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Volksdemokratische Elternpflichten | APuZ 9/1958 | bpb.de

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APuZ 9/1958 Die Jugend in der Tschechoslowakei Volksdemokratische Elternpflichten

Volksdemokratische Elternpflichten

die allein zuständige Staatsjugendorganisation verdrängen, oder ihr den legitimen Platz im gesellschaftlichen Leben streitig machen zu wollen.

Besonders fürchtet man den Einfluß Jugendlicher, welche „die objektiven Analysen dttrclt das Gefühl ersetzen“, und vor denen schon Lenin als den „Revolutionären des Gefühls“ gewarnt hat. Das Rude Prävo vom 23. Juli 1957 bezeichnet die Haltung solcher Jugendlicher als einen „fahrlässig verächtlidnen Standpunkt, der sich auch bei uns im Rufe nach gedanklichem Individualismus äusserte, was wiederum nichts anderes ist, als eine Rezitive des Utopismus“.

So absurd es klingen mag, aber alles, was eher vom Herzen als aus dem Hirn kommt wird als Todsünde wider den Geist des Kommunismus betrachtet. Daß Idealismus verwerflich sei, beweise am besten der Umstand, daß ihm die klassenfeindliche Intelligenz bürgerlicher Prägung huldige. Deshalb müsse jeder jeden beobachten.

Es gehört zur Erziehung fester Überzeugungen, die Abdichtung gegen das Eindringen westlicher Einflüsse zur „Ehrensache“ zu erklären und Verstöße dagegen, auch wenn sie purer Neugier entspringen, als unehrenhaft zu brandmarken. Die Jugendlichen selbst haben solche „Verräter“ zu entlarven, denn das Kollektiv müsse eingreifen, wenn sich ein Genosse in Fragen seines persönlichen Lebens von den sozialistischen Grundsätzen entfernt. Ehrenpflicht ist es auch, objektivistische und abweichlerische Äußerungen des Lehrers oder der Eltern zur Anzeige zu bringen, und die Unterlassung solcher Denunziationen wird bestraft. Diese Methoden der „Erziehung der Erzieher“ berechtigen die Schüler bei der Kontrolle des Lehrers und seiner Gesinnung sogar zu eigenen Eintragungen in das Klassenbuch.

Dieses Überwachungs-und Bespitzelungssystem ist durchaus folgerichtig in der dialektischen Wahrheit begründet, die allen Dingen und Erscheinungen, also auch den Menschen, jedweden Eigenbereich abspricht und deshalb keine bürgerliche Privatsphäre duldet. Ein System, das im Menschen nur ein gesellschaftliches Wesen, ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung sieht, erwartet eben, daß der Einzelne auch in seinem Denken vergesellschaftet ist. Die Jugendlichen begrüßen einander mit dem Gruß „Freundschaft" und sind dennoch gleichzeitig verpflichtet, den „Freund“ zu bespitzeln, ein Paradoxon, auf das sie nach Veranlagung verschieden reagieren.

Gläubige Kommunisten unter ihnen werden geistig Gefangene der kommunistischen Moral. Wie weit sie der Spitzeldienst gegen die eigenen Eltern führen kann, zeigt der Brief des fünfzehnjährigen Thomas Freyka, der seinerzeit im Slansky-Prozeß verlesen wurde: „Hohes Staatsgericht! Ich verlange für meinen Vater die strengste Bestrafung, nämlich die Todesstrafe. Ich werde vor allem den Hafl gegen meinen Vater nie versiegen lassen, damit ich mich umso besser für die kommunistische Zukunft unseres Volkes einsetzen kann“.

Diese beispielhafte Bekundung kommunistischer Moral wurde dadurch gewürdigt, daß zahlreiche Kinderferienlager den Ehrennamen „Thomas Freyka“ bekamen.

Die kommunistischen Jugenderzieher arbeiten methodisch: Erst Lähmung des persönlichen Wollens, wodurch die Neigung zu gehorchen gefördert wird; dann ideologische Schulung, um das Gehorchenmüssen als Voraussetzung der missionarischen Sendung des Kommunismus glaubhaft zu machen. Dabei sollen periodische Rauschzustände, die von der Symbolik der Fahnen und Standarten erzeugt und durch Massensprechchöre, die suggestive Parolen skandieren, gesteigert werden, den Zwang vernebeln. Doch die Anwendung der ausgeklügelten Pavlowschen Lehre von der Wirkung ständiger Reize auf bedingte Reflexe im Denken, die an Tieren erfolgreich erprobt wurde, geht hier gottlob nicht auf.

Vladimir Lenin bestimmte: Unter dem Sozialismus findet die Jugend-erziehung in vergesellschafteter Form statt, die Familie hat dabei nur die Hilfsfunktion eines kameradschaftlichen Arbeitskollektives. Der § 35 des neuen tschechischen Eherechtes verpflichtet die Eltern „sich um die körperliche und geistige Erziehung der Kinder zu kümmern, damit sie imstande sind, die Arbeit zu leisten mit der sie, unter bestmöglichster Auswertung ihrer Fähigkeiten und Neigungen, der Gesellschaft am meisten Nutzen bringen.“ Wenn Eltern diese Pflicht nicht planmäßig erfüllen, oder wenn „die Familie, in der der Jugendliche lebt, nidtt die Gewähr für eine sozialistische Erziehung biete“ — (was z. B. angenommen werden kann, wenn ein Jugendlicher wiederholt unentschuldigt der Arbeit fern bleibt) — kann auf Grund des § 60 der Jugendliche in eine der Erziehungsanstalten überführt werden, die seit Jänner 1956 dem Schulministerium unterstehen und für Schutz-und Zwangserziehung zuständig sind. „Es wäre ein viel zu langer Weg, wenn wir erst die Mißstände in den Familien verhindern wollten, um dadurch die Kindererziehung zu beeinfluflen“ meint das Rude Prävo vom 16. August 1957.

Die Lehrpläne der Schulen und das Erziehungsprogramm des Staats-jugendverbandes laufen darauf hinaus, den Einfluß des Elternhauses auf ein Mindestmaß zu reduzieren. „Bei uns macht man den Kindern nicht mehr weif!, die Autorität der Eltern sei göttliclten Ursprungs und Gott bestrafe die Kinder, die ihre Eltern nicht ehren.“ Die Alters-fürsorge durch den Staat entbinde die Jugendlichen der Fürsorgepflicht gegenüber den Eltern. Im zweiten Schuljahr lernen z. B. die tschechischen Kinder ein Sprichwort in Versen: „Großvater und Groflmutter essen uns das Brot weg, wenn Groflvater und Großmutter nicht mehr sein werden, wird. mehr Brot für uns sein.“ So macht man die Kinder in einer dem jeweiligen Alter angepaßten Form für die kommunistische Moral aufnahmefähig. Die Eingliederung der Mütter in den Arbeitsprozeß erleichtert es, die Kinder früzeitig aus dem Elternhaus zu entfernen und die gewünschte Entfremdung zu beschleunigen. Anfang 1956 stand nach amtlichen tschechoslowakischen Statistiken in mehr als der Hälfte aller Familien auch die Ehefrau als „werktätige Mutter“ im Arbeitseinsatz. In der SR wurde deshalb in großzügiger Weise ein Netz von Kindergärten, Kinderhorten, Schulgemeinschaften, Lehrlingsheimen, Studentenheimen usw. aufgebaut. Für die 253 000 Kinder werktätiger Mütter, die in 6 300 Kindergärten ganztägig betreut werden, gibt der Staat pro Kind jährlich KC 657 aus. In den Speisehallen der Schulen werden derzeit über 486 000 Kinder verpflegt und dabei gleichzeitig mit der geistigen Diät des Marxismus-Leninismus gefüttert. Auf dem Prager Lehrerkongreß 1954 erklärte der tschechische Unterrichtsminister persönlich, daß man keinen Grund habe zu verheimlichen, daß die Schulen in der der CSR politische Schulen seien, in denen man die Kinder, die man von Jen Eltern sozusagen als Halbfabrikate geliefert bekomme, nach dem Vorbild der Sowjetunion zu „glühenden Patrioten“ umforme.

Die tschechische Presse klagt ständig, daß immer noch nicht genügend „druzinas" (Schulgemeinschaften) existieren, welche die Kinder berufstätiger Mütter betreuen. Seit am 1. Jänner 1954 das Gesetz über die Arbeitspflicht der Frauen in Gültigkeit trat, demzufolge jede Frau unter 4 5 Jahren, deren jüngstes Kind älter als vier Jahre ist, berufstätig sein muß, steigt die Zahl der Kinder, die diese Betreuung benötigen, ständig. Die soziale Errungenschaft der Schulgemeinschaften ist laut Rude Prävo vom 27. Juni 1956 „nicht nur eine Art übergangsmäßige Hilfsinstitution, sondern eine dauernde Erziehungsmöglidtkeit.“ Mit voller Absicht werden auch Lehrlinge in Lehrstellen und Lehrlingsheime eingewiesen, die möglichst weit vom Elternhaus entfernt liegen. Leider könne man noch nicht alle Jugendlichen in Internaten aufnehmen, in denen sie Tagebücher führen müssen, die eine weitgehende Überwachung und Kontrolle der Ergebnisse der ideologischen Betreuung ermöglichen, und in denen sie, von ihren Familien getrennt zu, „Erbauern der kommunistischen Gesellschaft“ erzogen werden.

Der tschechoslowakische Staatsjugendverband

Die offizielle Aufgabe des „Svaz ceskolowenske mladeze" — SCM (Verband der tschechoslowakischen Jugend) besteht darin, die Jugendlichen im Alter von vierzehn bis sechsundzwanzig Jahren zu erfassen und zu einigen. Seinen Satzungen zufolge hilft er, die Jugendlichen im Geiste des vaterländischen, sozialistischen Patriotismus zu erziehen und schult sie zu begeisterten Friedenskämpfern. Minister Kopecky definierte den Verband als „treuen zuverlässigen Flelfer der Partei, dazu berufen, die fugend int Geiste glühenden Hasses gegen die Feinde und zu revolutionärer Wachsamkeit zu erzielten". Während der alte Karl Marx den Standpunkt vertrat, die proletarische Revolution mit ihrer. Änderung der ökonomischen Verhältnisse werde automatisch auch die Menschen ändern, will der SCM unmittelbar die Jugendlichen selbst umerziehen und so die Voraussetzungen für den neuen Typus des Sowjetmenschen schaffen.

Trotz des fortschreitenden Bevölkerungszuwachses erreichte der Mitgliederstand im Jahre 1950 mit 1 116 500 Jugendlichen in rund 20 000 Grundorganisationen den Scheitelpunkt und ist seither rückläufig-. Besonders die Zahl der Dorforganisationen sinkt und Dorfkomitees der Partei, die Heimabende und Jugendtreffen veranstalten, versuchen vergeblich diese Entwicklung zu stoppen. Der Anteil der Vierzehn-bis Sechsundzwanzigjährigen an der Gesamtbevölkerung der CSR beträgt derzeit über zweieinhalb Millionen.

Die Kinderorganisation der „pioni" (Pioniere) hat noch nie mehr“ als die Hälfte der Jugendlichen im pionierfähigen Alter von neun bis vierzehn Jahren erfaßt. Es ist bezeichnend, daß gerade in dieser Organisation — deren offizieller Zweck darin besteht, „die Schul-und Familienerzie'iung zu ergänzen“ — ein katastrophaler Führermangel herrscht. Das Zentralorgan der KPC vom 4. September 1956 berichtete z. B. als typischen Fall, daß von 96 Pionierabteilungen im Stadtteil Prag-Klein-seite nicht weniger als 5 3 ohne Führer seien, weil die Erwachsenen-organisationen infolge ihres erhöhten Bedarfes an Nachwuchskräften angeblich die besten Kräfte wegengagieren. Der Kreissekretär des Staats-jugendverbandes in Mährisch-Ostrau z. B. berichtet, daß „in vielen Lehrlingsheimen die Mehrheit der Lehrlinge Funktionen in den verschiedenen Massenorganisationen hat und sich Fälle ergeben, in denen fünfzehnjährige Burschen und Mädclten sogar dreifache Funktionäre sind".

Der ständige Appell, sich der kämpferischen Traditionen der tschechischen proletarischen Jugend verpflichtet zu fühlen (die erste kommunistische Jugendorganisation der CSR wurde bereits am 20. Februar 1921 gegründet) konnte nicht verhindern, daß der Staatsjugendverband in zunehmendem Maße eine staatsfromme Behörde für Jugendangelegenheiten, eine Art Repräsentanz des Staates gegenüber der Jugend geworden ist und immer mehr verbürokratisiert. Vergeblich scheint die "'t -nung des Sowjetideologen Schdanow im politischen Raum zu stehen: „Ausschussware in der Erziehung der mensdtlichen Seele ist sdtlimmer als Nichterfüllung des Produktionsplanes."

Die ewigen Schulungen nach der Methode des Einheitsholzhammers, die dauernden Pflichtkurse in Marxismus-Leninismus, der russische Sprachunterricht und der ständig steigende Umfang des Wehrsports wecken keine Begeisterung mehr. Auch die Betriebsklubs und die „Roten Ecken“ der Gewerkschaften sprechen die Jugend immer weniger an. Das Gewerkschaftsblatt Prace brachte am 30. Dezember 1956 den bezeichnenden Leserbrief eines Jugendlichen: „Der ganze Tag ist mit Arbeit ausgefüllt und wenn wir zum Heimatabend kommen, was hören wir dann gewöhnlidt: Die Wertung der Arbeit im vergangenen Monat und den Arbeitsplan für den nächsten Monat.“

Die Ursachen des Versagens des Staatsjugendverbandes scheinen auch an seiner Führung zu liegen. An der Spitze stehen linientreue beamtete Jugendführer, meist kalte Karrieristen. Die meisten von ihnen betrachten ihren Dienst lediglich als eine Wartezeit, bis sie — wie ihre Vorgänger im Dienst — hauptamtliche politische Funktionäre, Gewerkschafts-Sekretäre oder Abgeordnete werden, ohne je einen ordentlichen Beruf erlernt oder ausgeübt zu haben. Mit achtzehn Jahren beginnt in allen Ostblockstaaten die Volljährigkeit und einundzwanzigjährige „Parlamentarier“ sind keine Seltenheit. Die Jugendführer sitzen hinter den Schreibtischen der Geschäftsstellen oder Jugendlager, haben die undankbare Erziehungsarbeit vielfach an den Nagel gehängt und sie durch die bequemere Methode des „Administrierens“ ersetzt.'Sie finden mit Recht, daß es viel bequemer ist als ideologisch Zuverlässige die anderen zu beaufsichtigen, als irgendwelche Übersoll-Leistungen zu erfüllen. Sie gehören zur Kaste der staatlichen Aufpasser, auf deren Methoden der Nötigung und des Terrors die volksdemokratische Ordnung aus Existenz-gründen angewiesen ist. Auch die „freiwilligen“ Mitglieder des Staats-jugendverbandes (ÖSM) hält der Zement der Furcht zusammen.

Unter den ehrenamtlichen Führern der unteren Gliederungen des Staatsjugendverbandes gibt es dennoch eine ganze Anzahl sogenannter sekyrari (Scharfmacher), ehrlich überzeugte Patrioten, denen der Kommunismus eine Art Religionsersatz geworden ist, der sie mit seiner Missionsidee erfüllt. Sie sagen, daß der morbide Westen ohnehin in wenigen Jahren sturmreif sein werde und um dann stark und in jeder Hinsicht einsatzfähig zu sein, müsse die tschechische Jugend die heutigen Einschränkungen tapfer tragen. Auch Preußen habe sich einmal empor-gehungert. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, diese redlichen Fanatiker zu übersehen, auch wenn sie in der Minderheit sind. Doch zwischen der Führung des Jugendverbandes und der breiten Gefolgschaft klafft eine tiefe Kluft.

Der von der Partei gelenkte Staatsjugendverband ist unter den obwaltenden Umständen bestrebt, seine Mitglieder, die ihm selten aus Begeisterung und Überzeugung und oft nur aus Angst und Opportunismus beigetreten sind, wenigstens organisatorisch bei der Stange zu halten. Eine Zeitlang versuchte er durch Diskussionen ein Ventil zu schaffen, aber als die Kritiker zynisch wurden, drehte er dieses Ventil schleunigst zu, und der bewährte Grundsatz der sozialistischen Disziplin wurde wieder hervorgeholt. Die Tageszeitung des Jugendverbandes, die Mladä Fronta vom 9. August 1956, verkündete als Quintessenz dialektischen Denkens: „Die Einheit der Idee sdtließt das Suchen, den Kampf der Meinungen, die alle dem gemeinsamen Fortsdtritt und dem Aufbau des Kommunismus dienen wollen, nidtt aus. Sie duldet aber keine Propagierung von Ansidtten, die im grundsätzlidten Gegensatz zum gesellsdtaftlid'ten Fortsdtritt stehen.“

Im Bestreben, durch Lockerung allzu strenger Bindungen die Organisation als solche zu retten, ließ sich der Staatsjugendverband etwas Neues einfallen und gab der Pflege der Geselligkeit größeren Raum, was allerdings manchmal auch wieder zu Pannen führte. Vollständige Informationen darüber liegen nicht vor, aber immerhin gibt es einige Anhaltspunkte, die Schlüsse zulassen. In Prag z. B. mußten zwölf Tanzschulen des Jugendverbandes wegen Unzucht aufgelöst werden.

Als der Versuch des volksdemokratischen Regimes fehlgeschlagen war, die im Ghettodenken des Eisernen Vorhanges notwendig entstehenden Minderwertigkeitskomplexe, Haßgefühle usw. politisch für die Idee der Erlösung der Menschheit durch die kommunistische Weltrevolution zu aktivieren, begnügte man sich damit, jede Kontrolle des Wahrheitsgehaltes amtlicher Schilderungen über die Zustände in den kapitalistischen Staaten zu verhindern und so bei den Jugendlichen die Entwicklung einer selbständigen Urteilsfähigkeit, die sich nur auf der Grundlage von Vergleichen gewinnen läßt, unmöglich zu machen. Die harte Erziehungsmethode, jedes jugendliche Interesse für das, was sich auf der kapitalistischen Seite des Eisernen Vorhanges tut, als „unehrenhaft“ zu bestrafen, bewährte sich jedoch ebenfalls nicht. Sie schuf Märtyrer, die als mutige Wahrheitssucher bestaunt wurden, Zweifel trat an die Stelle des eingeplanten blinden Gehorsams, und die Lust an der Kritik, das Vorrecht der Jugend, breitete sich aus. Immer mehr Jugendliche begannen, gegen die totale Bevormundung zu murren und verglichen den Polizei-Sozialismus, den sie zu spüren bekamen, mit dem edlen theoretischen Sozialismus, der ihnen gelehrt wurde. Daraus entwickelte sich eine spontane Scheidung der Geister in Opportunisten und Charaktere.

Die kommunistischen Machthaber erkannten, daß sie den Bogen überspannt hatten. Es bestand die Gefahr, daß die Jugendlichen den Nebel schlagwortmäßiger Vereinfachungen völlig zerstreuten und die Hinterhältigkeit des Systems durchschauen würden. Deshalb zog man es vor den gütigen Vater zu spielen, der kleine Abirrungen verzeiht, und die Jugendführer bekamen Befehl, mit den „ideologischen Verrätern“ den verweigerten Händedruck vor den Augen der Öffentlichkeit bühnen-gerecht zu-vollziehen. Im Rude Prävo vom 23. Juli 1957 brach Genosse Smisek sogar eine Lanze für die verirrten Schäfchen: „Es war dnrdiaus natürlich, daß die Jugendlidien bei der Operation der Wirklid'ikeit mit verschiedenen auf den ersten Blicl^ sehr scharfen Skalpellen, mit Begriffen, wie Humanismus, Freiheit, Menschheit usw. gleichzeitig jene Skalpelle vergaßen, die für wirklidte Ärzte heute unentbekrlidt sind: den geschärften Klassenstandpunkt und die Idee des Marxismus-Leninismus."

Die Stellung der Jugendorganisation gegenüber der Partei ist umstritten. Die Kommunistische Partei der CSR ist zwar die größte Kommunistische Partei Europas, aber sie ist vielleicht gerade deshalb kein politischer Orden, sondern ein Sammelbecken, in welchem einer Minderheit klassenbewußter Kommunisten eine Mehrheit ideologisch anfälliger kleinbürgerlicher Opportunisten gegenüberstehen. Den Kuratoren im Kreml ist dieser Qualitätsmangel nicht unbekannt. Um künftig nur echte Kommunisten aufzunehmen, die blind gehorchen, glauben, predigen und wie Missionare handeln, durchläuft der Parteianwärter und Jungparteigenosse, auch wenn er aus der Jugendorganisation kommt, ein kompliziertes System politischer Schulungen. So hoffe man allmählich den von Lenin geforderten Zustand zu erreichen, in dem die Partei die „Avantgarde des Proletariats“ und der Staat ihr „Herrschaftsinstrument“ ist. Die KPC betrachtet also den Jugendverband als politisches Reservoir, aber nicht als politischen Faktor. Die Verbandsangehörigen werden zwar ständig als „Kampfgenossen" angeredet, aber nicht als solche anerkannt.

Als Stalin beschloß, hundert Millionen Osteuropäer zu annektieren, sah er im Falle der SR das begehrenswerte industrielle Potential, aber die Mentalität der Tschechen und Slowaken kannte er wohl kaum genug und verkalkulierte sich jedenfalls, wenn er mit einer raschen seelischen Eingliederung der Jugendlichen rechnete. Heute, zwölf Jahre später, zählt die junge Generation in der SR in keiner Weise zu den weltanschaulich gefestigten Bejahern des kommunistischen Systems, und die offiziellen Vertreter des Staatsjugendverbandes — es sind immer das gleiche Dutzend Berufsjugendlicher — besitzen keineswegs die Legitimation, für die gesamte tschechische und slowakische Jugend zu sprechen.

Nothelfer Schwejk

Sogar die offizielle Zeitung des tschechoslowakischen Staatsjugendverbandes klagt, daß „die meisten Funktionäre nicht mehr in der Lage sind, Zusammenkünfte und Bespredtungen interessant zu gestalten. Es ist durdiaus nidtts Seltenes, unter ihnen zynische Gleidigültigkeit, ja sogar eine Haltung ä la Sdtwejk vorzußnden“.

Nicht von ungefähr ist der Erfinder der Sabotage durch übersteigerten Patriotismus der brave Soldat Schwejk, der sich jeder Gewalt mit einer Mischung von Ironie und Opportunismus entzieht, zum aktuellen Symbol des tschechischen Volkes und der tschechischen Jugend geworden. Nadi seinem Beispiel hat man sich angewöhnt, auf schematische Fragen schematische Antworten herunterzuleiern, man kennt die Spielregeln des volksdemokratischen Systems, aber man nimmt das Spiel nicht mehr ernst. „Man sdtwejkt und schweigt und wartet", — so kennzeichnete die Sudetendeutsche Zeitung in Folge 14/19 57 das Problem in wenigen Worten.

Nach außen hin ist das Ziel erreicht: eine eintönige Masse uniformierter Nullen, die alle die gleichen Reaktionen zeigen. Aber der Schein trügt, denn erzwungene Zustimmung wirkt auch bei der tschechischen lugend in entgegengesetzter Richtung. Die bewährte Praxis aus der Zeit •des Protektorats Böhmen-Mähren, durch unterwürfige Lobreden auf das errschende System so komisch zu wirken, daß bei den Zuhörern genau das Gegenteil von Liebe zu diesem System geweckt wird (eine Methode, die damals viele „ostblinde“ Beamte aus Binnendeutschland nicht durchschauten und leider jede Warnung erfahrener Volksdeutscher hochmütig in den Wind schlugen), diese typische Schwejk-Methode feiert nun wieder fröhliche LIrständ. So gehörte es z. B. monatelang zum beliebten Gaudium, auf Zusammenkünften Jugendlicher aus der 195 3 erschienenen Propaganda-Broschüre des Staatsjugendverbandes vorzulesen, die den vielbeachteten Titel trägt „Freudvoll ist das Leben der Jugend in der CSR“.

Prag gibt z. B. für jeden Hochschüler vier-bis sechsmal soviel aus wie die Bundesrepublik. Dennoch hat sich gerade die tschechische akademische Jugend in ihrer Mehrheit nicht kaufen lassen. Die Annahme, man könne zwar die allgemeine Bildungsmöglichkeit erhöhen, das Fachwissen fördern, aber gleichzeitig jedes selbständige politische Leben durch Zuwendungen materieller Art ausschalten und das menschliche Gewissen zum Schweigen bringen, hat sich als Fehlspekulation erwiesen. Die Bemessung der Hochschulstipendien nach der „gesellschaftlichen Betätigung“, die Pflichtvorlesungen und Seminarübungen in sogenannter „Gesellschaftswissenschaft“ und vieles mehr entlarvten die sozialistische Begabten-Förderung. Es geht den Studenten nicht schlecht, jeder findet ein berufliches Fortkommen und seine materielle Sicherheit ist gewährleistet, aber was die Hochschüler so um sich herum sehen — die systematische Verfälschung aller Wissens-und Lebensgebiete ex autoritate durch Ideologie und Dialektik, die servile Übernahme ideologischer, gesellschaftlicher und sogar administrativer Einrichtungen Sowjetrußlands — veranlaßt sie eben, ihren Ekel durch Schwejkiaden abzureagieren. So trugen. die Preßburger Hochschüler z. B. am 12. Mai 1956 einen Sarg mit der Aufschrift „Demokratische Freiheit“ durch die Straßen und beim Majales-Studentenfest am 20. Mai in Prag jubelten Tausende verständnisvoll jenem Hochschüler zu, der ein Plakat mit der Aufschrift trug „Tausche akademische Freiheit gegen Anstellung jed Art". Daran änderte nichts, daß nachträglich die tschechische Presse von „klassenlosen Anschauungen einer Handvoll heimtückischer Hitzköpfe“ sprechen mußte, anstatt auch solche Erscheinungen, gemäß den leninistischen Regeln für das politische Leben, als objektive Wirklichkeit zu bewerten. Es war auch gewiß kein Zufall, daß ein Flugblatt der 01mützer Hochschüler, welches Pandit Nehru als Freund des sozialistischen Fortschritts verherrlichte, ausgerechnet folgenden Ausspruch Nehrus zitierte: „In der heutigen Welt besteht der Konflikt zwisdten wachsender Zentralisierung und persönlicher Freiheit. Wir geben der Erhaltung der individuellen Freiheit den Vorrang, auch auf das Risiko eines langsameren wirtschaftlichen Aufstieges hin."

Als garantiert wirksames Mittel, eine Idee in Mißkredit zu bringen, empfahl Lenin seinerzeit, diese Idee im Namen ihrer Verteidigung ad absurdum zu führen. Der tschechische Schwejk ist darin ein Meister. Schwejk lebt in tausendfacher Gestalt und hilft den tschechischen Jugendlichen auf ihre spezielle Art, die drückende Unfreiheit zu überdauern. Gerade weil sie wenig zu lachen haben, ist ihr Bedarf an Lachen mächtig gewachsen.

Auch in der CSR „Halbstarke"

„Früher einmal hat es keineswegs Bestürzung hervorgerufen, wenn Tausende Jugendlicher ziellos und ohne Lebensperspektive dahindösten“, — schreibt das Rude Prävo vom 27. Juni 1956. „Der Kapitalismus wachte daraus ein System. Heute aber, da der Sozialismus besonders der Jugend die objektiven Bedingungen für andere bessere Lebensformen liefert, heute ist jeder , somrak‘ (Halbstarker) ein Sieg der alten bürgerlichen Kultur.“

In sturer Anwendung des Prinzips, alles „politisch" zu sehen, geht man sogar der Erscheinung der Verwahrlosung der Jugend gegenüber yon der wunderlichen Annahme aus, es handele sich um Abirrungen infolge mangelnder politischer Schulung. Deshalb fordert z. B. das kommunistische Zentralorgan am 22. Oktober 1957 alle Prager Parteiorganisationen auf, durch konkrete Hilfe die Bemühungen der Jugendlichen zu unterstützen, das Übel der Halbstarken unmöglich zu machen.

Im November 1957 erklärte Innenminister Barak auf einer Pressekonferenz in Prag, daß es „im Lande 344 Banden von Halbstarken gibt, ... die von der amerikanischen Lebensweise beeinflußt sind“. Die Tageszeitung der kollaborierenden katholischen Volkspartei Lidova Demokracie hatte am 22. Oktober von jungen Leuten gesprochen, die auf den „polnischen Köder" hereingefallen wären.

Die Ironie will es, daß ein Teil der westlichen Jugend auf die westliche Erziehungsliberalität, die nahezu alles duldet, mit den gleichen Extremen reagiert, wie Teile der tschechischen Jugend auf die totale Bevormundung durch den Staat, nämlich mit Gleichgültigkeit gegenüber den öffentlichen Angelegenheiten, ironischer Negation und fatalistischer Hinnahme jedes Schicksals, weil man ja ohnehin nichts ändern kann. Während Sachverständige im freien Westen die weltanschauliche Ratlosigkeit der Jugend für diese Flucht ins Unverbindliche, dieses Ausweichen vor jeder ernsten Auseinandersetzung mit der Gegenwart verantwortlich machen, dürfte bei den tschechischen Jugendlichen in erster Linie eine ideologische Müdigkeit, ihr von bitteren Erfahrungen gebildeter politischer Instinkt die Ursache ihrer begründeten Skepsis gegenüber politischen Heilslehren sein. Dem dauernden „im Dienst stehen" setzen manche Jugendliche ein pseudoromantisches Privatleben entgegen, das die bewußte Indifferenz gegen alles, was irgendwie mit „Politik“ zu tun hat, kennzeichnet.

Manche flüchten in das Winkelglück eines Steckenpferdes, andere an ein vermeinliches religiöses Ufer und sagen dann dort in beschaulicher Bequemlichkeit, es wäre unter den obwaltenden Umständen gescheiter, sich franziskanischer Sorglosigkeit zu verschreiben, oder sich mit einer Trostpredigt über die Nichtigkeit des irdischen Daseins zu begnügen. Andere wieder toben sich hemmungslos aus und gefallen sich als „fanousi“, was ungefähr dem westlichen „Fan“ entspricht. Diesen Jugendlichen kommt man auf halbem Wege entgegen, um sie wieder zu gewinnen. Der Prager Rundfunk bringt schräge Tanzmusik und die Mladä Fronta, das Zentralorgan des Staatsjugendverbandes, bekannte, daß ihr „bei der Einschätzung der sogenannten Jazz-Musik in der Vergangenheit echte Irrtümer unterlaufen sind“.

Die seelischen Einflüsse von Technik, Automatisierung, Lebensangst, Halbbildung usw. sind bei der tschechischen Jugend genau so festzustellen wie z. B. bei der deutschen, obwohl es in der SR keine Sexual-propaganda der Illustrierten gibt, keine Schundhefte und obwohl dort keine kommerziellen Meinungsbildner mit großem Behagen in Jugendirrungen wühlen dürfen.

Diejenigen Jugendlichen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, die als Jazz-Fans, Motor-Fans, Calypso-Fans usw. zueinander finden, pfeifen hierzulande ebenso auf die Entwicklung der freiheitlichen Demokratie, wie beim tschechischen Nachbarn auf den „Aufbau des Sozialismus“. Ihre Existenz lockert drüben zwar den Einfluß des ideologischen Zwangs, aber es wäre völlig verfehlt, ihre Bedeutung zu überschätzen, oder dieser kleinen Minderheit eitler Außenseiter etwa eine politische Bedeutung zuzumessen.

Die innere Emigration der Jugend

Die von den Behörden der CSR so sehr beklagte wachsende unpolitische Haltung der tschechischen jungen Generation ist letzten Endes die schweigende Form der Abneigung gegen das, was Tausende Jugendliche mit verächtlicher Resignation „Politik“ nennen. Wenn die Moskauer „Literaturnaja gaseta“ vom 15. Juni 1957 klagte: „Bei uns hat das berüdrtigte Heldentum im Schweigen Eingang gefunden", so trifft dies auch auf die SR zu. Die unjugendliche Art innerer Emigration findet bei vielen Erwachsenen deshalb Verständnis, weil die Furcht vor der Partei und der hinter ihr stehenden sowjetischen Militärmacht ebenso allgemein ist wie die mangelnde Achtung vor ihr. Man hat die tschechische Jugend mit Begriffen wie Klassenkampf und Ausbeute vertraut gemacht und nun beginnt sie diese Kategorie auf die Wirklichkeit in der CSR anzuwenden. Dabei sieht sie eine Despotie von Funktionären mit politischen und wirtschaftlichen Privilegien, sie erlebt eine Ausbeutung, die sich nicht nur materiell, sondern auch geistig-seelisch auswirkt. Je mehr die Hoffnung auf aktive westliche Hilfe schwindet, desto mehr Angehörige der tschechischen jungen Generation sehen im „Heldentum des Schweigens“, in dieser unjugendlichen Art stillen Widerstandes, die derzeit einzig mögliche Form, „die tschechische Seele zu retten , und sie beneiden die Polen, die mit ihrer Oktoberrevolution zwar materiell herzlich wenig, aber ideell doch unendlich viel gewonnen haben. Ist aber mit dieser Einstellung eine völlige Abkehr vom Kom munismus vollzogen?

Nachdem die seelischen Voraussetzungen zur Vermassung bei den Westslawen nicht gegeben seien — meint z. B. Prof. Dr Lemberg —, bestehe die Möglichkeit, daß der Kommunismus in Mitteleuropa scheitern werde. Die These ist bestechend, und historische Vergleiche bieten sich an, aber, wie jede Simplifizierung, auch nicht ungefährlich. Ganz ohne Einfluß sind die Jahre kommunistischer Diktatur bisher nicht geblieben, auch wenn sie nicht ausgereicht haben, einen seelischen Umbau hervorzurufen. Die dialektische Denkweise z. B. wird mit großer Wahrscheinlichkeit viel länger nachwirken als die Denkgehalte des Kommunismus. Erfahrungen mit der Vergangenheit zwingen, die Realität sol-. eher Vermutungen anzuerkennen, und politische Flüchtlinge aus der CSR beweisen, daß sich Menschen, die in der Scheinwelt des Kommunismus ausgewachsen sind, nicht ohne weiteres und ohne Übergang in der verwirrenden westlichen Freiheit zurecht finden.

Romantische politische Antriebe liegen dem tschechischen Wesen ebenso fern wie der Drang, gefährlich zu leben. Auch die tschechische Jugend bietet keineswegs das Bild einer vom Fieber der Opposition befallenen und die Gefahren des Widerstandes suchenden Gruppe. Sie lebt neben dem Regime. Die überwiegende Mehrheit der tschechischen Jugendlichen kalkuliert auf das geringste Risiko hin und hat von ihren Vätern gelernt, „mit den Wölfen zu heulen“. Während z. B. die Hoch-schüler in Polen radikal und entschieden die Abschaffung der Pflicht-vorlesungen in Marxismus-Leninismus forderten, begnügten sich ihre tschechischen Kollegen in Prag höflich damit, die Erwartung auszusprechen, daß künftig der Besuch dieser Vorlesungen freiwillig sein solle — offensichtlich auch in dem Bestreben, sie damit ganz los zu werden.

Geschichtliche Erfahrungen berechtigen zur Annahme, daß die meisten tschechischen Jugendlichen zu den traditionellen „Revolutionären der letzten Stunde" gehören werden und sich, ebenso wie ihre Väter, erst dann offen entscheiden werden, wenn die politische Befreiung ihres Volkes durch fremde Befreier erzwungen wurde. Kühler als die ungarischen und vorsichtiger als die polnischen Jugendlichen, dürften sie wahrscheinlich abwarten und weiter „mitlaufen", um sich erst dann zu bekennen, wenn nichts mehr schiefgehen kann. Bis dahin werden sie wahrscheinlich dem Kreml laufend ihre Treue versichern und ein Über-soll an Bravheitsbeteuerungen erfüllen. Als vermeintliche Musterkinder des Kommunismus werden sie auf diese Weise von ihren Zwingherren an Vergünstigungen herausholen, was nur möglich ist

Es wäre kurzsichtig, sich über diesen mangelnden Heroismus zu mokkieren. Eher sollte man das tschechische Volk ob seiner Schlauheit bewundern, die es schon immer veranlaßte, rechtzeitig unterzutauchen und rechtzeitig am rechten Platz, nämlich unter den Siegern, aufzutauchen.

Die tschechische Kriegsgeneration ist anders

Nach der Abtrennung der Sudetengebiete aus der ehemaligen CSR im Herbst 1938 waren wohl einige wenige Tschechen in das Innere des Landes zurück übersiedelt, die meisten von ihnen aber blieben in dem von da ab zum Deutschen Reich gehörenden Gebieten. Als man das Protektorat Böhmen-Mähren schuf, änderte sich auch dort für den einzelnen Tschechen relativ wenig. Die heutige junge Generation hörte damals von ihren älteren Geschwistern vielleicht, daß der Herr Lehrer in der Schule von Deutschland und Adolf Hitler etwa so sprechen mußte, wie er heute von der Sowjetunion und Nikita Sergejewitsch Chruschtschow redet, und sie erinnern sich vielleicht auch daran, daß damals an den Amtsgebäuden die tschechische Fahne brüderlich gepaart mit der deutschen hängen mußte, so wie heute mit der sowjetischen. Gewiß, es war Krieg, aber die Väter brauchten nicht einzurücken, sie verdienten ausgezeichnet und wenn jemand „do rajchu" (ins Reich) dienstverpflichtet wurde, dann schickte man ihm eben große Lebensmittelpakete und er schickte sehr viel Geld. In Prag hatte man zwar die Hochschulen gesperrt und das Dorf Lidice war niedergebrannt worden, weil es Spione versteckt hatte, es war zwar gefährlich, die tschechischen Hetzsendungen aus London oder Moskau abzuhören, aber im großen und ganzen lebte man friedlich und sicher und es gab weder Bombennächte noch Hunger. Selbst in den letzten Monaten des Krieges gab es im Protektorat Böhmen-Mähren nach amtlichen Ermittlungen weniger Sabotage als im Altreich, und Ende April 1945, als Berlin, Wien, Dresden und Nürnberg schon nicht mehr in deutscher Hand waren, produzierten die tschechischen Rüstungsarbeiter in Prag weiterhin für Deutschland. Das Protektorat Böhmen-Mähren hatte während des ganzen Krieges weniger Verluste an Männern, als Westdeutschland während eines einzigen Friedensjahres an Verkehrunfällen In der heutigen CSR liegen mehr sowjetische Soldaten begraben, die ihr Leoen für die Freiheit der Tschechen geopfert haben, als die ganze tschechische Nation in allen sechs Jahren der „Unterdrückung durch die deutschen Okkupanten“ und einschließlich des dreitägigen „Prager Auf-standes" vom 5. bis 8. Mai 1945 selbst an Opfern zählt. „Die Tsd^edien" — so tadelte ein jugoslawischer Journalist verallgemeinernd — „diese absoluten Parasiten unseres Kampfes gegen den Faschismus sind ungesdiwächt und wohlgenährt in den Frieden hinüber gewedtselt“ und er verwies auf den friedensmäßigen Geburtenzuwachs der Tschechen während der Kriegsjahre.

Dieser „Rache der Wiegen“ entstammt die heutige tschechische junge Generation, auf die sich der kurze Rausch der „Befreiung“ keineswegs so gestaltend auswirken konnte, wie das Erlebnis des Krieges auf die junge Generation anderer europäischer Völker. Trotzdem darf auch die Einwirkung der zehnjährigen Dauerpropaganda und der allein zugelassenen Geschichtsauffassung, welche die Periode der nazistischen Okkupation von 1939 bis 1945 als ein grenzenloses Martyrium und ein Heldenzeitalter heroischen Widerstandes feiert, ebensowenig unterschätzt werden, wie die moralische Wirkung der tatsächlichen Einzelfälle aktiven Widerstandes gegen die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes, die sich die damalige deutsche Regierung zuschulden kommen ließ, bevor der Krieg begonnen hatte und ohne daß das deutsche Volk sich offen dagegengestellt hätte. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, vor diesen Tatsachen, die auch ihren Einfluß auf die Anschauungen der heutigen tschechischen jungen Generation haben, die Augen zu verschließen.

Gibt es wirklich zweierlei Deutsche?

Die tschechischen Ideologen des Panslawismus predigten, es sei die Weltmission der Slawen, die Menschheit vom germanischen Joch, von der deutschen Gefahr, zu erlösen. Stalin, Mikojan und Berija als schlaue Levantiner sicherten dem liberalen Musterdemokraten und ehemaligen tschechoslowakischen Staatspräsidenten Dr. Eduard Benesch zu, eine „allslawische Politik“ zu treiben, und er setzte die Zukunft seines Volkes auf die Karte dieser „Panslawisten“. Viele heutige Ideologen des Kommunismus in der CSR meinen ebenfalls den Panslawismus, wenn sie von der Idee der Weltrevolution reden.

Beide Gruppen glaubten und glauben, ihr politisches Evangelium diene dem Weltfrieden, den die von Natur aus angriffslustigen Deutschen dauernd stören. (In seinem 1956 erschienenen Buch „Pangermanismus“ erklärt z. B.der tschechische Historiker Dr. K. Hoch die Expansität als „dauernde Disposition der deutschen Nationaleigenschaften“). Entrüstet lehnen sie ab, den vermeintlichen moralischen Defekt der deutschen Nachbarn als zweckgebundene Erklärung ihres neopanslawistischen Geschichtsbildes zu erkennen und verweisen auf historische Erfahrungen, z. B.den deutschen „Drang nach Osten“ und andere Versuche, die Integration Europas unter deutscher Hegemonie zu vollziehen.

Siebzig bis achtzig Millionen unzufriedener Deutscher haben zweimal im Laufe von dreißig Jahren den Frieden gebrochen. Bis nach Moskau sind sie gekommen und bis nach Biaritz, sie allein. Wenn sie nun erst mit anderen monopolkapitalistischen Militärstaaten verbündet sind, was dann? Werden da nicht die politischen Lösungen von 1945, die ein schwaches Deutschland zur Voraussetzung haben, unhaltbar? Kein Wunder, wenn es auch der tschechischen Jugend unbehaglich wird bei diesen Gedanken. Die amtliche kommunistische Propaganda schürt solche Angstgefühle durch ständige Hinweise auf den Herrenrasse-Dünkel der Deutschen und ihre wahnwitzige NS-Ostpolitik während des letzten Krieges. Wider besseres Wissen schweigen jene Tschechen, denen seit Generationen das Zusammenleben mit Deutschen in gemischt-sprachigen Gebieten oder an der Spfachgrenze ein anderes Bild vom deutschen Wesen vermittelt hatte, denn auf jedem von ihnen lastet der Verdacht der Kollaboration.

Als der kommunistische Staatspräsident Gottwald plötzlich die Parole verkündete „neni nemec jako nemec“ — (es ist nicht ein Deutscher wie der andere) — hielten seine Untertanen dies zunächst für eine vom Kreml diktierte Geste gegenüber der volksdemokratischen DDR, die man eben mitmachen müsse

Seither wird die volksdemokratische Klassifizierung auch auf die Deutschen angewandt, d. h.friedens-und freiheitsliebend, fortschrittlich und patriotisch und vor allem „demokratisch“ sind nur die kommunistischen Deutschen in der DDR und ihr Anhang in Westdeutschland. Alle Andersdenkenden sind Volksfeinde, Reaktionäre und Faschisten.

Daß es wirklich Millionen Deutscher geben sollte, die echte Kommunisten seien, das nahm man den Genossen Staatspräsident Gottwald ebensowenig ab wie der tschechischen Presse. Fast alle Tschechen teilen die Ansicht, die Stalin einmal dem Polen Micolajczek gegenüber zur verächtlichen Bemerkung veranlaßte: „Die Deutschen eignen sich für den Bolschewismus wie ein Sattel für eine Kuh" und sie bleiben bei dieser Meinung trotz der dauernden Berichte in Presse und Funk über eine innere Wandlung der Deutschen.

Die junge Generation der Tschechen kann nicht auf eigene Erfahrungen aus der Zeit friedlichen Mit-und Nebeneinanderlebens von Deutschen und Tschechen — „wir haben uns geliebt und geschlagen wie Brüder“ — zurückgreifen. Lind Gottwald hütete sich, darauf hinzuweisen daß es in der kapitalistischen Zeit etwas Nachahmenwertes gegeben habe. Die heutigen Kontakte mit linientreuen FDJ-Delegierten und gelegentliche seltene Kontakte mit jungen Deutschen in der SR selbst, die 195 3 zwangsweise die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft bekommen haben und deren Diensteifer vielfach lästig empfunden wird, üben keinen nachhaltigen Eindruck aus. Seit Jahren aber erzählt man der tschechischen Jugend, daß sich alle westdeutschen Jugendlichen in neofaschistischen Organisationen sammeln. Darf man es da der jungen tschechischen Generation verargen, wenn sie der deutschen mit größter Skepsis gegenübertritt? Es ist zwar vereinfachend, doch nicht unerlaubt, zu behaupten, daß die spärlichen Begegnungen mit nichtkommunistischen Jugendlichen aus der Bundesrepublik das Propagandabild vom „reaktionären Westdeutschland" bisher nicht zu erschüttern vermochten. Niemand darf sich wundern, wenn es z. B. für junge Tschechen einfach unvorstellbar ist, daß die Bundesrepublik Jugendorganisationen fördert, ohne ihnen eine „amtliche Ideologie" aufzunötigen. Nach ihren eigenen Erfahrungen in der CSR müssen sie es begreiflicherweise für eine geistige Unredlichkeit halten -für „Politik" im Sinne lügenhafter Propaganda — wenn man ihnen z. B. erzählt, daß Jugendorganisationen, die an den Staatsmitteln des Bundesjugendplanes partizipieren, eine Kontrolle ihrer Erziehungstätigkeit als undemokratische Zumutung mit Erfolg ablehnen.

Es wird sehr viel sorgsamer, geduldiger Kleinarbeit bedürfen, das falsche Bild, das man sich beim tschechischen Nachbarn von der jungen Generation der Deutschen in den letzten zwölf Jahren weiter gebildet hat, zu revidieren, aber diese geistige Auseinandersetzung kann uns niemand ersparen. Mit sentimentalen Rundfunkbotschaften auf verschiedenen Wellenlängen ist der tschechischen Jugend allerdings nicht gedient. Wir müssen der beneidenswert nüchternen aber keineswegs glaubens-und hoffnungslosen jungen tschechischen Generation das selbständige Erkennen der Wahrheit ex ratione möglich machen. Von der Wahrheit zur Verständigung ist dann nur ein kleiner Schritt.

Verständigung ein Generationsproblem?

Nicht ohne Erfolg wird von sowjetischer Seite die Ansicht verbreitet, das Generationsproblem erschwere die Völkerverständigung. Die Angehörigen der alten— sprich kapitalistischen — Generation seien auf beiden Seiten mit soviel bürgerlichen Vorurteilen belastet und ihr nationalistisches Denken hätte Mißtrauen in einem solchen Ausmaße angehäuft, daß sie unfähig geworden seien, die große Völkerversöhnung, die natürlich im Zeichen des Sozialismus möglich sei, durchzuführen. Ihre Umerziehung aber würde zuviel Zeit erfordern. Besonders ungeeignet seien die Heimatvertriebenen, die als Revanchisten nur an eine Erneuerung des Faschismus denken würden.

Westliche Kreise, meist solche, die in der osteuropäischen Politik und Geschichte reichlich unbewandert’sind, sekundieren dabei und dienen damit, eigentlich und nicht nur sozusagen, ihren erklärten Feinden. „Vielleicltt ist es der Wille der Vorsehung, daß alles solange dauern muß, daß erst eine alte Generation, die auf beiden Seiten sich so viel Unrecht zugefügt hat, aus dieser Welt abberufen werden muß“ schreibt z. B. ein westdeutsches Kirchenblatt, ohne sich der verhängnisvollen Tragweite dieses Fehlschlusses bewußt zu sein, ausgerechnet jene Kreise auszuschalten, die infolge ihrer natürlichen Zweisprachigkeit und ihrer persönlichen Erfahrungen die Kontaktfähigkeit zu den westslawischen Völkern behalten haben.

Zweifelsohne würde es die wertvolle Fähigkeit heimatvertriebener Ostdeutscher mindern, wenn diese die Auswirkungen der erhöhten Bildungsmöglichkeiten, der Technisierung und des unleugbaren geistigen Einflusses der Sowjetunion auf die junge Generation westslawischer Völker nicht genügend berücksichtigen würden. Trotzdem wird es sich empfehlen die Erfahrungen der alten Generation Ostvertriebener zu beachten, um zwischen serviler Anbiederung und hochmütiger Ignoranz tragbare Kontakte und Kompromisse zu finden.

Moskau läßt niemand in Zweifel darüber, wo es hinauswill. Die gesamte alte Generation soll sich erst überleben, der Kreml gewinnt damit Zeit. Inzwischen wächst bei den westslawischen Völkern eine neue Generation heran, die abgeschirmt von westlichen Ideen, nur Klassen und keine Völker mehr kennt. Im Westen aber werde es die. politische Instinktlosigkeit versäumen, die Jugend so zu erziehen, daß sie Kontakten mit den Slawen nachzukommen vermag. Die aus Osteuropa vertriebenen Volksdeutschen sterben inzwischen aus und niemand hat ausreichende Vorstellungen über Formen und Möglichkeiten eines Zusammenlebens mit den westslawischen Völkern. Dann, so folgert man messerscharf, werde die Zeit reif sein, die Maske fried lieber Koexistenz abzulegen.

Bis dahin bestärkt man die deutschen Jugendlichen in jenem Minderwertigkeitskomplex des mystischen Grauens, das viele von ihnen befällt, wenn vom Osten die Rede ist, und man beschränkt ihre Kontakte mit der Jugend der slawischen Volksdemokratien auf sportliche Beziehungen und vom Kreml arangierte „unpolitische Kulturbegegnungen“. Was der Kreml mit „Gesprächen" meint, ist aber etwas grundsätzlich Verschiedenes von dem, was wir unter diesem Begriff verstehen. Diesem teuflischen Rezept des Bolschewismus rechtzeitig wirksam zu begegnen, ist eine dringende Aufgabe der Gegenwart, von deren Lösung in Zukunft mehr abhängt als heute mancher wahrhaben möchte.

Unsere europäische Aufgabe

Mit vollem Recht kann gesagt werden, daß die Jugenderziehung in der CSR zu Konsequenzen geführt hat, die sich gegen das volksdemokratische System richten. Die bis ins letzte gehende Pan-Politisierung und totale Ideologisierung hat im Gegenteil zur Teilnahmslosigkeit der Jugendlichen, zur inneren Emigration, ja sogar zu Widerstand geführt.

Das relativ hohe Maß geistiger Eigenständigkeit der jungen tschechischen Generation verkleinert jedoch keineswegs die Hemmungen und Hindernisse, die einer Verständigung mit dem deutschen Volk entgegenstehen. Die volksdemokratische Verfassung der CSR vom 9. Mai 1948 betoniert in ihrer Präambel die Erbfeindschaft gegenüber dem Deutschtum, und Berge sonstiger Vorurteile sind auf beiden Seiten wegzuräumen. Die tieferen Gründe des Mißtrauens zwischen Deutschen und Slawen liegen nicht zuletzt im Vorhandensein beiderseitiger Mythen der Überheblichkeit und Auserwähltheit. Einer kritischen Überprüfung kann aber die geschichtsfremde Vereinfachung von der angeblich angeborenen Feindschaft der Tschechen gegenüber den Deutschen ebenso-wenig standhalten, wie die Herder’sche These von der Taubennatur der Slawen. Gewiß bestehen große Unterschiede, aber die Unterscheidung zwischen Slawen und Deutschen darf keine dauernde Scheidung mehr sein, denn das Zeitalter voneinander isolierter Völker und Volkstümer, das Zeitalter nationalstaatlichen Denkens, ist endgültig vorbei.

Auf deutscher Seite tragen wir noch heute an den Folgen unserer politischen Bewußtseinsbildung, die aus einer Zeit lange vor dem Nationalsozialismus stammt. Platonische Versicherungen, daß wir heute den Herrenrasseirrsinn der Vergangenheit nicht mehr teilen genügen allerdings nicht. Nachhaltiger würden Beispiele einer neuen Gesinnung wirken, denn auch hier gilt „es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ Das tragische Auseinanderklaffen von Lehre und Leben, das slawische Denker seit nahezu zweihundert Jahren und leider nur zu oft mit Recht den westlichen „Weltanschauungen“ zum Vorwurf machen, dieser peinliche Unterschied zwischen Sonntagsreden und Werktagsreden schmälern die Glaubwürdigkeit unserer politischen Absichten bei den tschechischen Jugendlichen in hohem Maße, zumal die von ihnen oft unbewußt übernommene marxistische Denkweise, die Einheit von Theorie und Praxis zum Kriterium dialektischer Wahrheit erhebt. Es wird an uns selbst, vor allem aber an der deutschen Jugend liegen, den Jugendlichen in der CSR durch kluges und einsichtsvolles Verhalten praktisch und geistig Hilfsstellung zu geben und sie nicht zu enttäuschen. Gewiß, die Möglichkeiten geistiger Einwirkung sind begrenzt, aber man sollte sie voll ausnutzen — sofern man etwas zu sagen weiß. „Die Bildung eines Mitteleuropas liegt noch in der Zukunft und seine Geburt geht in einem verzweifelten Kampf vor sich“ — prophezeite Vladimir Lenin im Jahre 1917. Heute lauten die berechtigten Fragen der tschechischen Jugend: „Was wollt ihr wirklich?" und „was bietet ihr?". Sie erfordern und verdienen klare verbindliche Antworten. Wenn wir die junge tschechische Generation in ihrer geistigen Not im Stich lassen und ihr die Antworten schuldig bleiben, dann könnte daraus eine radikalere Entfremdung entstehen, die schlimmer und folgenschwerer wäre als die heutige ideologische Trennung. Mit unserem derzeitigen Jahrmarkt auswechselbarer flexibler Gesinnungen bieten wir der tschechischen Jugend allerdings kaum die Möglichkeit, sich selbst zu informieren, sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Damit bestärken wir eher den Eindruck, die westliche Freiheit sei eine Freiheit von jedem Programm. Mit „Antikommunismus“ allein — mit Antagonismen überhaupt — lassen sich weder Fragen beantworten, noch Probleme lösen. Wir brauchen klar in die Zukunft weisende Ideen für eine freie Gemeinschaft der Völker in einem föderativen Europa, die innere Aufrichtigkeit dieses politischen Zieles und vor allem damit im Einklang stehende Taten.

Die tschechische Jugend will, daß auch ihr Volk als vollwertiges Glied der europäischen Völkerfamilie respektiert werde. Europäischer Behauptungswille muß diese Haltung begrüßen und sich mit aller Entschiedenheit gegen die Tendenz wenden, die Tschechoslowakei als „verloren" aus Europa auszuklammern. Die Tschechen sind Europäer wie wir und Europa muß sie ansprechen, aber nicht nur im Kreuzzug-Jargon. Es ist eine deutsche Aufgabe und Verpflichtung, die benachbarten Tschechen vom Argwohn zu befreien, daß auch wir der neuen bequemen „Limes-Ideologie“ huldigen, welche das tschechische Volk definitiv Asien zuweisen möchte.

Gleichgültig, wo heute die Grenzen verlaufen oder wo sie morgen gezogen werden, gleichgültig, ob sie morgen überhaupt noch im Sinne heutiger Grenzen existieren werden, die Tschechen bleiben Nachbarn des deutschen Volkes und es ist eine zwingende Notwendigkeit, auch diese Nachbarn in ihrer ganzen Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit ins Blickfeld zu bekommen. Hüten wir uns dabei vor menschlicher Selbst-gerechtigkeit jenen tschechischen Jugendlichen gegenüber, die aktiv oder passiv in den Sog des kommunistischen Systems geraten sind. Nicht sie, sondern das System ist abzulehnen. Nach dem Grundsatz: Kampf dem Irrtum, aber Liebe den Irrenden.

Die deutsche junge Generation aber sollte dahin kommen, in den osteuropäischen Völkern, insbesondere aber im tschechischen Nachbar-volk, nicht Erzfeinde, Gegner und Konkurrenten zu sehen, sondern Partner einer künftigen Ordnung Europas. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Margarete Buber-Neumann: „Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion"

G. F. Hudson:

„Chruschy’s Komet"

Hans Friedrich Reck: „Die Verfassung Rotchinas im Vergleiä • zu den Verfassungen der Sowjetunion und Nationalchinas"

Karl A. Wittfogel:

„Die chinesische Gesellschaft"

Henri M. Wriston:

„Erziehung und das Nationalinteresse"

Josef Wulf: „Vom Leben, Kampf und Tod im Ghetto Warschau"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gottwalds Formulierung richtete sich gegen das vulgäre Schlagwort „ein Deutscher ist wie der andere", das aus dem Arsenal der tschechischen Chauvinisten, aus dem Lager Kramar und Viktor Dyk stammt und — wie der tschechische Gelehrte J. S. Hajek in seiner Studie „Die deutsche Frage und die tschechoslowakische Politik“ feststellte — „von Professor Masaryk unter dem Mantel eines pseudophilosophischen Objektivismus im wesentlichen übernommen wurde".

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