Gudensberg zu verstehen haben.

Stellen wir uns vor, Bonifatius hätte zeitlebens die Erfüllung seiner Aufgabe darin gesehen (oder sehen müssen), den Heiden das Evangelium zu bringen, er hätte etwa 735/38, als er ja immerhin schon im siebenten Lebensjahrzehnt stand, seine irdischen Tage beschlossen. Was wäre sein Platz, seine Stellung in der Geschichte?

Ganz unverkennbar wäre er eine Gestalt, bei der die typischen Zeitzüge überwögen. Er war ein Sproß des glaubenseifrigen, kirchenstrengen, rom-verbundenen, bildungsfrohen angelsächsischen Benediktinertums. In der heimatlichen Kloster-welt von Wessex war ihm ein langes, bedächtiges Reifen zum innerlich gefestigten, willensstarken Manne beschieden. Schon ein Vierziger, wurde er, sichtlich angezogen vom Vorbilde des Friesen-apostels Willibrord, erfaßt von dem asketischen Ideal des Verzichtes auf die Heimat, um bei den stammverwandten Festlandsgermanen das Reis des christlichen Glaubens zu pflanzen. Das Jahr 716 brachte ihm die entscheidende, grundlegende Erfahrung: den Mißerfolg der Predigt vor dem Friesenherzog Radbod, der eben die Franken aus dem Felde geschlagen, für den Christus nicht der stärkere Gott war. Der zweite, endgültige Auszug, 718, stand dafür im Zeichen einer durchdachten, entschlossenen Planmäßigkeit. Beim Papst holte Winfrid eine formelle Missionsvollmacht ein und führte seither nur noch den ihm bei diesem Anlaß verliehenen Namen des römischen Tagesheiligen, des Märtyrers Bonifatius aus dem frühen 4. Jahrhundert. Es folgen die Lehrjahre in Friesland und die Verselbständigung auf dem eigenen hessischen Arbeitsfelde seit 721. Die Bischofsweihe — wiederum in Rom — und der Schutz des Hausmaiers sichern dem ganzen Missionswerk, das sich bald nach Thüringen ausweitet, Rechtsgrundlage, politischen Rückhalt und Stetigkeit. Schon beginnt das Schwergewicht allmählich von der Heidenbekehrung auf den Kampf mit verrottetem Klerus, auf die Reinigung des kirchlichen, christlichen Lebens überzugehen. Im Jahre 732 wird Bonifatius vom Papste zum Erzbischof erhoben, mit dem Recht und dem Auftrage, Bischöfe einzusetzen; aber sein Einfluß beim Hausmaier reicht nicht so weit, daß er dieses Amt auch ausüben könnte. Wohl vermag er sich im monastischen Bereich zu entfalten: zu Amöneburg, Fritzlar und Ohrdruf, die schon in den zwanziger Jahren entstanden sind, treten die Frauenklöster am Main — Tauberbischofsheim, Kitzingen, Ochsenfurt —, aber auf dem Wege zu seinen Hauptzielen, dem Ausbau einer Bistums-Organisation, dem Vorstoß zu einer Mission bei den Sachsen, bleibt er stecken.

Soweit ist Bonifatius unstreitig schon eine markante Persönlichkeit und nimmt einen ehrenvollen Platz ein unter den Glaubensboten, die aus der Anonymität herausragen, in der Reihe, die mit Amandus, Kilian, Emmeram, Rupert begonnen hat, der seine Zeitgenossen Willibrord und Pirmin angehören und die sich in späteren Jahrhunderten etwa mit Ansgar, Adalbert von Prag, Otto von Bamberg fortsetzen wird, — aber als eine Gestalt von welthistorischem Format, die alle Vorgänger und Zeitgenossen weit hinter sich ließe, können wir ihn bis dahin noch nicht an-

sprechen, den Charakter der Einmaligkeit haben alle diese Taten nicht.

Schlüsselgestalt an einem Wendepunkt der Weltgeschichte

Einmalig waren dagegen die Impulse, die im letzten Jahrzehnt seines Lebens von ihm ausgingen, als im Jahre 741 der Abschnitt anhob, den die geschichtlichen Darstellungen nicht mehr als „Mission“, sondern als „Reform“ zu bezeichnen pflegen. Hier liegt ein geschichtlicher Einschnitt vor, aber nicht etwa in den Konzeptionen des Bonifatius, die Wende wird vielmehr durch den Generationswechsel im Karolingerhause bestimmt.

Das soll uns ein Fingerzeig sein. Das Lebenswerk des Bonifatius hat sich nicht in autonomer Gradlinigkeit entwickeln können, die faktische Entscheidung lag oft bei ganz anderen Mächten.

Gerade von dieser, grundlegenden Einsicht her öffnen sich sehr weite historische Perspektiven, die wir aber nur in den Blick bekommen, wenn wir mit der isolierten biographischen Sicht, von der die üblichen Geschichtskenntnisse hier ganz bestimmt sind, radikal brechen und uns ernstlich bemühen, seine Gestalt und sein Werk ganz aus seinem 8. Jahrhundert heraus zu verstehen, und wenn wir dabei zugleich versuchen, die geschicht-

liehe Eigenart dieses Zeitalters in tunlichster Breite und Tiefe zu erfassen. Dann erweist sich vor einem weiter gespannten Blick sehr leicht. daß Bonifatius unendlich mehr war als ein Heidenmissionar neben anderen; wir dürfen ihn ohne jede Übertreibung eine Schlüsselgestalt an einem Wendepunkt der Weltgeschichte nennen.

Das soll nicht einfach heißen, er habe „an der Wende vom Altertum zum Mittelalter" gestanden, schon darum nicht, weil es eine Grenzlinie solcher Art überhaupt nicht gibt. Aber es gibt einen sehr breiten Grenzsaum zwischen diesen beiden Kulturwelten, einen Grenzsaum, der nicht mehr Antike und noch nicht Mittelalter ist und den niemand von irgendeinem fixen Datum her zerschneiden sollte, der sich vielmehr darstellt als eine vielhundertjährige Wandlungskrise der christlichen, der romanisch-germanischen Welt und etwa von 400 bis 750 anzusetzen ist. Des Bonifatius historischer Ort ist das Ende dieser Übergangsperiode, — und insofern ist er, den wir durchaus mit Recht als einen wegweisenden Initiator zu sehen pflegen, zugleih eine Gestalt relativer Spätstufe: er hat einen maßgeblichen Beitrag geleistet zur Überwindung dieser weltgeschichtlichen Krise, zur neuen, grundlegenden Konsolidierung der christlich-europäischen Welt, und damit steht er an der Schwelle unseres Mittelalters!

Ausklingende Antike

Um wenigstens andeutungsweise zu verstehen, was denn eigentlich das Wesen, die Tragweite:

dieser gewaltigen Krise ausmacht, müssen wir also sehr weit zurückschauen, für einen Augenblick sogar bis zur ausklingenden Antike um 400.

Zu jenem Zeitpunkt waren Staat, Kulturwelt, Christenheit, Kirche kongruente Größen gewesen, gebunden durch die römisch-griechische Mittelmeereinheit des Imperiums Romanum. Über diese Welt aber waren die tiefgreifenden Wandlungen hereingebrochen, die in dem Schlagwort von der „Völkerwanderung“ nur sehr unvollkommen zusammengefaßt werden. Dieses vielgestaltige Geschehen mit abwägendem historischem Verständnis und Urteil zu begreifen, ist nicht leiht. Auflösung, Niedergang, Zerstörung — noh dazu im Zeitraffer gesehen — bestimmen optish das Bild; überdies sind unsere Wertungskategorien sehr stark humanistisch geprägt und nehmen unwillkürlich die klassishe Antike als Maßstab und Leitbild. Damit aber erfassen wir nur Teilwahrheiten. Das Zeitalter der Völkerwanderung war keineswegs rein destruktiv. Die antike Welt war längst in einem Wandel von innen her begriffen. Selbstaufgabe und Verfall wirkten sih nahhaltiger aus als die im ganzen doh nur sporadischen Zerstörungen, aber neben dem Absterben gibt es auh eine zähe Beharrungskraft antiker Werte, und die romanish-germa-

nishe Blutmishung bedeutete eine neue Grund-legung der europäischen Zukunft. Es ergeben sich also vielerlei Aspekte, von denen auch jeder auf seine Art für unsere Fragestellung etwas bedeutet. Schlechthin entscheidend ist aber der eine: in der Erschlaffung des Römertums und unter dem Einstrom germanischer Stämme löst sich die bisherige imponierende Einheit auf. Am Rande der zurückweichenden Romania formieren sich endgültig die germanischen Großstämme, zeitweilig in heftiger Rivalität untereinander; aber auch die Kulturwelt selber differenziert sich und gibt den Weg zu einem Nebeneinander romanischer Völker frei. Die weltweite wirtschaftliche Verflechtung lockert sich durch die Schrumpfung des Handels und den Rückfall in ganz überwiegend agrarische Lebensbedingungen. Die politische Einheit zerbricht, die Wege des lateinischen Westens und des griechischen Ostens gehen scharf auseinander. Auf dem Boden des westlichen Imperiums bilden sich germanisch geprägte Staaten mit sehr starkem Eigenbewußtsein; im 7. Jahrhundert besteht schon ein europäisches Staaten-system mit den Großreichen der Franken in Gallien, der Langobarden in Italien, der Westgoten in Spanien. Im Gegensatz dazu hielt der östliche Teil des Imperiums mit der Hauptstadt Konstantinopel in ungebrochener Kontinuität allen Stürmen stand. Das Ostreich behauptete sogar noch wichtige Brückenköpfe im Westen, italische Rand-und Restpositionen um Ravenna und Rom, die freilich einem unablässigen Langobardendruck ausgesetzt waren; aber seine Wurzelfasern zum römisch-italischen Volkstum waren zerschnitten, es befand sich in vollem Wandel zum griechisch-byzantinischen Reich des Mittelalters.

Partikularkirchentum

Inmitten dieser Konstellation sehr ungleichartiger politischer Kräfte ist auch Bonifatius zu sehen, aber natürlich nicht als ein Mann der Politik, sondern als ein Mann der Kirche, — und damit stehen wir am Kern'des Problems.

Audi die Kirche war in jene welthistorische Wandlungskrise hineingezogen worden. Gewiß nicht in einem elementaren, radikalen Sinne: wenn eine Untergangsgefahr, menschlich gesehen, je bestanden haben sollte, so war sie längst überwunden. Die Kirche hatte eine Probe auf ihre Überzeitlichkeit bestanden, sie hatte sich als eine Kontinuitätsklammer erwiesen, die Altes und Neues verband. Die Gewinnung der Germanen für das Christentum war grundsätzlich entschieden, das Wirken des Bonifatius gehört in dieser Hinsicht schon der Endphase an. Es handelte sich keineswegs um ein notdürftiges „Überleben", die Kirche bewahrte sich ihre noch von der Antike geformte und genormte Struktur in Dogma und Kultus, in Verfassung und Recht. Aber: vom Zerfall der Einheit, von der inneren Differenzierung war auch sie betroffen, die Zeiten, da sie eine geschlossene Reichskirche im Verbände des Imperiums unter der Obhut des Kaisers gebildet hatte, waren dahin. Die den Menschen der Zeit selbstverständlich erscheinende Kongruenz von politischer und religiöser Ordnung hatte in der Spät-antike ein universalkirchliches System entstehen lassen, an dem gleichen Prinzip zerbrach es in der Völkerwanderung. Nun war aber — und darin liegt die entscheidende Komplizierung des Bildes — die vom Kaiser beherrschte Reichskirche nicht einfach auseinandergefallen und untergegangen; im reduzierten Rahmen des Oströmisch-Byzantinischen Reiches bestand sie vielmehr fort, als griechische Kirche tief im Volke verwurzelt, aber auch belastet durch ein noch verschärftes, verhärtetes Staatskirchentum, das Eingriffe des „apostelgleichen" Kaisers bis in den innersten, den sakralen Bereich hinein hinnehmen mußte. Die Reichskirche des lateinischen Westens hatte sich dagegen, im Zuge der politischen Wandlung, aufgelöst und ein Nebeneinander autonomer Landeskirchen — einer fränkischen, westgotischen, langobardischen —, in denen sich zwar kein „Cae-saropapismus" byzantinischerArt entfaltete, deren ganze Struktur aber auch durch eine unbestrittene Kirchenhoheit des Königs bestimmt war. Es war ein Partikularkirchentum mit ausgeprägtem Sonderbewußtsein und eigener Liturgie; die fränkische und die westgotische Kirche bildeten geschlossene Verbände, die sich in eigenen Reichskonzilien repräsentieren konnten.

Wer nicht aus Prinzip und unabhängig von historischer Erfahrung von vornherein auf einen strengen gesamtkirchlichen Zentralismus eingeschworen ist, braucht in diesen Sonderentwicklungen nicht an und für sich schon eine Katastrophe zu sehen, und in der Tat, namentlich die fränkische und die westgotische Landeskirche legten eine beträchtliche Lebenskraft an den Tag, das 6. und teilweise auch das 7. Jahrhundert bedeuten in ihrer Geschichte sogar eine relative Blütezeit. Aber diese Blüte war nicht von Bestand. Für den germanischen oder germanisch überlagerten Westen gilt in diesem Zeitalter die durchgehende Beobachtung, daß sich die römische Prägung verwischte, daß die Fortenwicklung des antiken Erbes von einer Generation zur anderen schwächer wurde. Dies geschah in allen materiellen und geistigen Bereichen, in Staat, Recht und Wirtschaft, in Sprache, Literatur und Kunst, und ebenso im geistlich-kirchlichen Leben. Aber während etwa auf politischem und rechtlichem Gebiet neue Kräfte (germanischer Wurzel) die Nachfolge antraten, fehlten bei den geistigen Werten dazu meist die Voraussetzungen, auch bei der Kirche. Hier drohte einfach die Verkümmerung. Von dieser Gefahr waren gerade jene beiden kirchlichen Mächte betroffen, für die Bonifatius wirkte: das Papsttum und die fränkische Landeskirche. Diese Folie läßt die weltgeschichtlichen Konturen seiner Gestalt erst eigentlich sichtbar werden.

Sieger und Unterlegener zugleich

Das römische Papsttum war durch alle diese Wandlungen in die gefährlichste Bedrängnis seiner ganzen Geschichte geraten. Die Gefahr war bedingt durch die eigentümliche politische Situation, die sich seit dem 6. Jahrhundert ergeben hatte. Rom war eine der von den Langobarden umspülten Restpositionen des Imperiums, dessen politischer und geistiger Schwerpunkt sich im übrigen ganz zum Osten verschoben hatte. Somit war auch die römische Kirche im Verbände der zusammengeschmolzenen Reichskirche unter der Herrschaft des Kaisers verblieben. Dadurch war dem Papsttum eine große historische Mission zugefallen, die aber seine Kraft auszuzehren drohte: drei Jahrhunderte lang — wenn auch nicht ohne beträchtliche Atempausen — hatte es einen zermürbenden Abwehrkampf gegen das kaiserliche Staatskirchentum, gegen den Caesaropapismus zu bestehen, blieb dabei aber gänzlich in reichs-kirchlichem Denken befangen und wahrte den Kaisern gegenüber eine politische Loyalität bis zum äußersten, die in der Rückschau des Historikers fast selbstmörderisch anmutet. In mühsamer Defensive blieb es Sieger und Unterlegener zugleich. Im Grundsätzlichen gelang die Selbstbehauptung: das Prinzip der Freiheit und Autonomie der Kirche gegenüber der Staatsgewalt ward in jenen Auseinandersetzungen — vom Henoti-kon bis zum Monotheletismus — für den Westen gerettet, und das bedeutete nicht weniger als eine Vorentscheidung über einen Wesenszug der abendländischen Christenheit und Kulturwelt. Aber für diesen Abwehreieg mußte das Papsttum einen hohen Preis zahlen: es verlor so gut wie jeden Vorrang und Einfluß in der griechischen Welt, griechischer Osten und lateinischer Westen entfremdeten sich unaufhaltsam in allen über das elementar Dogmatische hinausgehenden Lebensbereichen, in Recht, Kultus und Sitte. Zu Lebzeiten des Bonifatius, seit 730, flammte im sog.

Bilderstreit der Gegensatz zu neuer, letzter Heftigkeit auf; und jetzt vollzog der Kaiser Leo III.

einen Schnitt, der tödlich wirken sollte: er löste Süditalien und Griechenland aus der kirchlichen Unterstellung unter Rom und belegte obendrein den päpstlichen Güterbesitz mit einer konfiska-

torischen Steuer. Damit war die kirchliche Gemeinschaft von Ost und West zwar noch nicht formell aufgehoben, aber sie war zur Theorie verblaßt;

faktisch war eine Scheidung eingetreten, das Papsttum war von der — dem Namen nach römischen, tatsächlich aber griechischen — Reichskirche abgeschnürt.

Dies aber war nur die eine Seite des Verhängnisses.

Nichts wäre geschichtsfremder als die Vorstellung, die Päpste hätten mit intuitivem Blick das Gebot und die Einmaligkeit der welthistorischen Stunde erfaßt, mit kühnem Schwung das Steuer herumgeworfen und zum Bunde mit der neuen Germanenwelt des Westens gedrängt. In Wirklichkeit kamen sie vom reichskirchlichen Denken nicht los, auch als es anachronistisch geworden war. Die Christianisierung der Germanen war im ganzen — wenn wir von dem Sonderfall der Angelsachsen hier vorläufig absehen — keinesfalls ein Verdienst des Papsttums, sie war nur unter geringer Beteiligung Roms vor sich gegangen. Mit dem Erlöschen der Reichskirche im Westen war auch in diesem Teil der Christenheit die aktive Führungsrolle Roms zu Ende gegangen, es stand den germanisch beherrschten Landeskirchen als fremdes, reichskirchliches Re-liktgebilde gegenüber. Aus dem Osten abgedrängt, mit dem Westen nur noch in loser Fühlung, war das Papsttum in ernstlicher Gefahr, als mittelitalischer Rumpfpatriarchat zu verkümmern.

Der stärkste Block des romanisch-germanischen Westens — dem ein völliger kirchlicher Auseinanderfall drohte — war die fränkische Landeskirche. Auch sie befand sich in einer tödlich scheinenden Krise, die sich freilich mit dem allgemeinen Schlagwort „Verfall" nur sehr unbestimmt charakterisieren läßt. Auch mit einer „Entchristlichung" im neuzeitlich-modernen Sinne haben diese Erscheinungen nicht viel zu tun. Die Franken, die Alamannen, die Baiern fühlten sich in einer geradezu massiven Bewußtheit als Christen; ein naiver, aber ehrlicher Heiligenkult, eine nie ganz abreißende Reihe von Klostergründungen legen Zeugnis ab von einer elementaren, handfesten Frömmigkeit. Aber es war doch eine noch recht primitive Religiosität, die in ungeordnetem Wildwuchs zu ersticken drohte, der es vor allem noch an sittlicher Vertiefung fehlte, — das christliche Sittengebot war nicht der Ansatzpunkt der Germanenbekehrung gewesen! Diesem noch jungen, in Glaube und Sitte unsicheren Christentum tat die Prägung und Festigung durch die Amtskirche not, aber eben dieser entscheidende innere Halt ging verloren, indem das antik-römische Erbe verkümmerte. Privatrechtliche Gewohnheiten und Vorstellungen überlagerten den kanonischen Amts-gedanken. Die Geltung der Merowingerdynastie war so tief gesunken, daß es ein Königtum als sakrale Spitze der Landeskirche faktisch nicht mehr gab; in den politischen Wirren waren die Bistümer und Klöster zu Machtobjekten, zu politischer Beute, zu privatem Besitz der Adelsgeschlechter geworden, die im Gefolge der karolingischen Hausmaier emporgestiegen waren. Die verantwortungsschweren kirchlichen Würden kamen an unrechte, an sehr ungeistliche Inhaber: die Amtsführung erlahmte. Die Metropolitanorganisation der Kirchenprovinzen, die Rechts-gewohnheit der Synoden geriet in Vergessenhiet — von einem universalkirchlichen Bewußtsein ganz zu schweigen —, ja die Diözesenanordnung verfiel, und mit ihr die Ausbildung der Geistlichen, die geregelte Seelsorge. Inmitten der Unwissenheit, der Roheit, der Zuchtlosigkeit überwucherten abergläubisch-heidnische Bräuche den christlichen Kern. Unter Karl Martell, also in den beiden Jahrzehnten 720— 740, stehen die Macht des fränkischen Adels und die Desorganisation der fränkischen Landeskirche in voller „Blüte".

Geschichtlicher Tiefpunkt

Gewiß, wir dürfen all diesen düsteren Zügen nicht voreilig eine eschatologische Note beilegen. So wie bei den Völkern des Frankenreiches die christliche Substanz noch ungebrochen war, so waren auch noch wesentliche Voraussetzungen geblieben, an die eine Wiederbelebung des Uni-

versalkirchentums im Westen anknüpfen konnte. Die Landeskirchen waren in den Völkerwanderungsstaaten historisch-organisch gewachsen, aber irgend ein bewußtes Prinzip der „Romfreiheit", der „Ausschaltung“ päpstlicher „Einmischungen" hatte es dabei nicht gegeben. Im Gegenteil, alles Partikularkirchentum ruhte auf der breiten Basis einer immer noch wirkmächtigen, lateinisch-römisch geprägten Gemeinsamkeit aus der christlichen Spätantike, in Glauben, Kultus, Verfassung, im Recht der Kanones und Dekretalen, Rom selber war als die Stätte der Apostelgräber, als der Sitz des Papsttums immer noch die ehrwürdigste, die vornehmste Kirche, ja — in einem sozusagen passiven Sinne — ein kirchlicher Vorort des Westens geblieben. Daß Roms Beispiel, Vorbild und Meinung in der Gesamtkirche als etwas Besonderes zu gelten habe, war immerhin eine unvergessene Tradition, die auf keinem grundsätzlichen Widerspruch stieß und einer neuen Belebung durchaus fähig war. Es gab also die Möglichkeit, daß sich aus Romanen-und Germanentum der neue Kulturkreis formte, den wir „Abendland" heißen, wenn sich im Westen die Kräfte des Alten und des Neuen, römisch-lateinische Geistesüberlieferung und germanische Staatsmacht, durch Christentum und Kirche zusammengeführt, in neuer, abschließender Begegnung zu neuer Einheit zusammenfanden, — unter gleichzeitiger Scheidung vom griechischen Morgenlande. Aber es wäre eine ge-schichtswidrig-spiritualistische Vorstellung, als hätte die immanente Stoßkraft einer „abendländischen Idee" eine solche Wendung „von selber" heraufführen müssen. Es bedurfte der Tat handelnder Menschen, des treibenden Anstoßes von Freund und Feind.

Dabei erwiesen sich die Päpste vorerst noch keineswegs als ein aktives Element. Überhaupt verschärfte sich die Krise zunächst noch mehr; neuer Niedergang, neue Verwirrung brachen über die westliche Christenheit herein. Der Araber-sturm hatte Nordafrika losgerissen und damit die antike Mittelmeereinheit endgültig zerbrochen. Die islamische Welle überflutete Spanien, begrub das Westgotenreich und brachte den westlichen Eckpfeiler des werdenden Abendlandes zum Einsturz (711). Und noch immer wies nichts darauf hin, daß sich in der eingeengten, nun auch von außen bedrohten romanisch-germanischen Christenheit der Wille zum Zusammenschluß rege. Im Gegenteil, der politische Gegensatz zwischen dem Papsttum und den Langobarden flammte zu neuer Heftigkeit auf. Der König Liudprand unternahm einen neuerlichen Anlauf, die von seinen Vorgängern seit jeher erstrebte Vereinigung ganz Italiens unter langobardischer Herrschaft zu verwirklichen. Mehrmals rückte er vor Rom, und der Papst Gregor III., mit seinem eigenen Landesherrn — dem Kaiser — hoffnungslos zerfallen, richtete in seiner Bedrängnis einen Hilferuf an Karl Martell, den Hausmaier der Franken (739), — aber das war noch keine zukunftweisende, epochale Geste (wie es in der Überschau des Historikers scheinen könnte), sondern ein Akt der Verzweiflung, dem auch kein Erfolg beschieden war. Karl Martell ließ sich auf keine ernstliche Hilfsaktion ein; er konnte es nicht, aus innen-und außenpolitischen Gründen, aber er ermaß auch schwerlich die Tragweite der Entscheidung, vor die er damit gestellt war...

Die Stunde des hl. Bonifatius

Wohin wir auch schauen: die 730er Jahre erweisen sich als ein geschichtlicher Tiefpunkt, für das Papsttum, für die fränkische Kirche, für das europäisch-universalkirchliche Gemeinsamkeitsbewußtsein. Der historische Augenblick sah wahrlich nicht nach der Geburtsstunde einer neuen Weltordnung, des christlich-abendländischen Mittelalters aus. Aber eben in diesem Augenblick schlug die Stunde des hl. Bonifatius'

Es spottet jeder Berechenbarkeit oder gar Gesetzmäßigkeit der Geschichte, daß weder ein Römer noch ein Langobarde noch ein Franke, sondern ein Mönch aus England zum wegweisenden Anreger berufen ward. Kirche und Kultur der Angelsachsen, des politisch damals nicht eben bedeutenden Inselvolkes am Rande Europas, durchbrechen als einzigartige Sondererscheinung das Gesamtbild des Zeitalters. Was es in Britannien an römischer Prägung gegeben hatte — und im Vergleich zu anderen Reichsprovinzen war es ohnehin nicht allzuviel gewesen —, war durch die Völkerwanderung weggewischt worden; hier hatten sich rein germanische Herrschaftsgebiete ohne Berührung mit dem Romanentum geformt, eine Welt also, die wirklich nicht zu einer „abendländischen" Führungsrolle prädestiniert zu sein schien, zumal sich die einheimische altbritische Kirche der Aufgabe versagte, den verhaßten Eroberern das Evangelium zu bringen. Statt dessen faßte — beispiellos in jenen Jahrhunderten — seit 596 eine vom Papsttum eingeleitete römische Mission bei den Angelsachsen Fuß. Die Entwicklung verlief zwar nicht gradlinig: sie wurde in der nächsten Generation vom Nordwesten her ergänzt und durchkreuzt von einer iroschotti-schen Mission, die zugleich all die rechtlichen, rituellen und disziplinären Besonderheiten keltischen Kirchentums nach England brachte. Aber die römische Formung behauptete sich, ja sie setzte sich seit dem Religionsgespräch von Whitby (664) als allein gültig durch. Unter der Ägide des aus Kleinasien stammenden, vom Papste entsandten Erzbischofs Theodor von Canterbury (f 690) erstand hier auf christlichem Neuland ein ganz neuartiges Gebilde: auch eine Landes-kirche, aber eine Missionskirche römischer Observanz. Die Angelsachsen wuchsen nicht wie die Franken, die Westgoten, die Langobarden in eine schon bestehende Provinzialkirche eigener Tradition hinein, statt einer neuen Partikularkirche blühte bei ihnen eine romverbundene Landes-kirche auf. Sie wurde nicht etwa — im hochmittelalterlichen oder neuzeitlichen Sinne — von Rom aus regiert, aber sie wurde beherrscht, durchtränkt vom Pathos der Katholizität, der universalkirchlichen Idee. Die Angelsachsen richteten sich in Recht, Liturgie und Sitte bewußt nach der römischen Norm, sie bauten ein starkes kanonisches Verfassungsgerüst nach den Grundsätzen des kirchlichen Amtsrechtes auf, als eifrige Verehrer St. Peters pilgerten sie in Scharen zu den Heiligtümern der Ewigen Stadt, ihr Land überzog sich mit Klöstern, in denen manches auch aus der iroschottischen Tradition fortwirken konnte, wo man aber streng die Benediktiner-regel befolgte und zugleich begeistert die lateinisch-christliche Bildung pflegte: in den Jahrzehnten des Dichters Aldhelm (f 709) und des Geschichtsschreibers Beda (f 735) steht die jüngste Landeskirche der Christenheit im „Goldenen Zeitalter“ ihrer Geschichte.

Schon begannen ihre geistigen'Energien auch auf das Festland auszustrahlen. Das irische Ideal der peregrinatio, der asketischen Heimatlosigkeit, ward einem festen Ziel untergeordnet: der Predigt des Evangeliums bei den stammverwandten Germanenvölkern. So wurde Willibrord seit 690 der Apostel Frieslands, und als Friesenmissionar im Dienste Willibrords begann auch Winfrid-Bonifatius, bis er rechts des Rheines sein eigenes Missionsfeld fand und von hier aus in seine eigentliche Lebensaufgabe hineinwuchs: das angelsächsische Ideal der romverbundenen Landes-kirche ins Frankenreich zu verpflanzen! Zum ersten Male winkte ihm der Erfolg nach jahrelangen Enttäuschungen im Jahre 739, als ihm der Herzog Odilo seine Macht zur Aufrichtung eines kanonischen Episkopalsystems im Stamme der Baiern lieh, und dann führte die Aufgeschlossenheit der neuen Karolingergeneration 741 die große Wende herauf.

Jetzt erst, als Bonifatius schon nahezu ein Siebziger war, kam die Zeit des stürmischen Voranschreitens auf dem Wege der Reform. Jetzt endlich konnte er für Hessen, für Thüringen nördlich des Gebirges, für Mainfranken, für den baierischen Nordgau links der Donau Bistümer errichten und sie mit angelsächsischen Gefährten besetzen; es tagten die großen Reformsyneden der Jahre 743— 745; er leitete den Wiederaufbau eines nordgallischen Metropolitansystems in Anlehnung an die spätrömischen Provinzen ein, und schon wurden beim Papste die Pallien für die neuen Erzbischöfe erbeten; Bonifatius schichte sich gar an, selber an die Spitze einer germanischen Kirchenprovinz mit dem Vorort Köln zu treten, er gründete sein Lieblingskloster Fulda, den Brennpunkt frommen und bildungseifrigen Benediktinertums in einem eben erst zu höherem Geistesleben erwachten Lande ...

Mühsamer Kleinkrieg gegen Widerstände von allen Seiten

Diese Ereignisse im einzelnen darzustellen, ist Sache der einschlägigen Bücher. Zur Aufgabe unserer Gesamtschau gehört aber der Versuch, auf die verschiedenartigen Aspekte dieses Geschehens und auf seine geschichtliche Tragweite den Blick zu lenken.

Als Grundthema, als Gesamtnenner ist dabei zu unterstreichen: hier handelt es sich um eine neue Welle der Verchristlichung der germanischen Welt über die elementare Christianisierung hinaus. Daß sich das christliche Verantwortungsbewußtsein vertiefte, ist schon erkennbar an der lebendigeren religiösen Ansprechbarkeit der neuen Hausmaier Karlmann und Pippin, aber der ganze Impuls ist auch zu sehen als Teilerscheinung einer in Stößen verlaufenden großen Bewegung, die immer wieder von monastischen Kräften getragen wird: von den Iroschotten im 7„ den Angelsachsen im 8., von Aniane im 9., von Cluny und Corze im 1O. /11., von Citeaux und Premontre im 12., von den Bettelorden im 13. Jahrhundert... Im konkreten Detail betrachtet, war es ein mühseliges Ringen um die Reinigung eines rudimentären, unsicheren Glaubens-lebens, um die Überwindung heidnischer Bräuche und Vorstellungen (deren primitiv-abergläubische Roheit es längst nicht immer verdient, durch die Brille folkloristischer Sentimentalität gesehen zu werden). Es war die Sorge um richtiges Verständnis der Liturgie und um rituelle Korrektheit, namentlich in der Verwaltung und Spendung der Sakramente, wozu auch die Sicherung wenigstens einer bescheidenen Bildungsgrundlage gehörte, — wir erfahren von einem Priester, dessen Latein-kenntnisse schon an der Taufformel Schiffbruch litten. Es war ein Kampf um die Durchsetzung der christlichen Sittengebote, wobei — wie in der Missionsgeschichte auch sonst — die Auffassung von der Ehe und die Anfänge eines Eherechtes eine bedeutende Rolle spielten. Es ging um eine stetige Linie in der Bußdisziplin, um die WiederHerstellung kirchlicher Zucht in dem verwilderten und verweltlichten Klerus, dem die jagd-und

waffenfrohen adligen Bischöfe nicht eben das beste Beispiel gaben. Es galt, bei den Geistlichen dem Zölibat, in den Klöstern der Benediktiner-regel Geltung zu verschaffen, es galt aber auch, das in gefährlichem Ausmaße entfremdete Kirchenvermögen wenigstens soweit zu sichern, daß die kirchlichen Institute ihre Aufgaben erfüllen konnten. Die erneuerte Diözesanverfassung mit den wieder ausgeübten Aufsichtsrechten und -pflichten des Bischofs sollte dem ganzen Reformprogramm Grundlage und innerer Halt werden, denn der Kern war eben die Rettung des Amts-prinzips in der Kirche (das in diesem geschichtliehen Augenblick wahrhaftig zu keiner „Geistkirche“

im Kontrast stand); und alles Mühen und Streben erfüllte sich, fand seine Krönung in einer neuen Belebung des an Rom orientierten universalkirchlichen Bewußtseins und Zusammenhalts.

In der Praxis des Alltags ergibt das alles kein hinreißendes Bild wie die Szenen von Geismar und Dokkum, sondern einen zermürbenden, unsäglich mühsamen Kleinkrieg gegen offene und versteckte Widerstände auf allen Seiten, mit Sorgen, die sogar einen Zug ins Kleinliche annehmen konnten. Um bei der Ordnung des Kirchen-

tums die römisch-kanonische Norm zu erfragen, berichtete Bonifatius in ängstlicher Gewissenhaftigkeit über alles und jedes nach Rom und bat um verbindliche Weisung über die gültige Tradition, und nichts war ihm dabei zu geringfügig, nicht einmal die Frage, wie es mit dem Genuß von Speck zu halten sei. Dies sind die Züge, die noch jeden Forscher bei der Lektüre der Boni-

fatiusbriefe befremdet und ernüchtert haben, die so schwunglos wirken, aber einem historisch geschärften Blick enthüllt sich unschwer, daß gerade diese scheinbar gänzlich uninteressanten Elemente in den bonifatianischen Quellen die geschichtlich entscheidende Leistung des Bonifatius verraten, sie zeugen von einer selbstver-

leugnenden Hingabe im Kampf gegen menschliche Unzulänglichkeit und für die universalkirchliche Idee.

Stoß und Gegenstoß

Kirchenpolitisch entbehrte das Werk jedes revolutionären Zuges: wie für seine Zeitgenossen überhaupt, so lag auch für Bonifatius eine Sprengung des landeskirchlichen Systems außerhalb des Vorstellungsund Wunschbereiches, sein Ziel war die Verbindung der fränkischen Landeskirche mit Rom. Dagegen haben alle diese Vorgänge eine hohe Bedeutung für die staatlich-politische Aktivität, und damit wird erst eigentlich sichtbar, um ein wie komplexes Geschehen es sich hier handelt. Der karolingische Prinzipat bestand jetzt schon in der dritten Generation und war mittlerweile soweit gefestigt, daß die Söhne Karl Martells, Karlmann und Pippin der Jüngere, gegenüber dem Adel und dem Episkopat energischer auftreten konnten, auf kirchlicher sowohl wie auf politischer Ebene: sie wagten es, mit Energie die Reform ihrer verrotteten Landes-kirche zu fördern, sie wagten es jedoch auch, behutsam aber stetig auf eine Umwandlung ihrer rein faktischen Herrschaft in eine Monarchie, auf eine Erneuerung des Königtums unterBeseitigung derkraftlos gewordenen Merowingerdynastie hinzuwirken.

Beide Aktionen richteten sich gegen die fränkische Aristokratie, in beiden aber waren auch Bonifatius und das Papsttum die natürlichen Verbündeten der Karolingerfürsten: nicht dem Reformwerk allein, auch der Erhöhung des Hausmaiertums zu einem Königtum im Vollsinne sakraler Würde und Legitimität konnte und sollte die moralische Autorität des Nachfolgers Petri zu Hilfe kommen.

In dieser Verquickung kirchlicher und staatlicher Probleme hinwiederum liegt der tiefste Grund dafür, daß das bonifatianische Werk sich nicht stetig entfalten konnte, sondern, von Stoß und Gegenstoß bestimmt, rasch in eine Krise geriet.

Bonifatius konnte nicht im Bewußtsein des Sieges und Erfolges seine irdischen Tage beschließen.

Nach einem Jahrfünft schon wurde der Widerstand des reformfeindlichen Adels so gefährlich, daß Pippin — seit 747 Alleinherrscher — es für geraten fand, die Pflöcke zurückzustecken:

die Erneuerung der Kirchenprovinzen blieb un-ausgeführt, und auch Bonifatius selber wurde nicht Kölner Metropolit, sondern Bischof von Mainz und war nach wie vor nur persönlicher Missionserzbischof. Ja Pippin schob den unbequem gewordenen Eiferer in den Hintergrund, Bonifatius konnte keine Reformsynoden mehr halten, er erschien kaum noch am Karolingerhofe, er und seine Angelsachsen waren so gut wie ausgeschaltet.

Das bittere Gefühl, sein Werk unvollendet hinterlassen zu müssen, der Widersacher nicht Herr geworden zu sein, umdüsterte seinen Lebensabend.

Trotzdem, — mag Bonifatius für seine Person gescheitert oder doch auf halbem Wege stedkengeblieben sein, vor der Geschichte steht er als der Sieger da! Er hatte der fränkischen Kirche einen neuen Geist eingehaucht, der Gedanke der kanonischen Reform, der universalkirchlichen Verpflichtung hatte Wurzel geschlagen. Was Bonifatius als kränkende Verdrängung, als entmutigende Lahmlegung empfand, das bedeutete zum guten Teil einfachhin, daß die Franken sich der angelsächsischen Führung entwanden, aber eine einheimisch-fränkische Elite schritt unter der Obhut des Karolingers auf den Bahnen voran, die Bonifatius gewiesen. Lind nicht nur das! Noch zu seinen Lebzeiten vollendete sich der entscheidende Durchbruch zu jener neuen, der mittelalterlich-abendländischen Ordnung, die ein Jahrzehnt zuvor noch in unerreichbar weiter Ferne zu liegen schien.

Die Geburtsstunde der mittelalterlichen Weltordnung

In der Tat: die Jahre um 750 — als des Bonifatius eigene Aktivität aufs stärkste eingeschränkt war — lassen erst eigentlich die welt-historische Verflechtung seines Werkes in den Werdeprozeß des Mittelalters erkennen. Die gesamte christliche Welt von West bis Ost war in gärender Bewegung, wobei das Geschehen, das an sich zusammenhanglos auf gänzlich getrennten Schauplätzen abrollte, selbst ohne Wissen und Wollen der Beteiligten fast zwangsläufig ineinandergriff. Im Oströmisch-Byzantinischen Reich treibt der Bilderstreit dem Höhepunkt entgegen, die griechische Kirche setzt sich in duldender Beharrung mit dem caesaropapistischen Machtanspruch des Staatskirchentums auseinander; das römische Papsttum, an die Peripherie der Reichskirche abgedrängt, findet auch jetzt nicht zum Ausgleich mit seinen germanischen Nachbarn, den Langobarden, vielmehr stehen Rom und die anderen Reichsreste auf italischem Boden -unter der steten Drohung eines langobardischen Zugriffs; dagegen hat sich der von Bonifatius geschmiedete Bund der Franken mit der römischen Kirche keineswegs durch die „Kaltstellung“ des Mittlers gelockert, vielmehr treten die politische Vormacht des germanischen Westens und die geistlich-kirchliche Spitze des lateinischen Westens jetzt erst wirklich in welthistorische Konjunktur. Die wieder ins Bewußtsein der westlichen Welt gehobene geistliche Autorität des Papstes sanktionierte den Anspruch des Hausmaiers Pippin auf die Würde des fränkischen Königs, eine feierliche Salbung — vielleicht von Bonifatius selber vollzogen — hob das germa-nische Volks-und Heerkönigtum auf eine höhere sakrale Stufe, umgab es mit kirchlicher Weihe, — die Verschmelzung der geistlichen und weltlichen Sphäre im engen Bunde priesterlicher und königlicher Gewalt war geschichtsmächtige Wirklichkeit geworden, die Geburtsstunde der spezifisch mittelalterlichen Weltordnung hatte geschlagen.

Das war im Jahre 751 geschehen. Im gleichen Jahre erlag die oströmisch-byzantinische Bastion Ravenna dem Sturm der Langobarden, und bald war Rom selber wieder bedroht. Jetzt war die Entscheidung unausweichlich geworden: Ostrom und die Langobarden miteinander verfeindet und hier doch ungewollt zusammenwirkend, drängen, ja zwingen das Papsttum zum endgültigen, offenen Anschluß an das Frankenreich. So ist dann 754 ein Entscheidungsjahr erster Ordnung geworden, berühmt durch drei gleichzeitige Ereignisse, die insofern isoliert nebeneinander-stehen, als sie sich nicht etwa in echtem Kausalnexus gegenseitig bedingen, bei denen es aber doch nicht gar zu schwer ist, den tieferen geschichtlichen Zusammenhang zu spüren. Bei diesen Ereignissen handelt es sich im Osten um die große griechische Reichssynode, die auf Geheiß des Kaisers Konstantin V. in Hiereia am Bosporus zusammentrat und der Auftakt zur bösartigsten Phase des Bilderstreites wurde. Im Westen ist es ein Geschehen von noch weit höherer epochaler Bedeutung: Stephan II. reiste über die Alpen, um den Schutz Pippins gegen die Langobarden zu erwirken; der Papst und der Franken-könig fanden sich in einem feierlichen Freundschaftsbunde;

ein erfolgreicher Feldzug zwang die

Langobarden, ihre Eroberungen herauszugeben, und aus diesen Gebieten formte Pippin durch eine Schenkung an den hl. Petrus den Grundstock eines für das abendländische Mittelalter charakteristischen Gebildes: des Kirchenstaates. Das dritte Geschehnis aus dem Jahre 754 ergreift uns menschlich am stärksten und ist am nachhaltigsten ins Geschichtsbewußtsein eingegangen — der blutige Tod des hl. Bonifatius am Rande der christlichen Kulturwelt —, aber es hat doch, zeitgeschichtlich gesehen, an sich keinerlei mit den anderen Ereignissen vergleichbare einschneidende Bedeutung. Freilich ist es ein für immer denkwürdiges Datum, denn damit vollendete sich der Lebensweg des Mannes, der die große geschichtliche Wende heraufgeführt hatte. Was sich dergestalt um die Mitte des 8. Jahrhunderts zutrug, erweist sich in der Rück-und Überschau des Historikers als die endgültige Überwindung jener säkularen Krisis, die mit der Auflösung der antiken Mittelmeereinheit aufgebrochen war, als die Grundlegung einer neuen, dem griechischen Osten selbständig gegenüberstehenden kirchlich-kulturellen Einheit auf lateinisch-germanischer Basis. Pippin schritt auf dem gebahnten Wege voran, und durch Karl den Großen fand das, was Bonifatius erstrebt, wenigstens auf wichtigen Teilgebieten einen vorläufigen Abschluß.

Dies also ist des hl. Bonifatius Stellung und Sendung in unserer, in der europäischen Geschichte, eine Sendung, an der die elementare Heidenbekehrung nur einen vorbereitenden, begrenzten Anteil hat. Vieles an überzeitlichen, übergeschichtlichen Werten ist in ihm verkörpert, er bleibt, losgelöst von aller historischen Bedingtheit, ein Vorbild, eine verehrungswürdige Ge: stalt. Freilich dürfen wir nicht alle Züge an ihm in eine zu unmittelbare Beziehung zu den späteren Zeiten und gar zu unserer Gegenwart setzen, gehört er doch einer bestimmten geschichtlichen Stufe an, auf der das Abendland nicht Stehenbleiben konnte, aber alle spätere Geschichte und auch unsere Gegenwart zehrt von seinem Erbe, denn er war ein bahnbrechender Mitbegründer unseres Kulturkreises.

Fussnoten

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