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England und der Wohlfahrtsstaat. Bilanz eines Zehnjährigen Experiments | APuZ 44/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 44/1955 England und der Wohlfahrtsstaat. Bilanz eines Zehnjährigen Experiments Gutes und Schlechtes in den Vereinigten Staaten

England und der Wohlfahrtsstaat. Bilanz eines Zehnjährigen Experiments

Johannes Gaitanides

Um es im Bilde vorwegzunehmen: Dem deutschen Besucher der Insel scheint die britische Nation in einer Straßenbahn zu sitzen, die sich auf vorgelegtem Gleis und genau bekannter Strecke mit ruhiger Gewißheit ihrem Ziele zubewegt.

INHALT DIESER BEILAGE:

Sicher ist es auch der britische Volkscharakter, der jenen Eindruck hervorruft — seine selbstgewisse Gelassenheit im Umgang mit dem Schicksal, die Unerschütterlichkeit seiner guten Manieren selbst in den widrigsten Wechselfällen, der vor keinem Tief kapitulierende, die schärfsten Gegenstände entspannende und entgiftende Humor, sein Sinn für Maß und Form schließlich sowie seine zähe und doch so elastische Zielstrebigkeit. Nicht minder aber verdankt dieses Land seine Ausgeglichenheit und Geborgenheit dem sozialen Klima des Wohlfahrtsstaates. Audi wenn dieser die britische Erde ganz gewiß nicht in ein Paradies verwandelt hat (weshalb ihm denn auch keine Lorbeerkränze gewunden werden) — er ist aus der britischen Existenz nicht mehr wegzudenken. In seiner Bejahung treffen sich Volk und Staat, die protestantischen Bekenntnisse und die Katholische Kirche; selbst die Parteien sind sich in seinem Grundsatz einig, ihr Streit reduziert sich auf sein Wie und sein Wieviel.

Einzigartige Geschlossenheit der britischen Nation Nicht zuletzt bewirkt diese Einigkeit der Parteien die einzigartige Geschlossenheit der britischen Nation. Verbittert klagten die Labour-Leute nach ihrer Wahlniederlage im vergangenen Mai, die Konservativen hätten ihnen die Kleider gestohlen, während sie beim Baden waren. Einsichtige Konservative widersprechen diesem Vorwurf nicht; ihre Parteigeschichte bestätigt sie als Anwälte des jeweils Erprobten, und Gewachsenen, das sie solange gegen alles Neue und Revolutionäre verteidigen, bis es die Probe aufs Exempel bestanden, bis es seine Tauglichkeit und seinen Nutzen in der Praxis bewiesen hat — von diesem Augenblick an aber verleiben sie es dem Verteidigungswürdigen ein (selbst wenn sie sich vorher seiner Einführung noch so heftig entgegengestemmt hatten), geben ihm den letzten Schliff und „konservieren" es. Nie war es die Sache der Konservativen, neue Ideen zu haben — das überließen sie mit steter Großzügigkeit ihren jeweiligen Opponenten, deren Ideen sie sich hemmungslos bemächtigten und die sie realisierten, sobald sie ihre Lebensfähigkeit (gerade gegen den konservativen Widerstand) bezeugt hatten. Mochten gestern die Liberalen, mag heute die Arbeiterpartei der Motor der britischen Entwicklung sein, die Konservativen sitzen an Bremse und Steuer und — herrschen! Dank dieser Elastizität (die unser kontinentaler Konservativismus in hochmütiger Geringschätzung gern als „Opportunismus“ mißversteht) hielten sie von allen Parteien die längste Zeit über das Steuer der britischen Geschichte in ihren macht-gewohnten und geschickten Händen. Lind übernahmen es auch 1951 wieder, nachdem die Labourpartei in den ersten Nachkriegsjahren dem Wohlfahrtsstaat das Fundament gelegt hatte.

Mit dieser kaum bewußten Taktik folgen die Konservativen dem dominierenden Lebensinstinkt des britischen Volkes, das wie keine andere abendländische Nation auf das Bewahren und Erhalten eingestellt und jeglichem Extremismus abhold ist. Allein in der Not einer schweren Krise läßt es sich auf das Risiko eines großen Experimentes ein — um die Experimentatoren in Pension zu schicken, sobald sie den Karren aus dem Gröbsten herausmanövriert haben. Der mißtrauische Realismus der Briten vertraut dem Mann, dem er unter dem Druck der Depression eine neue Idee abnimmt, nicht gern deren Realisierung an. Denn er weiß, daß der Idealist, dem die Möglichkeit zur Verwirklichung seiner Idee gegeben wird, nur zu leicht zum Radikalismus und Totalitarismus entartet; daß er, besessen von seiner Idee, zur Vergewaltigung des Lebens neigt, das nur lohnt, wo die Vielheit und Mannigfaltigkeit seiner Wurzeln sich im freien Wachstum entfalten können. Hinzu kommt ein anderes britisches Mißtrauen: das unausrottbare Mißtrauen vor der Zusammenballung der Macht in einer Hand, das England als erste Nation auf den Weg der Demokratie, das heißt auf die „Teilung der Gewalten“ verwies; eben sie heißt den Engländer auch, auf einer Arbeitsteilung von Idee und Realisation zu bestehen.

Die Geschichte des britischen Wohlfahrtsstaates gefällt sich noch in einer anderen Pikanterie. Wenn ihn die Labourparty ausbrütete und die Konservativen nun für seine Festigung und Konservierung sorgen, das Ei des Wohlfahrtsstaates haben nicht sie gelegt, sondern die Erzliberalen Keynes und Beveridge. Keynes (als Theoretiker der Vollbeschäftigung) und Beveridge (der Architekt des Wohlfahrtsstaates im engeren und eigentlichen Sinn) handelten unter dem Gebot, das ethische Gedankengut des Liberalismus nur in sinngemäßer Umwandlung auf die Arbeiterklasse zu übertragen, während der europäische Liberalismus in der Monopolisierung der von ihm geschaffenen Freiheitswerte für das Bürgertum versteinerte. Dennoch haben Keynes und Beveridge ihre Partei nicht vor dem politischen Untergang bewahrt; indem sie ihre Gegner unterwanderte und sowohl die Arbeiterpartei wie auch die Konservativen liberalisierte, büßte sie in den Augen der britischen Wähler ihre Existenzberechtigung ein — ihr Sieg als geistige Macht verhängte über sie das parteipolitische Todesurteil. Wehe den Siegern! Der Zwang'zur Mitte Wie aber konnte es in der zentralen Frage des Wohlfahrtsstaates zu jener weitreichenden Übereinstimmung zwischen den Parteien kommen, die sich doch nach Herkunft, Temperament und Mentalität so wesentlich unterscheiden? Die Antwort ist zunächst im britischen Wahlrecht zu finden — in den Auswirkungen der relativen Mehrheitswahl, die immer und unter allen Umständen zwangsläufig zum Zweigparteiensystem tendiert. Infolgedessen kann sich die britische Partei nicht zur Sprecherin einzelner Gruppen-und Klasseninteressen machen (wie die Partei des Vielparteienstaates), sie hat ihre Chance allein als „Volkspartei“, die — noch bevor sie sich zur Wahl stellt -schon die Gegensätze sämtlicher Bevölkerungsschichten in ihrem Schoß zum Ausgleich bringt, so daß sie in der Tat die ganze Nation repräsentiert. Diesem Zwang unterliegen die Konservativen nicht weniger als die Arbeiterpartei. Nun liegt der geometrische Ort für die Interessenintegration der gesamten Nation zwangsläufig irgendwo in der Mitte zwischen den Klassen und Ständen.

Dieser Zwang zur Mitte aber führt die konkurrierenden Parteien zur engstmöglichen Annäherung im Programmatischen, in die Mitte zwischen den Extremen, von der aus sich das größtmögliche Wählerpotential ansprechen läßt. Radikalismus (außer in krassen Notzeiten der Wirtschaft)

rentiert sich in diesem System nicht, er ist purer Selbstmord.

Stabilität des Mittelstandes Die Mitte nun — das ist der Mittelstand. Und der Mittelstand ist in Großbritannien erheblich breiter als sonstwo in Europa (abgesehen von den „Wohlfahrtsstaaten“ Skandinaviens). Gleicht die deutsche Einkommensstruktur einer Pyramide, die ihre größte Breite an der Basis hat, so läßt die britische Gesellschaftsschichtung an eine Chiantiflasche denken: sie steht — im Stand der Armut — auf relativ kleinem Fuß, um sich nach der Mitte hin weit auszubuchten und dann aufwärts schnell zu verjüngen. Dies außerordentliche Breitenwachstum des englischen Mittelstandes ist nicht erst ein Produkt des Wohlfahrtsstaates; die imperiale Geschichte hat ihn gefördert, die privaten Geschäftsmöglichkeiten und die Verwaltungsausgaben in den Kolonien, die zentrale Stellung Englands als industrielle Werkstätte eines Weltreichs, als globaler Umschlagplatz des Verkehrs, der Waren und Gelder — sie boten auch dem „kleinen Mann“ unzählige Ansätze zum Aufstieg. Er hat seine Position — trotz der Schrumpfung der politischen Macht Großbritanniens im Sog der beiden Weltkriege — im Großen und Ganzen behauptet. Wenn auch das englische Pfund von der Entwertung nicht verschont blieb, es wurde nicht gleich der deutschen Mark von zwei exzessiven Nachkriegsinflationen heimgesucht, die das mittelständische Vermögen — und nur dieses — total ruinierten. In welch anderem Land geschieht es denn noch, daß einem beim täglichen Geldwechseln Münzen der kleinsten Einheit in die Hand kommen, die sich durch ihren Stempel als hundertjährige Veteranen ausweisen? Sie versinnbildlichen die einzigartige Stabilität und Kontinuität des englischen Mittelstandes, an dem sich die britischen Parteien noch immer und in erster Linie orientieren müssen. Während sich so das Bürgertum als das feste Rückgrat Großbritanniens bezeugte, erwies sich der Mittelstand unter den Kriegsschlägen als die Achillesferse am deutschen Sozialkörper, dessen Verwundungen die gesamte Nation schwer in Mitleidenschaft zogen.

Nicht allein aber der „Lauf der Dinge" war mit dem britischen Mittelstand gnädiger umgesprungen, er ist auch innerlich gefestigter — im Unterschied zum deutschen ist der englische Bürger freier, unbefangener und weniger ressentimentgeladen nach oben und nach unten. Ihm ist die gartenlaubenhaft verklärende Anhimmelung eines unerreichbaren Adels völlig fremd, die in Deutschland den ersten Weltkrieg überlebte und die auch noch aus dem Marasmus des zweiten Bankrotts gothafarbene Blüten-träume in irreale Prestigehöhen emporschickt. Dergleichen blieb den Engländern erspart, denn jeder von ihnen kann kraft seines persönlichen Verdienstes in den Adelstand aufsteigen. Zwei bis drei Mal im Jahr verleiht der britische Monarch den verdienstvollen Bürgern des Landes den Ritterschlag; andererseits vererbt sich der Adelstitel allein auf den ältesten Sohn, dessen Brüder nicht selten — zumal im Zeitalter der ausschweifenden Erbschaftssteuer — in das Bürgertum „absinken“. So ist der britische Adel nicht unerreichbar, nicht ein unübersteigbares Privileg der Geburt, er steht vielmehr in ständiger und doppelter Blutzirkulation zum Bürgertum. Zudem unterliegt der Adel einem fortschreitenden Entmachtungsprozeß, der ihn nicht nur seiner politischen Privilegien, sondern sogar der Gleichberechtigung beraubt hat. Zwar ist der Anspruch des „Lords“ auf den angestammten Sitz im „house of lords“ unbestritten, aber das Oberhaus ist vom Unterhaus völlig aus der politischen Führungsaufgabe verdrängt, und »der Lord, er allein, kann nicht in das Unterhaus gewählt werden! Mehr als einmal ist eine verheißungsvolle politische Laufbahn auf diese Weise vor dem höchsten Ziele abgedrosselt worden, wenn der Tod eines Lords den Sohn zur Preisgabe seines Unterhaussitzes und zum „Aufstieg“ in das Oberhaus nötigte. Unter diesen Verhältnissen ist der britische „Bürgerliche“ frei von jeglichem Minderwertigkeitsbewußtsein gegenüber dem Von und Zu; sein gesellschaftliches Selbstbewußtsein reduziert daher auch seine Anfälligkeit für den Extremismus jeglicher Provenienz.

Die Arbeiterbewegung Aber auch nach „unten“ ist der britisshe Bürger unbefangener. Er kennt nicht die Angst des deutschen Mittelstandes vor der Arbeiterschaft, noch ließ er sich je Angst vor ihr machen. Das hat freilich auch seine Gründe in der englischen Arbeiterschaft selber.

Von wenigen Außenseitern abgesehen, war die britische Arbeiterbewegung zu keiner Zeit marxistisch. Zu keiner Zeit rüttelte sie an der Monarchie noch an der Demokratie. Ihr Streben nach sozialer Gerechtigkeit begründete sich nicht als „Klassenkampf“, und sie huldigte weder der Weltanschauung des Materialismus noch dem Atheismus. Im Gegenteil, eine und die älteste der drei Hauptquellen, aus deren Zusammenfluß die britische Arbeiterbewegung hervorging, entsprang religiöser Erde. Es waren die sogenannten „Nonkonformisten“, die gegen die anglikanische Staatskirche opponierenden protestantischen Freikirchen (vor allem die Methodisten, Baptisten und Quäker), die aus religiösen Gewissengründen sich als erste der Arbeiterfrage annahmen. Auch die britischen Katholiken sind heute meist auf der „Linken“ zu finden. -von den 23 Katholiken im gegenwärtigen Parlament gehören 13 der Labour-und 10 der konservativen Fraktion an — unter der Wählerschaft dürfte ein noch höherer Anteil der Katholiken für Labour gestimmt haben (was freilich auch mit der Tatsache zusammenhängt, daß die Mehrzahl der Katholiken minderbemittelte, nach England eingewanderte Iren sind, die also aus soziologischen und national-irischen Motiven eingeschworene Feinde der „Tories“ sind).

Eine zweite Stütze fand die Arbeiterbewegung in einer Gruppe des intellektuellen Mittelstandes, die sich — von einem ethischen Humanismus angetrieben — um das Ehepaar Webbs und G. B. Shaw in der „Fabian Society“ kristallisierte. Die „Gesellschaft der Fabier", die der Labourparty das theoretische Gerüst erbaute, hatte ihren Namen mit Bedacht gewählt, nach dem römischen Consul und Feldherrn Fabius, dem die Zeitgenossen seiner Vorsicht wegen den Beinamen „Cunctator“ (der Zögernde, der Zauderer) beigelegt hatten; und zum Abzeichen hatten sie sich die Schildkröte erkoren, mit der sie ihre Ablehnung aller revolutionären Methoden (selbst in erfolgverheißenden Konstellationen) und ihre Entscheidung für den evolutionären Weg bekundeten — getreu der sehr englischen antiintellektualistischen Devise: „Nur was wächst, ist gut“. Anfangs freilich hegten die Webbs einige Sympathien für das bolschewistische Experiment. Das sowjetische Verhalten im spanischen Bürgerkrieg jedoch und der Ribbentrop-Molotowpakt haben die Fabier, aber auch die gesamte britische Arbeiterpartei gründlich und endgültig vom Kommunismus kuriert.

Die britischen Gewerkschaften Die Abneigung gegen die Ideologie und der Sinn für das Maß, welche die britische Arbeiterpartei kennzeichnen, hat noch einen dritten Grund: Labour ist keine autonome Partei, sie ist der politische Arm der britischen Gewerkschaftsbewegung, ihr Werkzeug und ihre Waffe auf dem politischen Feld; im Gegensatz zur festländischen Arbeiterbewegung, die im Zeichen von Marx als politische Partei begann und die Gewerkschaften erst später als deren Ableger an die Front der Wirtschaft vor-schickte. Und so blieb es auf dem Kontinent, auch nachdem sich die Gewerkschaften organisatorisch emanzipiert haben, während in England die Labourparty nach wie vor die inzwischen zwar mündige, jedoch noch immer folgsame Tochter des britischen Gewerkschaftsbundes ist.

Einige Daten mögen diese Entwicklung illustrieren. In England setzte die Industrialisierung um 100 bis 150 Jahre früher ein als in Deutschland. Doch ist der zeitliche Vorsprung der britischen Arbeiterbewegung weniger weit gespannt. Erst die Aufhebung des Antikoalitionsgesetzes im Jahre 1824 erlaubte den britischen Arbeitern die gewerkschaftliche Organisation, die dann freilich einen schnellen Aufstieg nahm. Aber erst 1901 sahen sich die Gewerkschaften durch neue Unterdrückungen zur Gründung einer eigenen, ihrer Arbeiterpartei veranlaßt, die zunächst völlig von ihnen finanziert wurde. Denn damals erhielten die Abgeordneten des Unterhauses noch keine Diäten, und da die Labourdelegierten — im Gegensatz zu ihren konservativen und liberalen Kollegen — von Haus aus ohne Vermögen waren, mußten die Gewerkschaften für sie einspringen; erst recht natürlich im Wahlkampf. Nicht alle Gewerkschaften freilich gehören dem Gewerkschaftsbund (TUC = Trade Union Corporation) und durch ihn der Labourparty an. Der korporative Beitritt der Einzelgewerkschaft zu beiden Organisationen setzt die Zustimmung von zwei Dritteln ihrer Mitglieder voraus. So sind heute von den 706 bestehenden Einzelgewerkschaften mit insgesamt 9 Millionen Mitgliedern nur 187 Gewerkschaften der TUC und der Labourparty kollektiv angeschlossen, die jedoch 8 Millionen Mitglieder zählen. Aber von diesen 8 Millionen sind lediglich 5 Millionen Mitglieder der Arbeiterpartei. Denn auch nach dem korporativen Beitritt der Einzelgewerkschaft zu Labour ist deren Einzelmitglied das Recht zugestanden, sich durch eine ausdrückliche Erklärung der Labourmitgliedschaft zu enthalten; wovon nicht wenige Gebrauch machen, ohne deshalb von ihren Genossen scheel angesehen zu werden. Die Gewerkschaftsbeiträge sind nicht nach der Höhe gestaffelt; sie sind mit 6 pence (= 0, 30 DM) pro Woche äußerst niedrig angesetzt, von denen 1 pence (= 0, 05) DM) an die Arbeiterpartei abgeführt wird (der nicht entrichtet wird von dem Gewerkschaftsmitglied, das für seine Person die Labourmitgliedschaft abgelehnt hat).

Daher sind der Gewerkschaftsbund und die Labourparty finanziell keineswegs auf Rosen gebettet; sie residieren nicht in eigenen Häusern (beide haben je ein Stockwerk im Haus der größten Einzelgewerkschaft — der 1. 3 Millionen zählenden Transportarbeiter — zur Miete), und sie bedienen sich für ihre Arbeit eines großen Stabes unbezahlter Helfer.

Und während dem konservativen Parteiapparat jährlich etwa 1 Million Pfund (dank der spendefreudigen Industrie) zur Verfügung steht, muß Labour mit 200 000 Pfund auskommen; davon bringen die Gewerkschaften 125 000, die Genossenschaften 27 000 Pfund auf Die Verzahnung Labours mit der TUC drückt sich auch in der Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft aus: von ihren knapp 6, 5 Millionen gehören 5 Millionen den Gewerkschaften und 500 000 den Genossenschaften an, während 900 000 (davon erstaunlicherweise 300 000 Frauen) als „individuelle“ Mitglieder registriert sind — die nicht erfaßbare Gesamtziffer dürfte niedriger liegen, da nicht wenige in mehrfacher Mitgliedschaft (individuell sowie über Gewerkschaft und Genossenschaft) der Partei angehören. läßt Labourparty (in deren Vorstand die Trotzdem der Rückhalt der Gewerkschaftler'die absolute Mehrheit inne haben) an der TUC zu wünschen übrig, denn diese legt Wert darauf, sich auf ihrem ureignen Arbeitsfeld von der Partei nicht die Hände binden zu lassen. Auch hat sie die Erfahrung gemacht, daß sie unter Umständen mit einem konservativen Kabinett besser zu Rande kommt als mit einer Labourregierung, die ihren eigenen Leuten größere Opfer zumuten zu können meint. Schließlich ist der Gewerkschaftsbund in der Unterstützung Labours auch durch seine innere Schwäche und mangelnde Einheitlichkeit gehemmt. Mit ihren 187 Gewerkschaften unterliegt die TUC einer dauernden Zerreißprobe. Während nämlich die deutschen Einzelgewerkschaften sämtlich den gleichen Typus der Industriegewerkschaft verkörpern — eine Tatsache, die ihre Aktionsbereiche klar und scharf abgrenzt, führt die strukturelle Vielfalt der britischen Gewerkschaften zu permanenten Reibungen und Rivalitäten: wie jüngst im Eisenbahnerstreik (Juni 1955), in dem nicht der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber, sondern die Fachgewerkschaft (der Lokomotivführer) der Industriegewerkschaft (der Eisenbahner) gegenüberstand. Zu diesen beiden Typen gesellt sich noch die Allgemeine Gewerkschaft, die sich — wie die Transportarbeiterunion — über mehrere Branchen erstreckt. Konkurrenzverschärfend wirkt weiterhin die sehr unterschiedliche Größenordnung, die alle Zwischenstufen von 50 Mitgliedern bis zu 1, 3 Millionen umspannt; die eine Gewerkschaft läßt die Beiträge bei der Lohnabrechnung einziehen, die zweite kassiert sie selber, während eine dritte ihren Mitgliedern zumutet, die Beiträge jeweils persönlich im Gewerkschaftsbüro einzuzahlen. Alle aber wachen eifersüchtig über ihre Selbständigkeit. So ist denn die TLIC ohne eigene Hausmacht; ihre Funktion ist die eines Koordinationszentrums der Einzelgewerkschaften und eines politischen Transformators (zur Labourparty).

Die britischen Gewerkschaften konnten ihrem zentrifugalen Individualismus nur die Zügel locker lassen, weil die englischen Arbeiter für den Klassenkampf nicht zu haben sind und von ihnen nichts als die Wahrnehmung ihrer materiellen Interessen erwarten. Wenn Labour, die TLIC oder die Genossenschaftler tagen, dann singen sie nicht die Internationale, dann singen sie das im Ton eines Kirchenchorals gehaltene Lied „Wir sind ausgezogen, ein neues Jerusalem zu bauen auf den grünen Inseln Englands“. Oder, wenn sie schon mehr auf Touren gekommen sind, ein Lied von der roten Fahne, dem die Melodie von „O Tannenbaum“ unterlegt ist. Wie aber könnte man mit einer derartigen Melodie eine Revolution entzünden!

So energisch (und erfolgreicher als die kontinentalen Schwesterparteien) die britische Arbeiterbewegung die Interessen ihrer Angehörigen verficht — sie ist nicht anti-monarchisch, nicht anti-aristokratisch, nicht anti-bürgerlich, nicht anti-demokratisch und nicht atheistisch; sie ist auf einem humanistischen und religiösen, nicht auf einem klassenkämpferischen Grund errichtet, und für ihren Motor verwendet sie den Brennstoff der Evolution, nicht der Revolution. Daher hat sie nie die Brücke zum Mittelstand abgerissen; und daher konnte sie dem Mittelstand und über diesen auch die Konservative Partei für den Wohlfahrtsstaat gewinnen, gegen den heute in England keine Politik mehr zu machen ist.

Was ist der Wohlfahrtsstaat?

Was nun ist der Wohlfahrtsstaat? Nicht nur unser außenpolitisches, unser innenpolitisches Interesse empfiehlt uns, den britischen Wohlfahrtsstaat unter die Lupe zu nehmen. Sozialpolitisch gesehen, befindet sich der deutsche Standort heute zwischen den USA und Großbritannien (dessen Spuren die skandinavischen Ländern und neuerdings auch Holland und Österreich gefolgt sind). Werden wir jenen oder diesen Weg gehen? Die soziologischen Voraussetzungen, zumal nach einer Wiedervereinigung mit Mitteldeutschland, sprechen eher für die zweite Lösung. Oder werden wir eine dritte finden? Bis zu diesem Tage hat sich noch keine dritte Möglichkeit angekündigt.

Was aber ist der Wohlfahrtsstaat? Dies Wort ist im Englischen nicht ganz so anrüchig (im Sinne der Fürsorge und Armeleutehilfe) wie im Deutschen. Dennoch mißfällt es auch den Briten, und so hat Beveridge seine Ersetzung durch den treffenderen Ausdruck „Wohlfahrtsgesellschaft vorgeschlagen. Ihre Aufgabe ist umschrieben mit der “, „Freiheit von Not die Roosevelt und Churchill neben anderen Freiheiten als Ziel des letzten Krieges proklamiert hatten. Sie spannt ein Auffangnetz für alle, die unverschuldet auf dem Drahtseil des Lebens ausgleiten — durch Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder Alter.

Sicherungen gegen die Not erstreben auch unsere konservativen Systeme. Vor dem „Wie“ der Verwirklichung aber trennen sich die Wege. Dem Wohlfahrtsstaat, der jene Sorgen von den Schultern des Einzelnen nimmt und sie der Gesamtheit aufbürdet, werfen die Liberalen und Konservativen des Kontinents und Amerikas (nicht Englands und Skandinaviens) vor, er untergrabe die Selbständigkeit und das Wagnis, die Freiheit und Eigenverantwortung der Person; statt ihrer züchte er ein parasites Staatsrentnertum, das um so tiefer in die Ohnmacht vor der Obrigkeit versinke, je fester es sich in der Abhängigkeit vom Staate verstricke. So beschleunige der Wohlfahrtsstaat noch den Prozeß der Vermassung, den die Technisierung in Gang gesetzt hat. Da er auch die produktive Einzelinitiative lähme, müsse er zudem an seinen hohen Soziallasten wirtschaftlich scheitern. Diese Kritiker ziehen ihm daher das Prinzip der individuellen Sozialversicherung vor, jener deutschen Erfindung aus der Zeit Bismarcks, die damals eine soziale Pionierleistung ersten Ranges war. In diesem System richten sich die Rentenbezüge jeweils nach den letztgeleisteten individuellen Versicherungsbeiträgen, die sich ihrerseits nach dem Einkommen staffeln: wer mehr zahlt, bekommt mehr. Von der Versicherungspflicht ausgenommen sind die Selbständigen und die Bezieher hoher Einkommen von einer bestimmten Stufe an. Der in eigener Regie arbeitende Versicherungsdienst soll sich aus den Beiträgen speisen; nur in den krassen Notfällen, die von der Sozialversicherung nicht aufgefangen werden, springt der Staat fürsorgerisch ein.

Die Anwälte des Wohlfahrtsstaates halten nun die Sozialversicherung durch die soziologische Entwicklung für überholt. Ihre Praxis (in Deutschland und anderswo) veranschauliche nur allzu schmerzhaft, daß sie der industrialisierten Massengesellschaft nicht mehr gerecht werde. Stärker als früher sei heute der Einzelne an das Schicksal der Gesamtheit gebunden, gegen dessen Wechselfälle die individuelle Vorsorge keinen ausreichenden Schutz mehr biete. Auch widerspreche ein System der sozialen Gerechtigkeit, das die Reichen der Mitsorge für die Armen enthebe. Den Leuten, die sich zehnerlei Versicherungen gegen sämtlich denkbare Zu-, Um-und Unfälle leisten könnten, stünde es nicht zu, gegen die Sekurität, gegen das Sicherheitsbedürfnis der modernen Gesellschaft, moralisch Sturm zu laufen. Zudem mache sich die Sozialversicherung einer Llnwahrheit schuldig, wenn sie sich zum Sprecher der Persönlichkeit aufwerfe: weil sie nicht auf Freiwilligkeit, sondern auf Zwang beruht; weil schließlich ihr Verwaltungsapparat in nichts dem kollektivistischen Charakter des Staates nachstehe. Die eigens für die Sozialversicherung geschaffene Bürokratie zehre ferner die eingezahlten Beiträge zu einem nicht geringen Teil selber auf und entfremde sie damit ihrem Zweck. Dieser parasitäre Verwaltungsaufwand falle im Wohlfahrtsstaat weg, da er aus einem anstatt aus zwei Töpfen wirtschafte. Nicht Sekurität noch Kollektivismus würden also die staatliche Versorgung von der alten Sozialversicherung unterscheiden, sondern sein Mehr an Wirksamkeit, Gerechtigkeit und — Ehrlichkeit!

Der englische Wohlfahrtsdienst In der Polemik Sozialversicherung — contra Wohlfahrtsstaat sind Unmengen Tinte vergossen worden — Tinte grauer Theorie. Der nüchterne Realismus der Briten hat indessen das Experiment in der Praxis gewagt — die einzige Methode, die zu einer eindeutigen und endgültigen Aussage über Wert oder Unwert des Wohlfahrtsstaates führen kann. Wie immer wir weltanschaulich oder parteipolitisch fixiert sind, wir alle tun gut daran, das stellvertretende Experiment der'Briten — die doch gemeinhin konservativer und individualistischer sind als die Deutschen — als interessierte Zuschauer mit unvoreingenommener Kritik zu prüfen: nostra res agitur — auch unsere Sache steht dort zur Debatte!

Wie nun unterscheidet sich der englische Wohlfahrtsdienst von unserer Sozialversicherung?

1. Die Rentenleistungen werden zu über 90°/0 aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert. Dennoch hat man aus psychologischen Gründen den individuellen Versicherungsbeitrag nicht völlig über Bord geworfen, um dem Einzelnen das Bewußtsein der eignen Versorgungsleistung zu lassen: mit 4, — DM pro Woche für den in Arbeit Stehenden ist er jedoch sehr niedrig angesetzt — Frauen, sowie Beschäftigte unter 18 Jahre zahlen noch weniger. Ferner hat der Arbeitgeber für jeden Beschäftigten einen Beitrag von 3. 60 DM aufzubringen. Die Beitragshöhe des Selbständigen liegt etwas unterhalb der Summe jener beiden Beiträge. Der niedrige, mehr symbolische Beitrag wird von allen, unabhängig vom Einkommen, in der gleichen Höhe erhoben; auch haben ihn nur die Beschäftigten zu entrichten, und zwar allein für die eigene Person, nicht für die Familienangehörigen. Der Bevanflügel der Labourparty (der in der Minderheit ist) möchte diesen Versicherungsbeitrag völlig streichen.

Die Einführung des kostspieligen Wohlfahrtsdienstes hat die Bevölkerung nicht direkt zu spüren bekommen, da sie unmittelbar im Anschluß an das Ende des Krieges erfolgte; die hohen Kriegssteuern wurden zu , seiner Finanzierung einfach beibehalten. Das war, vom Zeitpunkt her, ein klug genutzter Glücksfall.

2. Das Gleichheitsprinzip ist auch auf der Leistungsseite radikal durchgeführt: der Millionär (sofern er sich nicht zusätzlich privatversichert hat) erhält nicht mehr als der Hilfsarbeiter. Auch hat der Rentensatz für sämtliche Fälle — für Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Alter — die gleiche Höhe; derzeit beträgt er für den Ledigen und für den Verheirateten 24. — DM pro Woche, sowie 18 — DM für die Ehefrau und 10. — DM für jedes Kind. Die vierköpfige Familie eines Arbeitsunfähigen kann demnach mit einer Monatsunterstützung von etwa 250. — DM rechnen. Rentenjägern liefert dieses System keine Beute, denn es gestattet keinen mehrfachen Rentenbezug (mit Ausnahme der Kriegsinvalidenrente, die zusätzlich ausgezahlt wird); der Betroffene erhält also immer nur eine Rente, auch wenn er gleichzeitig von mehreren Übeln (etwa von Arbeitslosigkeit und Krankheit) heimgesucht ist — im Gegensatz zur Sozialversicherung, die den mehrfachen Rentenbezug zuläßt und einem findigen Kopf auf Kosten der Gesamtheit Gelegenheit zu recht einträglichen Geschäften gibt.

Außerdem leistet der Wohlfahrtsdienst eine wöchentliche Familien-beihilfe in Hohe von 4. 80 DM je Kind vom zweiten Kind an (und zwar für den Beschäftigten und den Unbeschäftigten), sowie Mutterhilfe (vor und nach der Geburt) und Sterbeunterstützung. Ferner besteht völlige Schulgeldfreiheit; die Versetzung auf höhere Schulen ist freilich von Prüfungen abhängig. Die Kinder, die vom 5. Lebensjahr an sich von morgens bis nachmittags vier Uhr in der Schule aufhalten, bekommen dort eine Mahlzeit vorgesetzt — für 0. 45 DM, die den minderbemittelten Eltern erlassen werden. Ein weitverzweigtes staatliches und privates Stipendienwesen ebnet schließlich jeder wirklichen Begabung den Weg zur Hochschule.

3. Dem Rentenbezug ist weder eine Wartezeit vorgeschaltet noch ist er zeitlich befristet. Auch ist ihm keine Bedürftigkeitsprüfung vorausgesetzt! Damit ist einem tiefen Verlangen des britischen Selbstbewußtseins Genüge getan, das die Bedürftigkeitsprüfung als Entwürdigung verabscheut. Und wie auf die Steuerehrlichkeit, so kann sich der britische Staat auch auf die Rentenehrlichkeit seiner Bürger verlassen. 4. Kein weitgespanntes Netz aber, das nicht irgendwo ein Loch hätte! Für jene krassen Notfälle, welche das Wohlfahrtssystem nicht aufzufangen vermag, leistet daher die public assistance noch eine zusätzliche Fürsorge, die nun freilich nur nach einer Bedürftigkeitsprüfung gewährt wird. Dieses „Staubsaugergesetz“ kommt vor allem den Altersrentnern zugute. Es wird mehr als vorausgesehen strapaziert, da die Preisentwicklung den Unterstützungssätzen davongelaufen ist. Diese Fürsorge beschränkt sich auf einmalige Zuwendungen für Katastrophenverluste, Umzüge und dergleichen; doch wird die Fürsorge weder von der Rente abgezogen werden noch ist sie rückzahlbar.

Das revolutionäre Kernstück: Der nationale Gesundheitsdienst Das revolutionäre -Kernstück des Wohlfahrtsstaates ist der nationale Gesundheitsdienst. Jeder Brite (aber auch der in England weilende Ausländer) genießt im Krankheitsfall kostenlose Behandlung. Die Kostenlosigkeit erstreckt sich auch auf Medikamente (bis auf einen geringen prohibitiven Rezeptbeitrag), auf Krankenhaus-und Sanatoriumsaufenthalt, aber auch auf vom Arzt verschriebene Prothesen, Korsetts, Brillen, künstliche Gebisse, Perücken, Fahrzeuge für Gehbehinderte und dergleichen. Zunächst muß sich jeder Brite nach freier Wahl bei einem praktischen Arzt (im Umkreis von 30 Meilen) registrieren lassen, der im Krankheitsfall für die Erstbehandlung zuständig ist; damit geht er keine unlösbare Ehe ein, denn er kann seinen Stammarzt wechseln. Es empfiehlt sich nicht für ihn, dies oft zu tun, da der Arzt das Recht hat, einem Patientenaspiranten (dem etwa der Ruf eines Querulanten oder eines Hysterikers vorausgeht) die Aufnahme in seine Kartei zu verweigern; etwa mit dem Hinweis, daß seine Quote — deren obere Grenze bei 3 000 potentiellen Patienten liegt — bereits ausgefüllt sei. Für jeden bei ihm eingetragenen „Kunden“ zahlt de, Staat dem Arzt im Jahr 9. — DM, so daß er es auf ein Jahresbruttoeinkommen von 27 000. — DM bringen kann. Oder auch auf mehr, denn es steht im frei, darüber hinaus beliebig viele Privatpatienten anzunehmen; wie umgekehrt jeder die Dienste eines Arztes oder eines Krankenhauses in privater Verrechnung beanspruchen kann.

Dieser Modus macht jedoch den Arzt nicht zum Staatsbeamten. Im Interesse einer gleichmäßigen Verteilung der Arztstellen über das ganze Land ist seine Niederlassung genehmigungspflichtig. Die Entlohnung über die Kopfquote läßt ihn mehr an seinen gesunden denn an seinen kranken Klienten interessiert sein. Der tägliche Besucher seiner Praxis bringt ihm ja nicht mehr ein als jener, der das ganze Jahr über ohne seine Dienste auskommt; die langwierige Behandlung (zu der ihn die private Verrechnung oft genug verführt) lohnt sich also für ihn nicht, sie erhöht trotz vermehrter Arbeit nicht sein Einkommen. Nunmehr ist er aber versucht, kompliziertere Fälle möglichst rasch an den Spezialisten (mit dem die Gesundheitsbehörde ein Sonderabkommen getroffen hat) oder in die Klinik abzuschieben. Infolgedessen sind die Krankenhäuser meist überfüllt, und dieser Zustand ist die Hauptquelle des britischen Ärgers an diesem System. Denn ob der Patient dort mit zwanzig anderen in einen Saal oder in ein Einzelzimmer eingewiesen wird, darüber befindet allein das medizinische Llrteil des leitenden Arztes.

Anfangs wurde dieser großzügige Dienst reichlich mißbraucht. Zahllose Leute meinten plötzlich ohne Perücke, ohne Brille oder künstliches Gebiß nicht mehr auszukommen. Inzwischen sind diese Kinderkrankheiten überstanden, dank einiger Korrekturen. So bedarf jetzt die Verschreibung besonders kostspieliger Medikamente, Prothesen und Gehör-apparate der Zustimmung der grafschaftlichen (= Landkreis) Gesundheitsbehörde. Für die Zahnärzte wurde eine Sonderregelung eingeführt: Rechnungen bis zu 12. — DM (1 £) sind vom Patienten zu tragen, die er auch zu entrichten hat, wenn die Behandlungskosten diesen Betrag übersteigen — für die Differenz kommt der Gesundheitsdienst auf. Auch kann sich der Patient jeweils nur mit halbjährigem Abstand in zahnärztliche Behandlung begeben, sofern er die Kosten auf den Staat abwälzen will (und sofern er nicht das Opfer einer falschen Behandlung geworden ist).

Im Ganzen funktioniert das Wohlfahrtssystem zur Zufriedenheit nicht nur der Arbeiter und Angestellten, sondern auch des selbständigen Mittelstandes und der freien Berufe. Selbst die Ärzte, die sich seiner Einführung zunächst heftig widersetzt hatten, fahren nicht schlecht mit ihm. Das ganze System ist der britischen Nation wie eine Schutzhaut zugewachsen — es hat sich bewährt, es ist selbstverständlich geworden.

Die Nationalisierung der Schlüsselindustrien Aber das Wohlfahrtssystem ist (nach Meinung seiner Anwälte) nicht allein wirksamer, gerechter und aufrichtiger — es ist auch teurer. Es erfordert daher zu seiner Finanzierung eine steil progressive Besteuerung. Doch behandelt uns unser Fiskus kaum gnädiger, zumal wenn wir — wie es der gerechte Vergleich verlangt — unsrer Steuerlast noch unsere schwergewichtigen Versicherungsprämien zurechnen. Ferner funktioniert der Wohlfahrtsstaat nur, wenn seine Leistungen nicht durch inflationäre. Preisentwicklungen entwertet und seine Ausgaben durch dauernde Vollbeschäftigung auf den denkbar niedrigsten Stand gehalten werden. Beide Voraussetzungen sind im Rahmen des laisser aller, der voll liberalisierten Wirtschaft nicht ständig zu realisieren; sie verlangen ein Mindestmaß an wirtschaftspolitischer Lenkung. Doch schießt die liberale Kritik in der Beurteilung vielfach übers Ziel hinaus; denn der zoll-, steuer-und kreditpolitische Dirigismus Englands geht heute (nach dem Abbau des Rationierungssystems) kaum über das auch bei uns Übliche hinaus. In zwei Richtungen jedoch griff er weiter. Einmal in der hohen Subventionierung der Landwirtschaft, die — im vorigen Jahrhundert total stillgelegt — völlig von vom aufgebaut werden mußte, unter dem Druck der Blockadeerfahrungerf in den beiden Weltkriegen und der Verluste der kolonialen Agrargebiete. Sodann durch die Nationalisierung der Schlüsselindustrien.

Heute stehen rund 30 °/o der britischen Industrie unter der Kontrolle der öffentlichen Hand, die zunächst nach acht Wirtschaftszweigen griff. 1946 nach der Luftfahrt und der Bank von England (bis dahin Dachorgan von fünf Privatbanken); 1947 nach der Kohle und dem Auslandstelegraphenverkehr (vordem im Monopol der Cable & Wireless Gesellschaft). 1948 kam die Eelektrizitätswirtschaft, die vorwiegend im Besitz der Gemeinden war, an die Reihe, ferner das Transportwesen (die fünf privaten Eisenbahngesellschaften, der gesamte Überlandverkehr auf der Straße und der — geringfügige — Binnenlandverkehr). 1949 folgten die Gaswerke (gleichfalls im Kommunalbesitz) und 1 950Eisen und Stahl. Mit dem Maßstab anderer westeuropäischer Länder verglichen war diese Nationalisierungswelle nicht sonderlich revolutionär. Luftfahrt, Zentralbank, Telegraphen-verkehr, Eisenbahnen, Elektrizität und Gas befinden sich in zahlreichen „liberalen“ Volkswirtschaften schon längst in der öffentlichen Hand; mit ihrer Nationalisierung holte England also eine andernorts schon weiter fortgeschrittene Entwicklung nur wieder ein. Lind was den völlig darniederliegenden, durch seine Besitzzersplitterung in der Ausrüstung hoffnungslos veralteten und investitionsunfähigen Kohlenbergbau betraf, so wurde die wirtschaftliche Notwendigkeit seiner Entprivatisierung von keiner Seite angezweifelt — nicht einmal von den alten Eigentümern; auch sie hat in Frankreich eine „liberale“ Parallele. Um so umstrittener war sie im Fall der florierenden Eisen-und Stahlindustrie, die unter privater Führung den nationalwirtschaftlichen Bedürfnissen vollauf genügt hatte.

Der Nationalisierungsappetit der Labour Party Der Nationalisierungsappetit der Labour Party wuchs noch mit dem Essen. In ihrem Wahlmanifest von 1951 nahm sie die Wasserversorgung, die Bodenschätze (als reine Eventualmaßnahme), Zucker und Zement (beide private Monopole) sowie das Versicherungswesen aufs Korn; int Programm 195 5 auch noch die Schwerchemie und Teile der Maschinen-industrie. Damit aber hatte die Arbeiterpartei den Bogen überspannt. Die Öffentlichkeit, die der „gemischten Wirtschaft“ zugestimmt hatte, begann nun der Expansion der Sozialisierungspolitik zu mißtrauen, zumal die sozialen Leistungen der nationalisierten Industrien den Erwartungen manches schuldig geblieben waren. Dieser Stimmungsumschwung verhalf der Konservativen Partei 1951 zur Rückkehr in die Macht, die sie durch den Wahlgang von 195 5 noch festigen konnte. Sie ließ denn auch das wirtschaftliche Pendel ein gutes Stück zurückschwingen: sie machte die eben erst angelaufene Nationalisierung von Eisen und Stahl rückgängig und gab dem privaten Unternehmertum wieder Lufttaxiflüge für Personen im Inland und Frachtflüge ins Ausland frei. Weniger Glück hatten die Konservativen mit der Reprivatisierung des Straßen-fernverkehrs, da die Transportunternehmer nur etwa zur Hälfte auf sie eingingen — auf der anderen unrentableren Hälfte blieb der Staat sitzen; daher kann der einträgliche Straßentransport nun nicht mehr (wie es sich die Wirtschaftspolitiker Labours ausgerechnet hatten) zu einem Lastenausgleich für das dauernd defizitäre Eisenbahnwesen herangezogen werden. Diese Maßnahme hat die Arbeiterpartei besonders verdrossen; im Falle eines künftigen Wahlsieges will sie denn auch die reprivatisierten Produktionszweige renationalisieren.

Im übrigen ließen die Konservativen die Nationalisierung unangetastet. Für die Rückführung von Elektrizität und Gas in den Gemeindebesitz bestand weder ein wirtschaftspolitisches noch ein ideologisches Argument. Was Kohle und Eisenbahnen anlangte, so war niemand an ihrer Reprivatisierung interessiert. Die Nationalisierung war unter sehr fairen Bedingungen abgewickelt worden: der Staat hatte die alten Aktien zu einem günstigen Börsenkurs gegen festverzinzliche Schuldverschreibungen umgetauscht; die alten Aktionäre, die jahrzehntelang keine Dividenden zu Gesicht bekommen hatten, vereinnahmen nun jährlich 31/2 bis 4 % Zinsen — dank der großzügigen Entschädigung haben sie von der Nationalisierung nur Vorteile gehabt.

Weder „Sozialisierung“ noch „Verstaatlichung“

Die Engländer sprechen von Nationalisierung und weder von „Sozialisierung“ noch von „Verstaatlichung“. Diese Unterscheidung bereitet dem kontinentalen Rechtsbewußtsein einige Kopfschmerzen; denn auf die Frage nach dem Eigentümer der nationalisierten Betriebe bekommt man keine präzise Antwort — welcher Mangel dem Briten, der die Wirklichkeit nicht gern auf das Prokrustesbett der Logik spannt, nicht einmal auffällt. Am ehesten noch läßt sich ihr juristischer Status dem der deutschen Rundfunkanstalten vergleichen, den Körperschaften des öffentlichen Rechtes; doch hinkt auch dieser Vergleich auf mehr als einem Fuß. Jedenfalls ist das nationalisierte Werk nicht unmittelbares Staats-oder Volks-eigentum. Labour und Gewerkschaften lehnten die Verstaatlichung mit einmütiger Entschiedenheit ab: aus Mißtrauen gegen den Staat, aus Mißtrauen gegen die Häufung von Macht in einer (und sei's der öffentlichen) Hand. Vor allem aber scheuen sie den Staat als Arbeitgeber. Im Interesse ihrer Bewegungsfreiheit wünschen sie unter allen Umständen das wohltätige Dreiecks-Verhältnis Arbeitgeber—Arbeitnehmer—Staat (als letzten Vermittler) rein zu erhalten — in England ist allein die Post „verstaatlicht“. Dieses Prinzip ist in der Nationalisierung gewahrt, deren Struktur wir am Beispiel der Kohle (das exemplarisch ist auch für die anderen nationalisierten Wirtschaftszweige) skizzieren.

Das Beispiel der Kohle Eigentumsvollmachten und Geschäftsführung liegen beim „Nationalen Kohlenrat“, einem Gremium von neun Direktoren, deren jeder für ein bestimmtes Fachgebiet erantwortlich ist (Finanzen, Technik, Verwaltung, Arbeit usw.) und die vom zuständigen Fachminister berufen werden; ihm auch schulden sie Kechenschaft, wenngleich sie in der Geschäftsführung von ihm unabhängig sind. Der Minister hat die Jahresbilanz dem Parlament zur Bewilligung vorzulegen, das gemäß dem englischen Aktienrecht (das keinen Aufsichtsrat kennt) als Generalversammlung fungiert. Aber nur einmal im Jahr beschäftigt sich das Parlament mit den nationalisierten Industrien; um sie nicht zu politisieren und nicht zu bürokratisieren, hat es seinen Interventionsanspruch auf die Bilanzkontrolle beschränkt und in einem gentleman’s agreement der Parteien seinem Recht entsagt, ihre Probleme in der täglichen Fragestunde des Unterhauses zur Sprache zu bringen.

So genießt denn der Exekutivrat de facto volle Autonomie. Einen Teil seiner Rechte delegiert er in die gleichstrukturierten Regionalräte und schließlich in die Betriebsleitungen der Einzelwerke. Da sich die anfängliche Zentralisierung nicht bewährt hat, tendiert man zunehmend zu einer größeren Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse nach unten. Auf jeder der drei Stufen stehen den Exekutivbehörden je ein Arbeiter-und ein Konsumentenausschuß zur Seite, die aber nur beratende Funktionen ausüben. Die Arbeiter verfügen also nicht über ein Mitbestimmungsrecht. Angestellte und Arbeiter sind nicht Beamte, sondern unterstehen dem privaten Arbeitsrecht. Auch genießt die nationalisierte Industrie keinerlei Privilegien, sie ist gehalten, in ihrer Geschäftsführung den Regeln und Rechten der privaten Wirtschaft zu folgen und sich das Gesetz der Rentabilität zur Richtschnur zu nehmen: und genau wie die private muß die nationalisierte Industrie zur Beschaffung ihrer Investitionsmittel auf den freien Kapitalmark gehen oder Bankkredite aufnehmen. Was sie jedoch von jener unterscheidet: sie darf weder Dividenden noch Gewinne ausschütten, sie muß die anfallenden Profite vielmehr zur Rückzahlung der Anleihen und der Schuldverschreibungen an die früheren Eigentümer, zu Investierungen oder -zur Lohnerhöhung verwenden.

Die nationalisierten Industrien haben die in sie gesetzten wirtschaftlichen Erwartungen im großen und ganzen erfüllt. Dies kann zumindest von der Zentralbank und der Luftfahrt, von Kohle, Eisenbahn, Elektrizität und Gas gesagt werden, auch wenn die finanziellen Erträge der vier letztgenannten Wirtschaftszweige manches zu wünschen übrig lassen. Der schwerkranke britische Kohlenbergbau und das verlustreiche Eisenbahnwesen wären — wie es die vorangehenden Jahrzehnte bewiesen hatten — auf privatem Wege nicht zu sanieren gewesen; die Nationalisierung hat durch konsequente Rationalisierung und durch die weitgehende Erneuerung ihrer Ausrüstung ihre Kapazitäten erheblich ausgeweitet, wenngleich sie dem schnellen Produktionszuwachs der Industrie noch nicht voll nachkommen; ihre Leistungsexpansion hat den Steuerzahler nicht zusätzlich belastet, der Preisanstieg ihrer Produkte und Leistungen ist sogar hinter dem der sonstigen industriellen Rohstoffe und Fertiggüter sowie hinter den Lohnerhöhungen weiter zurückgeblieben. Das gilt auch von der Elektrizität, die es vor der Nationalisierung mit 540 Systemen, mit einer höchst ungleichen Entwicklung in den einzelnen Landesteilen und einer ungesund weiten Tarifdifferenzierung zu tun hatte — gleichfalls Probleme, welche die freie Wirtschaft nicht zu lösen )

vermocht hatte.

Der erhoffte Sozialeffekt ist ausgeblieben Hingegen ist der von der Nationalisierung erhoffte Sozialeffekt ausgeblieben — selbst bei den Kohlenkumpels, die durch sie vom 30. auf den 2. Platz der Lohnskala vorgerückt sind. Die vagen Vorstellungen von einer Veränderung des Sozialklimas, die sie an die Entprivatisierung geknüpft hatten, haben sich nicht erfüllt, weshalb sie denn auch nicht für einen erhöhten persönlichen Arbeitseinsatz in „ihrem“ Betrieb zu haben sind. Der Arbeitsfriede ist vielmehr noch labiler geworden, und die Unlust entlädt sich in zahlreichen „wilden“ Streiks. Die Arbeiter sind geneigt, die Schuld für ihre Enttäuschung den leitenden Managern der nationalisierten Industrien in die Schuhe zu schieben. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Notgedrungen hatte die Labourregierung, in Sorge um das wirtschaftliche Gelingen ihres Experimentes, nicht Parteibuch-beamte an die Spitze der nationalisierten Industrien berufen, sondern die bestqualifizierten Fachleute von dort genommen, wo sie allein zu haben waren: aus der freien Wirtschaft. Wenn es auch diese Männer gewiß nicht an Fairneß und gutem Willen fehlen lassen, wenn sie, geborene Technokraten, stolz sind auf ihre Betriebe, deren Gedeihen sie sich mit Haut und Haar verschreiben, so liegt doch das ideologische und soziologische Anliegen der Nationalisierung ihrem Interesse ebenso fern wie ihrem Verständnis. So nimmt sie sich in den Augen der Arbeiter mehr als Wechsel der Fassade denn des Regimes aus — meist waren ja die alten Herren geblieben. „Es ist zwar besser geworden", sagen sie, „aber wir haben uns mehr davon versprochen.“ Lingeduld und Enttäuschung haben sie abgestumpft, und so hat die Masse der Arbeiter das Interesse an der Ausdehnung der Nationalisierung auf andere Produktionszweige verloren, während eine kleine radikale Minderheit in der Flucht nach vorn die Nationalisierung in die Sozialisierung überführen will. Dieser Zwiespalt verlängert sich in die Labourparty hinein.

Das Problem der Überbeschäftigung Das ist nicht die einzige Wunde am britischen Wirtschaftskörper. Er leidet unter der relativ geringen Leistung des britischen Arbeiters: die des englischen Maurers liegt etwa bei der Hälfte seines deutschen Kollegen, und fast ebenso weit ist der Abstand bei den Werftarbeitern. Sie ist in erster Linie von der britischen Überbeschäftigung verursacht.

Saisonale Bedingungen, der Übergang der Schulentlassenen zum Berufsleben und andere Faktoren schließen die totale Beseitigung der Arbeitslosigkeit aus. Nach Beveridge ist von „Vollbeschäftigung“ zu sprechen, sobald die Arbeitslosigkeit auf 3 °/o herabgedrückt ist; Labour fixiert ihr Kriterium neuerdings bei 2°/o, die britischen Konservativen bei 5 °/o. Die Bundesrepublik erreichte diese Grenze im Juli dieses Jahres mit einer 3, 2 %igen Arbeitslosigkeit. Zu gleicher Zeit aber war sie in Großbritannien auf 0, 9 °/o gefallen. Dabei liegt der britische Beschäftigungsgrad auch noch höher, da die Engländerinnen zu 49 °/o, die deutschen Frauen aber nur zu 3 3 % im Berufsleben stehen. Keineswegs aus finanziellen Gründen! Sondern in der Flucht vor der Einsamkeit. Dieser Einsamkeit, die mit der Vorliebe des Briten für das abgeschlossene Eigenheim und seiner Abscheu vor den großen Miethäusern zusammenhängt, mit seiner individualistischen Neigung, die ihn heißt, sich die Nachbarschaft möglichst weit vom Leibe zu halten. Auch ist der britische Haushalt — sogar des Arbeiters — intensiver mechanisiert als bei uns, so daß die Hausarbeit (der man sich weniger fanatisch hingibt als in Deutschland) bald getan ist, zumal auch der Mann die Tugenden eines hausfraulichen Kavaliertums zu entfalten pflegt. Dazu gehen die Kinder in England schon vom fünften Lebensjahr an zur Schule und halten sich in ihr den ganzen Tag über bis vier Uhr nachmittags auf. So ist die verheiratete Engländerin von viel leerer Zeit bedrängt; um dem Alleinsein, der Inhaltlosigkeit zu entgehen, greift sie, auch wo sie es finanziell gar nicht nötig hat, zu einer Stellung im Büro oder in der Fabrik.

Dem starken Zug zu den Arbeitsplätzen steht nun aber das nicht zu Unrecht sprichwörtliche britische Phlegma gegenüber, das der vollen Verausgabung der Kräfte bei der Arbeit abgeneigt ist. Auch ist im britischen Gedächtnis die massive Arbeitslosigkeit der zwanziger und dreißiger Jahre haften geblieben; sie injiziert dem Arbeiter ein zähes Mißtrauen gegen die Dauerhaftigkeit der Vollbeschäftigung, und verführt ihn zur vorsorglichen Dehnung der Arbeit. Nicht zufällig grassiert diese Praxis gerade bei den Maurern und Werftarbeitern, die unter der Arbeitslosigkeit jener. Jahrzehnte am heftigsten gelitten hatten; vergebens versuchen die Gewerkschaften, sie mit dem Appell an die Solidarität (der Wohnungsbau ist dem Bedarf der Arbeiter noch längst nicht nachgekommen) und an das nationale Interesse (das den Ausbau der Handelsflotte verlangt) zu einer schnelleren Gangart anzueifern. Die Arbeiter können sich den Luxus der Gemächlichkeit leisten, da das Überangebot an freien Stellen (500 000 im August 1955) die Sorge um den Arbeitsplatz erübrigt.

Schleichende Inflation im Innern Der Segen der Vollbeschäftigung entbehrt also nicht der Schattenseiten. Infolge des langsamen Arbeitstempos bleibt die Produktion hinter der schnell ansteigenden Kaufkraft zurück. Die Überbeschäftigung schwächt die Position der Arbeitgeber in den Lohnkämpfen, ja auf der Jagd nach der raren Arbeitskraft überbieten sie einander mit immer höheren Lohnofferten. Daraus resultieren überhöhte Lohnkosten, die nicht nur die britische Exportsituation belasten. Dazu beengt noch der Mangel an Arbeitsreserven die Beweglichkeit und Elastizität der Wirtschaft; in einzelnen Branchen plötzlich einsetzende Konjunkturen können daher nicht voll ausgeschöpft werden, während die Lieferzile — im Gegensatz zu der kurzfristiger arbeitenden deutschen Exportkonkurrenz — über Gebühr gestreckt werden müssen. Andererseits übt die dem heimischen Angebot davonlaufende Kaufkraft einen immer stärkeren Sog auf die Einfuhren aus. Die Folgen dieser Tendenzen sind eine schleichende Inflation im Innern und nach außen ein sich verbreiterndes Loch in der Zahlungsbilanz mit dem Ausland.

Neoliberale Kritiker wie Röpke und Hayek pflegen diese Schwächen auf die Konten Nationalisierung und Wohlfahrtsstaat zu buchen. Doch diese ideologische Deutung vergewaltigt die Wirklichkeit. Sie berücksichtigt nicht die Psychologie des britischen Arbeiters (wie sie sich unabhängig vom Wirtschaftssystem auswirkt) und geht vor allem an der eigentlichen Ursache dieser Erscheinungen vorbei — an der Vollbeschäftigung. Die Vollbeschäftigung aber ist nicht mehr ein Monopol des Wohlfahrtsstaates — sie macht heute der liberalen Marktwirtschaft kaum weniger zu Schafen. Dem Postulat der Vollbeschäftigung muß sich heute jedoch jede Volkswirtschaft unterwerfen, auch die liberale, wenn anders sie nicht die „soziale“ Marktwirtschaft preisgeben will. Schließlich dürfen Vollbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat einigen Vorschuß beanspruchen:

ihre Erfahrungen begrenzen sich auf den schmalen Raum von zehn Jahren — die liberale Wirtschaft aber bedurfte mehr als eines Jahrhunderts, um die fatalen Konjunkturzyklen auch nur leidlich unter ihre Kontrolle zu bringen.

Wechsel in den Arbeitsplätzen Die britische Wirtschaft sucht noch eine andere Plage heim: ein ungemein starker Wechsel in den Arbeitsplätzen (für den gleichfalls mehr die Vollbeschäftigung als das Welfare-System verantwortlich ist). Aus dem nichtigsten Anlaß tauscht man die Stellung, der geringfügigste Grund kann einen „wilden“ Streik entfesseln (wie bei den Arbeitern der Tower-Brücke — sie streikten erfolgreich gegen die Zuweisung eines neuen Vorarbeiters, der das Pech hatte, ein ausgedienter Feldwebel zu sein). Seltener geht es dabei um Lohnprobleme, immer häufiger treten Prestigefragen in den Vordergrund der Konflikte. Überhaupt versagt der höhere Lohn im Dienst des Anreiz-und Ausgleichsfaktors. Da das allgemeine Lohnniveau ohnehin hoch liegt, leistet man es sich, den schlechter entlohnten Arbeitsplatz dem besser bezahlten vorzuziehen, weil jener etwa der Wohnung näher liegt, weil man dort nette Kollegen hat oder der Vorarbeiter besonders sympathisch ist. Diese Fragen machen den Gewerkschaften kaum weniger Kummer als den Unternehmern. Sie sind jedoch nicht — das muß wiederholt werden — von Wohlfahrtsstaat und Nationalisierung aufgeworfen, sie sind vielmehr Probleme der Vollbeschäftigung schlechthin, deren Virulenz in all ihren wirtschaftspolitischen Legierungen wirksam wird (außer in der Diktatur, die sie mit den Mitteln des Terrors „löst").

Bilanz So ist etwa diese Bilanz zu ziehen: Der Wohlfahrtsstaat löst nicht „das“ Sozialproblem. Er löst 'das materielle Problem, aber dessen Lösung reißt neue Fragen auf (die vielmehr nun erst sichtbar werden, nachdem die materielle Decke von ihnen weggezogen ist) — psychologische Fragen, die vielleicht noch schwieriger zu lösen sind. Man muß aber doch wohl von allen guten Geistern verlassen sein, um in dieser Problemverlagerung vom Materiellen zum Menschlichen, vom Finanziellen zum Psychischen nicht einen wesentlichen Fortschritt zu erkennen. Einen Fortschritt, weil die neue Problemlage würdiger und menschlicher ist. Das sollten gerade die Anwälte der Freiheit und Ankläger des Materialismus nicht gering veranschlagen. Vor dem britischen Beispiel jedenfalls fallen die Anklagen, daß Wohlfahrtsstaat Vermassung bedeute, Nivellierung und Kollektivierung, in nichts zusammen. Es kann nicht die Rede davon sein, daß der Engländer heute weniger individualistisch, weniger „frei“ ist, als vor der Einführung des Wohlfahrtssystems. Es kann ebenso wenig die Rede davon sein, daß der britische Arbeiter heute weniger Individualist ist als sein deutscher Kollege, der nicht der Segnungen des Wohlfahrtsstaates teilhaftig ist.

Andererseits begründet das britische Gelingen des Wohlfahrtsstaates noch nicht dessen Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit. Es hat die dem Wohlfahrtsstaat unterstellten kollektivistischen Gefahren lediglich für England widerlegt — nicht für andere Länder. Man kann durchaus der Meinung sein, der Brite sei kraft des ihm eingeborenen Erzindividualismus im besonderen Maße befähigt, die dem Wohlfahrtsstaat innewohnenden kollektivistischen Tendenzen zu verdauen und auszuscheiden, sein Volkscharakter habe ihn sich daher ohne Gefährdung seiner Seele leisten können. Diese Argumentation wird auf die Gegengewichte in ihm hinweisen, die ihn gegen die Vermassung schützen: auf die zähe Beharrungskraft seines konservativen Sinnes, auf sein Talent zur besinnlichen Muße (während wir die persönlichkeitszersetzende Hetze des Berufes auf Freizeit und Ferien übertragen), auf seine individuelle Wohnweise, die auf das Eigenheim besteht (und für das ihm — zum Kauf oder Neubau — die Grundstücksbanken bis zu 90°/0 der benötigten Summe bei 30jähriger Laufzeit und 4%iger Verzinsung vorschießen). Solche Gegengewichte, sind bei uns Mangelware.

Entkräftung einer Legende Dennoch ist dem britischen Exempel eine allgemeinere Bedeutung nicht abzusprechen: Es hat die Legende entkräftet, daß der Wohlfahrtsstaat zwangsläufig und unter allen Umständen zum Kollektivismus entarten müsse.

Doch das letzte Wort über den Wohlfahrtsstaat ist dem Glauben vorbehalten — dem Glauben von.der Natur des Menschen. Wer in ihm das Tier sieht, aus dem allein die Peitsche der Not den Teufel der Trägheit austreibe und nur der Druck des Elends die höchste Leistung heraus-presse, der wird dem Wohlfahrtsstaat keinen Geschmack abgewinnen.

So richtig diese Anschauung vom Menschen auch ist, die Not ist nicht sein einziger Antrieb. In seiner Brust arbeiten noch andere Motoren, deren Tourenzahl der Wohlfahrtsstaat nicht herabsetzt: Geltungsdrang und Machtbewußtsein, der Wille zur Leistung und zum Werk, die Sucht nach Gewinn und Luxus, die Liebe zur Sache und zur Gemeinschaft, Gewissen, Pflicht und Verantwortung. Und es fragt sich, ob nicht diese Kräfte erst dann zu ihrer vollen Stärke freigesetzt werden, wenn sie nicht mehr von der Sorge um das tägliche Brot absorbiert werden. Der Artist, der durch ein Auffangnetz gegen das Schlimmste gesichert ist, wagt auf dem Drahtseil kühnere Kunststücke und ist sich der Freiheit zu höheren Leistungen bewußt, als wenn er unter sich das Verderben weiß. In ihm bezeugt sich: die Sicherheit hebt die Freiheit nicht auf — Sicherheit erst macht frei, denn sie erlaubt das größere Risiko.

Beides ist richtig. Unser Fleisch ist träge, und wir sind Artisten auf dem Drahtseil des Lebens, die zum freien Spiel der Kräfte erst in der Sicherung durch das Auffangnetz auflaufen. Der Widerspruch zwischen beiden Anschauungen hebt sich auf, wenn wir uns daran erinnern, daß die materielle Not nicht die einzige Peitsche ist — das Leben hält ihrer nur allzu viele für uns bereit. Die Theorie der Peitsche also widerlegt den Wohlfahrtsstaat nicht.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Johannes Gaitanides, geb. am 10. Juli in Dres-• den, ist Deutschgrieche, studierte in München Germanistik, Geschichte und Geographie. Seit 1948 arbeitet er als freier Schriftsteller für Presse und Rundfunk (vor allem auch als Kommentator für den Bayrischen Rundfunk). Soeben erschien im Paul List Verlag, München, sein Buch „Griechenland ohne Säulen".