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Die Vereinigten Staaten und China. Unsere Aussichten für die Zukunft | APuZ 20/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20/1955 Die Vereinigten Staaten und China. Unsere Aussichten für die Zukunft Eine Zweiparteienpolitik für Asien Zur anti-imperialistischen Bewegung in China

Die Vereinigten Staaten und China. Unsere Aussichten für die Zukunft

H. Arthur Steiner

Mit freundlicher Genehmigung der YALE UNIVERSITY PRESS übernehmen wir aus der amerikanischen Vierteljahrsschrift „THE YALE REVIEW" (Dezember 1954) den folgenden Artikel von H. Arthur Steiner. Copyright by Yale University Press.

Die letzten Geschehnisse in Asien haben den Kommunisten neue Betätigungsfelder erschlossen, was uns zwingt, uns von neuem mit dem Problem der amerikanischen Chinapolitik auseinanderzusetzen. Der kommunistische Sieg in Indochina ist in der Hauptsache ein politischer Sieg für den chinesischen Kommunismus gewesen. Er ist weitgehend durch das militärische und diplomatische Eingreifen der Chinesen gewonnen worden in bewußter Herausforderung amerikanischer Interessen und trotz der eindringlichen „Warnungen“ von Präsident Eisenhower, Außenminister Dulles und anderen Sprechern amerikanischer Politik, und da er garantiert, daß ganz Indochina bis Juli 1956 tatsächlich kommunistisch sein wird, hat er den chinesischen Kommunisten freie Hand gegeben für neue Abenteuer an anderen Stellen in Asien und im westlichen Pazifik. Die chinesischen Kommunisten haben jetzt weit größere Möglichkeiten, unsere Bestrebungen und Ziele in diesem weiten Gebiet zu durchkreuzen, und nichts läßt darauf schließen, daß sie auf eine Initiative verzichten werden, während es uns schwerfallen dürfte, in Anbetracht der neuen strategischen Situation die starke Stellung, von der aus wir einst politisch wirksam werden konnten, wiederzugewinnen.

Die rapide Verschlechterung unserer Position im Fernen Osten während der letzten 20 Monate ist besonders niederdrückend, weil wir uns jederzeit der Gefahr bewußt waren und die Reihe der verfehlten und unwirksamen Maßnahmen, die das Unglück abwenden sollten, weitgehend der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben haben. An diesem Fehlschlag sind zum Teil das gleiche Verhalten und Vorgehen schuld, die die Verfolgung amerikanischer Ziele auch an anderen Stellen behindern:

1. Die bequemen Traditionen einer isolationistischen Diplomatie mit begrenzter Zielsetzung;

2. Ein verhältnismäßig starres Organisationssystem und die Abneigung des Einzelnen, aus eigener Verantwortung zu handeln. 3. Die allzugroße Neigung, bei Auseinandersetzungen gefühlsbetonte moralische Momente in den Vordergrund zu stellen.

4. Die ungeduldige Forderung nach drakonischen Maßnahmen in Situationen, in denen sie gar nicht angebracht sind.

5. Zuviel Parteipolitik in der Außenpolitik (worunter unsere Chinapolitik außerordentlich zu leiden hatte).

6. Die schnelle Bereitschaft, „eine Linie zu ziehen“.

7. Die optimistische Beurteilung unserer Geschicklichkeit, die Gedanken und Handlungen anderer zu beeinflussen.

8. Die Zuversicht, daß die Irrtümer, die uns in den Krieg gerissen haben, durch den Sieg in irgendeiner „End“ schlacht wiedergutgemacht werden.

Oft sind wir unfähig, die feinsten Regungen der politischen und sozialen Kräfte, die für die revolutionären Veränderungen in China und bei seinen asiatischen Nachbarn verantwortlich sind, und die Bedeutung neuer, noch nicht faßbarer Tatsachen zu begreifen. Dieser Mangel an Fingerspitzengefühl hindert uns, die Stärke entscheidender, politischer Strömungen und Strudel genau abzuschätzen, und erschwert verständlicherweise die Planung ideenreicher und realistischer Gegenmaßnahmen. So dient uns die am 21. Juli letzten Jahres in Genf abgefaßte Erklärung als amtliche Formel zur Verschleierung unserer vollkommenen Niederlage in Indochina. Die „Sicherheits“ vorkehrungen des im September vergangenen Jahres abgeschlossenen Manila-Paktes, die gar nicht dem tatsächlichen kommunistischen Vorgehen entsprechen, dürften als weitere Illustrationen dienen.

Vor der Genfer Konferenz haben wir die, wenn auch zugegebenermaßen geringen Möglichkeiten einer Normalisierung unserer Beziehungen mit den „beiden Chinas“ nicht ausgenutzt, die ja tatsächlich bis 1949 bestanden haben. Heute, da die Hoffnung auf eine Lösung noch geringer geworden ist, dürfte es unmöglich sein, eine tragfähige Grundlage für eine befriedigende Politik gegenüber den beiden chinesischen Staaten zu finden. Beide Staaten werden solange unzufrieden sein und sich solange unsicher fühlen, bis einer von ihnen den anderen geschluckt hat. Deshalb müssen ihre gegenseitigen Beziehungen zwangsläufig labil bleiben, und wir täu-sehen uns selbst, wenn wir glauben, es gäbe eine Form souveräner Politik, die in jeder Situation funktioniere. Wir müssen vor allem die allgemeine Lage einer sorgfältigen Beurteilung unterziehen und die notwendigen politischen Schritte reiflich überlegen, die am besten der das Gleichgewicht zwischen den beiden Staaten bedrohenden Entwicklung auf Formosa und auf dem Festlande gerecht werden. Unsere Chinapolitik muß daher innerhalb dieser Grenzen „unfreiwillig" sein; sie muß sich mit der unverrückbaren Tatsache abfinden, daß Chinesen über Chinas Zukunft bestimmen werden und nicht die Amerikaner, nicht einmal notwendigerweise die Russen. Vielleicht gelingt es uns, von Zeit zu Zeit einen indirekten Einfluß auf die Chinesen auszuüben, aber auch dann nur am Rande oder vorüber-gehend, niemals dürfte er auf die Dauer entscheidend sein. Doch können wir an der Verbesserung der Weltlage mithelfen, in der die beiden chinesischen Staaten eine Lösung ihrer Probleme anstreben. Wir können unsere China-politik nicht isoliert betrachten, sondern müssen sie im Zusammenhang sehen mit unserer Politik gegenüber dem Indien Nehrus, dem afrikanischen Nationalismus, der A-(H-) Bombe und den Vereinten Nationen. Unser Verlust an politi-schem Gesicht in Indochina hing auch mit der Frage der Rolle Frankreichs in der westeuropäischen Verteidigung zusammen. Doch als unmittelbare Folge wuchs die Fähigkeit der chinesischen Kommunisten, ihre Gegner auf Formosa vernichtend zu schlagen, und uns droht die Gefahr weiterer Verluste, wenn wir nicht begreifen, in welchem Ausmaß die Genfer Regelung das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Formosa und dem Festland verändert hat.

Die Situation Formosas

Inhalt dieser Beilage

Wir müssen in der auf Genf folgenden Situation unsere Politik und unsere Verpflichtungen gegenüber der Nationalregierung auf Formosa überprüfen, obgleich die Notwendigkeit hierzu mehr in einer Veränderung des Machtpotentials der Festlandkommunisten als in der Unbeständigkeit unserer eigenen Bindungen liegt. Von den ungeduldigen Herren des chinesischen Fest-landes konnte nicht erwartet werden, daß sic ruhig blieben, während die Generale auf Formosa davon redeten, ihre Landsleute auf dem Festlande „bald“, „in einigen Monaten“ oder „im nächsten Frühling“ zu befreien; und wir dürfen uns nicht wundern, daß sie nunmehr unwiderruflich auf die Eroberung Formosas festgelegt sind. Die Genfer Regelung hat zweifellos die politische Verteidigungskraft von Japan, Laos, Kambodscha, Thailand und den Philippinen beeinträchtigt. Man kann sich darauf verlassen, daß die Kommunisten das Gefühl der Unsicherheit noch zu stärken und einen Nervenkrieg zu führen trachten. Am 22. August 1954 z. B. vereinigte sich die chinesische kommunistische Partei mit ihren Anhängern in der Aufforderung, daß jeder auf Formosa „mit der einzigen Ausnahme von Tschiang Kai-schek selbst“ noch der „schlimmen Vergangenheit" entsagen, sich auf die Seite des Rechts stellen, auf das Festland zurückzukehren und wieder mit seiner Familie Zusammenleben könne, wobei allen, die würden „Verdienstvolles“ leisten (vermutlich auch Spionage und Sabotage), eine „milde Behandlung“ zugedacht wird. Wie alle Bewohner Formosas wissen, sind ähnliche Versprechungen der Kommunisten an übergelaufene Kuomintang-Soldaten und -Politiker im Jahre 1948/49 eingehalten worden. Viele auf Formosa müssen sich ernste Gedanken über das Weiterleben nach dem Ende des dramatischen Schauspiels machen.

Auf jeden Fall liegt ein offener Angriff auf Formosa durchaus im Bereich der militärischen Möglichkeiten Rotchinas und würde die unerprobten militärischen und politischen Verteidigungskräfte Formosas ernsthaft auf die Probe stellen. Angesichts einer direkten Herausforderung müßte die 7. Flotte schon etwas mehr tun als nur ihre Muskeln schwellen lassen. Im Augenblick eines Großangriffs auf Formosa würden die Vereinigten Staaten vor der kritischsten politischen Entscheidung seit 1945 stehen, die sie ganz allein zu treffen haben: 1. Sollen wir das angegriffene Formosa aufgeben und nur symbolischen Widerstand leisten oder versuchen, an Menschen und Sachmaterial zu retten, was zu retten ist — wobei unserer Stellung im übrigen Asien unvermeidlich und unwiderbringlich weiterer Schaden zugefügt würde?

2. Sollen wir uns auch weiterhin zu einer umfassenden militärischen Unterstützung der Verteidigungskräfte Formosas verpflichten in der Hoffnung, den Kampf auf die rotchinesischen Streitkräfte in unmittelbarer Nachbarschaft der Insel zu beschränken — wodurch zwar die unmittelbare Not aber nicht das eigentliche Dilemma behoben würde? Oder: 3. Sollen wir die Quelle allen Übels bei der Wurzel packen und eine große Gegenoffensive starten — und uns dadurch in einen Krieg mit Rotchina auf dem Festlande und vielleicht sogar mit der Sowjetunion selbst stürzen?

Keine dieser Alternativen bietet eine freundliche Aussicht, doch sehe ich keine andere brauchbare Lösung. Ich habe aber den Eindrude, wie schon zu Beginn des vergangenen Jahres, daß viele Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen — z. B. England, Frankreich, Indien usw. —, die für die Anwendung des Prinzips der kollektiven Veranwortung für den Frieden in Korea gestimmt haben, sich nicht einmal moralisch für verpflichtet halten würden, im gleichen Sinne zu handeln, wenn Formosa vom Festlande her angegriffen würde. Unsere in der letzten Zeit gegenüber den Vereinten Nationen eingenommene Haltung hat unsere Handlungsfreiheit eher verringert als vergrößert. Würden wir uns für eine starke Verteidigungsstellung und eine Gegenoffensive entscheiden, so hätten wir weder rechtlich noch moralisch das Recht, auf die Hilfe unserer NATO-Verbündeten zu zählen, weil für keinen NATO-Verbündeten überhaupt der casus foederis gegeben ist. Außenminister Dulles möchte uns anderes glauben machen. Er erzählte am 11. Juni vergangenen Jahres einem Auditorium in Los Angeles, daß die „Vereinigten Staaten im Falle . irgendeiner offenen rot-chinesischen Aggression im pazifischen oder süd-ostasiatischen Raume'natürlich die Vereinten Nationen anrufen und sich mit ihren Verbündeten beraten würden“.

Wir kennen keinen Verbündeten, der verpflichtet wäre, uns bei der Verteidigung Formosas zu helfen. Die Vereinten Nationen erlitten Einbuße, als wir uns an die Spitze der Bewegung , weg von der allgemeinen Idee der kollektiven Sicherheit'gestellt und chauvinistische Senatoren sie herabgesetzt haben. Sie würden wohl den Gnadenstoß erhalten, wenn wir uns an sie — die sich aus uns Ungeduldigen, unseren zweifelnden Freunden und unseren bekannten Feinden zusammensetzen — mit der Bitte wenden würden, eine Polizeiaktion zu starten. Als Außenminister Dulles im vergangenen Frühjahr ein Sperrfeuer mündlicher Drohungen und Warnungen eröffnete, behauptete er: „Ein offener Angriff kommunistischer Streitkräfte muß in den meisten Fällen zum Ausbruch eines allgemeinen Krieges führen." Was Dulles auch immer damit sagen wollte, wir wissen jedenfalls nicht, ob uns ein Krieg gegen Rotchina auch nur den mageren Trost eines „allgemeinen Krieges“ bescheren würde, wofern mit diesem Ausdruck nicht unser einsamer Krieg gegen die kommunistische Welt gemeint sein sollte.

Wir werden ganz allein handeln müssen

Die politische Wirkung wird zweifellos die gleiche sein, ob wir nun die militärische Intervention auf die Verteidigung Formosas beschränken oder sie zu einer Gegenoffensive gegen das Festland ausweiten: Wir werden ganz allein handeln müssen. Unsere politischen Entscheidungen würden unrealistisch und vielleicht sogar unheilvoll sein, wenn wir diese Möglichkeit nicht in Rechnung stellen. Auch der erhobene Kommandostab der 7. Flotte kann die Gefahr nicht bannen. Ihrer Anwesenheit als Abschreckungsmittel wird allgemein eine übertriebene Wirkung zugeschrieben. Und wenn man sich nur auf sie als einzige und wichtigste Stütze einer Verteidigung von entscheidender Bedeutung verlassen würde, dann dürfte man von ihr mehr fordern, als irgendeine Schlachtflotte ohne die stärkste Unterstützung durch alle Waffengattungen leisten könnte. Entspricht unsere militärische Verpflichtung eigentlich dem tatsächlichen Risiko?

Unglücklicherweise können wir dem Dilemma nicht entgehen, indem wir einfach davonlaufen. Der Verlust Formosas könnte natürlich damit gerechtfertigt werden, daß es, wie Indochina, letzten Endes eben doch nicht „lebenswichtig“ sei.

Doch wird die Eroberung Formosas durch die Kommunisten so drastische politische Folgen haben, daß wir bald gezwungen sein dürften, unsere nicht-kommunistischen Freunde auf den asiatischen Inseln und Halbinseln im Stich zu lassen, uns zur Sicherung der Vereinigten Staaten auf unsere mittelpazifischen und kontinentalen Verteidigungskräfte zu verlassen. Der Verlust Formosas würde den nutzbringenden Absprachen der asiatischen Länder über gegenseitige Verteidigung und wirtschaftliche Zusammenarbeit bald ein Ende setzen. Die Entscheidung würde dann bei den Kommunisten liegen, ob sie sich als nächstes den Gebieten nördlich oder südlich Formosas zuwenden wollen, uns aber würde kein Raum mehr für eigene Initiative bleiben. Wenn Formosa gefallen ist, dann können wir die chinesischen Kommunisten nicht mehr daran hindern, den Sitz National-chinas in den Organen der Vereinten Nationen einzunehmen. Wenn sich dann Senator Knowland durchsetzt, so müßte die westliche Hemisphäre zu einem . Gibraltar'ausgebaut werden, um überhaupt zu überleben. Wir haben also wenigstens im gegenwärtigen Zeitpunkt ein entSeite munisten an der Eroberung Formosas zu hindern. Doch dürfte ein Krieg zur Rettung der Kuomintang Tschiang Kai-schek kaum populär sein, und da wir keine Verbündeten haben und wirkungskräftige Kollektivmaßnahmen nicht zur Verfügung stehen, müßten wir viel weitgehendere Verpflichtungen auf uns nehmen, als Präsident Eisenhower bisher auch nur andeutete. Aber bevor wir unter den Alternativen eine kluge Wahl treffen, müssen wir uns dem Fest-lande zuwenden, um die Leistungen und charakteristischen Merkmale des rotchinesischen Regimes, von dem unsere Entscheidung abhängt, weise und realistisch zugleich zu beurteilen.

Rotchina ist keine Nußschale

Die offene, mit der Zeit noch stärker werdende Feindseligkeit des rotchinesischen Regimes gegenüber den Vereinigten Staaten hat ihre tiefen Wurzeln in der marxistisch-leninistischen Ideologie. Da sie sich somit unabhängig von unserem objektiven Verhalten gegenüber China entwickelt, wüßte ich nicht, was wir in absehbarer Zukunft tun sollten, um die chinesischen Kommunisten von ihrer feindseligen Voreingenommenheit abzubringen. Wir können den Gedanken an einen „Präventivkrieg“ nicht als Angelpunkt unserer nationalen Politik betrachten, bis wir nicht genauer wissen, ob ein Krieg, der mit Waffen von unvorstellbarer Zerstörungskraft gewonnen wird, auch wirklich die Bedingungen schafft, unter denen seine Opfer ein wahrhaft freies Leben führen können. Am 11. August vergangenen Jahres hat Präsident Eisenhower den Präventivkrieg als „Lösung“ unserer vielschichtigen Probleme ausdrücklich abgelehnt. Vielleicht können Rechtsanwälte den LInterschied zwischen einem vernichtenden Gegenangriff auf das Festland, der auf einen kommunistischen Angriff auf Formosa folgt, und einem „Präventivkrieg“ begreifen, auf die Masse der Chinesen dürfte diese feine Unter-Scheidung keinen Eindruck machen. Wenn unsere Politik insgeheim auf einen kommunistischen Angriff auf Formosa warten (wenn ihn nicht gar provozieren) sollte, um einen plausiblen Grund für einen Bombenangriff auf das Festland zu haben, dann wäre dies das Eingeständnis unseres politischen und intellektuellen Bankrotts. Jede erfolgreiche amerikanische Politik gegenüber dem chinesischen Festlande muß das Hauptaugenmerk immer auf die politische Antwort der chinesischen Massen richten — so wie unsere Schwierigkeiten in dem Irrtum wurzeln, das chinesische Volk in der Masse sei unfähig zu einer wesentlichen politischen Antwort. Der Gebrauch der politischen Waffe, die allein uns übrigbleibt, wenn wir auf den Plan eines Präventivkrieges verzichten, wird unsere Geduld auf eine harte Probe stellen und unseren Geist strapazieren. Wir müssen auch einen ganzen Schwung unzutreffender volkskundlicher Ansichten über China über Bord werfen und uns statt dessen gründliche Kenntnisse über die politischen, verwaltungstechnischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Verhältnisse des Festlandregimes und seiner Bewohner aneignen.

Tatsachen sprechen für sich

Ais erstes müssen wir uns mit der schwerwiegenden Tatsache abfinden, daß das kommunistische Regime in China fester verankert ist, als die meisten Menschen es noch vor fünf Jahren für möglich gehalten hätten: Der staatliche Polizeiapparat, der für Disziplin und Kontrolle sorgt und die Bevölkerung unterdrückt, arbeitet außerordentlich erfolgreich, — das Programm für die wirtschaftliche Entwicklung macht wesentliche Fortschritte (wenn auch nicht alle angekündigten Planziele erreicht worden sind), ein militanter revolutionärer Geist wird eifrig kultiviert, eine aggressive Außenpolitik kann brillante Erfolge vorweisen, und Mao Tse-tung und seine Anhänger nutzen in geschicktester Weise jede Möglichkeit, um ihre eiserne Herrschaft aufrecht zu erhalten.

Eine weitere Tatsache ist, daß uns unsere allgemeine Unkenntnis des chinesischen Wesens, dessen, was das chinesische Volk schätzt und verabscheut, und der innerchinesischen Entwicklung im vergangenen Jahrhundert nicht als Grundlage zur Beurteilung der ideologischen Strömungen dienen kann, die sich in den letzten Jahrzehnten in China entwickelt haben. Wir müssen uns in aller Bescheidenheit von der Pseudoweisheit einer gewissen Gattung „alter Chinaspezialisten“ freimachen, deren immer wiederkehrendes Schlagwort die „Unveränderlichkeit“ der chinesischen Welt gewesen ist. Wenn wir uns immer vor Augen halten, daß das chinesische Volk gegenwärtig das Stadium der frühen und späten Kindheit und des Jünglingsalters durchmacht, um schließlich in die Ehe einzutreten, die Elternschaft zu erwerben und den 1 od zu erleiden mit all den Freuden und Leiden, die der Entwicklungsprozeß nun einmal mit sich bringt, dann würde es uns viel leichter fallen, wenigstens einen Teil der wichtigen Dinge zu erfassen, die auf unser Dilemma einen so entscheidenden Einfluß haben. Unter den wichtigen Dingen sind zu verstehen: 1. Die ideologische Unterscheidung zwischen den Begriffen „Demokratie“ oder „Freiheit“ und „Kommunismus“, die für uns auf Grund unserer Tradition und Erfahrung eine bestimmte Bedeutung haben, die aber für die Millionen Chinesen, die niemals ein Buch gelesen haben, selten eine Zeitung zu Gesicht bekommen, sich von ihrem Geburtsort niemals weiter als eine Tagesreise entfernt haben und unbeschreiblich arm sind, nicht im entferntesten das gleiche wie für uns bedeuten.

2. Das chinesische Volk weiß, daß die chinesischen Kommunisten im Lande geborene Chinesen sind und keine fremden Eindringlinge. Es wäre sinnlos zu glauben, daß man die chinesischen Massen zu einer anderen Ansicht bekehren könnte, oder zu hoffen, daß ein entflammter chinesischer Nationalismus notwendigerweise anti-kommunistisch sein müsse. Die Kommunisten haben es mit großem Erfolg verstanden, das chinesische Nationalgefühl zu entfachen und es für ihre Zwecke einzuspannen.

Nicht-Chinesen, die Chinesen davon zu überzeugen versuchen, daß der chinesische Kommunismus dem wahren chinesischen National„Charakter“, der chinesischen „Tradition“ oder '„Lebensform“ schade, dürften nicht überzeugend wirken, wenn ihnen anzumerken ist, wie wenig sie über chinesischen Kommunismus oder Nationalcharakter, über chinesische Tradition oder Lebensform wissen.

3. Jeder chinesische Revolutionär des 20. Jahrhunderts, auch Sun Yat-sen, Tschiang Kai-schek, Ch’en Li-fu aber auch Mao Tse-tung und Liu Schao-chi, hat in irgendeiner Form den Kollektivismus oder eine staatliche Intervention auf wirtschaftlichem Gebiet gefordert, um das chinesische Volk auf einen modernen Lebensstandard zu heben. Daher entspricht unsere weitverbreitete Ansicht, die chinesischen Massen sollten dazu gebracht werden, im Kommunismus eine Bedrohung des demokratischen laissez-faire oder des freien Unternehmertums zu sehen, nicht dem breiten Strom des modernen chinesischen Denkens. Es dürfte unmöglich sein, die Chinesen dahin zu bringen, im letzten Bürgerkrieg eine Auseinandersetzung zwischen einem totalitären Polizeistaat marxistisch -leninistischer Prägung und einer menschenbeglückenden Demokratie mit liberalen und laissez-faire-Tendenzen zu sehen. Amerikanische Politik und Propaganda müssen erfolglos bleiben, wenn sie im luftleeren Raum agieren.

4. Die Vereinigten Staaten haben keine „Konzessionen" in China besessen und sich führend für die Beendigung der ungleichen Verträge und Exterritorialitäten eingesetzt, und doch haben wir die größte Mühe, den ständigen kommunistischen Vorwurf eines amerikanischen „Imperialismus“ in einer auch den chinesischen Massen verständlichen Form zurückzuweisen. Das chinesische und amerikanische Volk befinden sich zeitlich noch nicht im Einklang. Chinesen, die nie eine Eisenbahn erblickten, haben aber schon Flugzeuge gesehen und benutzt, und das Radio hat vor dem Telefon seinen Einzug auf dem Lande gehalten; in ähnlicher Weise versuchen die Amerikaner noch immer, das anders-geartete Regime vernunftgemäß zu begreifen, nachdem sich die Chinesen schon längst der sozialen Forderungen bewußt geworden sind. Die kommunistische Welt hat auf der Basis von Lenins „Imperialismus“ (1916) ihren „antiImperialismus" mit den allgemeinen Theorien des Klassenkampfes und der Weltrevolution vollkommen verschmolzen, so daß der „Sieg'

über den ausländischen „Imperialismus“ (d. h.

über die „monopolistischen Kapitalisten“) und der „Sieg“ über die eigenen „feudalen“ Feinde als Teile des gleichen Prozesses angesehen werden. Dieses Grundprinzip dürfte wissenschaftlich nicht stichhaltig sein, aber es ist wenigstens konsequent. In völligem Gegensatz hierzu können die westlichen Mächte die von ihnen einst in China ausgeübten Sonderprivilegien nicht mit der logischen Philosophie der Selbstbestimmung und Menschenrechte in Einklang bringen und sehen sich nun in dieser Frage ideologischen Schwierigkeiten gegenüber. Allzu-viele Chinesen, die uns über den „Verlust Chinas“ klagen hören, meinen, wir beklagen das Ende von Exterritorialität und Sonderprivilegien.

Wir können nicht auf ihre Hilfe bei einem amerikanischen Kreuzzug zur „Wiedergewinnung“ Chinas rechnen. 5. Ein ganzes Jahrhundert lang und besonders seit 1898 hat China kaleidoskopartig politische und soziale Experimente gemacht. Vieles vom Alten wurde unwiederbringlich zerstört oder ausgehöhlt. Das alte „Familiensystem“, unter dem technisch das geschlossene System eines persönlichen Treue-und Verantwortungsverhältnisses zu verstehen ist, geht seinem Ende zu.

Das ist nur ein Beispiel. Der Veränderungsprozeß wird jetzt beschleunigt, aber nicht in jedem Falle, in dem das Alte zerstört worden ist, ist von den verschiedenen Möglichkeiten schon eine bestimmte ausgewählt worden. Das Festland ist von Aufbaufieber erfaßt worden und will Neues bauen, nicht Altes wiederherstellen.

Wir werden es niemals zu einer klugen China-politik bringen, wenn wir die Uhr zurückstellen, bereits Vollendetes zerstören und irgendwelche imaginären „normalen Verhältnisse“ wieder herstellen wollen; und der Unterstaatssekretär, der am 26. Februar 1954 die sentimentale Erklärung abgegeben hat, „das amerikanische Volk wünsche nichts sehnlicher als daß China wieder zu sich selbst fände“, hat in diesem Sinne etwas offensichtlich Absurdes gesagt. Wir müssen uns von der Vorstellung freimachen;

China sei auf sozialem Gebiete unveränderlich, und uns mit der Tatsache abfinden, daß China sich ändern kann und sich schon geändert hat.

Was wir in der Chinafrage tun können, kann durch zwei Fragen geklärt werden: Was werden wir in China vorfinden, wenn wir einmal wieder Einfluß ausüben können? Und auf welche Art China soll eine für die Zukunft planende China-politik ausgerichtet sein?

Der größte Teil des chinesischen Volkes, der die westliche Auffassung eines persönlichen Gottes nicht teilt, wird von unserer moralischen Verurteilung des „atheistischen“ Kommunismus völlig unberührt bleiben. Wir glauben, daß freie Menschen die totalitären Ansprüche des Kommunismus (Nazismus und Faschismus) aus sittlichen und ethischen Gründen ablehnen müssen, aber wir irren in der Annahme, die moralische Empörung könne der Außenpolitik immer noch als brauchbares Werkzeug dienen. So erzählte uns Außenminister Dulles am 24. Februar 1954, daß Rotchina nach Genf eingeladen sei, um „vor den Schranken der Weltmeinung Rechenschaft abzulegen“, eine Erklärung, so völlig im Widerspruch zu den Tatsachen, daß sie Zweifel an dem geistigen Zustand unserer Nation hervorrufen mußte. Kurz danach erklärte ein Beamter des State Department, „die Aggression in Korea werde, soweit Rotchina damit zu tun habe, solange keiner gründlichen Prüfung unterzogen, bis es seine ganzen Truppen zurückgezogen habe". Damit haben wir einer politischen Entscheidung der Vollversammlung der Vereinten Nationen ein einseitige Auslegung gegeben mit dem Erfolg, daß wir unsere eigene festgefügte moralische Auffassung einem Vorgehen zugrunde legen, an dem wir gemeinsam mit anderen beteiligt sind. Unser einseitiges moralisches Urteil über das politische Vorgehen einer Gemeinschaft, der wir nicht allein angehören, kann dem gegenseitigen Vertrauen und Verstehen zwischen Freunden nur Abbruch tun und könnte vielleicht erklären, warum wir so allein stehen, obgleich wir uns diesen Luxus kaum leisten können. Wir begeben uns der Möglichkeit, uns einer veränderten Lage anpassen zu können, wenn wir einem Standpunkt, der unseren nationalen Interessen zu einem bestimmten Zeitpunkt dienlich ist — „Nichtanerkennung“, „kein Sitz in den Vereinten Nationen“, „absolutes Embargo“ usw. — einen absoluten moralischen Wert zuschreiben.

Wenn man die Summe dieser kurzen Argumente zieht, kommt man zu dem Ergebnis, daß wir mit unserer Chinapolitik nicht gut fahren werden, wenn wir der beharrlichen Überzeugung sind, daß ungezählte Millionen unglücklicher und verbitterter Chinesen in einem Zustand gärender Unzufriedenheit und Auflehnung nur auf den Tag warten, da Ausländer oder Überseechinesen kommen und sie „befreien“ werden. Wir tragen der Wirklichkeit gar nicht Rechnung, wenn wir glauben, das chinesische Volk sei nur allzu bereit, die Waffen gegen eine Regierung zu erheben, die ihnen zum ersten Mal seit Generationen eine stabile Währung, das Ende des Bürgerkrieges und die politische Einheit des großen Festlandes gebracht hat. Es ist ein viel umfangreicheres LInterfangen, den chinesischen Kommunismus auf dem Festlande zu zerstören, als wir offenbar meinen, und viel schwieriger, als ihn in den gegenwärtigen Grenzen zu halten. Was uns in einem Falle geglückt ist, muß nicht auch im anderen glücken. Rotchina ist keine Nußschale, die mit einem einzigen festen Schlag zu öffnen ist. Wir müssen mehr Geduld haben, auf längere Sicht planen und uns mit der Notwendigkeit einer Aktion von einmaliger Kompliziertheit anfreunden.

„Auch eineTausend-Meilen-Reise beginnt mit einem einzigen Schritt"

Wenn wir uns mit Rotchina beschäftigen wollen, brauchen wir ein besseres Verständnis der nationalen und chinesischen Interessen, von denen Mao Tse-tung und seine Mitarbeiter geleitet werden. Die offizielle amerikanische politische Ansicht ist die, daß Rotchina „Moskau und dem internationalen Kommunismus hörig“ und daher nicht im Besitz „souveräner Unabhängigkeit“ ist. Diese Ansicht würde den chinesischen Kommunisten die Fähigkeit absprechen, im Sinne der für national wichtig gehaltenen Interessen zu handeln. Es würde bedeuten, daß Moskaus Erlasse ebenso in China wie in der Sowjetunion gelten und Abmachungen mit dem Kreml von seinem chinesischen Satelliten sofort erfüllt werden. Von diesem Standpunkt aus ist „Chinapolitik“ fast gleichbedeutend mit „sowjetischer Politik“; und die im Juli vergangenen Jahres in Genf zwischen Molotow und Mendes-France geführten Gespräche wären demnach für China wichtiger als die einige Wochen vorher an der chinesisch-indochinesischen Grenze abgehaltenen Vorbesprechungen zwischen Tschu En-lai und Ho Schi-minh. Ab und zu geben unsere Beamten zu, daß China vielleicht doch kein Satellitenstaat wie Ungarn und Polen ist; oder auch, daß China eher einem „jüngeren Bruder“ der Sowjetunion als einem Satelliten gleicht. Diese der Wahrheit nur unwillig gemachten Konzessionen werden jedoch nicht als Grundlagen der amerikanischen Chinapolitik anerkannt, da sie sich im Widerspruch zu dem vorschnellen LIrteil befinden, „internationaler Kommunismus sei nur ein Dialektausdruck für „sowjetischen Imperialismus“. Daher könnten chinesische Kommunisten, „wie Kommunisten überall“, nur Agenten der Sowjetunion sein.

Dieser zum Schaden gereichende Eindruck macht eine ausführliche Analyse des Begriffs, den man „internationalen Kommunismus nennt, und der besonderen Formen der chinesisch-sowjetischen Beziehungen notwendig. Der Augenschein spricht dafür, daß Rotchina und die Sowjetunion der gleichen ideologischen Auffassung sind, daß sie einen ähnlichen Standpunkt in allen die nicht-kommunistische Welt betreffenden Fragen einnehmen und durch entsprechendes Vorgehen auf nationalem und internationalem Felde die „Weltrevolution“ gemeinsam voranzutreiben trachten. In der Blütezeit der Komintern Lenins (1919— 1924) hatte der „internationale Kommunismus“ eine ganz andere Bedeutung als in der Zeit, nachdem Stalin die „Internationalisten“ ausgerottet hatte. Danach, ungefähr in der Zeit zwischen 1928 und 1949, war der „internationale Kommunismus kaum von der Sowjetpolitik zu unterscheiden, ausgenommen in China, wo die chinesischen Kommunisten die de facto-Kontrolle über verschiedene Gebiete unterschiedlicher Größe und verschiedenartiger Bevölkerung besessen haben. Die Errichtung kommunistischer Kontrollen über ein so großes, volkreiches und mit natürlichen Reichtümern gesegnetes Land muß auf die Beziehungen innerhalb der kommunistischen Welt eine außerordentliche Wirkung haben. Diese Wirkungen machten sich in China und Rußland fühlbar. Mao Tse-tung hatte die „Internationalisten“ innerhalb seiner eigenen Partei in den Jahren 1942-43 „umgeformt“, und bis 1945 war das „Gedankengut Mao Tsetungs“ (d. h. Maoismus) als Richtung marxistisch-leninistischer Orthodoxie in China fest verankert. Erst im Dezember 1949 — drei Monate nach der Proklamierung der chinesischen Volksrepublik in Peking — kam Mao nach Moskau, um Stalin zu treffen. Wir dürfen annehmen, daß zwischen Mao und Stalin hinter der Fassade des formalen chinesisch-sowjetischen Vertrages (14. Februar 19 50) eine Absprache über gemeinsames Vorgehen in mehreren Punkten getroffen worden ist. Es ist zu vermuten, daß die neue kommunistische Synthese auf der Grundlage der „Gleichheit, des beiderseitigen Vorteils und der gegenseitigen Achtung“ errichtet worden ist, was in anderem Zusammenhang seinen Ausdruck in dem chinesischen „Gemeinsamen Programm“ vom 29. September 1949 findet.

Der Begriff der „ Gegenseitigkeit"

Der Begriff der „Gegenseitigkeit“ erklärt, warum kapitalistische Länder bei ihrem Versuch, diplomatische Beziehungen mit dem kommunistischen China aufzunehmen, so wenig Erfolg gehabt haben. Es dürfte auch erklären, wie China und die Sowjetunion ihre respektiven Verpflichtungen innerhalb eines weltweiten kommunistischen Systems abgrenzen. Die von der Sowjetunion vor der Partnerschaft mit den chinesischen Kommunisten der kommunistischen Welt (mit Ausnahme Titos) aufgezwungene Kontrolle hat einer geschmeidigeren Form im Innern Platz gemacht. Auch jetzt noch beschränkt sich die „Kominform"

aus dem Jahre 1947 auf die Mitgliedschaft der kommunistischen Parteien der Sowjetunion und der sieben europäischen Länder, während das kommunistische China einer analogen, aber weniger formellen fernöstlichen Organisation vorsteht. Satelliten und Hauptaktionsaufgaben der Sowjetunion liegen im östlichen und vermutlich noch im restlichen Europa. Das kommunistische China hat wahrscheinlich einen richtigen Satelliten (Nordkorea) und Aktionsaufgaben in einem Gebiet, das die einzelnen Teile Indochinas, Indonesien, Formosa, die Philippinen und Japan umfaßt. Mit Veränderungen ist zu rechnen, falls diese Länder und Indien kommunistisch werden sollten. Es würde uns beim Denken und Planen sehr helfen und von der Beschäftigung mit kommunistischen „Programmen“ und „Zeitplänen“ befreien, wenn wir berücksichtigen, daß sich die Struktur des internationalen Kommunismus ändert und er durchaus wendig zu handeln versteht.

Die Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion im-Rahmen des Kommunismus setzen voraus, daß es keine Meinungsverschiedenheiten über grundsätzliche Interessen gibt und ihr Vorgehen in Fragen von allgemeiner Bedeutung völlig koordiniert ist, aber sie erfordern offensichtlich nicht die völlige Identität ihrer auswärtigen Politik. In Belangen von besonderem nationalen Interesse, an denen die Sowjetunion nicht aktiv interessiert ist, entwickelt China offensichtlich eine eigene Politik (wie z. B.

bei der Festsetzung der indischen Rechte und interessen in Tibet oder der Behandlung der Angelegenheiten der Überseechinesen in den südostasiatischen Ländern). Jeder Partner unterstützt durch Progadanda oder andere Maßnahmen aktiv die Politik des anderen, besonders wenn sie mit allgemeinen politischen Kampagnen wie „dem Kampf für den Weltfrieden“, „den Fünf-Mächte-Verhandlungen“ und „der Regelung der Weltspannungen“, „der Ächtung des Atomkrieges“ usw. verbunden werden können. Nahezu ununterbrochene zweiseitige Unterredungen auf Politbüro-und Ministerebene lösen die aus den direkten Beziehungen entstehenden politischen Probleme (wie die Klärung der Positionen in fremden Ländern, in denen beide Staaten Interessen haben wie in Nordkorea, oder die Festsetzung des Umfanges an militärischen Lieferungen, die die Sowjetunion an China zu machen hat). Die lange Reihe der Routineprobleme, die Entscheidungen auf einer niederen Ebene erfordern, (wie die Erfüllung des Abkommens über die durchgehende Eisenbahn-linie Peking—Moskau oder der jährliche Produktionsplan des gemeinsamen chinesisch-sowjetischen Hüttenwerkes in Sinkiang) scheint durch direkte Verhandlungen zwischen Beamten gleichen Ranges innerhalb der chinesischen und sowjetischen Verwaltungshierarchie gelöst zu werden. In diesen Fällen hat das bürokratische Verfahren von Regierungsabteilungen oder Ämtern, die an der Sache ein dienstliches Interesse haben, den Vorrang vor dem normalen diplomatischen Weg. Die Beziehungen auf höchster Ebene werden durch undurchdringliche Sicherheitsmaßnahmen geschützt, die, soweit bekannt ist, bisher absolut zuverlässig gearbeitet haben — an sich schon eine bemerkenswerte Tatsache; und nichts deutet darauf hin, daß ein Partner dem anderen Anweisungen in Angelegenheiten gibt, die nur den anderen etwas angehen. Das eindrucksvolle Netzwerk chinesisch-sowjetischer Verträge, Abkommen, Erklärungen, Kommuniques, ausgetauschter Noten usw. — über 50 zwischen 1950 und 1954 — scheint jedem Land ausreichenden Spielraum zur Entwicklung eigener Initiative zu lassen. Beide Länder haben sich verpflichtet, die eigene, unter staatlicher Kontrolle stehende Wirtschaft oder den vom Staate geleiteten Sektor der Wirtschaft zu intensivieren. Die Möglichkeiten für Reibungen und Konflikte, die entstehen könnten, wenn jedes Land engherzig versuchen würde, die begrenzte Produktion für sich zu sparen und seine Waren dem anderen vorzuenthalten, sind gering bei einer Partnerschaft, die freiwillig den Waren-umschlag erhöhen will. Kürzlich veröffentlichte offizielle rotchinesische Zahlen besagen, daß sich der Handelsumfang zwischen China und den anderen „Volksdemokratien“ seit 1950 vervierfacht hat. Die Sowjetunion wird wichtiger Verpflichtungen ledig und frei sein für eigene größere Offensiven an anderen Stellen in dem Maße, wie es ihr gelingt, die wirtschaftliche Entwicklung Chinas zu beschleunigen und es instand zu setzen, die Anforderungen aus dem sich ausbreitenden kommunistischen Einfluß in ganz Südasien und dem Pazifik zu befriedigen.

Falsche Vorstellungen

In der Annahme, daß die chinesisch-sowjetischen Beziehungen von einer latenten Feindschaft durchsetzt sind, gefällt sich die westliche Welt in der Vorstellung, die dauernden Reibungen müßten die guten Beziehungen allmählich abnutzen, nur die härteste Selbstdisziplin ließe eine beiderseitige Eifersucht nicht aufkommen und eines schönen Tages werde sich einer der Partner (gewöhnlich denkt man hierbei an China) plötzlich bewußt, daß er vom anderen zum besten gehalten worden sei. Warum sollten die Chinesen die Anwesenheit einer großen Zahl sowjetischer Techniker für unvereinbar mit Chinas realen Interessen halten, solange Chinas Produktionsanlagen verbessert werden und ein genügend großer Teil des Reinproduktes für China übrig bleibt? Warum sollen wir annehmen, China fühle sich zugunsten der sowjetischen Industrialisierung und des sowjetischen Kriegs-potentials geschröpft, wenn unsere einzigen Statistiken beweisen, daß die sowjetischen Lieferungen nach China größer sind als die chinesischen Lieferungen an die Sowjetunion? (Die Sowjetunion schreibt die finanzielle Differenz „auf Kredit“). Warum soll China die sowjetische Waffenüberlegenheit fürchten, solange die Sowjetmacht die beste Garantie ist für die Sicherheit der ganzen kommunistischen Welt, China mit eingeschlossen? Warum soll die Sowjetunion in absehbarer Zeit auf Chinas wachsendes Wirtschaftspotential und auf die Konkurrenz, die es eventuell später einmal machen könnte, eifersüchtig werden, solange jedes Land einen eigenen unbefriedigten Konsummarkt hat oder solange die wirtschaftliche Stärke beider Nationen zu künftigen politischen Siegen beitragen könnte? Warum sollen die beiden Partner, deren gemeinsames Vorgehen schon so viel Bestürzung, Verwirrung und Unsicherheit in die Reihen der Feinde getragen hat, gegen die Vorteile eines festen Zusammenhaltes blind sein?

Lim herauszufinden, inwieweit die chinesisch-sowjetischen Beziehungen mit den chinesischen Nationalinteressen vereinbar sind, müssen wir aufhören vorzuschreiben, welche Ambitionen China haben, wie China sich benehmen sollte oder was „auf die Dauer das Beste für China wäre“ -. Wieder müssen wir uns mit einigen harten Tatsachen abfinden: 1. Die Führer der stärksten Regierung, die China seit Jahrhunderten gehabt hat, halten sich nicht für sicher, solange bewaffnete „Freunde des Westens“ in Reichweite stehen; 2. sie vertrauen darauf, daß die in Korea und Indochina errungenen Siege an anderer Stelle wiederholt werden können; 3. sie glauben, das Gewicht, das sie der kommunistischen Welt jetzt einbringen und das ihre eigene Position und die ihrer Freunde stärkt, werde auch Chinas Prestige und Weltgeltung erhöhen;

4. sie glauben, daß Chinas wirtschaftliche Entwicklung bei enger Anlehnung an eine befreundete Sowjetunion schnellere Fortschritte machen werde als bei einer freieren Wirtschaftsform, die sie vom feindlichen amerikanischen Kapitalismus und seiner Produktion abhängig machen würde; und 5. sie glauben, daß eine Erhöhung der nationalen Produktion und ein besserer materieller Lebensstandard militante Disziplin, ausgeprägte nationale Gesinnung und das Ende der veralteten, lethargischen Ethik erfordern. „Eine „realistische“ Chinapolitik muß gerade diese Fakten ansprechen. Nur wenn wir den Interessen unserer Gegner die gleiche Bedeutung zumessen, wie sie selbst, dann erst können wir überhaupt beurteilen, inwieweit sie ihre nationalen Ziele zu erreichen imstande sind, und können sie von Zielen abzubringen versuchen, die mit den unsrigen unvereinbar sind.

Die „Einheitsfront-Taktik”

Die Art des kommunistischen Vorgehens in Asien in der Nachkriegszeit deckt sich mit der neuen Auffassung von den chinesischen National-interessen und gleichzeitig mit dem unveränderten Ziel der Weltrevolution. Diese Form ist mehr „maoistisch“ als „stalinistisch“ und bedient sich auf internationalem Felde der in China in so vollkommener Weise entwickelten „Einheitsfront-Taktik“. Der Maoist läßt nichts über eine „soziale“ Revolution verlauten, bis es ihm geglückt ist, eine mehrere soziale Klassen umfassende, kommunistisch geleitete Einheitsfrontorganisation aufzubauen, die den Kampf um die Macht aufnehmen kann. Unterdessen wirbt er für die Einheitsfront mit Schlagworten, die keine offensichtliche Bedrohung für die Unabhängigkeit des Landes darstellen: „Weltfrieden“, „Demokratie“, „Anti-Imperialismus“, „Souveränität des Landes“ usw. Die offizielle Linie des asiatisch-australasiatischen Gewerkschaftskongresses (Peking, November 1949), der asiatischen und pazifischen „Volksfriedenskonferenz“

(Peking, Oktober 1952) und der letzten Konferenz der ständigen Verbindungskomitees (Peking, Mai 1954) basiert fast vollständig auf den kommunistischen Erfahrungen in China. Sie spiegelt die derzeitige Taktik wieder, zur Vollendung der Weltrevolution die regionalen Abschnitte nacheinander zu gewinnen, „die von den Friedensorganisationen der verschiedenen Länder unternommenen Aktionen“ zu koordinieren und eine weitere Vereinigung der „arbeitenden Klasse mit den Bauern und allen Patrioten, die den Frieden lieben“, zu fordern.

China leitet die Aktion in Asien: Das Hauptquartier befindet sich in Peking, die leitenden Leute sind hauptsächlich Chinesen und der Pekinger Sender ist das Hauptverbindungs-und Propagandainstrument. Ein stolzer Chinese würde es nicht unbedingt unvereinbar mit den nationalen Interessen Chinas finden, daß seine Regierung die Leitung dieses Programms übernommen hat. Er kann sich ein Bild von dem großen Zuwachs an Prestige, Ehre und „Gesicht“ machen, wenn der chinesische Einfluß auf diese Weise über ganz Asien und Südostasien ausgedehnt werden sollte. Sicher wird er nichts gegen die Aussicht einzuwenden haben, sich bald schon für die unter der Herrschaft des Westens jahrzehntelang erlittene ungerechte Behandlung und Diskriminierung zu rächen. Mancher Chinese zöge vielleicht ein langsameres Tempo, eine sorgfältigere Berechnung des Risikos, höflichere Manieren, weniger Aufwand vor, aber diese Einwände hauptsächlich intellektueller Art entsprechen nicht dem Zeitgeist des heutigen Chinas.

Vergessen wir auch nicht die 4 OOO Jahre einzigartiger politischer Geschichte, die China durchlebt hat. Das angesammelte Wissen von der Politik als Kunst hat verhindern helfen, daß ein ohnmächtiges China im 19. Jahrhundert aufgeteilt worden ist; im 20. Jahrhundert befähigt es China, mit der Sowjetunion um die Führung in der Weltrevolutionsbewegung zu rivalisieren. Ich fürchte, die chinesischen Kommunisten haben der alten politischen Kunst eine neue Dimension hinzugefügt und sind keineswegs die Düpierten im sowjetischen Spiel und verstehen, für sich einen beträchtlichen Gewinn herauszuholen.

Was können wir also in der chinesischen Frage tun? 1. Unsere Formosapolitik sollte dem defensiven Charakter unserer Interessen an der Insel untergeordnet werden und unser defensives Vorgehen (wenn unerläßlich) sollte sich möglichst weitgehend auf die Insel und ihre unmittelbare Nachbarschaft beschränken. Der Entschluß der Kommunisten, Formosa zu erobern, sollte sorgfältig im Lichte der gegenwärtigen Lage auf Formosa und der Fähigkeit der Kommunisten, auf politischem und militärischen Felde aktiv zu werden, betrachtet werden. Militärische Maßnahmen zur Abweisung eines direkten Angriffes auf Formosa sollten unter Berücksichtigung ihrer eventuellen politischen Rückwirkungen getroffen werden. Da ein kommunistischer Angriff auf Formosa unsere Verbündeten vermutlich nicht zum Beistand verpflichten und wahrscheinlich auch keine Aktion der Vereinten Nationen veranlassen würde, müssen wir den Einfluß umfassender pazifischer Operationen, zu denen unsere Hauptstreitkräfte über einen längeren Zeitraum gezwungen sein könnten, auf unsere Interessen und Ziele im nordatlantischen Raum und an anderen Stellen in Betracht ziehen. Die Verteidigung Formosas sollte nicht mit einem Gegenangriff auf das Festland verbunden werden. Es sollte immer ein klarer UInterschied gemacht werden zwischen dem, was die Nationalchinesen militärisch und politisch zur Verteidigung Formosas und dem, was sie zur Wiedereroberung des Festlandes aus kommunistischen Händen beisteuern können. 2. Das kommunistische China ist eine Quelle großer Sorge für uns, weil sein Regime den Vereinigten Staaten feindlich gesinnt und fest entschlossen ist, die Position der Vereinigten Staaten im ganzen Fernen Osten auf jede Art und Weise zu zerstören — auch durch Zerstörung der für die Vereinigten Staaten vorteilhaften Verbindungen und Abmachungen. Dieses Ziel erfordert die Vernichtung der nichtkommunistischen Regime. Aber nicht-kommunistische Staaten in Asien, die politische Bindungen an die Vereinigten Staaten haben (Südkorea, Japan, die Philippinen, Malaya und Thailand), scheinen als Ziele kommunistischen Vorgehens den Vorrang zu haben vor nicht-kommunistischen Ländern, die nicht so eng an die Vereinigten Staaten gebunden sind (Indien, Burma und Indonesien). Es muß daher unser unmittelbares Hauptanliegen sein, die chinesischen Kommunisten möglichst weitgehend daran zu hindern, auf politischem oder anderem Felde in feindlichem Sinne aktiv zu werden, und zu versuchen, das kommunistische China jetzt und darüber hinaus auf die gegenwärtigen Grenzen zu beschränken. Zu Erreichung dieser Ziele müssen wir nicht notwendigerweise direkt gegen das kommunistische China vorgehen, sondern vor allem den politischen Gesundheitszustand und die Stabilität der nicht-kommunistischen Nachbarn Chinas verbessern. Das ist eine positive Politik, die nichts mit einer „Beschwichtigungspolitik“ zu tun hat. Angesichts der unglücklichen Umstände kann die Haltung nicht als passiv und der Geist nicht als defaitistisch bezeichnet werden. Wir müssen positiv handeln, selbst innerhalb der gesteckten Grenzen. Unserem Vorgehen muß eine kluge wirklichkeitsnahe Beurteilung der chinesischen Situation vorangehen. Wir müssen wendig und ideenreich aus altbekannten Tatsachen neuen Sinn herauslesen und eine ständige Neubewertung der Tatsachen in einen hochdynamischen Zusammenhang einzuordnen wissen. Wenn unsere besonderen Maßnahmen realistisch und die für die Festlandbewohner bestimmte Propaganda auf ihre tägliche Erfahrungen abgestimmt sein soll, dann brauchen wir den besten Nachrichtendienst. Wir müssen alle Anzeichen für eine Bereitschaft der chinesischen Kommunisten wahrnehmen, die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten auf dem Verhandlungswege zu bereinigen. Dies erfordert das Gewissen und der gute Glaube der Amerikaner. In diesem Sinne erklärte Außenminister Dulles im vergangenen Januar: „Wir weigern uns nicht, mit dem kommunistischen China in Verhandlungen einzutreten, wo die Lage es erfordert“. Aber auch angesichts unserer Bereitwilligkeit, Vorschläge in Betracht zu ziehen, dürfen wir von den chinesischen Kommunisten nicht erwarten, daß sie ihre Position der Stärke aufgeben, die ihnen eine bessere Verhandlungsbasis sichert. Wir sollten außerdem nicht vergessen, daß „Verhandlungen“ mit dem kommunistischen China keine diplomatische Anerkennung nach sich ziehen, und es keinen Gewinn brächte, unsere Politik von dieser speziellen Frage abhängig zu machen. Der Grund hierfür unterliegt gar nicht unserer Initiative: Die chinesischen Kommunisten haben niemals unsere Anerkennung gefordert, sie haben nur von Zeit zu Zeit die allgemeinen Bedingungen genannt, unter denen sie über dieses Thema „in Verhandlungen eintreten“ würden — keine dieser Bedingungen läßt sich mit den amerikanischen Interessen in Einklang bringen. Wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß die unverantwortlichen Befehle und Ultimaten, die die Kommunisten nicht zum Nachgeben bewegen konnten, sie andererseits auch nicht ermutigen dürften, um Verhandlungen über routinemäßige oder nicht-politische Fragen nachzusuchen.

Zum Schluß noch ein Wort über „Befreiung". China ist nicht von Fremden überfallen worden, so wie zum Beispiel das freie Frankreich 1940. Die . „Befreiung“ des chinesischen Volkes von der totalitären Herrschaft der chinesischen Kommunisten würde nicht, wie im Falle der „Befreiung“ Frankreichs 1944, die unterdrückte menschliche Freiheit wiederherstellen, weil es sie im modernen China niemals gegeben hat. Im Grunde ist die „Befreiung eines Volkes nur durch eigene Kraft möglich Nur wenn die Chinesen imstande sind, eine Form des politischen und sozialen Lebens zu entwickeln, die ihren eigenen von ihnen als solche anerkannten Bedürfnissen und Wünschen

Fussnoten

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