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Notwendigkeit und Grenzen der Koexistenz | APuZ 3/1957 | bpb.de

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APuZ 3/1957 Das Baltikum als Problem der internationalen Politik Leo Trotzki Notwendigkeit und Grenzen der Koexistenz

Notwendigkeit und Grenzen der Koexistenz

OTTO HEINRICH von der GABLENTZ

Das Wort Koexistenz ist eine abstrakte Umschreibung für eine sehr konkrete historische Erscheinung. Es bezeichnet ein friedliches Nebeneinanderleben verschiedener politischer Systeme. Aber es ist geprägt worden für eine ganz bestimmte Situation von zwei ganz bestimmten Systemen, für das Verhältnis des kommunistischen und des sogenannten „westlichen“ Systems in dem Augenblick, als der Kalte Krieg beiden Parteien zu gefährlich und kostspielig erscheint. Es liegt nahe, in solch einer Umschreibung nichts anderes zu sehen als eine Tarnung, als den taktischen Versuch, die Spannung harmloser erscheinen zu lassen, wenn man sie nicht als das Verhältnis zwischen Rußland und Amerika bezeichnet, sondern als Spezialfall eines allgemeinen Begriffes subsumiert. Man kann über Koexistenz diskutieren, wenn man den harten Tatsachen Rüstung und Besatzung, Spionage und Zuchthaus ausweichen will. Aber wenn man sich mit diesem negativen Urteil begnügen wollte, verfiele man in den verhängnisvollen Aberglauben der vulgären Theorie von der „Realpolitik“, die den Unterschied zwischen den verschiedenen Fermen des Machtkampfes nicht sehen will. Es ist die These dieses Vortrages, daß politische Spannungen ein anderes Aussehen gewinnen, daß neue Möglichkeiten der Lösung auftauchen, wenn man die Gelegenheit hat, sie von verschiedenen Seiten zu betrachten, und daß unter diesem Gesichtspunkt der Begriff Koexistenz jedenfalls fragwürdig ist.

Was ist mit Koexistenz im Zeitpunkt des Kalten Krieges gemeint?

Es ist die Vorstellung, die beiden politischen Systeme könnten nebeneinander existieren ohne ständige Sorge vor gewaltsamen Angriffen in den Formen des Krieges, des Bürgerkrieges, des Putsches, ohne die Sorge davor, daß der Gegner jede Gelegenheit benutzen würde, die Sicherheit des anderen Systems zu untergraben. Das würde also einschließen, daß jede Seite der anderen zubilligte, in ihrem Bereich nach ihrer Weise zu existieren.

Damit ist das eigentliche Problem gestellt: seit es Staaten gibt, koexistieren sie, leben sie mehr oder weniger friedlich unter gegenseitiger Anerkennung nebeneinander. Es ist ein Ausnahmefall, wenn diese Anerkennung absolut ist, wenn keinerlei Anspruch auf irgendwelche Gebiete des anderen erhoben wird, wenn keinerlei Wunsch besteht, an der Verfassung oder der Wirtschaftsordnung des anderen etwas im eigenen Interesse zu ändern. Aber es ist erst recht ein Ausnahmefall, wenn die ganze Existenz des anderen als Unrecht und als Bedrohung betrachtet wird.

Mit diesem Fall aber haben wir es heute zu tun. Koexistenz wäre also nicht Feststellung des Normalfalles, sondern Wiederherstellung der Normalsituation. Fragt man nach ihrer Möglichkeit, dann muß man fragen, was sie bisher unmöglich gemacht hat, was das russisch-amerikanische Verhältnis von den üblichen internationalen Spannungen unterscheidet.

Jede Herrschaft ist koexistenzfähig, wenn sie grundsätzlich eine Beschränkung anerkennt; denn dann bleibt ein Raum für andere. Hier aber handelt es sich — mindestens in den Vorstellungen der beiden Partner — um eine Herrschaft ohne Beschränkung. Jeder wirft dem anderen vor, er strebe nach der Weltherrschaft. Jeder muß daher, wenn nicht selbst nach der Weltherrschaft, so mindestens nach einem Weltbund zur Eindämmung des anderen streben.

Dabei stoßen zusammen nicht nur zwei Weltreiche, sondern zwei diametral verschiedene Gesellschaftssysteme. Amerika und Rußland bestreiten einander nicht nur den Raum der Herrschaft, sondern auch das Recht auf ihre Art, die Herrschaft auszuüben. Von Rußland aus gesehen ist das System Amerikas die Unterdrückung der Massen, vor allem der Arbeiter-und Bauemklasse, in deren Befreiung man den Sinn der Revolution von 1917, in deren Herrschaft man den Hauptinhalt der eigenen Staatsverfassung sieht. Von Amerika aus gesehen ist das russische System die Unterdrückung der menschlichen Freiheit, um derentwillen man 1776 die Unabhängigkeit erkämpft zu haben meint, deren Sicherung den Hauptinhalt der eigenen Staatsverfassung bildet. Die Ordnung des anderen erscheint nicht nur als fremd, sondern als feindlich, nicht nur als falsch, sondern schlechthin als böse. Gut und böse aber sind keine politischen Kategorien mehr, auch keine ethischen; denn es geht nicht nur um das richtige Handeln, sondern um das Heil der Welt. Alfred Weber hat völlig recht, wenn er vom Gegensatz der „Sozialreligionen ‘ spricht.

Damit haben wir die Ausgangslage umrissen: Der Kampf zweier Weltmächte um die Erdherrschaft und der Kampf zweier Religionen um die Geltung in der ganzen Menschheit soll zum Stillstand gebracht werden in der Koexistenz. Soweit diese Gegensätze absolut sind, scheint die Koexistenz ausgeschlossen, scheint es unmöglich, die Weltmächte und die Sozialreligionen auf jenes Normalverhältnis herunterzuintegrieren. Also haben wir zu untersuchen, ob der Gegensatz wirklich diesen absoluten Charakter hat. Dazu soll uns erst einmal ein geschichtlicher Umweg dienen. Haben wir ähnliche absolute Gegensätze im Kampf um die Weltherrschaft schon gehabt und haben sie sich in Koexistenz beschränken können? Dann ist die Ausschließlichkeit der gegenwärtigen Gegensätze zu untersuchen. Gibt es neben den beiden Weltmächten dritte Mächte, die auf dem Kampfplatz ernst zu nehmen sind? Gibt es dritte Sozial-religionen, die eine Zwischenzone einnehmen können? Am wichtigsten ist dann die Frage nach der inneren Struktur der Mächte und der Sozial-religionen. Sind sie monolithisch, wie sie selber behaupten, wie sie sich der Weltmeinung präsentieren? Oder gibt es Komplikationen der sozialen Struktur, in denen die Bedingungen für einen Ausgleich der Interessen, Erweichungen der weltanschaulichen Gegensätze, in denen die Bedingungen für einen Ausgleich im geistigen Kampf liegen könnten?

Und schließlich: sind die sachlichen und historischen Voraussetzungen im gegenwärtigen Stadium noch dieselben, unter denen sich die Fronten gebildet haben?

Historische Parallelen

Wenn wir nach historischen Parallelen fragen, dann drängt sich zunächst die Frage auf, ob es nicht etwas viel Stärkeres gibt, als bloße Parallelen, ob es sich nicht in den heutigen Weltgegensätzen nur um eine neue Phase in dem ständigen Ringen zwischen Ost und West handelt. Dann erscheinen die Perserkriege der Griechen, die Kämpfe zwischen Römern und Parthern, Byzantinern und Sassaniden, die Eroberungen der Khalifen, die Kreuzzüge und die Türkenkriege, aber auch die Einbrüche der Hunnen und Ungarn und Mongolen eine Einheit zu bilden, die sich fortsetzt im Vorstoß des Bolschewismus nach Mittel-und Westeuropa. Dann beschwört man den heiligen Ulrich auf dem Lechfeld im Namen des christlichen Abendlandes, spanische Fanatiker predigen auf deutschem Boden den Kreuzzug der Konquistadoren gegen das Neu-heidentum, und die Restbestände der Kolonialherrschaft werden verteidigt mit Kiplings Wort „East is east and West is West, and never tEe twain shall nteet“.

Diese Vorstellung enthält eine fürchterliche Konfusion von Teilwahrheiten. Richtig ist, daß sich in Europa in der Symbiose von griechischer Philosophie und römischen Rechtsgefühl, von christlichem Glauben und germanischem Individualismus jene Einheit von politischer Freiheit und nationaler Geistigkeit entwickelt hat, die im ständigen Kampf gegen ihre östlichen Nachbarn — denn andere Grenzen hatten sie nicht — sich behauptet und in der Gegenoffensive seit dem 16. Jahrhundert kraft ihrer technischen Überlegenheit alle anderen Kulturen überwunden hat. Aber es ist zunächst falsch, dieser westlichen europäisch-amerikanischen Kultur „den Osten“ als Einheit gegenüberzustellen. Das einzig gemeinsame zwischen Ostasien und dem Islam war, daß sie nicht westlich waren. Den Indern und den Mongolen erschien der Islam räumlich und geistig schon als ein Stück Westen. Und vollends das christliche Rußland galt von Peter dem Großen bis zu Nikolaus II. als eine westliche Macht — und für die Türken und Chinesen und Japaner war es das auch. Höchstens die unterdrückten Polen und Balten wußten davon zu berichten, daß die geistigen und sozialen Gegensätze zu Rußland ungleich stärker waren als die üblichen Spannungen zwischen den westlichen Völkern römischer Tradition, und die in den russischen Staat aufgenommenen Moslem und Mongolen erlebten eine andere Affinität und Assimilationsbereitschaft als die Untertanen westeuropäischer Kolonien. Aber damit wurde Ruß-land nicht zum „Osten“'. Und gar der Bolschewismus erwies sich als eine Durchdringung Rußlands mit westlichem Rationalismus und westlicher Technik, und die asiatischen Völker werden künstlich in eine antieuropäische Einheitsfront mit dem Kommunismus hineingepreßt, wenn man die Russen mit den Augen Kiplings und die Inder mit den Augen des Antikommunismus sieht.

Als Beispiel für die Koexistenz von Weltmächten wird häufig das Verhältnis von Rom und Byzanz zu den Parthem und Sassaniden bezeichnet.

700 Jahre lang hat die Grenze der beiden Reiche am oberen Euphrat gelegen. Zwar hat in dieser Zeit, von kurzen Waffenstillständen abgesehen, meist Kriegszustand geherrscht. Aber wenn die Römer einmal Mesopotanien oder die Orientalen Syrien besetzt hatten, trat sehr schnell der Rückschlag ein. Die politische Grenze verschob sich nur vorübergehend, die kulturelle überhaupt nicht. Als zu Lebzeiten Muhameds die Perser bis nach Ägypten vordrangen und im Gegenstoß Kaiser Heraklins ihre Hauptstadt Ktesiphon am Tigris zerstörte, wurden die Heere beider Reiche so geschwächt, daß der Islam wenige Jahre später die strittigen Gebiete an sich riß. Zu einem bewußten Ausgleich ist es nur gelegentlich gekommen. Abgesehen von einem breiten umkämpften Grenzstreifen, waren die geographischen und sozialen Bedingungen so verschieden, daß sich Römer in Mesopotanien und Perser in Syrien nicht halten konnten.

Beide Reiche waren im Inneren und an den anderen Grenzen so beschäftigt, daß sie zu umfassender Expansion in diesem Gebiet nicht fähig waren. Die religiösen Unterschiede führten nirgends zu einer politisch unterstützten Mission. Beide Reiche blieben mit ihrer Hauptmacht daher an einer militärisch leicht zu haltenden Demarkationslinie stehen und beschränkten sich auf ein Minimum von Beziehungen.

Sehr viel näher liegt der Vergleich mit dem Verhältnis zwischen Christentum und Islam. Hier ging der Kampf um Kerngebiete, wenigstens des einen, des christlichen, Systems. Hier standen sich zwei expansive, missionierende Religionen gegenüber, verwandt genug, um sich intolerant zu verdrängen. Hier ging es um die Weltherrschaft für den eigenen Glauben, zuerst im heiligen Krieg des Islam, dann in den Kreuzzügen von christlicher Seite. Aber gerade hier finden wir viel mehr Koexistenz, als man erwartet. Der Islam läßt das Christentum bestehen; allerdings werden die Christen Staatsbürger zweiten Ranges und Übertritte lohnen sich, wenn sie zur Aufnahme in die Führungsschicht verhelfen. Das Christentum greift zur Zwangsbekehrung und Vertreibung nur in dem zeitlich späten und räumlich peripheren Falle Spaniens. Eine Demarkationslinie hält sich vom 8. bis 12. Jahrhundert zwischen Syrien und Kleinasien, später zwischen dem türkischen und den habsburgischen Teil Ungarns. Wenn man von den großen überraschenden Vorstößen der Araber im 7. und 8. und der Türken im 14. Jahrhundert absieht, gibt es immer etwas wie ein Staatensystem, in das christliche und islamische Staaten eingeschlossen sind. Die Kreuzfahrer verteidigen das fatimidische Ägypten gegen die Kurden. Franz I. verbündet sich mit dem osmanischen Sultan gegen Karl V. Ein Bewußtsein menschlicher, geistiger Zusammengehörigkeit kommt gerade auf den Höhepunkt der Kreuzzüge auf, wenn Wolfram v. Eschenbach Parzival sich mit seinem dunklen Bruder Feirefiz versöhnen läßt, wenn ein deutsches Grafengeschlecht, die Isenburgs, ihren Söhnen den Namen Saladin gibt. Zu einem wirklichen Ausgleich kommt es allerdings nur, wenn der Glaubensgegensatz gleichgültig wird; episodenhaft unter dem skeptischen Kaiser Friedrich II., endgültig im 19. Jahrhundert, für das die Türkei ein legitimer Staat neben anderen wird. Gleichgültigkeit bringt zustande, was Toleranz nicht erreichen konnte.

Noch näher kommen wir der heutigen Situation, wenn wir die europäischen Religionskriege betrachten. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 setzte mit der Regel cujos regio, ejus religio eine Demarkationslinie fest. Ähnlich verfuhr auch das Edikt von Nantes, oder der böhmische Majestätsbrief, nur daß sie die Rechte nicht regional, sondern ständisch verteilte. Damit war aber keine Lösung auf die Dauer gefunden. Religiös nicht, denn beide Konfessionen mußten ihren Grundsätzen nach missionieren. Politisch nicht, denn der Gegner saß ja im eigenen Lande. Die deutschen Katholiken riefen die Spanier, die französischen Protestanten die Deutschen, die deutschen Protestanten die Schweden zu Hilfe. Aber eben diese Verwirrung politischer und religiöser Beziehung führte die Glaubenskriege ad absurdum. Kardinal Richelieu unterstützte die deutschen Protestanten, nachdem er die Hugenotten in La Rochelle trotz englischer Unterstützung niedergeworfen hatte. Im Heere des katholischen Kaisers dienten deutsche Protestanten, in den späteren Jahren des Krieges offenbar ohne innerlich gehemmt zu sein und ohne in ihrem Glauben gekränkt zu werden. Zu gleicher Zeit aber gewährten die Holländer ihren katholischen Landsleuten Duldung, nicht nur in den Gebieten, die sie gegen Ende des Krieges den Spaniern abgewonnen hatten, sondern auch in den alten holländischen Provinzen selber. Toleranz und Gleichgültigkeit nebeneinander führten das Ende der absoluten Feindschaft herbei.

Die Gleichgültigen sind eine dritte Macht, die sich neben die Kämpfenden stellt, die sich zwischen sie schiebt. Die Toleranz aber deutet auf einen Wandel innerer Struktur. Sie hebt den Absolutheitsanspruch nicht auf. Aber sie macht seine Geltung abhängig von der inneren Anerkennung. Sie will nicht herrschen, wo sie nicht überzeugen kann. Sie tritt dem Feind nicht nur äußerlich entgegen. Sie „begegnet“ ihm, wie es Friedrich Heer in einer seiner bemerkenswerten Broschüren glücklich formuliert. Sie verwandelt die Feindschaft in Gegnerschaft. Sie erfährt das Gemeinsame und bewirkt damit eine übergreifende Beziehung. Indem sich das gegenseitige Verhältnis wandelt, wandelt sich die Struktur auf beiden Seiten. Hinter den Fronten werden die Menschen sichtbar, hinter Religionen, Nationen und Klassen die einzelnen Personen.

Die Weltkarte ist nicht mehr in zwei Farben zu malen

Nun können wir uns wieder der gegenwärtigen Situation zuwenden und prüfen, wie weit die Vorstellung vom ausschließlichen Gegensatz der zwei Mächte und Systeme den Realitäten entspricht. Beginnen wir von außen, dann muß die erste Frage heißen: teilt sich wirklich die Menschheit in diese zwei Parteien auf? In der politischen Diskussion geht hier der leidenschaftliche Streit um die Bandung-Mächte, um Neutralität und Neutralismus, dritte Kraft und Sicherheitsgürtel. Gibt es Neutralität, oder bedeutet sie praktisch Entscheidung für eine der beiden Parteien wie es heute immer wieder schroff John Foster Dulles behauptet? Eine wissenschaftliche Analyse muß umfassender sein und tiefer gehen. Sie muß zunächst untersuchen, unter welchen Bedingungen die Vorstellung entstanden ist, daß die ganze Menschheit in zwei Lager zerfiele. Diese Vorstellung hat zwei Wurzeln. Die eine liegt im Marxismus-Leninismus. Für Marx zerfällt die Gesellschaft in die beiden Klassen Proletarier und Kapitalisten, zwischen denen die anderen Gruppen zerrieben werden. Lenin überträgt diese Vorstellung von Ausgebeuteten und Ausbeutern auf die Staatenwelt. Die kommunistischen Staaten übernehmen die Rode des Proletariats, die anderen werden diffamiert als „Imperialisten“. Da der Kommunismus die Zukunft für sich hat, sind Neutrale willkommen, sie können ja den sicheren Sieg nur beschleunigen. Sie werden ideologisch wenigstens als progressiv der Front eingegliedert. „Wer nicht wider mich ist, ist für mich“.

Die andere Seite, die ja die Voraussetzung des absoluten Klassenkampfes leugnet, kann erst reaktiv zu der Vorstellung der zwei Fronten kommen. Sie fühlt sich in der Verteidigung. Wer sie nicht unterstützt, ist ein Verräter, er wird als fellow-traveller in die feindliche Front eingegliedert. „Wer nicht für mich ist, ist wider mich“. Das Bewußtsein der eigenen Einheit, der eigenen Sendung, fehlt. Aber es kann ergänzt werden aus der zweiten Wurzel. Auch dem Westen ist ja das Schema der zwei ausschließlichen Lager vertraut -aus dem zweiten Weltkrieg, als man die Menschheit in Freie Völker und Faschisten einteilte, gegen die man einen Kreuzzug führte. „Crusade in Europe“ hießen Eisenhowers Kriegserinnerungen. Es war also leicht, dieses Schema auf den alten Bundesgenossen anzuwenden, als sich herausstellte, daß man es mit einer zweiten Form des totalen Staates zu tun hatte.

Nun paßten diese Schemata aber auch wirklich, als der Kalte Krieg ausbrach, 1947 und 1948. Nur die LISA und die Sowjetunion verfügten über militärische Macht für große Unternehmungen. Nur die LISA und die Sowjetunion hatten ein wirtschaftliches Potential, mit dem sie anderen wirkungsvoll Unterstützung gewähren konnten. Nur die USA und die Sowjetunion waren politisch gefestigt genug, um Entscheidungen riskieren zu können. England stand in der Umbildung seines Empire zum partnerschaftlichen Commonwealth der verschiedenen Rassen. Frankreich war wirtschaftlich und politisch zerrüttet. In China waren die Kommunisten erst dabei, den Bürgerkrieg zu gewinnen, und niemand hatte eine Vorstellung von der Dauerhaftigkeit und Größe ihrer Macht. Die eben entstehenden Staaten Südasiens und des Vorderen Orients zählten noc nicht.

Der Kommunismus erschien als monolithischer Block in den Händen Stalins. Er unterdrückte die Grundrechte politischer und wirtschaftlicher Freiheit, wo er hinkam. Er dehnte sich aus in offenem Bürgerkrieg in Griechenland und China, in Unterwanderung in Frankreich und Italien, in den Kolonialländern durch das Bündnis mit den Nationalisten. Verständigung über die gemeinsam verwalteten Länder Korea und Deutschland, über den Frieden mit Japan und Österreich war nicht zu erzielen.

Der Marshallplan war die erste umfassende Verteidigungsmaßnahme, die LInterstützung Griechenlands durch Truman der erste direkte Wider-tand. Die Sowjetunion antwortete mit dem Putsch in Prag, mit der Berhier Blockade. Der Krieg in Korea schien die Fronten endgültig zu verestigen. Geschlossen standen die Mitglieder der Vereinten Nationen legen die Sowjetunion und ihre Satelliten. Aber gerade während des ‘oreakrieges vollzog sich der Umschwung. Die neuen asiatischen Groß-nächte wurden selbständig. Rotchina zeigte eine solche militärische 'lacht, daß es sich innerhalb des Blockes neben die Sowjetunion stellte.

Indien zeigte ernsthafte militärische Leistungen und vermittelte, ja bestimmte den Waffenstillstand.

Inzwischen war das Jugoslawien Titos zu Einfluß gekommen. Stalins Versagen auf einem Nebenkriegsschauplatz hatte sich gerächt. Es gab jetzt einen eigenständigen Kommunismus, der nicht in die sowjetische Front gehörte, wie es in Asien eigenständige, nicht-kommunistische Länder gab, die es sich von Fall zu Fall überlegen konnten, ob sie, wie in Korea, in die amerikanische Front eintreten wollten. Man konnte sie nicht übergehen, weil ihre Haltung entscheidend werden konnte für die „unterentwickelten Länder“, die bisherigen und die noch übrigen Kolonialgebiete, aber auch für Japan, auch für Südamerika. Als dritte Gruppe außerhalb der Fronten kamen jetzt die Staaten des Vorderen Orients hinzu. Die Enttäuschung über die Bildung des Staates Israel und über die militärische Niederlage führte die arabischen Staaten dazu, sich von den angelsächsischen Mächten zu distanzieren. Die ägyptische Revolution war nicht nur eine Konsequenz dieser Niederlage, sondern darüber hinaus die Abrechnung mit einem sozialen System, auf das sich die Europäer zu lange gestützt hatten. Die französische Niederlage in Indochina — Dien Bien Phu hat mindestens dieselbe symbolische Bedeutung wie der Koreakrieg — hatte die Erhebung der nordafrikanischen Moslem zur Folge, die dieselbe Gruppe der Neutralen verstärkte. Die Bandung-Konferenz war eine große Heerschau dieser „Dritten Kraft“.

Sie wirkte noch weiter. Die geschickte Haltung Tschou En-Iai‘s gab China die Möglichkeit, als Brücke zwischen diesen Mächten und der kommunistischen Welt aufzutreten. Die scharfe Kritik der ceylonischen und irakischen Vertreter am russischen Imperialismus unterstrich die Unabhängigkeit auf beiden Seiten, wirkte sich aber nicht zu Gunsten der amerikanischen Front aus. Kotelawala ist inzwischen gestürzt, die Stellung von Nuri es Said nach den Ereignissen am Suez-Kanal noch stärker umstritten als vorher. Seine Politik scheint an eine soziale Schicht gebunden zu sein, deren Herrschaftsanspruch erschüttert ist.

Viel bedeutsamer aber sind die Änderungen, die sich innerhalb der beiden Blöcke vollziehen. Für England und Frankreich stehen die Sorgen um den vorderen Orient und um Nordafrika an erster Stelle. England ist noch lange nicht mit der Modernisierung seiner Binnenwirtschaft fertig. Es leidet unter dem Verlust seiner Stellung in den arabischen Ländern und unter den Spannungen um Zypern. Es hat die schwersten Probleme in Afrika zu bewältigen, die Kolonialherrschaft allmählich und mit verschiedenen Methoden abzulösen. Es sieht große wirtschaftliche Chancen in China. Frankreich ist innerlich zerklüftet, militärisch in Nordafrika festgelegt, fühlt sich für die Lösung seiner Kolonialnöte auf ein gewisses Stillhalten der Russen angewiesen.

Deutschland und Japan sind wieder ernstzunehmende Potenzen. Beide stehen im amerikanischen Lager. Beide sind an einer Entspannung dringend interessiert, weil nur sie ihre dringendsten Wünsche befriedigen könnten: Die Wiedervereinigung für Deutschland, den Chinahandel für Japan. Sie sind in ihrer Sicherheit so lange an Amerika gebunden, als sic befürchten müssen, daß Rußland und China keine Verständigung, sondern eine Unterwerfung wollen. Darum ist das entscheidende Problem unserer Betrachtung, ob sich die Struktur des Ostblocks gewandelt hat und wandeln wird. Die Antwort hängt weithin davon ab, wie man die innere Struktur dieser Länder beurteilt, die wir in den nächsten Abschnitten zu untersuchen haben. Aber einige Aussagen lassen sich schon hier machen. China steht neben Rußland, nicht unter ihm. Die Vorstellung, daß Rußland heute auf Verständigung mit dem Westen um jeden Preis angewiesen wäre, weil es den Bevölkerungsdruck Chinas zu fürchten habe, können wir dem kleinen Moritz überlassen. Aber daß China seine eigenen Probleme hat, daß es seine innere geistige und wirtschaftliche Umstellung nicht einfach nach russischem Schema macht, daß es für diese Umstellung gerne japanische und amerikanische LInterstützung hätte, damit kann man rechnen. Und auch damit, daß es auf solche Unterstützung, wenn man sie ihm endlich in vernünftiger Weise anbietet, nicht verzichten würde, um eine abenteuerliche russische Expansion in Europa oder im vorderen Orient zu unterstützen. Die Machtverhältnisse in den europäischen Satellitenstaaten sind sehr schwer abzuschätzen. Die Ereignisse in Ungarn und Polen haben klar gezeigt — und die Nachrichten aus Bulgarien und Rumänien lassen weitere Schlüsse in derselben Richtung zu —, daß die Sowjetunion auf freiwillige Unterstützung dieser Völker nicht rechnen kann, auch nicht auf die Arbeiter, auch nicht auf die Jugend, vor allem auch nicht auf das Militär. Sie sind keine Stützen, sondern Gefahrenherde. Es bestand die Hoffnung, daß sich die Beziehungen allmählich lockern würden, so daß die Sowjetunion sich etappenweise hätte zurückziehen können, ohne ein politisches, wirtschaftliches oder gar militärisches Nachrücken des Westens befürchten zu müssen. Dann hätten diese Gebiete allmählich in den neutralen Block hinübergleiten können. Die russische Politik hat solange gezögert, diese Politik ernst zu nehmen, daß die erste Lockerung zur Un-garischen Katastrophe führte, in den Tagen als der Westen durch die amerikanischen Wahlen und die englisch-französische Suez-Kanal-Aktion geschwächt und gespalten war. Sicher ist nur, daß man diese Völker nicht mehr als zuverlässig auf der russischen Seite einsetzen kann und einzelne Regierungen nur, solange sie durch russische Truppen gestützt werden.

Die Weltkarte ist also heute nicht mehr in den zwei Farben grün und rot zu malen. Es gibt einen breiten Streifen, den man blau oder gelb eintragen muß, nicht grau, denn, wie wir gleich sehen werden, hat er nicht nur negative Gemeinsamkeiten. Und es ist in den Blöcken selber eine reiche Abstufung von Farbskalen nötig, um die verschiedene Stärke der Bindungen zu bezeichnen. Und: Dieses System ist in Bewegung!

Freiheit — Gleichheit

Wo liegt nun dies Gemeinsame der Neutralen und wie könnte es sich auf die Blöcke selbst auswirken? Sind nicht nur andere politische Mächte da, sondern auch andere Gesellschaftsordnungen mit anderen Wert-systemen, andere „Sozialreligionen“?

Alfred Weber meint ja, drei unterscheiden zu können, die Freiheitsreligion Amerikas, bei der die Ungleichheit mit in Kauf genommen wird, den freien demokratischen Sozialismus, der um der Freiheit willen auf größere Gleichheit drängt, und die absolute Gleichheitsreligion der Sowjetunion. Mir scheint diese Gegenüberstellung zu schematisch, zu sehr unter dem Gedanken aufgebaut, Webers eigenes Ideal als die versöhnende Synthese herauszuarbeiten.

Wir müssen schon zunächst von dem Gegensatz Freiheit — Gleichheit ausgehen. Es sind nur die Völker des westlichen Kulturkreises im engeren Sinne, die geistig geprägt sind durch den römischen Katholizismus und den aus ihm entstandenen Protestantismus, die bereit sind, alles an die Freiheit zu setzen. Das gilt aber auch für den freiheitlichen Sozialismus. Er ist keine Synthese, sondern gehört auf die eine Seite, die bekennt: Gleichheit verliert ihren Sinn, wenn Freiheit verlorengeht, Gleichheit der Chancen ist wichtiger als Gleichheit der Stellung.

Auf der anderen Seite steht die russische Welt und Asien und Afrika. Diese Völker haben die politische Freiheit und die geistige Freiheit, ohne die wir nicht atmen können, nie erfahren. Sie wissen nicht, was wir meinen. Auf jeder internationalen Tagung machen wir dieselbe Erfahrung: es sind höchstens die winzigen christlichen Minderheiten und vielleicht der eine oder andere Oxford-Inder, die uns verstehen, wenn wir die absolute Bosheit des totalen Staates von der relativen Fehlerhaftigkeit des Rechtsstaates unterscheiden. Das ist eine sehr bittere Wahrheit. Aber es ist heilsam, uns das einzuprägen: genauso wie die kommunistische Rechnung auf die Solidarität der westlichen Sozialisten immer wieder getrogen hat, würde uns die Rechnung auf die Freiheitsgesinnung der Asiaten und Afrikaner trügen.

Aber so wie es auf der westlichen Seite zwei Sozialreligionen gibt, gibt es auch zwei auf der östlichen. In Indien können wir das wahrscheinlich am besten beobachten, in dem fieberhaften Bemühen, den Staat zu dezentralisieren, in der Fülle der Bewegungen um genossenschaftliche Erneuerung des Dorfes. Es geht um den Unterschied des zentralistischen herrschaftlichen Kommunismus, den man lieber Staats-kapitalismus nennen sollte, und des genossenschaftlichen Sozialismus.

Hier, in der Betonung zunächst der nationalen Eigenart, aber wenn sie sich richtig verstehen, auch der regionalen, der örtlichen Selbständigkeit, liegt'die soziale Haltung der Asiaten und Afrikaner. Dahinter steht allerdings auch ein Freiheitserlebnis, aber nicht das individuelle, personale des Westens, sondern ein kollektives der einfachen Lebensgruppen.

Was wir im Westen mühsam entdecken, daß die Massengesellschaft nur erträglich ist, ja daß sie nur existieren kann, wenn sie gegliedert ist in Familien, Nachbarschaften, Gemeinden, Freundschaften, Vereine, informelle Gruppen in den Betrieben, das ist drüben noch unmittelbare Erfahrung, die vom Unbewußten her die Haltung bestimmt. Darum weisen alle Kenner dieser Welt immer wieder darauf hin: ihre eigenständige Entwicklung, ihre Bewahrung vor dem Bolschewismus hängt an der Entwicklung einer genossenschaftlichen Lebensform. Das sagen die englischen Anthropologen, die in Afrika das System der indirect rule eingerichtet haben, das predigt Ludwig Oppenheimer von Israel aus als das Ergebnis der Agrarwissenschaft, das unterstreicht jetzt besonders eindrücklich Richard Behrendt in Bern in seinem großen „Ordo" -

Artikel als Ergebnis seiner Forschungen in Südamerika. Dann könnten diese Völker allmählich das Bewußtsein dafür gewinnen, daß der Einzelne politische Verantwortung über seinen engeren Lebensraum hinaus trägt. Das wäre die Voraussetzung für ein Freiheitsverständnis unserer Art. Bis dahin ist die Situation äußerst kritisch.

In den Neuländern ist die Entwicklung bedroht durch eine. Ungeduld, die sofort die Früchte der westlichen Technik und Organisation haben will ohne die Disziplin und Schulung, die sie voraussetzen. Damit sind natürlich Tür und Tor geöffnet für hemmungslose Demagogen und für das Experiment, sich vorübergehend Vorteile zu erkaufen, indem man die großen Mächte gegeneinander ausspielt. Mindestens so bedrohlich ist die Kurzsichtigkeit der weißen Politiker, die den Herrenstandpunkt nicht aufgeben wollen, und der Vertreter östlicher Grundherrschaft, die sich an die Kolonialmächte anlehnen. Wir müssen uns damit bescheiden, daß die von Kolonialherrschaft befreiten Völker nicht einfach unseren Weg gehen können, daß wir aber durchaus die Möglichkeit für eigene Wege sehen, die nicht zum Kommunismus führen.

Gesellschaftliche Voraussetzungen für einen Ausgleich der Interessen

Sollte etwa diese Vorstellung eines „dritten Weges“ auch Lösungen für die direkten Beziehungen der Machtblöcke einschließen? Wir sahen schon, daß sich die Idee des freiheitlichen Sozialismus dafür anbietet, daß sie aber in ihrer historischen Form eindeutig zu einem, zum westlichen Bereich gehört. Eine Weile hatte der Modebegriff der „Managerrevolution“ die Geister verwirrt, die zynische Ansicht, daß die Angleichung längst erfolgt sei, da im Osten nicht die Proletarier, im Westen nicht die Kapitalisten herrschten, sondern in beiden Gebieten Technokraten, Organisatoren ohne Vermögen, aber mit Leitungsbefugnis, die sich unentbehrlich gemacht hätten durch ihren Sachverstand.

Diese Theorie übersieht nun doch völlig das Eigengewicht der politischen und geistigen Sphäre, sie ist ein sehr primitives Mißverständnis der materialistischen Geschichtsauffassung. Natürlich bilden sich bei verwandten Aufgaben verwandte Haltungen heraus. Die Leitung eines großen Plankombinates erfordert ähnliche Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Leitung eines Industrie-oder Bankkonzerns im Westen, sie muß dem Leiter auch ähnliche Befugnisse und Lebenschancen sichern. Aber je mehr diese Menschen in ihrer Arbeit aufgehen, um so weniger werden sie Politik machen können, um so mehr bleiben sie abhängig von den Routiniers des Machtkampfes und der Verwaltung. Hm so weniger wer-den sie auch Zeit und Fähigkeit haben, sich selber Gedanken um die Gesamtordnung zu machen, in der sie stehen und sich den Freiheits-und Ordnungsbegriffen ihrer Tradition und Umgebung konformistisch einstigen. Und doch gibt diese in ihrer Allgemeinheit verfehlte Theorie einen Hinweis auf wesentliche Tatsachen.

Die wirkliche soziale Struktur in jedem der Machtblöcke ist anders, als sie der Gegner darstellt, aber auch anders, als sie offiziell gedeutet zu werden pflegt. Für den Westen hat Theodor Geiger, der selbst von den marxistischen Methoden soziologischer Analyse ausging, das Wort von der „Klassengesellschaft im Schmelztiegel“ geprägt, Dolf Sternberger mit bewußter Ironie von „unserer klassenlosen bürgerlichen Gesellschaft“ gesprochen. Im europäischen Westen haben wir ein Trümmerfeld sehr verschiedenartiger Schichtungen. Da sind noch Reste des Herr-Knecht-Verhältnisses aus dem Großgrundeigentum, da ist eine Kluft zwischen niederer und höherer Schulbildung, Akademikern und Nicht-Akademikern. Da stehen sich Arbeiter und Betriebsführung gegenüber; aber nur in Kleinbetrieben und in einzelnen Gebieten ist dieses Verhältnis noch persönlich, manchmal patriarchalisch, häufiger scharf gegensätzlich. Je größer der Betrieb, um so unpersönlicher, aber auch um so sachlicher, um so freier von Reibungen. Dazu kommt die Auflösung des Proletariats und des Unternehmertums in die verschiedensten Funktionen und Schichten. Die Angestellten sind mehr Puffer im Klassenkampf als Verstärker des Gegensatzes. Die Lebenshaltung der Arbeiterschaft und der Angestelltenschaft hat sich angeglichen, Aufstieg in zwei Generationen ist nicht schwer. Die eigene Organisation in Gewerkschaft und Partei, die Sicherung durch Sozialpolitik und Arbeitsrecht, hat das Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft gehoben. Weithin ist eine zwar noch geschichtete, aber bei der Durchlässigkeit der Schichten als klassenlos empfundene Gesellschaft entstanden. Noch stärker gilt das für Amerika, wo die eine Wurzel des Klassenbewußtseins, das Herr-Knecht-Verhältnis im Großgrundbesitz, völlig gefehlt hatte. Damit verschwindet, wie Landshut jetzt nachgewiesen hat, auch die Ideologie auf beiden Seiten. Wo der Kommunismus im Westen noch vorkommt, stützt er sich auf vorkapitalistische Restbestände, wie in der italienischen Landwirtschaft, auf ungelüfteten Frühkapitalismus, wie in Frankreich, wo er seinen Platz nicht in den Großbetrieben des sogenannten „Monopolkapitalismus“, sondern in den Kleinbetrieben hat, deren Überständigkeit durch Schutzzölle bewahrt blieb.

Das Selbstverständnis der westlichen Welt hat noch lange nicht allgemein diese Situation zur Kenntnis genommen. Man lebt im Wohlfahrtsstaat und begeistert sich für eine in dieser Form gar nicht mehr vorhandene freie Wirtschaft. Man meint die Arbeiterschaft für die bürgerliche Gesellschaft gewonnen zu haben und sieht nicht, daß „das gesellschaftliche Leben auf ein einziges Modell, auf eine mittlere Linie, den Typus des „common man“ konvergiert (Landshut). Man erschwert sich damit das Verständnis für die Entwicklungsmöglichkeiten in den östlichen Ländern, vor allem aber für die Tendenzen der Überseeländer, die man wohl unmittelbar in dieser Richtung treiben, aber niemals mehr über die alten Formen der bürgerlichen Gesellschaft lenken kann.

Noch weniger entspricht die Gesellschaftsstruktur im Osten der eigenen Ideologie. Landshut spricht von der „Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft durch den revolutionären Umschlag“. Im Westen ist entsprechend den Voraussagen von Karl Marx eine klassenlose Gesellschaft im Entstehen. Da sich entgegen den Voraussagen von Marx die LImwandlung ohne Revolution vollzogen hat, trägt sie noch ein buntes Gemisch kapitalistischer und vorkapitalistischer Züge. Im Osten hat sich entgegen den Voraussagen von Karl Marx der Umschwung zur sozialistischen Wirtschaft vorzeitig vollzogen, in einer Agrargesellschaft mit wenigen kapitalistischen Einsprengseln. Die Entwicklung zur modernen Industriewirtschaft mußte also planmäßig mit Staatshilfe nachgeholt werden; es bildete sich eine Art staatskapitalistischer Merkantilismus. Das gesellschaftliche Ergebnis war, jetzt wieder entsprechend der Voraussage von Karl Marx, die Bildung einer neuen Klasse von politischen und wirtschaftlichen Führern, nur nicht auf der Basis des Eigentums, sondern auf der Basis der Ausbildung und Funktion, mit all der für den Frühkapitalismus bezeichnenden Schroffheit der Einkommens-unterschiede bis hin zur Erblichkeit der Position. Marx hat also recht behalten mit seiner Lehre, daß Wirtschafts-, Staats-und Gesellschaftsordnung sich entsprechen müssen, einer Lehre, die von den „bürgerlichen“ Soziologen von Lorenz v. Stein bis Max Weber, teilweise selbständig, teilweise angeregt von Marx, entwickelt worden war. Marx hat unrecht behalten mit seiner Geschichtsdeutung. Weder hat sich der Klassenkampf als die einzige Form der geschichtlichen Dynamik erwiesen, noch haben die Produktionsverhältnisse die entscheidende Rolle gespielt.

Im Gegenteil, wo der Marxismus sich durchgesetzt hat, ist die Politik der Wirtschaft vorangegangen.

Aus dieser Diagnose läßt sich nun eine Prognose stellen. Nichts spricht dafür, daß der Westen die proletarische Revolution nachholen würde. Denn es gibt kein Proletariat im Marxschen Sinne, und es gibt keine Sehnsucht nach der Revolution bis auf einige zurückgebliebene Winkel. Nichts spricht aber auch dafür, daß das sowjetrussische System zusammenbrechen müßte, jedenfalls nicht aus sozialen Spannungen. Zweifellos besteht eine Klassenschichtung, aber sie wird nicht als verletzend empfunden. Es fehlt das Privateigentum an Produktionsmitteln, es gibt keinen Herrendünkel oben, keinen knechtischen Trotz unten. Damit aber entfallen auch die Chancen, daß ein System in den Bereich des anderen hinein sich ausdehnen müßte — es sei denn, es beständen dafür politische oder geistige Gründe.

Die Ordnung ist um des Menschen willen da

Bestehen also die gesellschaftlichen Voraussetzungen für einen Ausgleich der Interessen, für eine friedliche Koexistenz, so ist noch nicht gesagt, daß auch die politischen und geistigen Voraussetzungen gegeben wären. Weder die gemäßigte Wettbewerbswirtschaft des Westens, noch die Planwirtschaft des Ostens, vor allem, wenn sie in ihre zweite Stufe eintritt und nach Schaffung der Produktionsgüter und des Verkehrsapparates an die Erhöhung des Lebensstandards geht, zwingen zu Ausschließlichkeit und Kampf. Aber sie tragen ja die Feldzeichen des Imperialismus und des Kommunismus. Sicherlich hatte der Kapitalismus eine imperialistische Spätphase. Sicherlich aber trifft die Konstruktion Lenins, die im Imperialismus nur eine Funktion des Finanzkapitals sieht, nicht den Kern der Sache. Natürlich folgte die Flagge dem Handel, aber der Wettbewerb der Flaggen, der Nationalismus, der schließlich zu den Weltkriegen führte, war nicht nur nicht wirtschaftlich bedingt, sondern wirtschaftlich widersinnig. Er lag nicht in der inneren Dialektik der Kapital-verwertung, sondern er verfälschte diese Dialektik aus Gründen, die sich nur politisch erklären ließen. Er entstand, wo eine politische Macht-gruppe nicht abtreten wollte; das ergab z. B. Zollschutz für den Groß-grundbesitz und als Gegengabe den für die Eisenindustrie. Oder aber eine neue Machtgruppe mußte Minderwertigkeitskomplexe überkompensieren — das führte zu dem Nationalismus der Kleinbürger, die das Fremde als feindlich ablehnten, schon weil sie keine fremde Sprache kannten und vor einem fremden Stil unsicher wurden. Darum besteht auch kein Anlaß zu imperialistischer Expansion in der Gegenwart.

So gewiß die Produktionskapazität der „kapitalistischen“ Länder am besten ausgenützt würde, wenn sie in die unentwickelten Länder, einschließlich Rußland und China, exportieren könnten, so wenig ergibt sich daraus der Zwang zu politischer Unterwerfung. Wenn sie zögern, die noch bestehende koloniale Herrschaft in Partnerschaft umzuwandeln, dann ist das nicht wirtschaftsbedingter Imperialismus, allerdings auch nicht nur soziale Kurzsichtigkeit. Es ist die berechtigte Sorge, ob die ablösende Schicht der Einheimischen fähig sein würde, die technische Leistungsfähigkeit, die rechtliche Sicherheit und den politischen Zusammenhalt des Gebietes zu garantieren. Hier handelt es sich um eine Frage des Tempos und der Erziehung, die in einer Atmosphäre der Koexistenz am leichtesten zu lösen ist. Ein echter tragischer Widerspruch liegt vor, wenn eine Minderheit weißes. Siedler in einem überwiegend von anderen Rassen bewohnten Gebiet sitzt. Aber gerade da handelt es sich nicht um Imperialismus. Nicht das angelsächsische Kapital verlangt apartheid, und die Wortführer einer Union Francaise können sich leichter mit algerischen Nationalisten verständigen als mit dem französischen Bauern in Algier.

Die wirtschaftlichen und politischen Interessen des Westens enthalten keine Bedrohung für den Osten. Aber der Westen fühlt sich von außen und innen bedroht durch die Expansion des Kommunismus. Dieses Gefühl war mit gutem Grund am stärksten unter Stalin. Stalin trieb groß-russischen Imperialismus in Asien, auf dem Balkan, in Mitteleuropa, eine massive Fortsetzung der zaristischen — also vorkapitalistischen! — Politik. Er verband damit die Infiltrationsmethode der Bürgerkriegs-taktik. Von der Rückkehr zum Leninismus war eine Erleichterung zu erwarten. Zwar ist die Idee der Weltrevolution keineswegs aufgegeben, aber es schien zunächst so, als ob den Satelliten eine größere Selbständigkeit gewährt werden sollte. Süd-und Südostasien sind politisch offenbar Domänen des chinesischen Einflusses geworden. Im vorderen Orient und in den westlichen Ländern selbst arbeitete man elastisch mit der Vorstellung von Zwischen-und Übergangsstufen. Damit wäre die Auseinandersetzung auf die dritte, die geistige Ebene verschoben worden. Lind auf dieser Ebene wird sie nach den Erfahrungen der letzten Monate auch mit neuer Intensität geführt werden müssen, selbst wenn die Führung der Sowjetunion jetzt dafür nicht zugänglich ist. Denn auf die Dauer wird sie wieder versuchen müssen, neben der brutalen Gewalt und in gewissen Gebieten an ihrer Stelle sich auf die Lockungen des Moskauer Vorbildes und die historische Zwangsläufigkeit zu verlassen.

Welche Anziehungskraft hat die kommunistische Sozialreligion auf die Westvölker und auf die Neutralen? Lind hat sie noch denselben Charakter wie bei Beginn der Auseinandersetzungen? Hinter dem politischen Problem der Koexistenz wird das geistige der Toleranz sichtbar, der Kommunismus tritt auf als „dialektischer Materialismus“ und in seiner Kampfmethode als „militanter Atheismus“, wie man im Westen gern sagt. Seine Geschichtsphilosophie ist deterministisch. S/e meint, das Ziel der Geschichte, die klassenlose Gesellschaft, sicher zu kennen, und den Weg dahin, die Diktatur des Proletariats. Sie hat keinen Platz für die freie Entscheidung des Menschen. Es gibt für sie keine Wahl. Darum kann sie im Gegner nicht den Irrenden sehen, den man überzeugen muß, sondern nur den Menschen des „falschen Bewußtseins“, den man unschädlich machen muß. Geht es mit Überzeugung, dann ist das der psychologisch angenehmste Weg, aber selbst hierbei kann es keine echte Aussprache geben, denn es ist prinzipiell ausgeschlossen, daß die eigene Meinung auch nur über die Methode revidiert werden könnte. Es gilt nicht, Menschen zu gewinnen, sondern nur Widerstände zu beseitigen, je nachdem mit groben oder mit feinen Mitteln. Darum gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Erziehung, Propaganda und Zwang. Darum gibt es keinen Unterschied zwischen Wahrheit, bewußter Llnwahrheit und ungeprüfter Behauptung. Die Menschen müssen funktionsfähig gemacht werden. Dieser Zweck heiligt jedes Mittel, richtiger:

das Gefühl eines ethischen Zwiespaltes kann gar nicht mehr aufkommen.

In diesem Zusammenhang ist es für den Kommunismus ein Problem zweiten Ranges, daß er die Religion, vor allem die christliche Religion angreift. Sie steht ihm im Wege, soweit sie das soziale Handeln der Menschen beeinflußt; als Lehre und als Sitte ist sie ihm gleichgültig.

Darum ist es verfehlt, im „christlichen Abendland“ ein solches Geschrei über den Atheismus zu machen. Der Kampfplatz ist nicht die Gottesidee, sondern das Menschenbild. Hier aber können wir nicht nachgeben, ohne uns selbst aufzugeben. Nicht nur, daß wir uns gegen die Unterdrückung der geistigen Freiheit, gegen eine Propaganda, die den Wahrheitsbegriff nicht mehr kennt, in unseren Ländern wehren müssen. Wir können es nicht mit ansehen, daß dieses Unrecht geschieht in Ländern unserer Überlieferung, also in der DDR, in den europäischen Satellitenstaaten, an den baltischen Völkern. Ja, wir können unsere Vorstellung von Menschenwürde und Freiheit nicht auf unseren Kulturkreis beschränken. Wir können nicht auf Mission, christliche und humanistische, verzichten, um der Liebe zu den Nächsten willen. Wer den Menschen nicht als Menschen achtet, ist für uns nicht nur ein Gegner, sondern er handelt böse.

Der Kommunist erwidert: wer Menschen ausbeutet, ist nicht nur unser Gegner, sondern er handelt böse! Ist damit nicht aber ein Vergleichs-moment für das Gespräch gewonnen? Formell gewiß, historisch auch, denn die Begriffe von Marx über Selbstentfremdung und Ausbeutung fußen ja auf der christlichen-humanistischen Ethik. Hierin offenbart sich der westliche Ursprung des Kommunismus. Aber beim nächsten Satz tritt der Gegensatz wieder hervor. Wir meinen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, der Kommunismus meint die Ausbeutung der Gruppe durch die Gruppe.

Das sieht zunächst wie ein theoretischer Streit innerhalb der Sozialwissenschaft aus. Die Marxisten erklären die Klassen für die eigentlichen Akteure der Weltgeschichte und halten es für „soziologischen Subjektivismus“, wenn man dahinter auf die Entscheidungen der einzelnen Menschen zurückgeht. Wir sehen darin den allein wissenschaftlichen Realismus, der von der Beobachtung ausgeht und dann untersucht, welche Faktoren die Entscheidungen von innen oder außen bestimmen und dabei auch auf die Klasse stößt, aber als eine soziale Gruppe neben vielen anderen. Dieser theoretische Streit enthüllt aber zwei diametral verschiedene Lebenshaltungen: auf der einen Seite die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, Neues zu entdecken und gelten zu lassen; auf der anderen Seite das absolute Vorurteil, nur eine Seite der Wirklichkeit sehen zu wollen. Das muß uns dann allerdings als mangelnder Wille zur Wahrheit erscheinen. Wer aber die Wahrheit nicht will, der ist auch zur Liebe nicht fähig, denn er kann den anderen Menschen in seiner Eigenart nicht ernst nehmen. Hier hört das Gespräch auf und hier fehlt die Basis für das Vertrauen.

Gewiß gibt es hier viele Stufen. Es gibt Gestalten, die sind geradezu die Inkarnation der Lüge, des Hasses, der Willkür. Solch eine Gestalt war Hitler. Solch einer Haltung scheint Stalin nahegekommen zu sein. Es gibt andere, die in glücklicher Inkonsequenz persönliche Zuverlässigkeit mit theoretischer Verleugnung des Wahrheitswillens verbinden können, andere, deren Skepsis auch die eigene Lehre nicht ernst nimmt und damit auch den Fanatismus im Handeln aufhebt. Es gibt auf unserer Seite übergenug Menschen, die den Maßstab praktisch verleugnen, den sie theoretisch anerkennen. Aber es bleibt ein entscheidender Unterschied, ob der Maßstab der Wahrheit und der Menschlichkeit gilt oder nicht. Und er gilt nicht, wo der Mensch zur Funktion einer Sache erniedrigt wird, mag sie auch noch so groß sein. Die Ordnung ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um der Ordnung der Nation oder des Staates, der Wirtschaft oder der Gesellschaft willen.

Das Mißtrauen ist absolut

Hier sind die Grenzen der Koexistenz. Ohne ein Mindestmaß von Vertrauen ist sie nicht möglich. Dieses Vertrauen aber ist nicht nur an die persönlichen Qualitäten des Partners gebunden. In der Zeit der Staatsräson und der Kabinettskriege herrschte ein abgründiges Mißtrauen zwischen den Regierungen. Aber man wußte: wird der Krieg geführt, dann gelten die Regeln des Völkerrechts über den Schutz der Gefangenen und der Nicht-Kombattanten; wird erobert, dann wird Leben und Eigentum geschont, und wer auswandern will, kann seine Familie und sein Vermögen mitnehmen. Vor allem aber — es bleibt noch ein Raum, in dem sich die Andersdenkenden sammeln können, lind so konnte man koexistieren.

Da liegt also die heutige Not: es geht um die Herrschaft über die ganze Erde, es geht um die Herrschaft über den ganzen Menschen mit Leib, Seele und Geist, es geht um die Unmöglichkeit, sich über die Maßstäbe des Handelns und des gegenseitigen Behandelns zu verständigen. Das Mißtrauen ist absolut.

Koexistenz ist notwendig. Der Wettlauf um die Atomwaffen hat mit einem toten Rennen geendet. Keine der beiden Weltmächte kann die andere unterwerfen, ohne ihre eigene Existenz und die Existenz der ganzen Menschheit aufs Spiel zu setzen. Sie müssen sich gegenseitig gelten lassen. Aber in welchem Raum, geographisch, und in welche Bereich, geistig? Zunächst geographisch. Das Bedürfnis nach militärischer Sicherheit für die Kernräume der beiden Mächte läßt sich verhältnismäßig leicht anerkennen. Diese Anerkennung wird erleichtert, wenn eine breite Zwischen-zone besteht, wenn sie stark genug ist, daß ein Angriff auf sie für keine der beiden Mächte lohnt. Hier hat sich die Lage sehr gebessert gegen 1948. Aber neben der unbestrittenen Zwischenzone steht die bestrittene. In ihr liegen die geteilten Länder: Deutschland, Korea, Vietnam. In ihr liegen die Satelliten der Sowjet-Union in Europa, um die der geistige Kampf nicht enden kann. Daß sie nicht nur mit ihrer Tradition, sondern auch mit ihrer Gesinnung nicht in den kommunistischen Bereich gehören, haben die Ereignisse der letzten Monate gezeigt. In dieser Zwischenzone liegen die arabischen Staaten, die kaum eine Neigung zum Kommunismus haben, aber gegen den Westen eingenommen sind wegen der Gegensätze in Französisch-Nordafrika und in Israel. Aber kann Frankreich seine Bauern in Algerien aufgeben, und kann Amerika Israel im Stich lassen?

In allen diesen Gebieten geht es um die äußere und um die innere Macht, eben um jene „Herrschaft über den ganzen Menschen“. Washington und Moskau können koexistieren, allerdings auch nur, wenn sie ihre Demarkationslinie wirklich anerkennen. Berlin-Schöneberg und Berlin-Pankow können nicht koexistieren, und zwar deswegen, weil Ulbricht und der kleine Mann in Pankow, Dresden, in Rostock nicht koexistieren können: Hier handelt es sich eindeutig um Unterdrückung. In allen Satellitenstaaten liegt es ebenso. In allen Fällen ist die naheliegende Forderung des Neutralismus, alle diese Gebiete der Zwischenzone zuzuschlagen, eine Scheinlösung, solange nicht das Problem angegangen wird, inwieweit sich die Gegner geistig gelten lassen.

Der Kampf um die innere Macht geht nämlich durch alle Länder, denn dieser Kampf der Weltmächte ist ja ein Bürgerkrieg, und zwar auf beiden Seiten. Wir sehen im allgemeinen nur die Infiltration der westlichen Länder durch den Kommunismus und stellen an einzelnen Aufständen wie am 17. Juni 1953, in Posen und Ungarn fest, daß der Widerstand in den vom Kommunismus unterdrückten Ländern nicht erloschen ist.

Aber wir müssen auch die innere Auseinandersetzung mit der westlichen Haltung bis nach Rußland hinein bedenken. So grotesk es ist, wenn •jeder innere Gegner als kapitalistischer Agent diffamiert wird, so verständlich ist das Gefühl, daß man mit der westlichen Geistigkeit nicht fertig geworden ist, schon weil sie ein Teil der eigenen Geistigkeit ist, vom Christentum wie von der Technik, ja von Karl Marx selber her.

Fünf Bedingungen

Die Koexistenz hängt an fünf Bedingungen:

1. Verzicht auf Krieg. Amerika wird keinen Krieg gegen Rußland führen und Rußland keinen Krieg gegen Amerika. Abrüstungsverhandlungen sind ziemlich aussichtsreich, sofern die anderen Voraussetzungen erfüllbar sind.

2. Anerkennung der Neutralen von Djakarta bis Belgrad, d. h. Verzicht darauf, sie in die Blöcke einzuspannen. Das scheint gesichert.

3. Verständigung über die bestrittene Zone. Hier liegt der Kern des Problems. Die Verbindung von Wiedervereinigung und Abrüstung ist nicht nur unser deutscher Wunsch, sondern eine zwingende Notwendigkeit der Weltpolitik. Die Handelsobjekte liegen ziemlich klar, mindestens für Europa.

Die Verhandlungen werden ungeheuer schwierig sein aus folgenden Gründen:

Zunächst ist russisches Prestige an die sachlich für einen russischen Staat gar nicht so wichtige Außenposition in Mitteleuropa gebunden. Dann ist die Stellung der Satelliten im Ostblocksystem erschüttert und würde durch einen Abzug hinter die Oder weiter erschüttert werden. Der Grad der Selbständigkeit und der Grad des russischen Risikos hängt vor allem an einem Punkte, der die vierte Bedingung der Koexistenz bildet:

4. Verzicht auf ideologische Aggression. Hier handelt es sich nicht nur um ein Problem für die umstrittene Zone, sondern um eine Grundfrage, die auch die Haltung der Blöcke im ganzen und der beiden Weltmächte zueinander betrifft. Kann der Kommunismus auf Infiltration, kann der Westen auf Kritik des kommunistischen Systems verzichten?

Wir sahen aus den historischen Beispielen, daß ähnliche Spannungen sich gelöst haben durch Gleichgültigkeit und durch Toleranz. Mit Gleichgültigkeit ist auf keiner der beiden Seiten zu rechnen, wenn auch der Fanatismus sich erheblich gemildert hat. Toleranz ist also nicht eine moralische Forderung allein, sondern eine politische Notwendigkeit ersten Ranges. Toleranz setzt Begegnung voraus. Daraus erwächst eine Forderung, die paradox klingt, aber realistisch ist: Kommunikation der Menschen unter Anerkennung der Tatsache, daß die Standpunkte unvereinbar sind. Es ist schon ein großer Fortschritt, wenn die Führer der Völker sich persönlich begegnen, wenn sie eine Weile, und sei es bloß auf Konferenzen, miteinander leben müssen. Aber das reicht nicht mehr aus, wie zur Zeit des Wiener Kongresses.

Im Westen haben wir erlebt, was es bedeutet, daß man ungehindert ins Ausland reisen kann, daß man im Vergleichen Achtung vor dem andern und unbefangenes Selbstbewußtsein gewinnt. Die Absperrung der Länder und Personen voneinander hat ein gut Teil Mitschuld an der Verhärtung der Gegensätze. Wenn die Russen sich bei Nehru beklagt haben, man hätte sie 40 Jahre lang im Belagerungszustand gehalten, dann vergessen sie, daß dieser Zustand von ihnen freiwillig aufrechterhalten worden ist. Sie beginnen jetzt, ihn abzubauen. Man kann das gar nicht genug begrüßen. So wie wir innerhalb Deutschlands nicht müde werden, als erste Forderung zu erheben: Lasset die Menschen zueinanderkommen, so muß man für das Verhältnis zwischen den Blöcken fordern: Laßt ausreisen und auswandern, wer fort will, laßt einreisen, beobachten, beschreiben, wer hinein will. Weg mit eisernen und Bambus-vorhängen, weg aber auch auf der anderen Seite mit Nem Mac Carran Act und den grotesken security risks. Natürlich verbunden damit die schriftliche Kommunikation durch Bücher, Zeitungen, Briefe. Dann wird man sehen, warum die andern anders sind, warum sich das Wunschbild, sie nach unserem Bilde umzuschaffen, nicht verwirklichen läßt. Kenntnis führt auch zur Immunisierung; wenn man gesehen hat, in welchem Zusammenhang das fremde System steht, imponiert es nicht mehr für die eigene Lebensform. Sie führt andererseits zu Angleichungen: man kann Einzelheiten übernehmen, ohne für die eigene Lebensform fürchten zu müssen.

Ohne eine solche innere Beruhigung ist Koexistenz nicht möglich. Mit solchen Begegnungen verlieren die gefürchteten Methoden der Infiltration einen Teil ihrer Gefährlichkeit. Verhindern kann man die Kommunikation in der heutigen Situation der Verkehrs-und Nachrichten-mittel ja doch nicht mehr. Je offener sie sich vollzieht, um so größer die Sicherheit für die beiden Mächte. Allerdings — diese Methode setzt voraus den ersten großen Entschluß, daß man die Koexistenz auf lange Sicht riskieren will und die Einsicht, daß man dazu auch die bestrittene Zone für Aufklärung und Selbstbestimmung öffnen muß. Ob die beiden Machtgruppen diesen Entschluß finden werden, wann und wie schnell, das kann keine wissenschaftliche Analyse sagen. Sie kann nur darlegen, was möglich ist und unter welchen Bedingungen etwas möglich ist. Sie kann auch darstellen, daß das Risiko, bei Fortführung des kalten Krieges in den Atomkrieg hineinzugeraten, noch viel größer ist als das Risiko, das man bei der Koexistenz läuft.

Risikolos ist sie für keine der beiden Seiten. Aber man soll sie auch nicht überfordern. Die Koexistenz kann schließlich nicht mehr hergeben, als mit der Existenz des Menschen verbunden ist. Lind die Existenz des Menschen ist gefährdet, sie ist voll Spannungen, voll von Gegensätzen. Kierkegaard sagt: der Mensch hängt 5 000 Klafter über dem Abgrund. Die koexistierende Menschheit hat es nicht besser.

5. Nun läßt sich auch noch die fünfte Voraussetzung behandeln. Koexistenz, die dauern soll, muß zur Kooperation führen. Man wird sie nicht von vornherein mitplanen müssen. Man muß aber wissen, daß sie dazu gehört, und vielleicht erleichtert der Blick auf diesen späteren Schritt schon die ersten Schritte. Die Mächte, die sich zur Koexistenz entschlossen haben, könner sich gegenseitig viel bieten als Lieferanten und Abnehmer. Sie können auch große Vorteile haben von gemeinsamer Arbeit, etwa an der Entwicklung unterentwickelter Gebiete. Die Verwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke eröffnet einen unübersehbaren Aufgabenbereich für Kooperation.

Je schneller solche Kooperation zur Beseitigung der krassesten Unterschiede in der Lebenshaltung führen würde, um so sicherer würden bedenkliche Spannungsmomente ausgeschaltet. Daß auch neue geschaffen werden, liegt in der Natur der Menschen. Endlösungen sind eben nicht in der Pandorabüchse der Geschichte vorhanden. Je leichter aber durch os um ‘puM u 3unsoypug Jne QZlN Ip tpr 8sny pun QLUpS, 10H leichter kann sich aus dem Beginn der Begegnungen im Zeichen des Mißtrauens echte Toleranz entwickeln. Sie entsteht nur aus Begegnungen von Mensch zu Mensch. Das Paradoxe der Situation ist, daß erst die Staaten die Voraussetzungen für solche Begegnungen schaffen müssen, und daß erst diese Begegnungen die Bedingungen herstellen, unter denen den Staaten das Risiko wirklich abgenommen wird.

Ist das nun die Schlange, die sich in den Schwanz beißt? Oder ist es die normale Situation jeder Koexistenz zwischen Menschengruppen, daß einige wenige beginnen müssen? Diese wenigen sind die führenden Staatsmänner. Aber ihr Werk wird ungeheuer erleichtert, wenn sie eine öffentliche Meinung hinter sich haben, die nicht hetzt, die nicht Illusionen nährt, sondern die bereit ist für neue Methoden in neuen Situationen. Unsere Aufgabe als politische Bildner einer solchen öffentlichen Meinung ist es, liebgewordene Illusionen zu zerstören, aber auch die Möglichkeit günstiger Lösungen darzulegen. Furcht ist viel in der Welt und mit Recht, aber es gibt auch Grund, zu hoffen.

* Vgl. Siegfried Landshut: Die Gegenwart im Lichte der Marxschen Lehre.

(Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik), Tübingen 1956. Richard F. Behrendt: Eine freiheitliche Entwicklungspolitik für materiell zurückgebliebene Länder. „Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft.“ Düsseldorf und München 1956. ders. Problem und Verantwortung des Abendlandes in einer revolutionären Welt. Tübingen 1956. Friedrid'i Fleer: Begegnung mit dem Feinde. Recklinghausen 195 5.

Anmerkung Dr. Hans Rothfels, Professor der neueren europäischen Geschichte an den Universitäten Chicago und Tübingen, geb. in Kassel 12. 4. 1891. Korr. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Lehrgebiet: Deutsche Geschichte, Nationalitätenprobleme, Zeitgeschichte.

Dr. Otto Heinrich von der Gablentz, Leiter der Abt. Theorie der Politik, Hochschule für Politik, Berlin, a. o. Professor für politische Struktur und Funktionslehre, geb. 11. 9. 1898 in Berlin.

Fussnoten

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