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Parlamente, Priester und Propheten | APuZ 38/1957 | bpb.de

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APuZ 38/1957 Strategie und Organisation Parlamente, Priester und Propheten

Parlamente, Priester und Propheten

AHMED S. BOKHARI

„Ich wünschte, Du würdest inich nicht so drüben“, sagte die Maus, die neben ihr saß, „ich kann ja kaum atmen.“ — „Ich kann nichts dafür“, sagte Alice sehr kleinlaut, „ich wachse ja noch.“

(„Alice in Wonderland“)

Die Behauptung, daß das Ansteigen der Mitgliederzahl in der UNO von 60 auf 80 schon einen sehr großen Schritt auf dem Wege zu einer Weltregierung darstellt, ist heute bereits zu einem Allgemeinplatz geworden. Quantitativ gesehen handelt es sich hier um eine geographische Tatsache. Gleichzeitig aber sind da-durch qualitative Veränderungen eingetreten. Oder, genauer gesagt: indem er sich vergrößert hat, gibt der „Spiegel“ eine viel größere Sicht der Welt frei und verändert damit unsere ganze Perspektive. Man wird daher der Bedeutung des ganzen Vorganges nicht gerecht, wenn man sein Augenmerk lediglich auf das äußere Wachstum der UNO richtet.

Die Funktionen der UNO

Von den drei Zweigen der UNO ist der richterliche der schwächste, weil er am wenigsten ausgeübt wird. Obwohl die Entwicklung eines Internationalen Rechtes bezw. eines Völkerrechtes ja schon beträchtliche Fortschritte gemacht hat, und dieses Recht auch angewandt wird, neigt man nach wie vor dazu, in größeren internationalen Kontroversen politische Fragen zu sehen, für die auf dem politischen Wege Abhilfe geschaffen werden kann, und nicht so sehr rechtliche Fragen, die einer Prüfung der Gerichtshöfe unterliegen sollten. Dennoch ist allein schon das Vorhandensein eines richterlichen Zweiges der UNO wichtig, da sonst nämlich die Gesamtschau einer, auf den Ideen des Friedens, der Ordnung und der Gerechtigkeit aufbauenden internationalen Organisation kaum Gestalt annehmen könnte.

Die beiden anderen Funktionen der UNO, das heißt die parlamentarische (ich spreche absichtlich nicht von einer legislativen) und die exekutive, werden ausgeübt durch die General-versammlung bzw. durch den Generalsekretär. Der Sicherheitsrat nimmt genau eine Mittelstellung ein, da er ja nach dem Willen seiner Schöpfer ursprünglich beide Funktionen ausüben sollte, das heißt, sowohl die Methoden für die Beilegung von Streitfragen Vorschlägen, wie auch alle für die Durchführung seiner (sozusagen parlamentarischen) Vorschläge oder Entscheidungen notwendigen Sofortmaßnahmen ergreifen sollte. Dem Sicherheitsrat wurde im Rahmen der Gesamtstruktur der UNO eine Schlüsselstellung eingeräumt. Es gelang dem Sicherheitsrat jedoch nicht, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Das ist auch gar nicht weiter verwunderlich, da seine Schaffung auf zwei Annahmen beruhte, die sich nur die Naivsten der Optimisten zu eigen machen konnten, und die auf jeden Fall durch den Ablauf der Geschichte Lügen gestraft wurden: das nämlich die Großen Fünf auch nach Beendigung des Krieges weiterhin freundschaftlich miteinander verbunden bleiben würden, und daß zwar ernste Spannungen und Umwälzungen die Welt in Unruhe versetzen mögen, diese Großen Fünf aber jedenfalls solche internationalen Konflikte nicht selber heraufbeschwören würden. Mit anderen Worten beanspruchten die Großmächte für sich eine Art „Apostel“ -Status, der sie zu Hütern der Weltmoral machen sollte, nachdem sie selber ein für alle Mal das Schild der Reinheit erworben hatten.

Sehr bald hörten jedoch die fünf Großmächte auf, im Einvernehmen miteinander zu handeln. Bald waren sie nicht mehr Verbündete bei den großen menschlichen Wagnissen, die die Zukunft in sich barg, sondern nur noch Waffen-gefährten eines vergangenen Krieges. Auch lehrte leider die Erfahrung, daß im Grunde — was auch immer die Motive für einen Krieg sein mochten — kein Staat in dieser Beziehung völlig unschuldig ist. Ja, es dauerte gar nicht lange, da schien die Welt nicht so sehr von den kleineren Staaten bedroht, als von einem möglichen Konflikt zwischen denjenigen, die in der Struktur der UNO als Hüter und Garanten des Friedens eine Sonderstellung genossen. Heute ist es daher so, daß der Sicherheitsrat als Mahner auftreten kann, wenn kleinere Staaten tangiert sind, seine Mitglieder aber, das heißt die größeren Mächte, durch den Einbau aller möglichen Bestimmungen vor ihren eigenen Ermahnungen geschützt werden. Hätten die kleineren Staaten dies besser vorausgesehen, oder wäre die Organisation der UNO in einer Atmosphäre der Nüchternheit, und nicht in einer Zeit der gespannten Erwartungen und eines weitverbreiteten Vertrauens entstanden, dann würden die Großmächte höchstwahrscheinlich nicht so ohne weiteres in den Besitz von Vorrechten gelangt sein, mit deren Hilfe sie sich vor einer Verurteilung durch ihresgleichen retten können.

Wenn aber der Sicherheitsrat in einer wirklich großen Krise nicht zu handeln in der Lage ist, wie kann dann die UNO überhaupt weiter funktionieren? Man beantwortete z. Z. diese Frage mit der Verabschiedung der Resolution: „Gemeinsames Handeln für den Frieden“. Es war dies eine Manipulation der Satzungen, durch die eine Übertragung der Verantwortung des Sicherheitsrates auf die Generalversammlung ermöglicht wird, sobald es in einer gegebenen Lage zu einer Lahmlegung des Sicherheitsrates kommt. Natürlich sah damals keine der Großmächte — ganz im Gegensatz zu beinahe allen übrigen Staaten — voraus, daß diese Verfahrens-Möglichkeit unter bis dahin gar nicht ins Auge gefaßten Umständen zur Anwendung kommen würde. So kam es in den Krisen der jüngsten Zeit dazu, daß die Lahmlegung des Sicherheitsrates in einer Art und Weise zu Sondersitzungen der Generalversammlung geführt hat, die man sich in der Nachkriegs-Atmosphäre einer gewissen Selbstgenügsamkeit kaum hätte erträumen können.

Auf diese Weise hat die Generalversammlung große Machtbefugnisse erhalten, sie ist aber trotzdem nicht in der Lage, ihre Macht auch tatsächlich auszuüben. Die Generalversammlung kann jetzt folgenschwere, ja geradezu umwälzende Entscheidungen fällen, wie sie die Geschichte bei einem internationalen Gremium bisher nicht gekannt hat; dennoch ist ihre tatsächliche Macht nicht größer als zuvor. Sie kann empfehlen, ersuchen oder drohen — aber nicht anordnen. Sie verfügt weder über eine ständige Polizeitruppe, noch über das nötige Prestige, um von den Großmächten mit Er-folg die nötige Hilfe zur Durchführung konkreter Maßnahmen verlangen zu können. Auf jeden Fall wird man sagen müssen, daß all dies bisher noch nicht möglich war. Je größer daher die Geschlossenheit und die Entschlußfähigkeit der Generalversammlung, um so mehr wird sie sich bei der Durchführung ihrer Entscheidungen, ja sogar bei einer differenzierten Auslegung ihrer Absichten, auf die Exekutive verlassen müssen.

Das hat nun dazu geführt, daß die Stellung des Generalsekretariats eine niemals vorausgesehene Stärkung erfahren hat. Vielleicht wäre es aber auch richtiger zu sagen, daß der potentiell dynamischste Teil der Funktionen des Generalsekretariats (der durch mangelnden Gebrauch schon stark zu rosten angefangen hatte) jetzt sozusagen auf Hochglanz gebracht worden ist. Zu behaupten, daß dem Generalsekretariat eine neue Rolle zugefallen ist, würde nämlich die Anschauung voraussetzen, daß die Funktion des Generalsekretariats früher einmal genauestens definiert, beziehungsweise festgelegt wurde und daß man heute nur über den ursprünglichen Kompetenzbereich hinausgegangen ist. Die UNO ist eine ganz einmalige Einrichtung, weil sie zu einem Zeitpunkt gegründet wurde, als die künftige Entwicklung der Dinge nur sehr schwer erkennbar war. Man überließ es dem weiteren Verlauf der Geschichte und dem 'Faktor der Evolution, welche Formen und Funktionen den einzelnen Organen der UNO zufallen würden. Man stellte sich seiner Zeit — aber eben ohne dies klar niederzulegen — unter dem Generalsekretariat in erster Linie eine Art „Versorgungs-Basis“ vor, deren Personal Tag und Nacht zu „schuften" habe. Diese Konzeption trifft man auch heute noch hier und da an. Die Charta stellt jedoch das Generalsekretariat jedem der anderen Hauptorgane der UNO in Punkto Unabhängigkeit und Status völlig gleich und enthält keinerlei Andeutungen darüber, daß dieses Generalsekretariat sozusagen als „Vorratskammer“ der Weltorganisation fungieren soll. Es ist richtig, daß dem Generalsekretariat einge rein utilitaristische Aufgaben obliegen. Diese stellen jedoch nicht das Maximum, sondern vielmehr das Minimum seiner Funktionen dar. Die Ereignisse der letzten Zeit haben diese Tatsache jedermann unmißverständlich vor Augen geführt. Als das Amt eines Generalsekretärs durch die Charta geschaffen wurde, glich es einem neuen Himmelskörper, den man in das Weltall hinaussandte. Ob dieser neue Himmelskörper ein Planet, Stern oder Meteor sein, ob er seine Bahnen kreisförmig oder eliptisch ziehen würde, — das überließ man ebenso den Faktoren Zeit, Raum und Persönlichkeit wie die Frage nach seiner Geschwindigkeit, oder die, ob er sich zu einem Trabanten, oder aber zu dem Zentrum eines neuen Solarsystems entwickeln würde. Es ist ein glücklicher Umstand, daß dem heutigen Generalsekretär gleichermaßen ein diplomatischer Spürsinn, eine nüchterne Betrachtungsweise der jeweiligen nationalen Belange, ein ausgeprägtes Verständnis seiner eigenen Verantwortung und schließlich auch eine intuitive Hand in bezug auf Menschen und Umstände gegeben sind. Es hätte aber auch genau so gut anders kommen, und die Initiative der ganzen Weltorganisation irgendwo zwischen dem Generalsekretär und der Generalversammlung „verloren" gehen können.

Das Generalsekretariat, das rund zehn Jahre lang als ein Konglomerat von „gebeugt“ einhergehenden, selbstlosen „Schreibern“ betrach-tet wurde, sah sich plötzlich Aufgaben gegenüber, für deren Bewältigung man seine „Muskeln“ zweifellos nicht trainiert hatte. Konzipiert als eine große „Versorgungsbasis“, war das Generalsekretariat in seiner ursprünglichen Form in keiner Weise auf seine neuen Aufgaben vorbereitet. Man stellte jedoch sehr bald fest, daß das Sekretariat mit der nötigen motorischen Kraft und Entschlossenheit durchaus zu schnellen und wirksamen Improvisationen fähig war, mit deren Hilfe es aller Krisen auf das erstaunlichste Herr wurde.

Auflösung althergebrachter Konturen

Die derzeitige Lage läßt sich daher zusammenfassend wie folgt kennzeichnen: Einmal hat die Generalversammlung einen neuen Auftrieb erhalten, um in engem Einvernehmen mit dem Generalsekretär, ja oft sogar unter seiner Führung, die allgemeinen politischen Richtlinien der Weltorganisation festzulegen. Zum anderen ist die Stellung des Generalsekretariats bei der praktischen Durchführung von Maßnahmen ganz entscheidend gestärkt worden.

Es ist anzunehmen, daß das Generalsekretariat im nächsten Entwicklungsstadium der LINO seine Stellung halten, ja vielleicht sogar ausbauen wird als Koordinator von drei schwierigen Funktionen (nämlich der diplomatischen, exekutiven und administrativen), — deren relative Bedeutung sich übrigens schon aus der Reihenfolge ergibt, in der wir sie hier aufzählen. Man kann heute weiter als sicher voraussetzen, daß die alte Konzeption, wonach der Generalsekretär primär ein Verwaltungsbeamter ist, der lediglich die Versorgungsapparatur des Sekretariats auf einem hohen Leistungsstand hält, ein für alle Mal der Vergangenheit angehört.

Hand in Hand mit dieser Entwicklung wird man sich wahrscheinlich auch weiterhin sorgenvolle Gedanken machen über die Zukunft des Sicherheitsrates und über die verschiedenen Methoden, mit deren Hilfe dieses Gremium sozusagen mit einer „Seele" und mit „Muskeln“ ausgestattet werden kann. Es ist jedoch mehr als zweifelhaft, ob sich hier sehr viele Aussichten auf einen Erfolg abzeichnen, wenn man weiterhin den mehr konservativen Weg beschreitet. Lins scheint es eine nicht mehr zeitgemäße Idee zu sein, daß man eine bestimmte Anzahl von Großmächten für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens verantwortlich macht, ihnen aber gleichzeitig eine bevorrechtete Stellung einräumt, mit deren Hilfe sie sich dann gegen Ermahnungen aus ihren eigenen Reihen schützen können. Auch wird unter Umständen der Sicherheitsrat des Jahres 1945 (mit seinen Großen Fünf, den Kleinen Sechs und den insgesamt Elf) allmählich zu einer Art Museumsstück, nachdem die Mitgliederzahl der General-Versammlung angestiegen und es gleichzeitig zu Verschiebungen der Machtzentren in der Welt gekommen ist.

Sehr viel wahrscheinlicher ist die Möglichkeit, daß die Generalversammlung bei allen Entscheidungen, die umfangreichere Maßnahmen erforderlich machen, ad hoc Überwachungsund Beratungsgremien ins Leben rufen wird, die in enger Zusammenarbeit mit dem Generalsekretär operieren würden. Die Krisen der jüngsten Zeit haben die potentiellen Möglichkeiten dieser Form der internationalen Politik sehr gut aufgezeigt. Natürlich sind die mannigfaltigen Spielarten abwechselnder Spannung und Harmonie in jedem Verhältnis zwischen Parlament und Exekutive auch im Falle der Vereinten Nationen nicht durch ein fortgeschrittenes Alter überflüssig gemacht, oder durch die Macht der Gewohnheit verhärtet worden. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Generalversammlung und Generalsekretariat wird daher auch künftig der Sorgen und Aufregungen nicht entbehren. Jedoch wird sich die Generalversammlung, obwohl sie auch weiterhin das nach den Satzungen für die Festlegung der Richtlinien der Politik allein zuständige Gremium bleiben wird, sehr wesentlich auf das Generalsekretariat stützen müssen, wenn es um eingehendere Untersuchungen eines bestimmten Problems geht, oder aber wenn Ratschläge und Empfehlungen vonnöten sind. Mit anderen Worten werden sich, abgesehen von allem anderen, Parlament und Exekutive der UNO in einem immer größeren Umfange in die Festlegung der politischen Richtlinien teilen. Jede, mit Vitalität und Initiative ausgestattete Exekutive muß ganz zwangsläufig eine derartige Rolle übernehmen. Das Generalsekretariat sollte vor der Übernahme der Aufgaben nicht zurückschrecken, die ihm die Göttin der Geschichte in einem immer stärkeren Maße zuzuweisen scheint. Dabei sollte alleine schon die Tatsache als wichtig angesehen werden, daß dieses Gremium auf Grund seiner ganzen Stellung in einer Atmosphäre der größeren Gelassenheit und wohltuend abseits von den tages-politischen Auseinandersetzungen der einzelnen Staaten in Beratungen eintreten kann. In der ganzen Welt sollte man eine solche Gewichtsverlagerung in der UNO sehr begrüßen, da sich große Veränderungen änzubahnen scheinen. Wir befinden uns ganz zweifellos auf der Schwelle zu einer Entwicklungsphase, in der sich althergebrachte Konturen aufzulösen beginnen, und in der die Vorstellungen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts über die Verteilung der Machtverhältnisse in der Welt allmählich unzeitgemäß werden. In einer solchen Zeit, in der alles in Fluß geraten zu sein scheint, ist schon das Vorhandensein einer Art Leuchtturm auf einem Felsen sehr nützlich, vor allem dann, wenn man in etwa erwarten darf, daß kommende Stürme diesem Felsen nichts anhaben werden.

Das größer gewordene „Bild" der Welt

Wir wollen die Logik unserer Argumentation keineswegs überstrapazieren, dennoch aber die Behauptung wagen, daß Zusammenhänge erkennbar zu sein scheinen zwischen der größeren Rolle, die das Generalsekretariat allmählich zu spielen beginnt, und dem Ansteigen der UNO-Mitgliederzahl. Für das größer gewordene „Bild“ der Welt, wie es sich heute in der LINO widerspiegelt, muß zweifellos noch der Rahmen gefunden werden, in den die neu emporstrebenden Massen gerade auch der farbigen Völker sinnvoll und harmonisch eingeordnet werden sollten. Gleichzeitig dürfen wir wohl sagen — ohne damit die Stellung irgendeines Staatsmannes verkleinern zu wollen —, daß die Führungskräfte in der Welt, die diese Aufgabe der Rahmengebung und der Einordnung übernehmen müßten, heute immer noch zu weit verstreut sind, als daß man ihr Vorhandensein in irgendeinem einzelnen Staat oder irgendeinem Gremium allgemein eingestehen könnte. Man sollte daher die beste aller Entwicklungsmöglichkeiten in dem Umstand erblicken, daß die Exekutive der LINO anfängt, die Initiative zu übernehmen und zwar nicht indem sie eine neue „Ideologie“ herausarbeitet, sondern indem sie diese ihre Initiative sozusagen anbietet als eine ganz natürliche Teilfunktion der diesem Amt durch die Charta auferlegten Pflichten und Verpflichtungen. Man sollte sich das neue Bild, das die Welt zu bieten beginnt, nutzbringenderweise etwas genauer ansehen. Das Ansteigen der Mitgliederzahl verteilt sich auf die drei „alten“ Kontinente wie folgt:

Europa: 10, Asien: 6, Afrika: 4 neue Sitze.

Bis dahin verfügten diese Kontinente über 16, 15 beziehungsweise 4 Mitglieder. Wenn man diese Zahlen isoliert betrachtet, dann müßte man an sich erwarten können, daß die schon immer stark „europäische“ Einstellung der UNO jetzt noch ausgeprägter geworden ist.

Tatsächlich hat sich aber das Ansteigen der Mitgliederzahl in einer ganz anderen Richtung ausgewirkt, das heißt nämlich offensichtlich zu einer Schwächung der europäischen — oder, wenn man so will, der westlichen Strömungen auf der einen, und zu einer entsprechenden Stärkung des asiatisch-afrikanischen Flügels auf der anderen Seite. Es gibt eine Reihe von Gründen für eine solche Entwicklung: der Verlust ganzer Weltreiche mit allem ihrem Machtpotential; die mangelnde Einigkeit der europäischen Staaten, und schließlich auch das Aufkommen eines äußerst robusten Nationalgefühls, um nicht zu sagen Nationalismus, in Asien und Afrika. Natürlich kann man weder Asien noch die westlichen Länder als eine einzige politische Einheit betrachten. Während aber unter den asiatisch-afrikanischen Ländern bei aller Verschiedenheit der Regierungssysteme, Religionen und Rassen ein sehr beachtliches Maß an Einmütigkeit in bezug auf bestimmte politische und wirtschaftliche Weltprobleme besteht, haben sich die westlichen Länder trotz ihres gemeinsamen Erbes in allen wichtigen Fragen von Weltbedeutung gespalten, oder aber nicht aufeinander abgestimmt.

Die kräftige nationalistische Note, die man heute in der UNO vernehmen kann, ist daher der Vorbote eines neuen Entwicklungsstadiums. Der Nationalismus, der die LInabhängigkeit so vieler asiatischer und afrikanischer Staaten herbeiführte, entwickelte zur Erreichung seiner Ziele einen Impetus, der sich kaum am ersten Tage der neu gewonnenen Freiheit wieder bremsen läßt. Vielmehr geht der Trend dahin, diesen Impetus zu erhalten, ja noch weiter zu entwickeln, um ihn in das Energiereservoir zu verwandeln, das man zur Hebung des Lebensstandards von einer sich in beängstigenderWeise vermehrenden Menschenmasse unbedingt benötigt. Vielleicht hätte man auch auf anderen Wegen neue Wellen der Begeisterung hervorrufen können. Vielleicht wäre es auch möglich gewesen, daß die neu erwachenden Nationen des Ostens nach den in Europa gemachten Erfahrungen ihre Entwicklung abgekürzt und den direkten Weg hin zu einem „Internationalismus“ gefunden hätten. Eine solche Entwicklungsmöglichkeit ist auch heute noch nicht gänzlich ausgeschlossen. Voraussetzung wäre allerdings, daß die jetzt entstandenen Gefühle des Mißtrauens überwunden werden könnten, und daß ferner die liberal eingestellten Kreise in einem „unilateralen“ Internationalismus den besten Beweis für ihre eigene Kraft erblicken würden. Wir können uns jedoch hier nicht auf Spekulationen einlassen, sondern müssen die nüchternen Tatsachen verzeichnen.

LInter diesen Umständen müssen wir uns daher mit der Feststellung begnügen, daß sich die geopolitischen Schwergewichte in der Welt, die bislang so eindeutig mit den Ländern des Westens identifiziert werden konnten, nunmehr zu verlagern begonnen haben. Wo sie eines Tages endgültig zu finden sein werden, das läßt sich heute nur sehr schwer ausmachen, da in dieser Beziehung eine ganze Reihe von Faktoren mitspielen werden, über die man heute nur Spekulationen anstellen kann: so etwa die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, das endgültige Gleichgewicht der Kräfte im Nahen Osten, die Beziehungen zwischen Indien, China und Japan, die Zukunft der „weißen“ Rassen in Afrika etc. Je mehr sich der Wirkungsbereich der LINO ausweitet, um so exakter wird man an dieser Organisation den politischen Gesundungsprozeß in der Welt ablesen können, den die Betrachter der internationalen Beziehungen in früheren Zeiten überhaupt nicht zu erkennen vermochten. Heute schon könnnen wir die Tatsache verzeichnen, daß es zu einer starken Zufuhr von neuem Blut gekommen ist, daß man sich ständig nach neuen Kraftquellen umsieht, und das man schließlich — so wird man wohl sagen dürfen — einen Wandel der allgemeinen Gesinnung in der Welt sehnlichst erhofft.

In der Rolle des großen Alchimisten

Das liberale politische Gedankengut war Europas größtes Geschenk an die neuen Staaten des Ostens, von denen die meisten sich eine liberale und demokratische Regierungsform im westlichen Sinne als letztes Ziel ihrer Politik gesetzt haben. Dennoch kann man kaum behaupten, daß die entscheidenden Führer der öffentlichen Meinungsbildung in Asien und Afrika vorbehaltlos pro-westlich eingestellt wären. Auf Grund der uns heute möglichen, umfassenden Schau der Dinge dürfen wir sagen, daß eher die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Westen und den neuen asiatisch-afrikanischen Staaten in den Vordergrund gerückt sind, ja sich ständig vergrößern. Hinter jeder Streitfrage der internationalen Politik scheinen unausgesprochen geographische Erwägungen und Fragen der Farbe oder Rasse zu schlummern und die Gemüter nur noch mehr zu erhitzen. Die daraus hervorgehenden Konflikte können im Endeffekt nur zu einem Verlust unseres, für die ganze Welt gültigen, Erbes führen. Wenn eine neue Synthese geschmiedet werden soll — und das haben ja seit vielen Jahrzehnten die neu emporstrebenden Nationen auf eigene Faust versucht — dann können und müssen die Vereinten Nationen die Rolle des großen Alchimisten übernehmen. Das aber setzt voraus, daß wir unsere Gesamtkonzeption dieser Weltorganisation noch mehr erweitern und die UNO — um es anders herum auszudrükken — als einen Schritt nach vorne nicht so sehr in unserem politischen Denken, sondern vielmehr in dem großen menschlichen Wagnis betrachten müssen, bei dem die Sphäre der Politik — sogar einer Politik im Weltmaßstab — nur einen Teilaspekt darstellt. Innerhalb der UNO sind die Menschen keineswegs dünn gesät, die einer solchen Konzeption huldigen, und ihre eigenen Bemühungen genau so wie die Leistungen anderer nach diesem Maßstab messen. Es ist ein glücklicher Umstand, daß die meisten der an verantwortlicher Stelle stehenden; internationalen Beamten in der ganzen Welt ebenfalls von dieser Vision erfüllt sind. Diese Vision, so müssen wir abschließend feststellen, findet zwar expressis verbis keinen Niederschlag in der Charta, vermag aber dieses Dokument erst zu einem sinnvollen und geheiligten „Bund" zu machen.

Anmerkung:

Henri A. Kissinger, Direktor der „Spezial Studies, Rockefeller Brothers'Fund". Mitglied des Foreign.

Policy Researd Institute der Universität von Pennsylv’ ien, Direktor des Internationalen Seminars der Universität Harvard. Der vorliegende Artikel „Strategie und Organisation" wurde einer für Council on Foreign Relations angefertigten Studie entnommen, die inzwischen unter dem Titel „Nuclear Weapons and Foreign Policy" erschienen ist.

Ahmed S. Bokhari, Sekretär der Abt. Öffentliches Informationswesen, Vereinte Nationen, Vertreter Pakistans von 1952— 54 bei den Vereinten Nationen. Früher Professor für Englische Literatur und Direktor des Regierungskollege, Lahore.

AUS DEM INHALT DER BEILAGEN:

Handbuch des Weltkommunismus J. M. Bochenski: „Die formale Struktur des Kommunismus"

J. M. Bochenski, E. G. Walter „Philosophische, soziologische und und G. Niemeyer: wirtschaftstheoretische Grundlehren'1 Gerhart Niemeyer: „Politische Grundlehren"

John Reshetar: „Die Partei"

J. Reshetar, S. Possony und „Methodologie der Eroberung und des W. Kulski: Herrschens"

Jan Librach: „Die Expansion des Reiches"

Walter Kolarz: „Die Nationalitäten"

Vladimir Gsovski: „Das Recht"

David J. Dallin: „Das Verbrechen und das Strafsystem"

Ralph James: „Die Wirtschaft"

Karl Wittfogel: „Die Bauern"

John Fizer: „Die Kultur"

J. M. Bochenski, J. Hay und W. Meysztowicz: „Die Religion"

W. W. Kulski: „Die Situation des Individuums"

Joseph M. Bochenski: „Zur Kritik des Kommunismus"

Fussnoten

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