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Das Baltikum als Problem der internationalen Politik | APuZ 3/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 3/1957 Das Baltikum als Problem der internationalen Politik Leo Trotzki Notwendigkeit und Grenzen der Koexistenz

Das Baltikum als Problem der internationalen Politik

HANS ROTHFELS

Nach einer Rede, die beim Delegiertentag der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft in Frankfurt am Main am Juli 1956 gehalten wurde. Sowohl der persönliche Charakter wie die Betonung allgemeinerer Zusammenhänge, die sich aus dem Zweck der Ansprache ergaben, sind beibehalten worden. Auch ist — abgesehen von einigen Hinweisen — auf Quelienzitate verzichtet worden.

Hans Rothfels Das Baltikum als Problem der internationalen Politik • • • Inhalt dieser Beilage: Leo Trotzki (S. 42) Otto Heinrich von der Gablentz Notwendigkeit und Grenzen der Koexistenz (S. 49;

Es mag als ein krasses Mißverhältnis erscheinen, das Schicksal eines schmalen geographischen Bereichs wie der aus ihm wurzelhaft stammenden oder noch in ihm lebenden Menschen thematisch zu verknüpfen mit Problemen der internationalen Politik und ihren weltweiten Zusammenhängen, für die neue Kontinente und die Riesenzahlen erwachender farbiger Völker an Bedeutung ständig wachsen. Und auch im alten europäischen System hat sich ja die Gewichtsverlagerung zu den großen Flächenstaaten und den Massen der Industrieländer je und je vollzogen. Es ist, soweit ich sehen kann, bei allem ausgeprägten Sondertum und bei allem spezifischen Selbstbewußtsein nie deutsch-baltische Art gewesen, die jeweils gegebene Größenordnung der historisch-politischen Wirklichkeit illusionistisch zu überspringen, und es kann weiterhin sehr wohl zum Ruhm von Estland und Lettland gesagt werden, daß sie von der Großmannssucht, die neugegründete Staaten verführen mag, ihre Rolle in den Welthändeln zu überschätzen, sich nach 1918 völlig ferngehalten haben. Weder in Riga noch in Reval würde bei dem bekannten internationalen Wettbewerb um das beste Buch über den Elephanten der Titel gelautet haben: „Der Elephant und die baltische Frage“.

Lind doch glaube ich, daß vor dem Kreis, der hier versammelt ist, und auch vor einer breiteren Öffentlichkeit die Formulierung des Themas keiner Abschirmung gegen Mißverständnis und keiner ausführlichen Begründung bedarf. Nicht nur hat das Hegeische Wort vom Umschlag des Quantitativen in das Qualitative in der deutsch-baltischen Über-lieferung immer einen besonderen, dem üblichen eher entgegengesetzten Sinn gehabt. Auch wer nicht in dieser Überlieferung steht, aber den Blick sich offen hält für die nicht selten umgekehrte Proportion zwischen Größe und Intensität, für den oft merkwürdigen Zusammenhang zwischen Provinzialem und Universalem, für das Unabdingbare von Werten, die aller Statistik sich entziehen, wird gefeit sein gegen das einseitige Denken in der Kategorie des Quantitativen. Die Geschichte mißt nicht allein mit der Elle. Und es ist oft beobachtet worden, daß im Baltikum, das bei aller räumlichen Enge am Kreuzweg zwischen großen Mächten nicht nur, sondern auch zwischen fundamentalen Ideen lag, Entscheidungen von paradigmatischem, mitunter von stellvertretendem, vielleicht darf man sagen, von symbolhaftem Charakter sich vollzogen haben.

Als ich vor bald 30 Jahren als junger Professor in Königsberg baltischer Geschichte und baltischer Gegenwart zum erstenmal näherkam, stieß ich auf ein überraschendes Wort aus russischem Munde, das um 1870 rückblickend diesen Sachverhalt des Paradigmatischen anerkannte und das sich in den späten 1920ern vorwärtsblickend im Prinzip der Kulturautonomie für ganz Ostmitteleuropa zu bestätigen schien. So konnte ich dieses Wort als Motto einer Studie über das deutsch-baltische politische Denken und seine Fruchtbarkeit in der damaligen Gegenwart vorausschicken. Ich habe es dann noch einmal zitiert in einem in USA geschriebenen und dort auch veröffentlichten Artikel des Jahres 1944 1), als die baltischen Staaten nicht nur Schlachtfeld im wörtlichsten Sinne wiederum wurden, sondern an ihnen zugleich ein Gegensatz der Prinzipien zutage trat, der für die internationale Lage nach dem Krieg fundamental wichtig werden mußte und auch geworden ist. Das gleiche Wort steht zwölf Jahre später wiederum als Motto auf der ersten Seite des 1956 in Köln erschienenen Buches von Boris Meißner über „Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht“, das im Baltikum und seinem Geschick den Prüfstein der Möglichkeit sieht, ob die in zwei feindliche Machtgruppen gespaltene Welt einer dauerhaften Friedensordnung teilhaftig werden kann. Es ist das Wort, das ein russischer Generalgouverneur 1870 zu einem Vertreter der livländischen Ritterschaft sagte: „Sie können den historischen Ruhm Ihrer Provinzen konservieren, in Fragen der höchsten Politik das Schlachtfeld gewesen zu sein.“

Ich möchte bitten, hier vor Ihnen noch einmal von diesem Worte ausgehen zu dürfen — mit einem kurzen Blick auf die Entscheidungen von internationalem Rang, auf die es sich 1870 retrospektiv bezog und die unter durchaus veränderten Aspekten wiederum sehr wesentlich auf baltischem Boden zum Austrag kamen, bis die totalitären Systeme ihn plattgewalzt haben. Es wird weiter zu fragen sein, ob und in welchem Sinne in den tragischen Jahren 1939 bis 1941 das Baltikum mehr als ein beliebiges Beuteobjekt, also noch einmal Schlachtfeld in Fragen der höchsten Politik, aktiv oder passiv, gewesen ist. Die gleiche Frage schließlich wird andeutend an die gegenwärtige Situation zu richten sein. Wie weit ist das Baltikum auch heute Problem internationaler Politik, im diplomatisch-technischen Sinne nicht nur, sondern in dem fundamentaler Entscheidungen. Worin liegt wiederum das über den begrenzten Einzelfall Hinausgehende, das Symptomatische und Symbolhafte der baltischen Situation, auf welche Möglichkeiten und Ausblicke allgemeinerer Art führt sie hin?

Fenster nach dein Westen Es wird bei einem Festactus der deutsch-baltischen Landsmannschaft weder angebracht noch nötig sein, zu weit in die geschichtlichen Über-lieferungen zurückzugehen, die bei Ihnen sowieso lebendig sind, ruhm-voll und leidvoll zugleich. Wie auf baltischem Boden im Zeitalter der Gegenreformation der Angriff Polens auf Schweden, der mit dem Spaniens auf England koordiniert war, gescheitert ist, so hat erst die Eroberung Livlands Gustav Adolf die Möglichkeit gegeben, in den Weltkampf um Deutschland einzutreten. — Beides gewiß Entscheidungen in Fragen der höchsten Politik, in denen es um das Nebeneinander der Konfessionen in Europa und die Abwehr der Universalmonarchie ging. Es ist Ihnen allen ebenso gegenwärtig, daß im Baltikum mit der berühmten Ausstoßung des Fensters nach dem Westen ein anderer internationaler Vorgang großen Stils sich entschied: die Europäisierung des russischen Reichs. Lind es ist nicht nur baltisch-antiquarisches Interesse gewesen, das sich so zäh an die Formen geheftet hat, in denen das geschah, an die zweiseitigen Verträge, die Peters Siegeszug legitimierten. Das Prinzip, um das es dabei ging, hat Karl Schirnen in klassischen Worten formuliert: „Wer ein baltisches Land sein nennen wollte“, heißt es in seiner Livländischen Antwort, „der hatte es zweimal zu erobern, durch Macht und durch Recht. Dauernd besitzen konnte es nur, wer in die sittlich-politische Gemeinschaft der Völker des Weltteils eintrat, wer ein Zeugnis vorwies, daß er sich zu demselben Völker-recht bekenne.“ Das sind Worte in ihrer prinzipiellen Ausrichtung, wie für heute geschrieben. Sie wurden formuliert, als die baltische Autonomie, der „Status provincialis" und sein zeitgeschichtlicher Kern-bestand, das ständisch-korporative Wesen, im Abwehrkampf lag gegen die zentralisierenden und uniformierenden Tendenzen nationalistischer Art, die für das zaristische Rußland selbst und an ihrem Teil für Europa im Ganzen verhängnisvoll sich auswirken sollten. Diesen universalen Zusammenhang hatte der russische Generalgouverneur mit seinem Worte von 1870 mit im Auge. Die Verteidigung der Eigenständigkeit, die in Sprache und Religion ihren innersten Ausdruck fand, war, wie er sehr wohl sah, auch eine Verteidigung der westlichen Züge des russischen Reichsgedankens. Ihre erfolgreiche Durchführung bildete, wie man heute sagen darf, eine Voraussetzung für das Nebeneinander-leben von Völkern, sie bedeutete einen Schutzwall nicht nur für Deutsche, sondern für-Letten und Esten zugleich, ferner gegen die aufsteigenden Biologismen, die des Panslawismus wie des Alldeutschtums.

Im gleichen Jahr 1870 schrie 1 ein Balte, Baron von Thiesenhausen:

„Nationalität ist ein hohes, großes Wort, dem die Idee der Menschheit, welche alle Nationen umschlingt, zugrunde liegt. Wo aber das Nationalbewußtseins von Rassenhaß gegen fremde Nationalitäten erfüllt ist, da herrsdrt ein grober, partikularistischer, alles auf sich selbst beziehender persönlich-nationaler Egoismus vor. Fest im Auge zu behalten ist, daß das Ewig-Menschliche höher steht als das Nationale.“

Es wird hier an. das Besondere des baltischen nationalen Denkens gerührt, das den Überlieferungen des 18. Jahrhunderts, zumal den von Herder herkommenden, verhaftet blieb, das ebenso aber eine eigene und zukunftsträchtige Position internationaler Politik vertrat. Sie führte das ständische in ein national-korporatives Prinzip hinüber und bestätigte sich in einer Haltung, die loyale Zugehörigkeit zu einem Staat und zu einer anderen Kultur innerlich miteinander zu verbinden gewußt hat und die so eine Lösung für das Dilemma versprach, wie es im Prinzip, wenn auch mit verschieden abgestufter Dringlichkeit, allen Völkern zwischen dem geschlossenen deutschen und dem geschlossenen russischen Bereich aufgelegt werden sollte. Man hat oft wohl gesagt, das fundamentale baltische Problem internationaler Art sei der Wettstreit um die Vorherrschaft zwischen Rußland und Deutschland gewesen. Das trifft indessen bis 1914 doch keineswegs zu. Auf der einen Seite ist, wie G. von Rauch auf der letzten Baltischen Historikerkonferenz mit neuem Material gezeigt hat, im 18. Jahrhundert der russische Besitz noch durchaus nicht ein selbstverständlicher, er wird durch mannigfache dynastische Kombinationen durchkreuzt. Auf der an leren Seite hat das nationalstaatliche Jahrhundert Deutschland eben gerade nicht auf den baltischen Plan gerufen. Weder das Bismarck-Reich noch das Wilhelminische Reich zeigten in ihrer offiziellen Politik die geringste annexionistische Tendenz im Nordosten. Das Baltikum wurde nicht zum Erisapfel, es rettete seine Sonderart durch, ja die Loyalität der baltischen Oberschicht festigte sich eher noch nach der Revolution von 1905, während die breiteren lettischen und estnischen Unterschichten im Zuge des sozialen Aufstiegs in das Ringen ihrer bürgerlichen Führer um Selbständigkeit eintraten. In Sprache und Kirche geschützt, ja durch das deutsch-baltische Element, besonders das Pastorat und das Literatentum, gefördert, hätten sie bei günstigerer Entwicklung der großen Politik durchaus in die national-kulturellen und korporativen Formen der baltischen Autonomie hineinwachsen können.

Der erste Weltkrieg Erst die Ereignisse des ersten Weltkrieges haben, wie bekannt, in alldem revolutionären Wandel geschaffen, sie lösten, besonders nach dem Sturz des Zarentums, das baltische Loyalitätsverhältnis zum russischen Reich und ließen die Blicke auf Deutschland — nicht nur als kulturelle Heimat, sondern als nunmehr auch politischen und sozialen Nothelfer sich wenden. Für ein knappes Jahr wurde die Alternative West oder Ost eine reale. Es kam zu jener reichsdeutschen Okkupationspolitik und zu jenen pseudoföderalistischen Angliederungsplänen, die den Stempel des Improvisierten an sich trugen und Episode blieben. Gleichwohl fiel auch damals auf baltischem Boden eine Entscheidung in Fragen der höchsten Politik. Der Survey des Royal Institute of International Affaires drückt es im Jahre 193 8 noch so aus:

„Trotz aller wirtschaftlichen 'Verheerungen . . . rettete die deutsd'ie Okkupation in aller Wahrsdieinlichkeit die baltischen Provinzen vor der unwiederbringlichen Einsd^melzung in die Sowjetunion und, wie die Dinge sich entwickelten, machte sie durd^ die Abwehr der Bolschewisten Unabhängigkeit schließlich möglich.“

Man kann noch weiter gehen: das Baltikum wirkte 1918'19 mit deutschen, mit alliierten und sehr wesentlich doch auch mit eigenen Kräften als Sperrblock, an dem sich noch vor der Schlacht an der Weichsel entschied, daß der militante Bolschewismus jener Tage Mitteleuropa nicht zum Einsturz bringen werde.

Aber war die politische Selbständigkeit, die das Ergebnis dieser Abwehr und der Westlichen Politik, vor allem aber doch des lettischen und estnischen Mehrheitswillens gewesen ist, nicht geschichtlich dazu verurteilt, ihrerseits Episode zu bleiben? Man wird gewiß die strukturellen Schwächen der Nationaldemokratie in Ostmitteleuropa nicht abstreiten und im besonderen Fall des Baltikums die schweren Spannungen, die sich aus der Erinnerung an die deutsche soziale Machtstellung wie aus ihrer Umkehrung ergaben, nicht verwischen wollen. Gewiß war auch das gleichzeitige Ausscheiden des deutschen wie des russischen Macht-faktors etwas Anormales, das so oder so nicht Dauer haben würde und der Lage in der ganzen Zwischenzone einen Zug des Unwirklichen gab.

Aber vielleicht darf ein Historiker, der nicht Deutsch-Balte und nicht Este oder Lette ist, mit der Ihnen allen geläufigen Warnung gegen den voreiligen Schluß aus Erfolg oder Mißerfolg das ausdrückliche Bekenntnis zu dem sehr Positiven und sehr Wirklichen noch einmal verbinden, das in den selbständigen baltischen Staaten geschah und sie in der internationalen Politik über den provinziellen Wasserspiegel erhob. Hier und nur hier in der Nachversailler Staatenwelt erfolgte, wie schon berührt, der grundsätzliche Durchbruch durch das cuius regio eius natio, die Absage an die Allgemeingültigkeit des integralen Nationalstaates, die dem Sich-Abschirmen gegen bolschewistische Penetration neben den sonstigen Erfolgen auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet eine tiefere Grundlage gab, — über egoistische Ziele westmächtlicher Cordonoder Kolonialpolitik hinaus. Noch einmal bestätigte sich die baltische Sonderart, geschichtliche Überlieferungen auf die breitere Grundlage des Letten-und Estentums hinüberführend, aber auch wiederum als westlicher Vorposten am Rande Mitteleuropas. Das Gesetz über die Kulturautonomie, sagte ein estnischer Staatsmann, ist unsere Antritts-visitenkarte vor den Augen der westlichen Welt. Es lag darin gewiß keine Wendung zu Deutschland, wie denn Entmachtung und Enteignung der deutschen Volksgruppe vorangegangen war, wohl aber der Ansatz eines Ordnungsgedankens, der dann wesentlich unter deutsch-baltischer Führung vom Internationalen Kongreß der europäischen Nationalitäten weitergetragen wurde, der Ansatzpunkt auch einer Mitteleuropapolitik nicht-imperialistischer und nicht-hegemonialer Art.

„Ein Volk, ein Reich, ein Führer“

Es mußte diese baltische Position und alle weiterführenden Möglichkeiten in der Wurzel bedrohen, daß in Deutschland eine Bewegung emporkam, die Außengruppen nur im Zeichen von „ein Führer, ein Volk, ein Reich“ sehen wollte, einer Dreieinigkeit, die der alten von „ein Zar, ein Glaube, eine Sprache“ an Bedenklichkeit nichts nachgab.

Sie war zudem gekoppelt mit dem Dogma vom Lebensraam und der Missionsideologie einer Herrenrasse über minderen Völkern, die jedem Selbstbestimmungsrecht und jeder Wertung von Volkspersönlichkeiten ins Gesicht schlug. Auf der anderen Seite ist kein Zweifel, daß die Sowjetunion in den Worten Shdanows von 1936 „das kleine Fenster nach Europa zu erweitern“ gedachte und daß sie trotz Litwinov-Protokoll und Nichtangriffspakt auf den Territorialbestand von 1914 nie verzichtet hatte, wie das Molotow in der entscheidenden Unterredung mit dem estländischen Außenminister am 23. September 1939 klar zum Ausdruck brachte. Seinem lettländischen Kollegen gegenüber hat sich Stalin wenige Tage später ausdrücklich auf die Eroberung durch Peter den Großen berufen. Was man Sowjetimperialismus zu nennen pflegt, hat sich gegen die baltischen Staaten zuerst gewandt. Es ist aber ebenso wenig zu bezweifeln, daß von Osten her auch eine andere Missionsideologie auf die baltischen Grenzen zielte, nicht eine rassische, sondern eine soziale, für die Selbstbestimmung gleichbedeutend ist mit der Wahl eines gesellschaftlichen Systems und die den revolutionären Hebel daher an die Stellung des breiten bäuerlichen Mittelbesitzes in Lettland und Estland legte. So gerieten die baltischen Staaten in der Tat dann in das Kreuzfeuer zweier, teils machtpolitischer teils ideologischer, Expansionstendenzen, beide in ihren inneren Voraussetzungen totalitär, beide auf Nivellierung aller geschichtlichen Strukturen gerichtet. Lettland und Estland suchten sich in dieser Lage zu retten durch strikte Neutralität, durch Enthaltung von jeder Blockbildung, durch Nichtangriffspakte, durch Vermeidung einseitigen Entgegenkommens, das der anderen Seite Vorwand zur Intervention gegeben haben würde. Das war ihr aktiver Beitrag zum Durchstehen der schweren internationalen Krise, die seit dem März 1939 heraufzog. Man wird ihn trotz unvermeidlichen Fehlschlags im Symptomatischen wiederum so gering nicht einschätzen wollen. Es ging um das völkerrechtliche Prinzip, daß unerbetene Hilfeleistung als Angriff betrachtet werden müßte, und um die Abwehr eines neuartigen Interventionsprinzips. Das hat in Entscheidungen von großer Tragweite hineingewirkt. Die feste Haltung der baltischen Staaten ist ein Faktor gewesen für ihren Verlauf wie auch einer, an dem das geschichtliche LIrteil sich orientieren kann.

Die Moskauer Gespräche Ich berühre damit die Verhandlungen Frankreichs und Englands mit der Sowjetunion über einen gegenseitigen Beistandspakt, die sich vom April bis in den August 1939 hingezogen haben. In dem prosowjetischen Buch eines lettischen Autors ist vor 12 Jahren von diesen Verhandlungen gesagt worden, sie seien „auf der Bananenschale“ der baltischen Frage ausgerutscht. Sicherlich eine einseitige und übertriebene Feststellung, aber nicht ohne Wahrheitskern. Seit dem Erscheinen der deutschen und namentlich der britischen Dokumente zur Außenpolitik des Jahres. 1939 kennen wir die Moskauer Gespräche bis in ihre technischen Einzelheiten hinein. Danach bleibt kaum noch Raum für Meinungsverschiedenheiten. In Aufsätzen von 1952, denen die englischen Akten noch nicht zu Grunde lagen hat Boris Meißner die These vertreten, daß Frankreich nicht nur, sondern auch England die baltischen Staaten als Interessensphäre der Sowjetunion in dem Sinne, wie diese den Begriff interpretierte, anerkannt hätten, daß sie also denselben „Kaufpreis“ wie nach ihnen Hitler zu zahlen bereit gewesen wären. In dem genannten Buch von 1956 hält er daran fest, daß sie mindestens der Sowjetunion die Vormachtstellung in den baltischen Staaten zuerkannt hätten. Gegen beide, die schärfere wie die mildere Auffassung, hat Hans von Rimscha schon 19 54 wirkungsvolle und in allem Wesentlichen zutreffende Argumente vorgebracht

Es handelte sich, in Kürze, um zwei Hauptfragen, die praktisch zwischen England und der Sowjetunion kontrovers waren, um die Garantierung von Staaten gegen deren eigenen Willen und um den Begriff des indirekten Angriffs. Die Westmächte waren mit Polen schon in einen Garantievertrag gegen offene Aggression eingetreten, den freilich nur der Beitritt der Sowjetunion effektiv machen konnte. Das wird die kritische Frage des Durchmarschrechts und der polnischen Ost-grenzen auf die Tagesordnung bringen. Die Sowjets forderten den Abschluß einer Militärkonvention gleichzeitig mit dem Beistandspakt. Aber ehe dieser Teil der Verhandlungen in das kritische Stadium trat, wurde schon die baltische Frage zum entscheidenden Terrain. Hier hat England der Forderung einer Garantieerklärung zu Gunsten von Staaten, die sie nicht wünschten, lange widerstanden. Es sei das ganz offenbar unmöglich, so hat Chamberlain am 2. Juni im Unterhaus erklärt. Die britische Politik war keineswegs bereit, der Sowjetunion eine Vormachtstellung im Baltikum einzuräumen über die Köpfe der Betroffenen hin, auch wollte man nicht durch Verletzung der baltischen Neutralität Hitler den Vorwand zum Eingriff geben. Diesem zweiten Gesichtspunkt wurde Rechnung getragen durch einen von Frankreich ausgehenden Vorschlag, dem Beistandspakt eine geheime Liste der zu Garantierenden beizufügen, in der auch die baltischen Staaten figurierten. Indem England diesem heiklen Ausweg Ende Juli im Entwurf beigetreten ist, dürfte an der baltischen Frage zweierlei deutlich werden: Einmal daß die Verhandlungen mit der Sowjetunion ernsthaft gemeint waren, vom Wunsch nach einer jede Aggression abschreckenden Blockbildung diktiert, daß sie also nicht als Verhüllung dienten, wie vermutet worden ist, für eine ganz andere Politik, die Hitler freie Hand zu einem östlichen Kreuzzug geben würde. Ebenso deutlich aber ist, daß Englands Zögern und schließlich seine Ablehnung, den Sowjets das Recht zu jeder Intervention im Baltikum zuzugestehen, daß dies zusammen mit den Londoner Bemühungen um einen deutsch-englischen Wirtschaftsausgleich die schon im Gang befindliche Wendung Stalins zu Hitler noch wahrscheinlicher machte. Zur Krise kam es an dem Begriff des indirekten Angriffs, der die Garantie für die baltischen Staaten in Wirksamkeit setzen würde. Der weitgehenden Interpretation der Sowjets, daß rein innerpolitische Entwicklungen bedrohlich sein und allein schon eine Intervention im Sinne der Garantieerklärung rechtfertigen könnte, widersprach der britische Außenminister aufs Entschiedenste. Für die englische Definition lag indirekter Angriff nur im Fall der Gewaltandrohung durch einen Angreifer vor, die Preisgabe der Unabhängigkeit oder Neutralität zur Folge hat. Damit wäre ein willkürliches Vorgehen der Sowjetunion unvereinbar gewesen. So kam es an diesem Punkt zum Stocken der Verhandlungen. Über alles technische Detail hinaus hat der Vertreter des britischen Außenministers am 31. Juli 1939 die Summe gezogen: „Die Hauptfrage ist, ob wir die Unabhängigkeit der baltischen Staaten beeinträchtigen sollten. Wir sind uns darüber einig, daß wir dies nicht tun sollten. Schlachtfeld in Entscheidungen der höchsten Politik Auch auf diese diplomatischen Verhandlungen wird somit anzuwenden sein, daß das Baltikum, wenn auch überwiegend nunmehr passiv, Schlachtfeld in Entscheidungen der höchsten Politik gewesen ist. Es fragt sich nur, in welchem Sinne. Man könnte versucht sein zu sagen, und das ist mit dem Wort von der Bananenschale eigentlich gemeint, daß die Selbständigkeit einiger Kleinstaaten ein zu hoher Preis war, um das Nicht-Zustandekommen einer Front zu rechtfertigen, die vielleicht den zweiten Weltkrieg hätte verhindern können. Aber wieviele Fragezeichen sind hinter dieses „Vielleicht“ zu setzen? Vor allem wer wagt zu entscheiden, ob Stalin im Besitz einer vom Westen garantierten Interventionsfreiheit nicht selbst die Pandorabüchse geöffnet hätte oder erst recht mit dem Preis der englischen Zusage in der Hand bei Hitler das eingehandelt hätte, was er selbst ohne dieses Pressionsmittel von ihm bekam. Hier dürfte die Antwort darauf liegen, was das baltische Problem zur Klärung des entscheidenden Vorgangs, d. h.des deutsch-sowjetischen Vertrags vom 23. August 1939 und damit zur Frage weltgeschichtlicher Verantwortung beiträgt. Es war eben nicht so, wie Ribbentrop an jenem Tage zu einem Mitarbeiter gleichsam rechtfertigend sagte, daß die baltischen Staaten von England und Frankreich bereits restlos an die Sowjets verkauft seien. Der Westen weigerte sich letzten Endes, aus Opportunitätsgründen ein Prinzip zu opfern, für das er unter Umständen die Waffen gegen Deutschland aufzunehmen sich gebunden hatte. Es war Hitler, der bedenkenlos den Kaufpreis zahlte und damit den Deich öffnete. Er gab damit mindestens zeitweise die Expansionsrichtung im Osten zu Gunsten einer anderen auf, im Sinne der wohlbekannten Artischockentheorie. Wohl scheinen im Sommer 1939 gewisse Fühler von deutscher Seite nach Lettland und Estland ausgestreckt worden zu sein, Besuche des Generalstabschefs Halder und des Abwehrchefs Canaris fanden statt. Es ist indessen unwahrscheinlich, daß es sich dabei um formelle Militärpaktpläne oder Stützpunktpläne gehandelt hat und wenn, dann mußten sie aussichtslos sein. Wohl hat dann Ribbentrop noch Mitte August eine gemeinsame Garantie der baltischen Staaten durch Deutschland und die Sowjetunion vorgeschlagen und schließlich bei den Verhandlungen am 23. August die Düna-Grenze, also eine Teilung, durchzusetzen versucht. Nach telegraphischer Rückfrage stimmte Hitler einer Formulierung zu, die praktisch und uneingeschränkt die baltischen Staaten als sowjetische Interessensphäre anerkannte. Es geschah das so rasch und bedingungslos, daß es nicht des besonderen Argwohns oder einer Wesensverwandtschaft Stalins bedurfte, um darin den Beweis der Unaufrichtigkeit zu sehen. Nach einer freilich nicht sehr zuverlässigen Quelle soll er zu Molotow gesagt haben: „Das war die Kriegserklärung Hitlers an die Sowjetunion.“

Der Vertrag vom 23. August 1939

Wie dem auch sei: Sie alle wissen, daß mit dem Moskauer Vertrag vom 23. August und dem geheimen Zusatzprotokoll vom 28. September 1939 das Schicksal Estlands, Lettlands und Litauens praktisch besiegelt war. Und es ist erst recht eine Ihnen nur zu vertraute Tatsache, daß am gleichen 28. September die Voraussetzung der Umsiedlungsaktion geschaffen wurde, die in das Schicksal der deutsch-baltischen Volksgruppe so tief eingegriffen hat. Es ist das ein Vorgang, der aus dem internationalen Rahmen meines Themas herauszufallen scheint und doch nicht ganz übergangen werden kann. Der Historiker wird dabei beide Seiten zu sehen sich bemühen. Einmal den Erfolg der reichs-deutschen Gleichschaltungs-oder Pressionspolitik und die verhängnisvolle Anziehungskraft, die Teile der nationalsozialistischen Ideologie auf die deutsch-baltische Oberschicht, insbesondere auf die deutsch-baltische Jugend und ihre aus der lokalen Situation heraus besonders begreifliche Sehnsucht nach „Volksgemeinschaft“ ausgeübt haben. Er wird ebenso in Rechnung setzen, daß die Umsiedlung zugleich Rettung vor dem sicheren LIntergang in der bolschewistischen Deportation bedeutete. Auch mancher überzeugte Nationalsozialist wäre dem Quasi-Befehl von Berlin nicht gefolgt, hätte diese Gefahr nicht vor der Türe gestanden. Sie alle wissen, wie falsch das offizielle Propagandabild von der „glückhaften Heimkehr ins Reich“ gewesen ist. Es konnte die brutale Tatsache nicht verstellen, daß die Heimat verloren und das histo rische Gesicht bedroht war: dies letztere durch eine Ansetzung auf fremdem Eigentum und in fremden Häusern, die wie eine Karikatur der deutschen Ostkolonisation und des deutsch-baltischen Ringens um die Kontinuität des Rechts und der Eigenständigkeit wirken, mußte. Auch dieser baltische Vorgang hat darin etwas Symbolhaftes für das Zusammenleben von Völkern im ganzen ostmitteleuropäischen Raum, etwas drohend Vorausweisendes für die Auswurzelung von Millionen. Lind wenn gewisse Kreise in Lettland und Estland, die der deutsch-baltischen Jugend schon vorher das Hineinwachsen in den Staat zunehmend erschwerten, die Flurbereinigung als Erleichterung ihres nationalen Anliegens ansehen mochten, so übersahen sie vollends das drohend Vorausklingende. Tatsächlich war die Umsiedlung — und das stellt sie doch sehr wesentlich in den internationalen Rahmen — ein Stück Entwestlichung des Baltikum, eine Schwächung seiner bürgerlichen Struktur, ein Stück östlicher Nivellierung, die bald auch Letten und Esten in ihren Sog ziehen wird. So mancher von ihnen, der von der einsetzenden Deportation nach Osten bedroht war, ist im Endstadium der Umsiedlung Anfang 1941 als Deutscher über die westlichen Grenzen geschleust worden.

Doch das führt schon weit hinein in das Stadium der sowjetischen Okkupation und der Sowjetisierung. Die Etappen sind bekannt, die erzwungenen Beistandspakte vom Oktober 1939, die sowjetischen Ultimaten vom Juni 1940, die Einsetzung volksdemokratischer Regierungen, die Einheitsblockwahlen und die Umwandlung der baltischen Frei-staaten in Sowjetrepubliken im August, dies auf dem bekannten Wege der „freiwillig“ gestellten Anträge um Aufnahme in den Bund. Die Methoden, mit denen das erreicht wurde und die wiederum etwas Paradigmatisches haben, bedürfen keiner Erörterung, sie sind auch dokumentarisch genugsam belegt und es braucht nicht betont zu werden, daß Pseudoplebiszite unter dem Druck der Roten Armee in keiner Weise eine Rechtsgrundlage darstellen für das, was praktisch Annexion gewesen ist. Auch von der inneren Entwicklung in dem einen Jahr der Sowjetherrschaft, von den Stufen der sozialen Revolution, den blutigen Verlusten und dem Ausmaß der Deportationen habe ich nicht zu sprechen. Ebenso gehe ich über das hinweg, was in den Monaten und Jahren nach dem deutschen Einmarsch vom Juni 1941 geschah. Die Hoffnungen, die den Befreiern von einem fremden Joch und von der Zwangssowjetisierung entgegengebracht wurden, sind trotz einiger besserer Ansätze nur zu bald enttäuscht worden. Wie hätte auch ein System, das selbst auf Terror beruhte, wie hätte die Rosenbergsche oder gar die Himmlersche Ostpolitik die Chance ergreifen können, die hier bereit lag, — offenbarer bereit lag in einem Gebiet alter autonomer Überlieferung und frischer Erinnerung an Selbständigkeit als irgendwo sonst? Zu einem Schlachtfeld in Fragen konstruktiver Politik ist das Baltikum in diesem Stadium nicht geworden.

Die Haltung des Westens Lim den Übergang zu einer Erörterung der Gegenwartssituation zu finden, werden wir vielmehr nach der Haltung des Westens zu fragen haben. Sie hat zunächst der Annexion durch die Sowjets auf dem fiktiven Wege freiwilligen Anschlusses die Anerkennung durchaus versagt. Die Worte vor allem des amerikanischen Unterstaatssekretärs Sumner Welles, mit denen er die „devious processes" und die „predatory activities" anprangerte, sind Ausdruck dieser Mißbilligung. Lind mit den Prinzipien der Atlantic Charta, die knapp zwei Monate nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion angenommen wurde, waren die Vorgänge von 1940/41 ja ganz gewiß nicht verträglich. Es ist anzunehmen, daß der Vorbehalt des sowjetischen Botschafters in London hinsichtlich der Anwendung dieser Prinzipien nach den Umständen, Bedürfnissen und historischen Besonderheiten „bestimmter Länder“ sich namentlich auf die baltischen Staaten bezog. Deutlicher ist Stalin tm November 1941 geworden, wenn er von den durch Deutschland ihrer demokratischen Freiheiten beraubten „baltischen Sowjetländern“ sprach. Die Forderung nach Anerkennung ihrer Einverleibung wurde offiziell gestellt, und es ist seitdem Sowjetthese gewesen, daß das Schicksal des Baltikum eben kein internationales, sondern ein innerrussisches Problem sei. Demgegenüber wich der Westen zunächst in eine Haltung aus, die generell darauf bestand, keine territorialen Veränderungen während des Krieges anzuerkennen, sondern sie ausnahmslos der Friedenskonferenz vorzubehalten. Aber unter dem Druck der Kriegslage trat eine Erweichung dieses Standpunkts ein im Sinne einer Kompromißlösung, die tatsächlich eine erste, und darin wiederum verhängnisvoll symptomatische Kompromittierung der Atlantic Charta bedeutete. Es war ein Strohhalm im Wind, daß im August 1942 die Gesandten der drei baltischen Staaten in London von der diplomatischen Liste gestrichen wurden. Der amerikanische Staatssekretär Hull hat diesem Rückzieher sich scharf widersetzt, und auch Roosevelt sprach noch im März 1943 davon, daß die Überlassung der baltischen Staaten an Rußland ihm widerstrebe und daß die frühere Volksabstimmung wahrscheinlich eine Farce gewesen sei. Aber Churchill war jetzt bereit, den russischen Beitritt zur Charta als an die Klausel der Grenzen von 1914 und 1939 geknüpft anzuerkennen. Weder in Teheran noch in Jalta ist der Sowjetthese, wonach die baltische Frage außer Diskussion stehe, formell von den westlichen Alliierten widersprochen worden.

Immerhin gelang es auf der Krimkonferenz der amerikanischen Delegation, eine Erklärung über das „Befreite Europa“ durchzusetzen, deren Verheißungen, wie immer unerfüllt sie geblieben sind, von ihr auf das Baltikum mitbezogen wurden. Ausdrücklich erklärte der stellvertretende amerikanische Staatssekretär, soweit es die Vereinigten Staaten betreffe, bleibe auch nach Jalta der Status der baltischen Staaten unverändert, ihre Gesandten würden vom State Department auch weiterhin anerkannt.

Dieses ist die Sachlage bis heute geblieben. The Statesman’s Yearbook für 19 5 5 stellt fest, daß die Einverleibung der baltischen Staaten in die LIdSSR von Großbritannien de facto anerkannt sei, aber nicht von der Regierung der Vereinigten Staaten. Der Congressional Directory für Januar 1956 zählt unter den völkerrechtlichen Vertretungen auf: ein estländisches Generalkonsulat in New York, eine lettländische und eine litauische Gesandschaft in Washington, ferner estländische Konsulate in Los Angeles und New York, lettländische in Los Angeles, Washington, Indianopolis, New Orleans, Philadelphia und San Juan, litauische in Chicago, Boston und New York. Damit ist im juristischen Sinne, was immer die Schwierigkeiten des Protokolls und der Finanzierung sein mögen, die Fortexistenz der baltischen Staaten seitens den LISA anerkannt, und dies ist die erste Tatsache, auf die sich die Auffassung stützen kann, daß sie noch heute ein Problem der internationalen Politik darstellen.

Fortexistenz der „Balten“

Die zweite und fundamentalere Tatsache ist die Fortexistenz der betroffenen Völker, die durch ihre Auslands-oder Exilorganisationen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, neuerdings auch in Kanada, nicht unerheblichen Einfluß üben, die vor allem aber doch auch im Lande selbst dem Grundstock nach geblieben sind. Es ist nicht leicht, sich Klarheit über die zahlenmäßigen Verhältnisse zu verschaffen, trotz vieler Mühe, die daran u. a. auch von deutsch-baltischer Seite gewandt ist. Fest steht, daß sich unter den DP’s, d. h. unter LINRRA-Verwaltung in Westdeutschland 163 OOO „Balten“ befanden, daß 30 000 nach Schweden entkamen. Nur ganz wenige kehrten vom Westen in die Heimat zurück. Wieviele zu den Umgekommenen hinzu nach Osten deportiert worden sind, einschließlich der letzten großen Welle vom Frühjahr 1949, wird wohl nie genau festzustellen sein. Eine jüngste Untersuchung, die an der Universität von Chicago für Lettland durchgeführt worden ist, kommt zu einem Gesamtverlust der lettischen Bevölkerung von 320 000. Dem steht ein Zuwachs der großrussischen und belorussischen um 500 000 gegenüber, was ihren Anteil auf insgesamt 37 Prozent bringen würde. Darin ist jedoch militärisches und administratives Personal enthalten. Man wird gewiß weder die Schwere des Aderlasses gerade auf Kosten der führenden und bewußt westlichen Schichten noch das Ausmaß der Russifizierung bagatellisieren wollen, und doch darf man glücklicherweise sagen, daß der mit subjektivem Recht alarmierende Buchtitel eines litauischen Autors von 1947 „Ein kleines Volk wird ausgelöscht“ und daß die Gefahr der völligen Zerstreuung der Litauer, Letten und Esten sich nicht erfüllt haben.

Nun wird gewiß niemand die Illusion hegen, daß aus dieser Tatsache allein eines Tages sich praktische Folgerungen ergeben könnten. Und mit der gleichen illusionslosen Nüchternheit muß gesagt werden, daß in der Kette ungelöster Probleme die Chancen von Westen nach Osten eher abnehmen, von der Sowjetzone über die Oder-Neiße-Gebiete nach Ostpreußen und dem Baltikum. Und doch gehören sie alle in dem Sinne zusammen, daß ihrer aller Schicksal durch die Rote Armee, durch die Macht der Tatsachen entschieden worden ist, ohne rechtliche Legitimierung und in offenbarstem Gegensatz zu volksmäßigen Gegebenheiten.

Mit Recht wehren sich die Beteiligten, daß die eine Frage gegen die andere etwa ausgehandelt werde. So haben denn in den Plänen einer „Zurückrollungspolitik" die baltischen Staaten auch ihren Platz gehabt, — in sehr unrealistischen Plänen. Denn daß keine der genannten Fragen mit den Waffen gelöst werden kann, liegt auf der Hand. Von größerem Interesse dürfte daher sein, daß auch im Eden-und im Dulles-Plan des letzten Jahres das Baltikum eingeschlossen gewesen ist. In der Tat: wenn die deutsche Einheit erkaufbar sein sollte durch Demilitarisierung der bisherigen Sowjetzone und einen Sicherheitsgürtel zwischen Elbe und Weichsel, oder durch beiderseitige Räumung atomarer Basen und strategischer Ausgangsstellungen, dann müßte auch die baltische Position als ein garantierter Puffer darin einbegriffen sein.

„Das letzte Geschenk . .

Es wird vom Historiker nicht erwartet werden, daß er sich in politischen Spekulationen über solche Möglichkeiten ergeht. Lind doch drängt sich eine letzte Erwägung auf, die gleichfalls und mit Notwendigkeit im Lingewissen endet, die aber die vorhin genannte Kette abnehmender Chancen nicht ohne Grund ins Gegenteil verkehrt sieht oder mindestens das Stellvertretende einer Entscheidung am Endglied der Kette hervorhebt. Am Baltikum wie einem feinfühligen Barometer ist zuerst die Gewitterwolke spürbar geworden, die sich seitdem über Europa gelegt hat, hier wurde zuerst die LInverträglichkeit von Prinzipien offenbar, die nach dem zweiten Weltkrieg die Welt in zwei Heerlager auseinandergerissen haben. Nirgendwo sonst würde die Ernsthaftigkeit der auf dem 20. Parteikongreß proklamierten Wendung deutlicher in Erscheinung treten und die vielberufene Entspannung in der Koexistenz handgreiflicher zu überprüfen sein als an diesem symptomatischen Punkt. Einen gewissen Vorklang, wie immer taktisch bedingt und aus abweichenden Voraussetzungen stammend, wird man in der sowjetischen Finnland-Politik sehen dürfen. Aber die wirkliche Visitenkarte, um das Wort des estnischen Staatsmanns zu wiederholen, wäre in Reval und Riga auf den Tisch zu legen. Sie müßte nicht nur die LImwandlung der Sowjetrepubliken in Satelliten enthalten, von der gemunkelt wird, sondern bei aller Sicherung gegen restauratives Extrem Freigabe der gesellschaftlichen Ordnung nach den Wünschen der Bevölkerung und Freizügigkeit für die Ausgesiedelten in Ost und West.

Vor einigen Monaten hat Reinhard Wittram auf der Baltischen Historikerkonferenz den Vortrag eines estnischen Kollegen eingeleitet, indem, er-davon sprach, daß nach den Erlebnissen der Katastrophe „weder abweichende Ansichten, noch räumliche Zerstreuung, noch verschiedenes Schicksal“ die Angehörigen der einst zusammenwohnenden Völker mehr trennen könne. So sei „das letzte Geschenk des von Kampf und Not gezeichneten alten Landes“ an die Überlebenden: „Friede. Man könnte wohl nicht treffender die Möglichkeiten und Aussichten eines „letzten Geschenkes“ kennzeichnen, die sich auch an „Das Baltikum als Problem der internationalen Politik“ knüpfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. The Baltic Provinces: Some Historie Aspects and Perspectives (Journal of Central Affairs, vol. 4, July 1944).

  2. Gregory Meikein, The Baltic Riddle.

  3. Osteuropa, 1952, S. 241— 250 und 341— 346.

  4. Historische Zeitschrift 177, 2 — Ferner lag mir eine noch ungedruckte, sehr minutiöse Untersuchung des früheren lettischen Diplomaten Magister Georg Vigrabs vor, die auch den VII. Band der englischen Akten schon benutzen konnte und zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Eine gekürzte Fassung soll in den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte" erscheinen.

  5. Peter Kleist, Zwischen Hitler und Stalin (1950, S. 268).

  6. U. a. durch die von Boris Meissner veröffentlichten „Dokumente zu den kommunistischen Volkswahlen in England (Vierteljahreshefte ür Zeit-geschichte II, 1, S. 106 ff).

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