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Ein neuer Führer für England | APuZ 40/1956 | bpb.de

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APuZ 40/1956 Revision der amerikanischen Außenpolitik überfällig Ein neuer Führer für England Die Verteidigung des nahen Ostens

Ein neuer Führer für England

Danielle Hunebelle

ten einen Grad der Stärke besitzen, der einen Angriff auf uns für andere nutzlos und gefährlich macht. 2. Wenn wir stark sind, sollten wir — um Gottes willen — nicht so viel darüber reden. Militärische Stärke ist eine Sache, die man hat und keine, über die man redet. Vor allem Dingen sollten wir bestrebt sein, der übrigen Welt nicht den Eindruck zu vermitteln, daß wir einen Krieg erwarten und gegenüber allen anderen Möglichkeiten blind sind. 3. Wenn wir uns auf unsere Stärke verlassen können, dann sollten wir das sowjetische Problem mit Distanz betrachten. Wir sollten aufhören, durch den Anblick einer Macht, die unsere Lebensphilosophie Verwirft und unsere Werte leugnet, wie ein Vogel von der Schlange gelähmt zu sein. Wir sollten wieder Fassung gewinnen und uns resolut und mit Vertrauen der Erledigung jener Dinge zuwenden — und zwar innerhalb unseres Landes und bezüglich der übrigen Welt — die wir tun sollten und auch dann tun sollten, wenn die kommunistische Macht niemals ihr drohendes Haupt über den Horizont unserer Welt erhoben hätte.

Stets darauf vorbereitet, daß die Dinge auch anders laufen könnten, sollten wir unter der Voraussetzung handeln, daß Frieden herrscht, und aufgrund dieser Voraussetzung unsere Ziele setzen und uns an die Durchführung dieser riesigen Aufgabe machen — zu Hause und in der übrigen Welt — sogar in einer Welt, die nicht die leiseste Vorstellung eines neuen großen Krieges stört. Wir sollten lernen und anderen helfen zu lernen, wie Menschen in fruchtbarer Harmonie in der natürlichen Umgebung, in die Gott sie gestellt hat, leben können — und was noch schwerer ist, in fruchbarer Harmonie mit sich selbst zu leben.

Wenn wir diese Linie zehn Jahre lang einhalten und am Ende dieser Zeit unsere russischen Freunde für uns immer noch ein scheußliches und gefährliches Problem sind, dann bin auch ich bereit, an den Aussichten für eine Koexistenz zu verzweifeln und mich nach drastischeren und dramatischeren Mitteln umzusehen. Aber ich habe moralich die Gewißheit, daß es nicht dazu kommt. Am Ende dieser zehn Jahre müßten wir nach meiner Überzeugung feststellen, daß das Gespenst des sowjetischen Kommunismus — wie so viele andere Erscheinungen in dieser Welt — weitgehend aufgehört haben würde, ein Gespenst zu sein, wenn wir es ablehnen, den Kommunismus dafür zu halten und uns trotz seiner entschlossen ans Werk begeben. Ich habe den Verdacht, daß die späteren amerikanischen Historiker bei einem Rückblick auf die Chruschtschows und Bulganins unserer Zeit nicht ohne Würdigung an der Wirkung ihres Einflusses auf das amerikanische Leben vorbeigehen könnten. Besinnen wir uns auf die tiefsinnigen Beobachtungen Shakespeares über die Schuld, in der wir bei unseren Feinden stehen: „Es ist ein Geist des Guten in dem Übel, Zog ihn der Mensch nur achtsam da heraus: Früh aufstehn lehren uns die schlimmen [Nachbarn, Was teils gesund teils gute Wirtschaft ist. Dann sind sie unser äußerlich Gewissen, Und Prediger und allen, die uns warnen, Daß wir zu unserm End uns wohl bereiten. So können wir vom Unkraut Honig lesen Lind machen selbst den Teufel zur Moral.“ ")

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir im folgenden den in der französischen Zeitschrift RALITS, April 1956, erschienenen Aufsatz von Danielle Hunebelle.

Die Köpfe auf den politischen Plakaten wechseln in England selten. Die Behauptung, Hugh Todci Naylor Gaitskell sei der Mann der Zukunft, ist nicht nur eine persönliche Ansicht, sondern eine mathematische Wahrheit. Es gibt in England nur zwei Parteien, zwei Führer, zwei denkbare Regierungschefs: Der Konservative oder der Arbeiterführer. Auf das Zweigespann Churchill—Attlee, das sich reich an Jahren, Ehren und Lorbeeren zurückgezogen hat, ist das Zweigespann Eden—Gaitskell gefolgt. Der eine ist Ministerpräsident, der andere wird es morgen sein. Wer ist Gaitskell?

Ein ziemlich großer, ziemlich junger Mann mit glattem Gesicht, ungewöhnlich heiter, mit himmelblauen Augen, ergrauenden Haaren, deren Wuchs durch zwei zu große Ohren behindert wird, scharfer Nase, einem doppelten doch unauffälligem Kinn, einem kleinen und schmalen Mund — ein Gesicht, wie man es sich unter einem Strohhut als Illustration eines Handbuches über den perfekten Gärtner oder als heitere Zierde in gewissen Filmen Walt Disneys vorstellt. Irgend etwas an diesem Gesicht, der zugleich schalkhafte und väterliche, leutselige und freundliche Ausdruck, läßt an ländliche Gefilde und an Ferien denken, unglaubhaft bei einem Manne, der als „Intellektueller par excellence" gilt. Denn Gaitskell, dieser charmante und lustige Bourgeois, der jeden Samstag abend den Damen der Arbeiterpartei den Cha-Cha-Cha beibringt, dieser scheue Mensch, der errötet, wenn man ihn fragt, ob er Gedichte geschrieben habe, ist wahrscheinlich der berühmteste Nationalökonom Englands.

Wie ist er es geworden? Und warum hat man diesen liebenswerten Gentleman zum Führer der Arbeiterpartei gewählt? Diese Fragen beantwortet er selbst mit der Präzision, Klarheit und Objektivität, die für ihn charakteristisch sind. „Ich bin ein Mensch wie jeder andere“, beginnt er, „und es dürfte Ihnen schwer fallen, in meinem Leben eine einzige Anekdote zu entdecken, die des Erzählens wert wäre. Vielleicht ist mein Aufstieg einigermaßen bemerkenswert, nicht etwa weil er etwas Besonderes, sondern weil er nichts Besonderes enthält.“

Wir unterhalten uns in einem kleinen Nest in der Nähe von Manchester — in der Art von Vaucresson, das von einem Bier trinkenden Vlaminck gemalt worden ist. Gestern hat Gaitskell zu den Arbeitern gesprochen, heute erholt er sich bei Freunden.

„Ich bin vor 49 Jahren in-London geboren und entstamme einer Familie, die der bürgerlichen Aristokratie angehört. Mein Vater war Angehöriger der Zivilverwaltung in Indien und mein Großvater Generalkonsul in Schanghai. Mein älterer Bruder Arthur, den ich bewundere und den ich seit meiner Kindheit in allem nachzuahmen versuche, leitet die bedeutenden Baumwollplantagen im Sudan. Und meine Schwester Dorothea hat einen konservativen Abgeordneten geheiratet.“

Er ist auch ein richtiger Vetter von Peter Townsend. Es wundert ihn, daß seine Verwandtschaft mit einem solchen Heros überraschen kann. „Meine Kindheit? Ab und zu kam meine Mutter aus Birma zurück, das waren dann wundervolle Besuche. Mit sechs Jahren spielte ich Bridge und Golf mit meinem Bruder und meiner Schwester.“

Seine Stimme ist nicht laut, seine Redeweise vollkommen und sein Englisch sehr rein. „Mein Bruder war in Winchester, und ich wollte seinem Beispiele folgen. Diese Schule, eine Rivalin von Eton, ist die gründlichste Schule in England, und es ist besonders schwierig, dort ausgenommen zu werden. Ich versuchte, eine Freistelle zu erhalten. Ohne Erfolg. Dank der Pension, die meiner Familie nach dem Tode meines Vaters ausgezahlt wurde, konnte ich trotzdem in diese Schule eintreten. , Du hast keine Ahnung, welche Vorteile Du vor den anderen hast. Nicht ein Junge von zehntausend kann sich ein Studium in Winchester leisten“, sagte mir der Vater eines meiner Kameraden. Vielleicht haben mein starkes Gerechtigkeitsgefühl und der brennende Wunsch nach gleichem Recht für alle ihren Ursprung in diesem Satz“.

Ein unbedeutender Schüler

In Winchester trägt der junge Hugh eine Melone, zeichnet sich in nichts aus, ist bescheiden, ruhig, fleißig, unbedeutend, besonders wenn man ihn mit seinem Mitschüler R. Crossman vergleicht (heute der klügste Anhänger von Bevan, damals ein Wunderkind). Seine Karriere in Winchester endet mit einem neuen Fehlschlag. Er erhält kein Stipendium für Oxford. Und wieder hilft ihm seine Familie. „In englischen Schulen hält man nichts von Originalität. Glücklicherweise ermuntert mich in Oxford mein Hausvater äußerst heterodox selbst nachzudenken. 1926 bricht im Lande ein Generalstreik aus. Fast alle meine Kameraden, die Streikbrecher sind, bieten sich sofort als Zug-und Busführer an. Nach einigem Nachdenken entschließe ich mich, den Streikenden zu helfen, und miete ein Auto, um ihre Zeitungen auszutragen. Mein erster Kontakt mit dem Sozialismus erweist sich als entscheidend. In meiner Familie ist man jedoch äußerst konservativ.“

Einige Engländer betrachten Gaitskell daher als einen Fahnenflüchtigen. „Ich ziehe als Sozialisten einen richtigen Arbeiter vor“, sagen die Konservativen. Und die Arbeiter: „Gaitskell ist kein richtiger Sozialist, er kommt von der Universität". Soviel ist gewiß, daß der junge Hugh liest, feststellt, daß die siegreichen Perioden der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert mit einem Bündnis zwischen Arbeiter und Mittelklasse zusammenfallen und an seine Mutter schreibt: „Ich will nicht in die Zivilverwaltung für Indien eintreten, sondern irgendetwas schaffen“, und beschließt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mit 300 Pfund im Jahr ist er Professor für Volkswirtschaftslehre in einer kulturellen Arbeitervereinigung in Nottingham, im Kohlendistrikt, auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit. Er ist empfindsam und ängstlich, er zittert, aber man fühlt seine Aufrichtigkeit, seine Vorlesungen haben Erfolg; er selbst auch, und zwar nicht nur bei den Grubenarbeitern, sondern auch bei den Mädchen der Hingebung. „Als ich meinen Mann einige Jahre nach seiner Probezeit in Nottingham kennenlernte, lehrte er Volkswirtschaft an der LIniversität in London," erklärte Frau Gaitskell, während sie ihr schwarzes Kostüm, das sie über einer Hemdbluse trägt, an den Revers zurechtzieht. „Ich arbeitete bei einem Verleger, und wir haben zusammen bei sozialistischen Freunden getanzt.“

Der ritterliche Geist von Gaitskell begeistert sich für diese kleine, traurige, nervöse, intelligente Brünette, die schon geschieden und Mutter eines Sohnes ist, der heute in der Weltbank in Washington arbeitet. Aber während Hugh im Temperament und durch Tradition typisch englisch ist, ist Anna-Dora Creditor, in Ruß-land geboren und seit ihrem 4. Lebensjahr durch ihren Vater in England ansässig, Jüdin (sie liest und spricht perfekt Hebräisch), sehr europäisch geblieben. Zwei Mädchen sind aus dieser Verbindung hervorgegangen, Julia und Cressida, die heute 16 und 14 Jahre alt sind. 1939 bricht der Krieg aus. Gaitskell hat Zeit gehabt, mit gleichgesinnten Freunden ein kleines Gremium von Reformern zu bilden, das im ersten Stockwerk eines Wirtshauses Richtlinien für die Verhaltensweise der Arbeiterpartei entwirft und die Welt zu verbessern versucht. Er geht mit Unterstützung der Rockefeller Stiftung für ein Jahr zum Studium nach Wien und erlebt gerade das Ausscheiden v. on Dollfuß, wodurch er sich an Ort und Stelle ein Urteil über den Faschismus bilden kann. Zweimal erleidet er bei den Wahlen eine Niederlage. Er kauft ein kleines Haus, übersetzt ein deutsches Buch über die Theorie des Kapitals und widmet sich seinen gärtnerischen Neigungen und seiner Familie. Er wird von der Regierung als Experte für Nationalökonomie herangezogen und 1940 Sekretär des Ministers Hugh Dalton. Um ihn von seinem Chef zu unterscheiden, nennt man ihn „den kleinen Hugh“. Man schätzt seinen klaren Verstand, seine Integrität, seine Energie, seine Heiterkeit, aber niemand (ausgenommen vielleicht er selbst, denn er soll sehr ehrgeizig sein) tut etwas besonderes für die glänzende Karriere, die ihm bevorsteht. Die entscheidende Wahl findet 1945 statt. Trotz seiner Vorliebe für Verwaltungsarbeiten und trotz heftiger Herzbeschwerden faßt er Mut, bereitet seine Reden vor, lernt sie auswendig, trägt sie seiner Frau vor und holt sich schließlich in glänzender Manier die Würde eines Abgeordneten in einem Wahlkreis von Leeds.

Gaitskell zieht jetzt also ins Unterhaus ein. Im Alter von 38 Jahren geht er nach einem kurzen Spaziergang an der Themse mit klopfendem Herzen, unempfindlich für die Kälte, ohne die alten viktorianischen Häuser eines Blickes zu würdigen, die auf der anderen Seite des Quai gleich uniformierten Schreibmaschinen Wache halten, zum ersten Mal durch die kleine Tür unter dem Gerüst von Westminster. Er durchmißt die gotischen Gänge, die zugleich etwas von der Sainte-Chapelle, vom Justizpalast und der Nationalbibliothek haben. Er dringt in das Innerste des Unterhauses ein, das verhältnismäßig klein und schlecht erleuchtet ist, wo sich die mit grünem Leder bezogenen Bänke rechts und links von dem Sprecher mit Per-rücke gegenüberstehen und viel eher die Atmosphäre eines Hörsaals als einer Arena oder eines Theaters verbreiten. Er setzt sich bescheiden auf die hinterste Bank und betrachtet voller Bewunderung diejenigen seiner Kollegen, die in der ersten Reihe sitzen und sich durch Wissen und Erfahrungen das Recht erworben haben, sich wie in einem Bette auszustrecken und ihre Füsse auf den Tisch rund um die schwere Gold-masse zu legen. Welchen Eindruck haben nun die Konservativen von dem neuen Abgeordneten, als er zum ersten Mal eine Anfrage an sie richtet? „Oxforder Akzent, weiße Hände, noch so ein verdammter Intellektueller aus Winchester“, sagen sie sich. „Aber er scheint guten Willens zu sein, einen klaren und methodischen Verstand zu haben. Wir werden ja sehen, was er von sich geben wird, wenn er erstmal seine politische Unerfahrenheit überwunden hat“.

Gaitskell hat sie tatsächlich immer noch nicht überwunden. Elf Jahre ist er jetzt Abgeordneter, aber immer noch ist er ein „Neuling“. Bei einem Experten, der im Grunde ein scharfer und gründlicher Denken ist, bei einem Statistiker hat eine solche Naivität etwas Erstauliches. Man fühlt, daß sich dieser Mann, dessen gesundes, gutmütiges, folkloristisches Aussehen zugleich an Candide und an Cadet Rouseile erinnert, und der sich auf Grund seines maßvollen Wesens, seines Taktes und seiner vollkomenen Sprachbeherrschung in der Touraine bei einer Probe von Anjou-Weinen wohlfühlen könnte, die unmittelbare Fähigkeit bewahrt hat, sich zu wundern und zu empören, zu vertrauen und zu glauben. Für ihn existiert das Gute und auch das Schlechte, und die Gleichheit ist im Interesse aller Menschen wünschenswert und auch realisierbar. Er strebt nach einer Art demokratischem Sozialismus nach skandinavischem Vorbild. Er hat in sich und in seine Ideen Vertrauen, aber er beurteilt sich mit der gleichen Objektivität wie die anderen. Wenn er über Bevan sagt: „Er ist unfähig zu sagen, ich weiß nicht, das ist seine Schwäche“, so bekennt er selbst seine Irrtümer gerne. Man wirft ihm eine gewisse intellektuelle Arroganz vor. Dummheit macht ihn ungeduldig, er verträgt es nicht, von Dummen angegriffen zu werden, und seine freundliche Höflichkeit ist größer als seine Bescheidenheit.

Wie stieg er so schnell in die Höhe? Zuerst Staatssekretär im Ministerium für Treibstoff (wo er die Freundschaft mit seinen alten Freunden aus den Kohlengruben erneuert, während Shinwell, sein Minister, bewundernd von ihm sagte: „Er hat alle Eigenschaften, die ich nicht habe: Geschick, Können und Humor"), dann Wirtschaftsminister und 1951, nach dem Tode von Sir Stafford Cripps, Schatzkanzler (der jüngste, den England seit der Ernennung von Winston Churchills Vater 1903 gekannt hat). Zur Zeit ist er als Nachfolger des zurückgetretenen Graf Attlee Führer der Arbeiterpartei. Man kann sagen, er ist auf den Gipfel hinaufgeschossen worden. Warum?

Attlee fürchtet die brillianten Köpfe

AIs die Arbeiterpartei 1945 zum ersten Mal seit ihrer Gründung (1903) die Wahlen gewinnt, stellte es sich heraus, daß es an Fachkräften fehlt. Sie hat nicht das grundsätzliche Vertrauen einer führenden Klasse erworben, sie kann sich nicht erlauben, zum Schatzkanzler einen ähnlichen Mann wie Churchill zu ernennen, der diesen Posten fünf Jahre lang bekleidete, ohne der Wirtschaft im geringsten „Hindernisse in den Weg zu legen". Daher der phantastische Aufstieg der jungen Equipe, der Gaitskell, Pakenham, Wilson, usw. Andererseits mißtraut Attlee wie alle Engländer außerordentlich den zu intelligenten Leuten. Nach seiner Ansicht ist das Kabinett vorbildlich, das genügend glänzt, um die Probleme lösen zu können, aber dessen Ideen nicht so originell sind, daß sie beunruhigen. Zwischen einem Gaitskell, der Oxford mit dem akademischen Grad eines Baccalaureus Arbium verließ; und einem strahlenden Croßman, der seine Studium zwei Jahre früher als alle anderen abschloß, zögert er nicht. Aber als er sich im vergangenen Dezember mit dem Gedanken trug, als Parteiführer zurückzutreten, ist er unschlüssig: Der erträumte Nachfolger existiert nicht. Kein Anwärter, weder Morrison, noch Bevan, noch Gaitskell scheint in jeder Beziehung der Mann der Stunde zu sein. Die englische Arbeiterpartei hat mit den meisten sozialistischen Parteien der ganzen Welt nichts gemein. Sie ist in erster Linie ein Interessenverband auf gewerkschaftlicher Grundlage. Sechs Millionen Gewerkschaftsangehörige sind mittels ihrer Gewerkschaften in der Partei eingeschrieben. Wenn sie nicht ausdrücklich erklären, daß sie nicht der Labour Partei angehören wollen und austreten, werden sie automatisch als Mitglieder angesehen und müssen einen jährlichen Beitrag zahlen, der zwischen 50 Schillingen (ungelernte Arbeiter) und 6 Pfund (Journalisten) liegt. Von den 163 048 Pfund, die 1955 als Parteibeiträge gezahlt worden sind, kamen 138 688 von den Gewerkschaften. Die Zentrale der Arbeiterpartei ist symbolisch im „Transport House“ untergebracht, im gleichen Gebäude wie die wichtige Transportarbeitergewerkschaft. Die meisten Gewerkschaften, wie die der städtischen Arbeiter, Grubenarbeiter und 80 andere, die der Gründung der englischen sozialistischen Partei 200 Jahre voraus sind, sind sehr konservativ und bilden den rechten Flügel der Partei (eben um Gaitskell). Dem linken Flügel, mit Bevan als Führer, der weniger stark ist, folgen ungefähr 1, 5 Million Mitglieder, die sich aus den militanten Sozialisten und den Mitgliedern der lokalen Verbände (Wählerschaften) rekrutieren. Das Gleichgewicht zwischen gemäßigten Gewerkschaftsangehörigen und militanten Sozialisten herzustellen, die Interessen der einen mit der Weltanschauung der anderen auf einen Nenner zu bringen, muß daher die dauernde Aufgabe eines Arbeiterführers sein. Als Attlee, der 20 Jahre lang Schiedsrichter gespielt hatte, den Entschluß faßt abzutreten, gibt es den Mann der Mitte tatsächlich nicht. Die Arbeiterpartei hatte jedoch zweimal nacheinander die Wahlen verloren. Wie ist es dazu gekommen?

Wohlleben macht konservativ

Die gegenwärtige Prosperität Großbritanniens ist zweifellos das augenfälligste Phänomen des Abendlandes. In fünf Jahren ist der industrielle Produktionsindex von 100 auf 146 gestiegen. Einer von drei Familienvorständen besitzt Haus, Auto und Fernsehapparat. Im vergangenen Jahr sind in England ebenso viele Ventilatoren verkauft worden wie in den Vereinigten Staaten. Die Vollbeschäftigung, die gestiegenen Löhne, Arbeitsstunden wie ein „Großbankier“ (man kommt gegen 10 Uhr morgens ins Büro und geht bereits um 5 Uhr abends), die Aufhebung der Beschränkungen, so daß jeder nach Herzenslust essen und trinken kann, der Überfluß und die Reichhaltigkeit der Auslagen, die Ferien auf dem Kontinent, die schnelle Amerikanisierung des täglichen Lebens, die Wandlung der Geschäftsmentalität (heute trägt alle Welt Konfektion, die Kaufhäuser von Montagu-Burton, der englischen Thiery, schießen wie Pilze aus dem Boden); wo man vor dem Kriege 62 Kinderwagenmodelle zwischen 40 Schillingen und 40 Pfund anbot, gibt es heute zwei fast gleiche Modelle; mit einem Wort, der Wirtschaftsboom und die unerhört schnelle wirtschaftliche Ausweitung in diesem Lande haben die Gesellschaftsstruktur unmittelbar beeinflußt und die Physiognomie der Wählerschaft grundlegend verändert.

Sieben Millionen gelernte Arbeiter, die in der Eisen-, Automobil-, Maschinen-und Elektroindustrie arbeiten, sind heute Bürger. Was wählen sie? Sie haben bekommen, was sie haben wollten, sie möchten in Frieden ihre neuen Besitztümer genießen, auf der sozialen Leiter nach oben klettern, höher eingestuft werden. Fünf Jahre soziale Errungenschaften haben die W’ähler dem konservativen Lager zugeführt. Und wenn ein paar noch nicht die Tories wählen, so wählen viele von ihnen überhaupt nicht mehr. Die letzten Wahlen sind von der Partei gewonnen worden, die einerseits am wenigsten Stimmen verloren und die wenigsten Stimm-enthaltungen zu verzeichnen hatte und die andererseits (wie in jedem Lande, wo die Wahl-chancen der beiden Parteien ziemlich gleich sind und ein Unterschied von 2% Stimmen genügt, um das Ergebnis zu entscheiden) die Mitläufer, die Unentschiedenen, die „schwankende Wählermasse“ am meisten beruhigen konnte. (195 5 haben die Konservativen 12 469 825 Stimmen bekommen gegenüber 12 405 146 für die Arbeiterpartei, ein Unterschied, der fast keiner ist. Nichtsdestoweniger haben die Konservativen auf Grund des direkten Wahlsystems eine Mehrheit von 57 Sitzen erhalten.)

Beruhigen? Gerade die Arbeiterpartei war zum Zeitpunkt der Wahlen in keinem beruhigenden Zustand: ein verrücktes Programm, schwere interne Unstimmigkeiten, ein Bevan — ein enfant terrible, der alte wilde Waliser, der von der Arbeiterpartei vor dem zweiten Weltkrieg ausgeschlossen, aber gerade vor den Wahlen wieder ausgenommen worden ist — und der nun gegen die Führer seiner Partei einen äußerst scharfen Wahlfeldzug führte. Was wirft er ihnen vor? Daß sie den Kontakt mit dem wahren Sozialismus verloren haben. Daß sie zu stark zentralisiert sind. Daß sie durch militärische Disziplin die Opposition mundtot machen. „Ich präsentiere mit den militanten Sozialisten ein Drittel der Arbeiterstimmen“, grollt er und schüttelt seine weiße Mähne. „Ich sollte also ein Drittel der Mitglieder des Exekutivausschusses stellen. -Wie sieht es damit aber aus?"

Der Exekutivausschuß wird jedes Jahr auf dem Parteitag in Margate gewählt: 12 Vertreter der Gewerkschaften durch die Gewerkschaften, 5 Sozialistinnen durch Stimmenmehrheit, wobei die Gewerkschaften dominieren. Dazu kommen vier Mitglieder von Rechts wegen, der Parteiführer, der stellvertretende Parteiführer, der Generalsekretär und der Chef der Wahlpropagandisten, alles Leute aus den Gewerkschaften. „Bleiben noch meine sieben Bevanisten als Vertreter meiner Anhänger in den Wahlbezirken. Aber da im Exekutivausschuß alles nach Mehrheitsbeschluß geht, da außerdem alle Entschließungen vor der Zusammenkunft des Kongresses überprüft und torpetiert werden, wenn sie nur im geringsten von der Parteilinie abweichen, so ist der Opposition völlig der Mund verstopft. Außerdem sind die Abstimmungen im Parlament geheim. Der Wähler kann nie erfahren, wie sein Abgeordneter abgestimmt hat. Wir haben es nicht mit einer demokratischen Organisation, sondern mit einer Verschwörung zu tun. Wir sind einer Kamarilla ausgeliefert usw.“

Das Enfant terrible ist ausgeschaltet

Er, Bevan, hält sich für das wahre Gewissen der sozialistischen Partei, und anstatt bei jeder Wahl den Leuten ohne Ansicht, den politischen Analphabeten zu schmeicheln, möchte er vielmehr das Drittel der Arbeiterklasse gewinnen, das konservativ wählt. Bevan ist in England außerordentlich populär, selbst bei den Tories. Seine Ungerechtigkeiten, sein unlogisches und leidenschaftliches Temperament, das selbst Churchill während einer Debatte nicht zu reizen wagte, gefällt, und man hört immer wieder den Satz: „Ohne den Whisky wäre Bevan der erste Mann Englands“. Aber während sein volkstümliches Temperament die militanten Sozialisten mitreißt, erschreckt es die Gewerkschaftler. Die großen Gewerkschaftsführer, Williamson (städtische Arbeiter), Sam Watson (Bergarbeiter), die keineswegs den Wunsch haben. das gegenwärtige System der Industrie zu reformieren noch die Nationalisierung voranzutreiben und alles Interesse daran haben, die privilegierte Situation der Gewerkschaften aufrecht zu erhalten und jede revolutionäre Maßnahme zu vermeiden, die die blühende Wirtschaft stö-ren könnte, haben seit langem schon den Mann vom rechten Flügel der Partei, den pro-amerikanischsten der Arbeiterführer, den Anhänger der Vollbeschäftigung, den ausgezeichneten Nationalökonomen Hugh Gaitskell zu ihrem Verteidiger gewählt.

Einer klassenlosen Gesellschaft entgegen

Andererseits wissen sie, daß angesichts einer Art Nivellierung von oben her, die für die gegenwärtige englische Gesellschaft charakteristisch ist, der allgemeinen Tendenz zur Mitte, der Ausdehnung des Mittelstandes durch Zuwachs an ehemaligen wohlhabend gewordenen Arbeitern und der Bildung einer neuen bürgerlichen Schicht diese ganze Anhängerschaft, die bar jeder klassenkämpferischen Neigung und Ideologie ist, nur durch einen gemäßigten Parteiführer gewonnen werden kann. Auf außen-politischem Gebiet ist Gaitskell ein begeisterter Anhänger der NATO und des Atlantischen Bündnisses. Er ist nicht neutralistisch, er wird sich mit den Russen nicht um jeden Preis verständigen. Auf dem Gebiet der Wirtschaft will er das Wohl einer möglichst großen Anzahl Menschen, und wenn er gewisse Beschränkungen wieder einführt, dann nur um die Inflation zu drosseln und eine Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Man hat Vertrauen in seine Klugheit, seinen gesunden Menschenverstand und seinen Sinn für das Maßvolle. Als daher am 14. Dezember 195 5 die 277 Arbeiterabgeordneten den kleinen Wahlzettel zu Hause erhalten, auf dem sie den Namen ihres Kandidaten für den Posten eines Parteiführers unterstreichen müssen, sind die Würfel gefallen. Bevan kann keinen Anspruch auf die Mehrheit erheben. Bleibt der dritte Kandidat, Morrison. Aber Morrison ist ein betagter Mann, und seit den Wahlen huldigt man in der Partei ganz entschieden dem Wahlspruch: „Platz den Jungen".

Gaitskell wird also mit 157 gegen 70 Stimmen für Bevan und 40 für Morrison gewählt. Er ist ohne sein Zutun nach oben gestiegen, er hat sich nichts vorzuwerfen und wird seinem Lande in nützlicher Weise dienen können. Hellwach ohne Zynismus, ehrgeizig ohne Schärfe, glücklich ohne Prahlerei, liebenswert und gerne geliebt, schämt er sich nicht, einer privilegierten Klasse anzugehören, im Gegenteil. Seine Erziehung prädestiniert ihn für die Verantwortung, und er ist sich dessen bewußt. Er spricht deutsch und ein wenig französisch. „Ich bedauere lebhaft“, sagt er, „daß ich mich niemals sechs Monate in Frankreich aufhalten konnte, um ein korrektes Französisch zu lernen.“ Er hat jedoch seine Flitterwochen in Lavandou verbracht. Er kennt ganz Europa obenhin, und es stellt sich heraus — vielleicht ist es der Einfluß seiner Frau? — daß er für einen Engländer ziemlich weitgehend europäisch orientiert ist. Er hat den Mittleren Osten, Israel, Jordanien, Indien und Pakistan bereist. („Asien, das für uns so wichtig ist") Er kennt Kanada und begibt sich jedes Jahr in die Staaten. Er ist zwar Mitglied der anglikanischen Kirche, aber nicht ausübend.

Er wird jeden Morgen um 8 Uhr geweckt, verläßt zwei Stunden später am Steuer seines Ford das Haus und kehrt erst um 11 Uhr abends wieder zurück. Während des ganzen Tages pendelt er zwischen Transport House und Westminster hin und her, geht am Nachmittag zu den Parlamentssitzungen, interveniert in Wirtschaftsdebatten und bei Diskussionen über die großen Probleme, greift die Regierung an oder nimmt an den Zusammenkünften des Nationalausschusses teil, in dem Mitglieder der Partei und der Gewerkschaften vertreten sind. Er liebt das parlamentarische Spiel, und Verwaltungsfragen langweilen ihn nicht. In einer halben Stunde Entfernung, in einer großen Villa mit 14 schlecht geheizten Zimmern, die innerhalb eines kleinen Gartens in einem nördlichen konservativen Vorort Londons liegt, kümmert sich Frau Gaitskell um den Haushalt oder stellt sich beim Kaufmann an, denn es wird nichts ins Haus geliefert. Im Gegensatz zu ihrer Aufwartefrau, die ihr täglich 3 Stunden hilft, besitzt sie weder eine Waschmaschine noch einen Fernsehapparat. Ab und zu taucht Cressida auf, eine kleine, lebhafte Brünette mit spitzem Gesichtchen in gelbem Pullover mit Rollkragen, um die Saite vom Kla-vier zu entfernen, die wegen der Feuchtigkeit gesprungen ist, oder im rosafarbenen dekolletierten Seidenkleid mit großer Schleife auf der Brust die reizende Julia, deren Zeichnungen — Parkansichten, welke Blätter, Kinderwagen — die Wände des Hauses schmücken und die Schauspielerin werden möchte. Heute abend wird sie sich die Tänzerin Margot Fonteyn im Covent Garden ansehen, und sie hat vorher gerade noch Zeit, in die Badewanne zu springen. Den Ottermantel der Mutter über den Schultern dreht sie sich in ihrem hübschen Kleid im Kreise, das sie sich von ihren Ersparnissen gekauft hat: „Der STANDARD hat midi um einen Artikel gebeten über: , Was ziehen Sie vor, daß Ihre Mutter zu Hause bleibt oder ar-sie geht?'Natürlich ziehe ich es vor, daß zu Hause bleibt. Ich habe 10 Pfund dafür bekommen. Die rosa Sandalen hatte ich schon. Ich habe nach dem passenden Kleid dazu gesucht und dieses hier gefunden. Eine Gelegenheit: Ich habe nur 3 Pfund bezahlt: Sehen Sie sich doch nur mal das Rosa an!“ Wenn der Vater am Samstagabend nicht an einer Versammlung in der Provinz teilnehmen muß, gehen sie alle zusammen ins Kino, um „Rififi bei den Menschen" (einfach himmlisch!) zu sehen. Wenn Freunde zum Essen kommen, bereitet Frau Gaits-kell die hartgesottenen und mit Zwiebeln frikassierten Eier, den warmen Schinken und die gebackene Ananas und den Schokoladencreme selbst zu. Und dann wird zum Grammophon getanzt, was sich großer Beliebtheit erfreut. Letztes Jahr war Mailand das Ferienziel. Und dieses Jahr? ...

England hat nur ein Problem: Die Inflation

Welche Aufgaben warten nun auf Hugh Gaitskell? Er wird Führer der Arbeiterpartei zu einem Zeitpunkt, da England eine wirtschaftliche Blütezeit erlebt und seine Regierung angegriffen wird wie nie zuvor. Eine Zeichnung im PUNCH, die großes Aufsehen erregt, zeigt das Schiff „England", wie es auf den Wellen hin-und hertanzt und von einem Mann ohne Kopf gesteuert wird. „Eden langweilt England tödlich, er ist ein Mann ohne Bedeutung" ist in den Zeitungen zu lesen. „An ihm ist nichts zu hassen und nichts zu lieben . .. Ein General mit Neigung zu Rückzugsgefechten, dessen Instruktionen genau so dynamisch sind wie eine Plauderei über die Bedeutung der Kartoffel in der englischen Volkskunde .. Die mildesten vergleichen ihn mit einem Stummfilmstar, der im Tonfilm versagt hat.

England hat nur ein Problem: Die Inflation. Niemand gibt die Krise zu, aber sie ist da. Vor dem Kriege entsprachen die englischen Gold-und Devisenreserven den Einfuhren von zwei Jahren, heute decken sie die Einfuhr von zwei Monaten. Die Engländer halten an einem gehobenen Lebensstandard fest, ohne zugeben zu wollen, daß sie als Kaufleute in einer Welt der Konkurrenz leben. Die Produktivität bleibt hartnäckig ein wenig unter der Höhe, die sie haben sollte und auch erreichen könnte. Als ob sich die Bergarbeiter sagen, sie riskieren Arbeitslosigkeit und die Schließung der Gruben, wenn sie 10% mehr fördern. Die konservative Regierung weigert sich jedoch, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Obgleich sie jetzt im Parlament über die angenehme Mehrheit von 57 Sitzen verfügt und 5 Jahre Zeit hat, um ihre Pläne durchzuführen, wagt sie es nicht, die un-aus Maßnahmen zu ergreifen Angst, die Wählerschaft zu enttäuschen und zu erzürnen. Es besteht die Möglichkeit, daß MacMillan nicht bis zum Ablauf seines Mandats bleibt, vor allem, wenn sein nächster Haushaltsplan die Lage nicht verbessert. In diesem Falle hätte die Arbeiterpartei ein gute Chance, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Auf diesen Augenblick wartet Gaitskell. Er allein ist fähig, die Psychologie des englischen Arbeiters umzumodeln, indem er versucht, ihm einen neuen geistigen Impuls zu geben — die physische Anstrengung, die Produktivität um 5 oder 10°/0 zu steigern, ist nicht schwer — und seine Doktrin dadurch langsam reifen zu lassen. Da die Konservativen sich mit dem Wohlfahrtsstaat abgefunden haben (kostenlose ärztliche Behandlung, hohe Löhne, sehr starke steuerliche Belastung der Reichen und gehobener Lebensstandard der unteren Klassen), hat die Arbeiterpartei keine Forderungen mehr zu erheben: Sie

Fussnoten

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