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Humanismus und humanistisches Bildungsideal | APuZ 10/1958 | bpb.de

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APuZ 10/1958 Humanismus und humanistisches Bildungsideal Wird das amerikanische Erziehungssystem den „nationalen Interessen" gerecht?

Humanismus und humanistisches Bildungsideal

WILHELM FLITNER

Der folgende Aufsatz wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors wie des Verlages dem bei Walter Kerber, Frankfurt, erschienenem Buche „EUROPA, VERMÄCHTNIS UND VERPFLICHTUNG“ entnommen. Der Beitrag von Professor Flitner mit Änderungen und weiteren Ausführungen stellt ein Kapitel aus einem größeren Werke dar, dessen Veröffentlichung in etwa zwei Jahren zu erwarten ist.

Europa bildet unter mehrerlei Aspekten eine innere Einheit; einer davon ist der pädagogische. Auf diesem Feld ist das gemeinsame Erbe des heutigen Europa durch die Kennworte des Humanismus und des „humanistischen Bildungsideals“ oder „Bildungsprinzips“ gekennzeichnet. Nehmen wir den Begriff Europa nicht in seinem geographischen Sinne und auch nicht als eine historische Kategorie, so bedeutet er darüber hinaus den inneren Bestand einer noch lebendigen Tradition. Er meint dann einen Bestand erworbener Möglichkeiten geistig-sittlichen Daseins, verbunden mit Daseinsauslegungen, in denen diese Möglichkeiten realisiert werden können. Dieser Bestand ist nicht einfach, sondern vielschichtig. Er enthält so etwas wie die Erbschaft aus verschiedenen Familien, aus der sich die Gegenwart jeweils nach ihren Lebens-möglichkeiten ihre Wohnung einrichtet. Nach Goethes tiefem Mahnwort ist das Erben nicht bloß etwas Äußeres, es ist ein innerer Vorgang; es kostet Bemühungen und sogar den Einsatz der Person: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Der Reichtum wie die Schwierigkeit des europäischen Menschentums beruht darauf, daß sehr verschiedenartige Reiser auf eine ganze Gruppe verschiedenartige Volksstämme gepfropft worden sind und nun eine Lebensgemeinschaft bilden. Auf dem Boden der keltischen, slawischen, iberischen, germanischen Volksmoral haben sich neue Sinn-deutungen und Lebensverhältnisse angesiedelt: die Gebilde der mittelalterlichen Feudalherrschaften und freien Bürgerstädte, des Imperiums und der Territorien, der großen Monarchien und der modernen Nationalstaaten. In eine grundherrlich-bäuerliche Sozialwelt hat sich der moderne Staat und das städtische Gewerbe, zuletzt die industrielle Arbeitswelt der Gegenwart eingeschoben. Vor allem hat sich geistig ein vielfacher Umbruch vollzogen, dessen Folgen noch heute überall sichtbar sind und unser Dasein bestimmen. Da ist die Romanisierung der archaischen Volksstämme des Südens und Westens eingetreten und bis heute in Sprache,

Temperament, Gefühlsart und Sitte der romanischen Länder wirksam; es folgte die Christianisierung des ganzen Abendlandes von Rom aus; sodann die Kirchenspaltung, die Bildung großer Sprachnationen mit eigenen Literaturen; zuletzt die Technisierung der wichtigsten europäischen Länder. Alle diese Schicksale und Wandlungen betrafen die ganze Völkergruppe gemeinsam; durch alle Krisen hindurch behielt sie ihren geistigen Zusammenhalt. Er beruht auf der christlichen Mission einerseits, auf der Über-lieferung antiker Philosophie, Wissenschaft, Literatur und Formensprache anderseits. Der geistig-sittliche Gehalt beider Überlieferungen ist in immer neuen Anläufen nicht nur angeeignet worden, sondern hat den Anstoß zu produktiver Weiterarbeit gegeben.

Zweifel an dieser These sind zuerst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekommen, seitdem die europäische Menschheit Verwandlungen durchmacht, die nur mit denen tausend Jahre zuvor vergleichbar sind. Die industrielle Gesellschaft und die Welt der europäischen Auswanderer haben eine Seelen-und Geistesverfassung hervorgebracht, die das Erbe nicht mehr zu würdigen scheint. Es ist noch undeutlich, wieweit sich diese Menschenart von der Gesamttradition loslösen wird. Mahnungen und düstere Untergangsprophezeiungen begleiten den Prozeß, in dem sich alte Ordnungen und Innenzustände auflösen. Es entsteht eine Sinnesart und Lebensweise, die sich mit der modernen Technik, Staatsverwaltung und Wirtschaft auch auf solche Völker überträgt, welche nicht in den europäischen Geistestraditionen gestanden haben. Sie übernehmen den Technizismus und die Industrie, allenfalls auch noch die Naturwissenschaften, aber die tieferen Schichten der europäischen Traditionen werden von ihnen nicht mit angeeignet. Es breitet sich der Europäismus unserer Zivilisation aus ohne die Basis unserer älteren Kultur.

Diese vielerörterte Gegenwartslage ist ein Hauptgegenstand moderner Gesellschaftswissenschaften; sie betrifft auch das pädagogische Problem zentral. Hier steht die Frage voran, ob die traditionelle europäische Denkweise der Gegenwartslage noch gewachsen ist, oder einer anderen, modernen und traditionsärmeren, Platz machen muß.

Das Kernstück der traditionellen Denkweise ist eine Zeitlang durch die Begriffe „Humanismus“ und „humanistisches Bildungsideal“ bezeichnet worden. Prüfen wir in der übersichtlichen Kürze, die hier nur möglich bleibt, wie es mit dieser Denkweise heute steht, ob sie sich behaupten läßt, und wenn ja, in welchem Sinne.

Diese Übersicht muß zunächst auf die Geschichte des pädagogischen Systems eingehen, das mit jenen Stichworten gemeint ist. Es wird danach erst erörtert werden können, wie sich dieses System in der gegenwärtigen Welt behaupten kann, oder ob sein Untergang unaufhaltsam ist.

Es sind zwei dauerhafte Tendenzen, welche den Humanismus in der abendländisch-europäischen Welt begründet und lebendig erhalten haben. Die eine liegt auf dem didaktischen Gebiet und könnte die scholastische heißen; die andere kommt aus philosophischen Quellen; beide sind zusammengeflossen.

Die scholastische Tendenz ist entstanden aus einer Entscheidung, welche die christlichen Kirchenlehrer des dritten Jahrhunderts getroffen haben: sie haben die heidnische und weltliche Überlieferung des Altertums, soweit sie der Form und dem Gehalt nach als literarisch musterhaft gelten konnte, für Schulzwecke dadurch aufbewahrt, daß sie aus ihnen eine Vorlehre für die kirchlichen Studien und Wissenschaften gemacht haben. Als in den kritischen Zeiten der Völkerwanderung und des Arabereinfalls die griechisch-römische Bildung im Westen ihre soziale Grundlage verlor, blieben die weltlichen Wissenschaften, Philosophie und Poesie des heidnischen Altertums in den Klöstern und Kathedralschulen des Abendlandes auf diese Weise erhalten.

Was aber zunächst nur für Schulzwecke aufbewahrt blieb, gewann bald ein selbständiges Leben. Sein Eigenwert wurde nach und nach erfaßt und regte zum Nachahmen und Weiterbilden an. Virgil war nicht mehr ein bloßes Schulbuch, aus dem ein schönes Latein zu erlernen war, er wurde als ein Dichter von tiefen Empfindungen und Gedanken verstanden; sein sentimentalischer und reflektierter Charakter weckte Nachahmung, seine Religiosität konnte auf die christliche Empfindsamkeit einwirken. Virgil konnte als ein heidnischer Prophet verstanden werden, der auf Christus vorausgedeutet habe; er wurde zu einer Gestalt, die würdig war, den christlichen Dichter durch Hölle und Fegefeuer zu führen. Cicero wurde von Petrarca als Autor des reinsten, schönsten Lateins betrachtet; aber darüber hinaus konnte auch seine Lebensauffassung für abendländische Christen bedeutsam werden, war doch auch der Kirchenlehrer Augustin durch die Lektüre eines Dialoges von Cicero dazu gelangt, sich von der Wirklichkeit eines transzendenten Bereichs zu überzeugen; das war für ihn der erste Schritt zu einer neuen christlichen Philosophie geworden. Wie der große Redner und der bedeutendste lateinische Dichter, so wurden auch die beiden griechischen Philosophen, Aristoteles vom 12. Jahrhundert ab und Platon besonders im 15., erst als Wege zu christlicher Philosophie verstanden, dann in ihrer Selbständigkeit begriffen und zu Gesprächspartnern einer erneuerten Philosophie.

Wahrscheinlich liegt bereits in der Auswahl der Autoren, die am treuesten bewahrt worden sind, eine pädagogische Entscheidung vor. Man darf vielleicht die These wagen, daß die tiefsten und formschönsten Werke der Philosophie, Poesie und Literatur erhalten geblieben sind. So schmerzlich auch der Verlust vieler Lyriker und Tragiker beklagt werden mag, das Wertvollste ist geblieben. Es ist verständlich, daß gerade diese Werke aus ihrer Dienststellung heraus-wuchsen, in der sie mit der christlichen Theologie zunächst schulmäßig verbunden waren Sie erlebten Renaissancen. Die Geschichte der abendländisch-europäischen Bildung hat über tausend Jahre hindurch eine Reihe solcher Wiedererweckungen des „Eigengeistes“ antiker Autoren erfahren, die jedesmal einen produktiven Anstoß für das neue Europa mit sich brachten. So ist von einer karolingischen und ottonischen Renaissance gesprochen worden; die Wiedergewinnung des Aristoteles zur Zeit des Albertus Magnus und Thomas von Aquin läßt die scholastischen Wissenschaften aufblühen. Die Florentiner Renaissance, die ganz Ober-italien erfaßt, beginnt mit der Entdeckung von Ciccrotexten, weckt aber bald das universale Interesse an allen Resten des Altertums und bringt einen Wetteifer aller Künste und Wissenschaften mit den antiken Meistern hervor. Zuletzt sind es die gelehrten Antikestudien nach der strengen philosophisch-historischen Methode im Zeitalter Winkelmanns, F. A Wolfs und Humboldts, die eine produktive Kraft auf künstlerischem und philosophischem Gebiet entwickeln. Vielleicht ist diese „neuhumanistische“ Bewegung noch nicht einmal die letzte Renaissance in Europa gewesen. Spätere Geschlechter könnten feststellen, daß auch das 20. Jahrhundert seine eigene Weise besitzt, aus dem Umgang mit dem Altertum Nahrung zu ziehen: die Studien der Philologen und Ausgräber stehen in Blüte; noch nie hat es so viele Italien-und Griechenlandfahrer bei den Völkern nördlich der Alpen gegeben, noch nie so zahlreiche und gute Ausgaben und Übersetzungen, und die Dichter haben auch in der Epoche von Hoffmannsthal bis zu Anouilh sich von antiken Stoffen inspirieren lassen.

Menschwerdung des Menschen" /

INHALT DIESER BEILAGE:

Von den antiken Dichtern, Schriftstellern und Denkern hat die europäische Welt in wiederholten Bemühungen jedesmal etwas Neues gelernt. Seit hundert Jahren scheint es allerdings vielen, man dürfe den alten Schulranzen nunmehr endgültig ablegen und auf dem Boden verstauben lassen. Aber auch über den christlichen Glauben hat man so gedacht, der vom materialistischen Denken widerlegt, vom idealistischen her überflüssig geworden schien: und doch ist er erneut verstanden worden, und das Denken bezieht sich wieder auf ihn. Vielleicht werden sich auch Seelenlagen ergeben, in denen abermals Neues auch im vorchristlichen Altertum entdeckt und das neue Europa daran produktiv werden kann.

Im weiteren Sinne des Wortes meint „Humanismus“ dieses Bestreben, vom Altertum menschlich Bedeutungsvolles zu lernen oder sich von ihm zu tieferem Begreifen der condition humaine inspirieren zu lassen. Das Wort bezeichnet hier eine rein historische Kategorie. In unbestimmter Weise dient dieser Rückbezug auf die größten Werke und Persönlichkeiten des Altertums der „Menschwerdung des Menschen“. Worin diese inhaltlich zu sehen sein soll, das wird in jeder Epoche und von jeder dieser Renaissancen anders beantwortet. Gemeinsam ist allen diesen Rückbesinnungen und Geistesdurchbrüchen nur dies eine: daß der Mensch sich in dieser Begegnung „höher“ und „reiner“ verwirkliche.

Will man bestimmter dartun, was mit Humanität gemeint ist und was mit dem Gegenbegriff des Barbarischen, so muß man die verschiedenen Lebensformen studieren, die als Wunschbilder („Ideale“ der Humanität) jeweils bei solchen Durchbrüchen und Neubegegnungen deutlich geworden sind — etwa im Lebenskreis Augustins oder der scholastischen Dominikaner, oder der Florentiner Akademiker zur Medizäerzeit, oder in Weimar und Schloß Tegel zur Zeit Goethes und Humboldts. Keine Definition wird diese verschiedenen Begriffe des Menschentums erfassen, und doch ist hier gemeinsamer Bezug auf die antiken Rhetoren, Philosophen, Dichter und Künstler offenkundig. Europa würde verarmen, wenn es diesen Bezug aus seinem künftigen Bemühen streichen würde.

Aber es hat sich eine neue Chance für den Humanismus in diesem weiten historischen Sinn in den jüngsten beiden Jahrhunderten ergeben. Sie liegt in einem Phänomen, das unter allen Kulturen sonst kein Analogon haben dürfte: in dem Auftreten von nationalen Humanismen, die gleichwohl untereinander in Kontakt bleiben und ihre Universalität bewahren Es handelt sich um das Phänomen, welches Goethe als „Weltliteratur" bezeichnete.

In gewissem Sinne sind die Studien des Altertums seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entbehrlich geworden, so sehr sie auch noch unausgeschöpft sein mögen. Die Denkweisen, die Lebensformen, die großen Werke, die originalen Persönlichkeiten Europas, die sich dargestellt haben, sind zwar selber am Altertum gewachsen; aber sie bilden nunmehr eine „klassische“

Welt für sich. So bildend es gewesen ist, Livius und Tacitus zu lesen: Jakob Burckhardt und Ranke sind es in erhöhtem Maße. Groß ist Virgil, größer noch Dante. Die klassische Literatur Englands vom Zeitalter Shakespeares bis ins 19. Jahrhundert, die Literaturen Frankreichs und Spaniens, die deutsche um Goethe sind selbst ein Altertum für uns und eine reiche, klassische Schule der Humanität Jede europäische Nation hat bereits ein goldenes augusteisches Zeitalter hinter sich, und alle diese Literaturen, Personen, Kunstwerke, Philosophien Europas sind untereinander verbunden und aufeinander bezogen. Neben dem altsprachliehen Gymnasium wäre ein modernes, in rein humanistischem Sinne denkbar, das sich auf die europäische Klassik stützen und aus ihr die gleiche Grundschulung schöpfen könnte, die ehemals über das Lateinische und Griechische gewonnen wurde. Die antiken Studien würden damit nicht preisgegeben werden, sondern nur an eine andere Stelle rücken. Je größer die Distanz des modernen Lebens der industriellen und demokratischen Gesellschaft vom „klassischen Europa“ wird, um so mehr wird die humanistische Bildung aus der europäischen Geistestradition geschöpft werden müssen; die antiken Studien treten in die Tiefe des Hintergrundes zurück. Aber auch bei diesem Rückbezug auf die europäische Klassik würde es sich um die Fortsetzung des humanistischen Bildungsprinzips handeln. Das Wesentliche dieses Prinzips wäre also, von der didaktischen („scholastischen ) Seite her gesehen: die Bildung des Menschen zum Eigentlich -Menschlichen wird dadurch erleichtert, daß der gegenwärtige Geist sich betrachtend und liebend mit einer Klassik beschäftigt, welche fundamental ist, und zu der das gegenwärtige Geistesleben in einer fruchtbaren Distanz steht. Dieses Prinzip ist ein originales und grundlegendes Phänomen in der europäischen Geistigkeit von ihrem Ursprung an.

Die philosophischen Einflüsse

Der „Humanismus“ Europas hat aber neben diesem Ursprung im didaktischen Problem einen zweiten, einen philosophischen, der seine eigene Problematik hat.

Europa hat aus der Philosophie des Altertums gelernt und daraus seine eigene philosophische und wissenschaftliche Produktion entwickelt. In den Epochen der europäischen Geistesgeschichte ist immer ein Rückbezug des weiter vordringenden Philosophierens auf antike Systeme der Philosophie oder auf bestimmte Denker festzustellen. Auf den Augustinismus und die früh-mittelalterliche Scholastik haben die Neuplato niker den bestimmenden Einfluß ausgeübt; danach ist Aristoteles hervorgetreten und bis ins 17. Jahrhundert hinein herrschend geblieben. In der Renaissance des 15. bis 18. Jahrhunderts wurden daneben die Moralphilosophen des Altertums einflußreich: erst Cicero, Seneca und die Stoiker, dann trat Epikur stärker hervor, danach Sokrates, zuletzt Heraklit und die Vorsokratik überhaupt, zwischendurch immer wieder Platon und Plotin. Jede philosophische Epoche des Abendlandes ist durch die Beziehung zu einer Gruppe antiker Denker zu charakterisieren. Diese Erscheinung gehört noch in das Phänomen hinein, das unsere historische Betrachtung aufzuweisen suchte.

Aber innerhalb dieses Phänomens ist ein andere} spezieller Vorgang bemerkenswert, der für den pädagogischen Humanismus bedeutsam ist. Es wurde eine Lehre vom Menschen und von der eigentlichen Menschlichkeit ausgebaut, die eine eigene Tradition bildete. Sie wurde in der Sphär: der Erziehung und Bildung besonders stark wirksam. Diese Lehre vom Menschen ist zwar auch unter dem Einfluß der philosophischen Strömung bald so, bald anders gewendet worden, aber sie besaß einen eigenen antiken Ursprung und beharrte in einer eigenen Über-lieferung, so daß jene philosophischen Einflüsse nur eine Substanz färbten, die ihre eigene Abkunft hat. Sie geht auf die antiken Rhetorik-schulen zurück und hat ihre erste und klassische Gestalt von Isokrates, dem Zeitgenossen Platons, ausgeprägt erhalten. Sie überdauerte das Mittelalter, ist in der italienischen Renaissance erneuert worden und hat sich dann dem ganzen europäischen Bildungswesen mitgeteilt. Diese Bewegung birgt zweierlei in sich, das ausei 1 anderzuhaken ist, wenn man ihren Ertrag und ihre Geltung richtig beurteilen will: erstens enthält sie eine pädagogische Erfahrung Zweitens neigt sie zu einer bestimmten Philosophie über den Menschen; sie führt also eine philosophische Anthropologie bei sich.

Die Entdeckung — einer der großen Funde griechischen Schauens und Wissens — ist die, daß der Mensch sich in seiner ganzen Seinsweise kultiviert, wenn er seine Sprache pflegt. Die Kultivierung der Sprache besteht darin, daß die Norm, die in der Sprache objektiv bereit liegt, dem Redenden im Gebrauch fühlbar wird. Zur Stütze dieses Gefühls dient es, wenn die Gesetze der Rede und des Sprachbaus bewußt gemacht werden. Durch Zucht im Reden und Schreiben und gleichzeitige Bereicherung des Ausdrucks, durch Umgang und freie Nachahmung von Vorbildern kultiviert sich nicht nur die Sprache, sondern die gesamte Haltung. Die elegante und urbane Rede bringt zugleich eine Lebensform hervor, in welcher eine solche Sprache erst sinnvoll wird: die Verkehrsform des Umgangs, die Rücksicht nimmt und versteht, der nichts Menschliches fremd bleibt, und die, besonnen und umgängig, mitteilsam und zurückhaltend zugleich, ein gesittetes Leben und wechselseitige Einflußnahme aufeinander anstrebt. Aus solchen urbanen Gesinnungen heraus lebt der rhetorische Gebildete. Die Wissenschaften stellen sich in den Dienst einer solchen gesitteten Lebensart. Aus diesem Ethos der erneuerten Rhetorik ist die Dichtung, die Kunst der Prosa, wohl sogar di. ’ große Musik von Orlando di Lasso bis auf Bach hervorgegangen. Auch die Philologie und Altertumsforschung bis hin zur Germanistik und den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts lebt noch von diesem ethischen Impuls.

Erstreben sie doch alle eine Kunst des Verstehens, welcher nichts Menschliches fremd bleibt: aber zugleich sind sie die Hüterinnen eines gesitteten Stils, welcher Teilnahme und Rücksicht, schließlich Veredelung des Menschen erstrebt. In allen diesen Wissenschaften und Künsten ist eine geheime Pädagogie der Huma-nität am Werke; ihr Ziel ist die Fühlsamkeit und die Haltung teilnehmender Menschlichkeit.

Freilich handelt es sich hier lediglich um eine Möglichkeit. Die urban-gesittete Verfassung des Innern ist keine mechanische Folge rhetorischer Ausbildung! Es müssen tiefere religiöse Motivationen dazukommen, es müssen auch einige soziale Vorbedingungen erfüllt sein, wenn sich die sprachliche Kultur so mit der sittlichen vermählen soll, wie jene pädagogische Theorie will.

Die Geschichte des rhetorischen Humanismus kennt zahlreiche Beispiele von ganzen Epochen und von Modeströmungen, in denen hohe sprachliche Verfeinerung mit sittlichem Zerfall zusammengingen. Die Polemik gegen das humanistische - Bildungsprinzip im Verlauf der letzten hundert Jahre hat sich auf diese Erscheinungen berufen können. Es gibt nicht nur eine eitle und hohle Rhetorik, sondern auch eine Art schizophrener Spaltung zwischen einer hochgezüchteten sprachlich-ästhetischen Kultur und einer Haltung, die im politischen Leben oder in der Erfüllung grundlegender Menschenpflichten kläglich versagt. Das ändert aber nichts an dem Tatbestand, auf den es hier ankommt. Die sprachliche Kultur enthält in sich eine einzigartige Möglichkeit, den Menschen sittlich zu veredeln und die echte Menschlichkeit zu erwecken. Diese Erfahrung bleibt wahr und ist wiederholbar.

Was ist der Mensch?

Aber was heißt in solchen Redewendungen „Menschlichkeit“? Worin wird das Eigentliche des Menschseins gesehen? Auf diese Frage gibt es zunächst die Antwort der Religion. Was der Mensch ist, das ist für den Christen durch die paulinischen Briefe beantwortet; eine andere, aber noch in vielem verwandte Antwort entnimmt der orthodoxe Jude dem Alten Testament, der Mohamedaner dem Koran; in der Nachfolge antiker Philosophenschulen entstanden ganz abweichende Antworten, worunter die Lehre vom Mikrokosmos Mensch die tiefste ist.

In den religiösen Lebensauslegungen war dje pädagogische Frage, wie der Mensch auf sich selbst einwirken könne, um sich zu veredeln oder zu vervollkommnen, nicht eigentlich beantwortet.

Es werden Vorschriften gegeben, sittliche Gebote aufgestellt, rituelle und rechtliche Ordnungen festgelegt, und der einzelne wird ermahnt, sich in allen Handlungen und Unterlassungen danach zu richten. Gegenüber dem Tatbestand der fortdauernden Verfehlungen gegen diese Gebote gibt es keinen anderen Schutz als Buße und Askese — die Übung im Entsagen. Man gibt dem Leben eine Einrichtung bei der die Versuchung zur Sünde auf das geringste Maß beschränkt wird, und die Buße für begangene Verfehlungen eine gesetzliche Ordnung erhält. Daß sich daraus eine Tiefe der Andacht und eine Reinigung des Herzens ergeben konnte, die faktisch eine Menschlichkeit von hoher Vollkommenheit hervorrief, ist in der Geschichte der ostkirchlichen wie der abendländischen Askese nachweisbar; dieses Streben hat vielleicht die stärksten pädagogischen Impulse der abendländischen Geschichte mit ausgelöst.

Aber der Weg bleibt noch negativ. Es handelt sich um eine Vervollkommnung durch Entsagen und Opfer: es ist die tiefste und geheimnisvollste „Humanität", die in solcher Negation erworben wird. Aber gibt es neben der Vermenschlichung durch die „Mortifikation , durch Abtötung der Lebenstriebe, auch einen positiven Weg?

Einen solchen zeigte die Rhetorik mit ihren ethischen Bewertungen, und diese ihre ethische Tendenz wurde erfindungsreich, als die Spekulation über den Mikrokosmos Mensch zu ihr hinzutrat. Wird der Mensch als Analogie zum Kosmos, und dieser als eine geisterfüllte Ordnung aufgefaßt, werden beide aber, Welt und Mensch, zugleich weiterhin als Geschöpfe Gottes verstanden, so ergeben sich ethisch-pädagogische Antriebe neuer Art. Der Mensch betrachtet sich als eine reich begabte „Natur“. Die Kräfte des Alls sind in ihm, aber sie sind in individueller Stärke und Mischung da, und an einem einmaligen Standort und Zeitpunkt Er vervollkommnet sich und „wird, der er ist“, wenn er seine Kräfte allseitig braucht, steigert und übt, sie aber zugleich zu einem „harmonischen Ganzen“ temperiert. Dann stehen nebeneinander originale Individuen, sie verkehren miteinander und bereichern sich dadurch, sie sollen sich aber als ein Ganzes von innen her ordnen. Damit wird jedes Individuum auf seine Weise Gleichnis des Weltgesetzes und spiegelt dessen Schönheit. Es erfüllt sich im Menschen alsdann, was der Schöpfer ihm zuge-dacht hat — darin liegt die „Würde" des Menschen. Pädagogisch folgt daraus: man erwecke im einzelnen ein strebendes Bemühen um diese Ausweitung und Einstimmung mit sich selbst; man begründe unter diesen strebenden Einzelnen einen „bildenden“ Verkehr. Die Mittel ergeben sich aus den Erfahrungen der rhetorischen Pädagogie: die Sprachbildung und die Kultivierung urban-gesitteten Verkehrs im Medium der Rede und fühlsamen Denkens wird zum Hochweg der humanen Formung des Inneren. Die Pädagogie der Askese ließ sich diesem System einfügen: Entsagung liegt einerseits in dem Prinzip der Individualität; sie liegt ferner in dem Gleichnischarakter der inneren Form. Goethe hat in seinem Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden“ diese Pädagogie des Renaissancehumanismus zu Ende gedacht. Er hat auch versucht, die soziologischen Veraussetzungen dieses „humanistischen Ideals“ aufzuhellen. Er zeigte, daß zur human entfalteten Individualität auch die Einschränkung des Wirkens auf eine berufliche Leistung gehört, und daß, wer sich eigentlich menschlich bilden will, zugleich dienen muß. In einer Gesellschaft, die gemeinsam wirtschaftet und sich rechtlich-gesellig ordnet, muß die frei entwickelte Individualität zugleich „sich zu einem Organ machen“, das für das Ganze sich mitverantwortlich verhält.

Der pädagogische Humanismus, der sich anfänglich im Kreis von Klerikern (wie Petrarca und Erasmus) entwickelte, dann sich auf die gelehrten weltlichen Berufe, protestantische Geistliche und den höfischen Adel übertrug, wurde durch die Auffassungen, die Pestalozzi, Goethe und die Kreise um den Freiherrn vom Stein ausbildeten, auch auf die Verhältnisse der demokratisch-industriellen Epoche umgedacht. Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich der philanthropische Gedanke durch, daß jedem Volksglied eine Menschenbildung im humanistischen Geiste zukommen müsse. Die moderne Volksschule mit ihren Aufbauten bis hin zum Erwachsenenbildungswesen mit seinen Volkshochschulen und Volksbüchereien entstand. Auch diese Einrichtungen erstrebten die harmonische Entfaltung aller heilen menschlichen Kräfte, auch hier wurde in der Sprach-bildung das wesentliche Entfaltungsmittel gesehen. Inzwischen hatte man im Zeitalter Herders die kultivierte volkstümliche Sprachform sehen und achten gelernt; es ergab sich das Programm einer humanistischen Bildung ohne lateinische Rhetorik und ohne die Voraussetzungen einer gelehrten und literarisch erlesenen („eleganten") Kultur. Die Verwirklichung dieses Programms sowohl in der deutschen Volksschulbildung des 19. Jahrhunderts wie im skandinavischen Hochschulwesen und in der englischen Adult Education kann wohl kaum bestritten werden. Ebenso ist aber zu erkennen, daß auf anderem Wege in den lateinischen Nationen eine volkstümliche Sprachbildung besteht, die sich unmittelbar aus der Bildung der rhetorisch geschulten Adelsschichten dieser Völker herleiten läßt. Dieser volkstümliche Humanismus der Romania zeigt bis heute die Darstellungsfreude der rhetorischen Bildung ebenso wie die Sprach-kraft und die urban gesittete Herzensbildung der Kavaliere beim einfachen Menschen aud der ärmeren Schichten, soweit sie durch die Industriegesellschaft noch nicht entwurzelt worden sind.

Soviel ich festzustellen vermag, spricht man von einem „humanistischen Bildungsideal" erst, seit man es als problematisch empfindet — seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Der historischen Betrachtung zeigt es sich seitdem als eines neben mehreren denkbaren anderen —, während man in der gesamten abendländisch-europäischen Epoche vorher die humanistischen Ziele als selbstverständlich und als das einzig Notwendige verstand. Zwar kann man feststellen, daß die Motive dieser ganzen Strömung bald stärker und bald schwächer zur Geltung gebracht worden sind. In Comenius’ Werken treten sie mit voller Kraft auf, bei den Pietisten tritt der Mikrokosmosgedanke zurück. Der radikale Augustinismus bei den Franziskanern, beim jungen Luther, im Pietismus, bei den Puritanern ist ihm ungünstig. Aber es wäre eine historisch falsche Interpretation, wollte man von dem Gegensatz eines humanistischen und nicht-humanistischen „Bildungsideals“ sprechen, wenn man die Epoche des 15. bis 18. Jahrhundert meint. Erst langsam kommt mit der englischen Aufklärung ein Gegenideal auf: der pragmatistische Realismus, der die Sprachbildung nicht mehr in ihrer Bedeutung versteht und an ihre Stelle ein unmittelbares Vertrautmachen m t Handgriffen, Künsten und Sachenkenntns setzen will. Aber die rhetorische Richtung wirkt, auch gegen diese neue pädagogische Theorie, weiter — wenigstens das Gleichgewicht von res et verba bleibt als Forderung bestehen. Erst das realistische Schulwesen des 19. Jahrhunderts mit seiner Tendenz zur Bevorzugung des Sachwissens und seiner Richtung auf „Brauchbarkeit" des geistigen Erwerbs für rational ermittelte Lebenszwecke bringt allmählich eine Gegen-theorie hervor, die sich in der Alltagspraxis mehr und mehr durchsetzt. Radikal gefaßt, ist es die pädagogische Theorie des Utilitarismus und Pragmatismus. Eine zweite Gegentheorie bildete sich unter den theologischen Denkern des 20. Jahrhunderts, vor allem unter den protestantischen; aber auch Romano Guardini und Martin Buber haben sich ihnen angeschlossen. Sie verwarfen aus der religiösen Erfahrung heraus die Auffassung, daß der Mensch sich durch eigene Kraft zu einer inneren Vollkommenheit zu steigern vermöge. Sie bestritten jene These der Humanisten, daß die menschliche Vernunft in Analogie zur weltschaffenden göttlichen Vernunft stehe. Sie leiteten den Säkularismus und die hybrid-technizistische und imperiale Gebärde des modernen Menschen aus diesem irrigen Vertrauen auf die menschliche Vernunft ab Auch der Mikrokosmosgedanke mußte dann in diese Verurteilung der neuzeitlichen Lehre von der Vernunft einbezogen werden. Von dieser Kritik wurde schließlich der gesamte pädagogische Humanismus betroffen.

Der moderne Individualismus

Jedoch der Wahn des heutigen Menschen, alles sei erlaubt, und die Macht über die Natur sei grenzenlos, die Mitmenschen in ihrer Masse seien auch wie Natur zu behandeln, kurz: der gesamte Technizismus — sind sie wirklich dem Humanismus zur Last zu legen? Nicht zufällig hat der Technizismus im pädagogischen Gebiet gerade die pragmatistische Gegentheorie hervorgebracht! Freilich, wenn man in der Neuzeit die zerstörenden Folgen des Individualismus aufdeckte, mußte man feststellen, daß der Humanismus die Kultur der Individualität sehr hoch stellt. Der Mikrokosmosgedanke ist in der Tat die Grundlage des modernen Individualismus, indem der einzelne sich als eine Welt, und zwar eine dem Kosmos analoge, auffaßt. Jedoch hat diese These gerade den Verkehr der Individuen und ihre Verbundenheit mit dem Kosmos ursprünglich mitenthalten. Erst durch den Zerfall dieser Motivation wurde der schlimme Individualismus hervorgebracht. Gegenüber diesen individualistischen und zugleich gegenüber den technizistischen Lehren wurde von den theologisch bestimmten Pädagogen daher eine Anthropologie vertreten, die den einzelnen von der Beziehung auf den anderen her definiert; — der einzelne steht einsam im Weltall, aber von der Transzendenz her wird er angefordert und auf den andern als seinen Nächsten verwiesen, dem er seine Einsamkeit tragen hilft. Von daher behauptet der atheistische J. P. Sartre: „lexistentialisme est un humanisme“; aber ebenso wäre ein christlicher Humanismus von dieser Grundlage aus möglich. Es würde von dem christlich Gläubigen verlangen, daß ihm aus der christlichen Gemeinde eine Kraft zuströmt, die in alle menschlichen Beziehungen und in alle objektiv-geistigen Tatbestände hineinwirkt.

Diese Kraft unterscheidet sich von der missionarischen Kraft der Kirche, welche den Fremden oder Gleichgültigen in die liturgisch-sakramentale Gemeinschaft hinein ruft; sie unterscheidet sich gerade dadurch, daß sie einen gesitteten, „urbanen“ Verkehr unter allen Menschen zu stiften sucht, in dem die Situation des Menschen unter Menschen, in einer Welt der Sachen und Traditionen, und in Einsamkeit vor der Transzendenz, verstanden ist.

Daß der pädagogische Humanismus des früheren Europa sich nicht mehr auswirkt, hat seine Gründe auch in der gesellschaftlichen Struktur der industriellen Arbeitswelt. Sie erschwert alle Bedingungen seines Gedeihens: die Sprache wird zu einem bloßen Werkzeug der Mitteilung und des Verhandelns, die meditative Richtung des Geistes weicht vor der pragmatischen und technologischen; die Muße und ökonomische Sicherheit als Voraussetzung eines gesitteten geistigen Verkehrs werden selten. In der Jugendbildung steht die Sorge voran, wie man einen guten Arbeitsplatz gewinnen und sich früh für ihn mit spezialer Tüchtigkeit empfehlen kann. Von allseitiger und harmonischer Ausbildung der menschlichen Kräfte läßt sich nur noch in dem Sinne sprechen, daß der Verkümmerung des Spiels und der Motorik gewehrt und der Blick auf die Ewigkeit im Zeitgetriebe freigelegt werden sollte. Dennoch öffnet sich auch von dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit aus die Möglichkeit eines Humanismus, die aber noch nicht so ergriffen worden ist, daß einleuchtende und öffentliche Formen aus ihr hervorgehen könnten. Indem wir uns auf diese Möglichkeit besinnen, nehmen wir Abschied von früheren Formen, die wir nicht mehr erfüllen können, ohne wesentliche Pflichten zu versäumen, die unsere heutige Daseinsweise uns auferlegt. An dieser Stelle wird von unserer Epoche ein produktiver Schritt verlangt. Die Frage ist, ob es gelingen kann, dem Pragmatismus, dem Technizismus und dem ökonomischen Materialismus des industriellen Zeitalters einen neuen Weg der Humanität gegenüberzustellen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Professor Dr. Wilhelm Flitner, geb. 20. August 1889 in Berka/Ilm. Lehrgebiet: Pädagogik, Geistesgeschichte