Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wird das amerikanische Erziehungssystem den „nationalen Interessen" gerecht? | APuZ 10/1958 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 10/1958 Humanismus und humanistisches Bildungsideal Wird das amerikanische Erziehungssystem den „nationalen Interessen" gerecht?

Wird das amerikanische Erziehungssystem den „nationalen Interessen" gerecht?

HENRY M. WRISTON

menschlichen Kräfte läßt sich nur noch in dem Sinne sprechen, daß der Verkümmerung des Spiels und der Motorik gewehrt und der Blick auf die Ewigkeit im Zeitgetriebe freigelegt werden sollte.

Dennoch öffnet sich auch von dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit aus die Möglichkeit eines Humanismus, die aber noch nicht so ergriffen worden ist, daß einleuchtende und öffentliche Formen aus ihr hervorgehen könnten. Indem wir uns auf diese Möglichkeit besinnen, nehmen wir Abschied von früheren Formen, die wir nicht mehr erfüllen können, ohne wesentliche Pflichten zu versäumen, die unsere heutige Daseinsweise uns auferlegt. An dieser Stelle wird von unserer Epoche ein produktiver Schritt verlangt. Die Frage ist, ob es gelingen kann, dem Pragmatismus, dem Technizismus und dem ökonomischen Materialismus des industriellen Zeitalters einen neuen Weg der Humanität gegenüberzustellen.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir aus der amerikanischen Zeitsdirift „FOREIGN AFFAIRS", Juli 1957, den folgenden Artikel von Henry M. Wriston:

Das ungeheuer große weltpolitische Engagement der Vereinigten Staaten wirft viele Probleme der Innenpolitik auf, die zum Teil von der größten Bedeutung sind. Eines von diesen, immer wieder voller Besorgnis durchdiskutierten Problemen läßt sich dahingehend formulieren: Wird unser Erziehungssystem sowohl quantitativ wie qualitativ dem Ausmaß unserer weltweiten Verantwortung gerecht?

Dieses Problem hat eine ganze Reihe völlig verschiedener Aspekte, die man allerdings im allgemeinen nicht differenziert genug beleuchtet. Da ist z. B. die Frage des Kalten Krieges — ein Phänomen, mit dem wir nun schon seit einem Jahrzehnt vertraut sind. Viele Menschen glauben, daß sich unser Erziehungssystem an dieser, im Grunde zentralsten aller weltpolitischen Gegebenheiten orientieren sollte. Nach Ansicht dieser Kreise werden unsere nationalen Interessen durch den Kalten Krieg so entscheidend berührt, daß vor. hier aus Inhalt und Schwergewicht unseres gesamten Erziehungssystemes bestimmt werden müßten. Stimmt man dieser Ansicht zu, dann erhebt sich immer wieder die Frage, ob die Ausbildung unserer Spezialisten quantitativ und qualitativ ausreicht, und zwar in all den vielen Fachgebieten, deren Beherrschung die Voraussetzung für jeden „Erfolg" im Kalten Krieg sein muß. Ein erfolgreiches Wirken auf dem Gebiet der internationalen Politik erfordert eine Vielzahl von Spezialkenntnissen, sei es juristischer, wissenschaftlicher, politischer, sprachwissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher, technischer, kultureller und publizistischer Art Die kritischen Betrachter glauben nun, daß vom Gesichtspunkt unserer nationalen Interessen her gesehen die Nachfrage auf allen diesen Gebieten das Angebot bei weitem übersteigt. Ganz ähnliche. ja manchmo 1 ogar noch größere Zweifel werden laut bei der Erörterung einer anderen lebenswichtigen Frage: Bei der Frage nämlich. ob unser ganzes Erziehungssystem seiner Struktur und Qualität nach genügend auf die Probleme der internationalen Politik hin ausgerichtet ist. Sind die Geistes-und Naturwissenschaftler mit abgeschlossener Hochschulbildung bereit und in der Lage, ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung nachzukommen und wirkungsvoll zu einer Meinungsbildung über weltpolitische Fragen beizutragen?

Wer heutzutage abschätzen will, inwieweit unser Erziehungssystem für die Erfüllung dieser Aufgaben ausreicht, der stellt meistens Vergleiche an zwischen dem, was unsere und was die sowjetische Erziehung sozusagen „produziert". In letzter Zeit ist die Beschäftigung mit dem, was die Russen auf diesem Gebiet leisten, beinahe zu einer Manie geworden. Die Mitglieder eines interministeriellen Sonderausschusses brachten ihre Befürchtungen in einem Bericht an den amerikanischen Präsidenten wie folgt zum Ausdruck:

„Die Fortschritte auf dem Gebiet der Natur-wisseuscftaft uud Teckuik sind in den letzten

Jahrzehnten derartig gewaltig geworden, daß automatisch demjenigen Staat die Initiative in der Weltpolitik zufällt, der auf diesen beiden Gebieten die Führung innehat. Es könnte geradezu lebensgefährlich für uns werden, wenn wir das Risiko eingingen, daß unsere potentiellen Feinde in der technischen Grundlagen-forschung und in der angewandten Technologie die Führung an sich reißen."

In dem Tenor dieses Berichtes kommt eine unmißverständliche Reaktion gegen die früher vorherrschende, leicht überhebliche Bagatelisierung jedes qualitativen Fortschritts in der LIdSSR zum Ausdruck. Früher z. B. pflegten wir die mechanischen Fähigkeiten der Russen sehr stark zu unterschätzen. Bis zum Überdruß versuchte man uns klar zu machen, daß die jungen Russen einfach nicht gelernt hätten, einen komplizierten Mechanismus auseinander-zunehmen und wieder zusammmenzusetzen: man dürfte daher nicht erwarten — so wurde uns gesagt — daß Rußland eine industrielle Gesellschaft überhaupt aufbauen, geschweige denn, weiterentwickeln könne.

Überschätzung der Sowjetunion

Heute kann jedermann erkennen, wie oberflächlich, ja töricht diese völlige Fehleinschätzung vor 30 Jahren gewesen ist. Als Reaktion auf eine solche extreme Einstellung neigen wir heute nun aber dazu, die Sowjetunion in genau demselben Ausmaße zu überschätzen und uns daher fieberhaft zu bemühen, naturwissenschaftliche und technische Nachwuchskräfte heranzubilden. Dabei lassen wir uns — und das ist entscheidend — nicht etwa leiten von den Lebensinteressen und Geschmacksrichtungen dieses NachWuchses, sondern vielmehr von dem Gedanken, daß „die Russen uns nicht überflügeln dürfen". Wir betrachten unsere Lehrpläne unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Erfordernisse unserer äußeren Sicherheit, anstatt uns nach dem einen Ziel zu richten, das in einer freien Gesellschaft im Mittelpunkt stehen sollte: nämlich nach der freien Entfaltung der Einzelpersönlichkeit. Immer wieder wird uns vorgehalten, daß die Sowjetmenschen ihr ganzes Bildungswesen bewußt und ausschließlich auf die Interessen des Staates hin ausrichten und handhaben. Darin liegt — so wird man nie müde uns zu erklären — eben einer der „Vorteile" totalitärer Systeme.

Unter diesen LImständen stellt man sich bei uns dann auch meistens in allererster Linie die Frage, ob wir wirklich soviel wie die Russen leisten, und ob wir es genauso gut machen wie sie. Wie immer in solchen Fällen läßt sich auch die Augenblicksstimmung substantiieren“: Man überschüttet uns mit einer Flut von statistischem Material, um uns davon zu überzeugen, daß wir weder qualitativ noch quantitativ an die Russen heranreichen. Man weist z. B. darauf hin, daß die Kinder in Rußland an sechs Tagen in der Woche in die Schule gehen — und das dann noch insgesamt 10 Monate im Jahr; daß man sie viel mehr zum Lernen antreibt, überhaupt einer strengeren Disziplin unterwirft und auch höhere Leistungen von ihnen erwartet. In Ruß-land, so wird uns weiter gesagt, ist der Konkurrenzkampf viel größer, um in den Genuß einer „höheren“ Bildung zu kommen, die dann natürlich aus öffentlichen Mitteln bestritten wird Ganz besonders wird auf die völlig gegensätzliche Wertskala in der gesamten Erziehung verwiesen Wir Amerikaner leben in einer freien Gesellschaft, in der das Prinzip des Wettbewerbes regiert; dabei haben wir aber eben dieses Prinzip, das sonst so viele Aspekte unseres Gesellschaftssystemes auszeichnet, gerade in dem Klassenzimmern beinahe völlig beseitigt. Das erklärt dann auch — so wird weiter argumentiert —, warum sich das aus dem Klassenzimmer verbannte Wettbewerbsprinzip so stark im Bereich des Sportes bemerkbar macht In der UdSSR hingegen basiert das Wirtschaftssystem nicht auf diesem Prinzip, sondern auf dem der zentral gesteuerten Planung und Lenkung.

Dort ist dann aber auf dem Sektor des Erziehungswesens der Wettbewerb Trumpf; die sowjetischen Schüler und Studenten wissen, daß ihr Fortkommen von der Überlegenheit ihrer Leistungen abhängt. Daher strengen sie sich dann auch viel mehr an.

In der UdSSR sind Schüler und Studenten auch ein viel schärferes Prüfungssystem gewöhnt, als dies für gewöhnlich in Amerika der Fall ist. Bei uns kommen viele junge Menschen auf die Universität, ohne sich überhaupt jemals einer längeren Prüfung auf Herz und Nieren unterzogen zu haben. Man behauptet daher, daß die sowjetischen Studenten bei Beginn des Studiums über ein größeres Wissen verfügen, während ihrer Universitätsausbildung intensiver arbeiten und schließlich dann auch besser gerüstet sind, wenn sie die normale Universitätsausbildung hinter sich gebracht haben.

Was die Quantität betrifft, so werden in der UdSSR (wir folgen hier immer noch der Argumentation bestimmter Kreise) —mehr Techniker ausgebildet als bei uns. Manchmal wird sogar behauptet, daß dort mindestens doppelt so viele Nachwuchskräfte die technischen Hochschulen durchlaufen. Auch Naturwissenschaftler werden angeblich in Rußland in größerer Zahl ausgebildet als in den Vereinigten Staaten. Immer wieder führt man uns vor Augen, das sowjetische Staatsangehörige, die mit technischen oder diplomatischen Aufträgen ins Ausland geschickt werden, ein längeres und besseres Sprachentraining hinter sich haben, über ein besseres, kulturelles Verständnis verfügen und schließlich auch sonst besser ausgebildet worden sind auf allen Gebieten, die für ein Auftreten auf der internationalen Ebene von Wichtigkeit sind. Jedem Russen der fähig, entschlossen und bereit ist, sich der strengen politischen Disziplin des Kommunismus zu unterwerfen, wird alle nur denkbare Gelegenheit gegeben, seine hochgespanntesten Ambitionen in Richtung auf eine äußerst spezialisierte Ausbildung zu befriedigen. Absolviert er sein Universitätsstudium mit Erfolg, so darf er mit ganz bestimmten Anstellungsmöglichkeiten rechnen, mit einem bevorrechteten gesellschaftlichen Status und mit überdurchschnittlich günstigen Einkommensverhältnissen. Wenn es sich hierbei in Rußland auch nicht um einen demokratischen Prozeß in dem bei uns gebräuchlichen Sinne handelt, so liegt alldem doch mindestens das Prinzip der gleichen Chance für alle zugrunde -ohne Ansehen der Herkunft, des väterlichen Berufes oder anderen Faktoren. Das einzige Präjudiz liegt in der von allen geforderten Konformität in politischen Dingen.

So etwa argumentieren viele Kreise in Amerika und kommen dann meist zu dem Schluß, daß die Sowjets ohne allen Zweifel drauf und dran sind, das Rennen zu machen, wenn der Faktor „Zeit" ausschlaggebend ist; daß sie in zunehmenden Maße im Vorteil sind wenn die Quantität der alles entscheidende Faktor ist. Geht es aber um Gründlichkeit und fachliches Können, dann bilden nach übereinstimmender Ansicht der hier zitierten amerikanischen Kreise die Russen erstklassige Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker aller Branchen aus. Die wissenschaftlichen und technischen Veröffentlichungen, die nach dem Westen gelangen, zeigen ganz eindeutig, daß die besten unter den russischen Nachwuchskräften auf den oben erwähnten Gebieten Spitzenleistungen hervorzubringen in. stände sind Ja man geht sogar soweit zu behaupten, daß den sowjetischen Wissenschaftlern eine größere Freiheit in der Veröffentlichung über manche „delikate“ Gebieten eingeräumt wird, als vielen amerikanischen Forschern, deren Arbeit oft durch unnötig strikte „Sicherheits“ -Bestimmungen behindert wird. Was die diplomatischen Fähigkeiten der Russen betrifft, so zeigen sich diese immer wieder bei der LINO: auch sind amerikanische Beamte der verschiedenen Ministerien und Behörden im Auslandsdienst immer wieder überrascht von der Anpassungsfähigkeit der sowjetrussischen Vertreter in vielen Teilen der Welt

Eine Pandorabüchse

Für gewöhnlich wird bei solchen Betrachtungen in Amerika heute den Passiva der sowjetischen Erziehungsbilanz keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Gerade diese Passiva aber sollten wir uns ständig vor Augen halten. Daß eine ernste Unzufriedenheit und LInruhe unter den russischen Studenten vorherrscht, kann gar nicht bezweifelt werden. Die sowohl in Ruß-land wie in Amerika lange Zeit als gültig angesehene Theorie, wonach eine ständige und konsequente ideologische Berieselung entsprechende Resultate unter den Studenten hervorrufen und alle Zweifel und Fragen wirkungsvoll ausschalten wird, hat sich in der Praxis keineswegs bestätigt. Das wurde überdeutlich bei den studentischen Aufständen in Ungarn und anderswo. Für die mit Hartnäckigkeit vertretene Auffassung, daß jede Erziehung in totalitären Staaten letzten Endes alle Versuche einer Beschränkung auf den eigenen Raum zwangsläufig zunichte machen wird, lassen sich in zunehmenden Maße nicht nur Beispiele in den Satelliten-staaten, sondern auch in der Sowjetzone selber Beweise anführen.

Wenn nämlich die Forschung immer weiter vorangetrieben wird, und man den menschlichen Geist zu immer neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, zu kühnen technischen Erfindungen und zu einem richtigen Verständnis fremder Sprachen und fremder kultureller Leistungen „herausfordert“, dann muß das zwangsläufig zu selbständigem Denken anregen. Wenn ferner die in Sowjetrußland ausgebildeten Spezialisten ins Ausland entsandt werden, dann können sie selber feststellen, wie falsch viele ihrer steriotyp gewordenen Vorstellungen über den Westen gewesen sind, die man ihnen in ihrer Ausbildungszeit einimpfte.

Originalität läßt sich nicht in amtliche Kanäle hineinpressen. Schon allein diese Grundwahrheit sollte genügen, um uns die Torheit des Versuches vor Augen zu führen, Inhalt und Schwergewicht der Erziehung auf „nationale Interessen“ hin auszurichten, die von amtswegen definiert werden.

Wenn man immer mehr Jugendlichen die Möglichkeiten einer höheren Bildung erschließt, dann kommt das praktisch dem Öffnen einer Pandorabüchse gleich. Zwar lassen sich Wille und Fähigkeit einzelner zähmen und unter Kontrolle halten. Der menschliche Geist als solcher ist jedoch so beschaffen, daß die mehr von der allgemeinen Norm abweichenden und konstruktiv eingestellten Individuen stets die Freiheit anstreben werden und zwar nicht, weil diese Freiheit nur eine von vielen Möglichkeiten der Befriedigung darstellt, sondern eben eine absolute Notwendigkeit. So kann man sagen, daß u. LI. gerade durch das Ausmaß und das Tempo der russischen Anstrengungen auf dem Sektor des Erziehungswesens der von uns allen herbeigesehnte Evolutionsprozeß im gesamten Sowjetsystem beschleunigt wird.

Auf jeden Fall aber ist es sinnlos, die Studenten sozusagen „abzuzählen" und dann die Endsumme als einen wirklich zuverlässigen Index für eine wachsende Stärke oder Schwäche in dem jeweils getesteten Sektor anzusehen Viele, die man in dem einen Land als „Ingenieure bezeichnet, sind vielleicht in dem anderen nur als „Handwerker“ anzusehen. Etikette geben niemals mit Genauigkeit den Inhalt eines BiT dungsvorganges wider. Sie sind vollends sinnlos, wenn man sie zu Vergleichen zwischen gänzlich verschiedenen Gesellschaftssystemen heranziehen will.

Der "Nutzen" der Fachausbildung

Viel wichtiger als reine Zahlen ist die Frage, wie die Spezialisten später in der Praxis eingesetzt werden. In den Vereinigten Staaten wird ein sehr hoher Prozentsatz der spezialisierten Fachkräfte in der Produktion von Verbrauchsgütern eingesetzt Die Sowjets hingegen halten ihre Verbrauchsgüterindustrie mit solchen Fachkräften äußerst knapp. Wenn wir daher den relativen „Nutzen" einer Fachausbildung für einen möglichen Einsatz auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen abschätzen wollen, dann ist zweifellos die Verteilung der ausgebildeten Fachkräfte von sehr viel größerer Bedeutung als die reine Quantität.

Noch wichtiger ist die Frage, inwieweit Spezialisten später noch ihrer ursprünglichen Berufswahl treu bleiben Man nimmt an, daß bereits 15 oder 20 Jahre nach Abschluß ihrer Universitätsausbildung rund 2/3 der als „Naturwissenschaftler“ oder „Ingenieure“ klassifizierten Amerikaner ihre berufliche Tätigkeit auf Gebiete verlagert haben, in denen ihre technische Ausbildung nicht mehr von unmittelbarem Nutzen ist. Hier handelt es sich natürlich um eines der charakteristischen Phänomene einer freien Gesellschaft. Danach kann der einzelne seinen Beruf nicht nur am Anfang seiner Laufbahn, sondern auch bei jeder beliebigen, späteren Entwicklungsphase in voller Freiheit wählen. Ob jemand an seinem einmal ergriffenen Beruf festhält, oder ihn wechselt, kann auf eine Fülle verschiedenster Faktoren zurückzuführen sein. Solange aber ein relativ großer Prozentsatz von männlichen und weiblichen Fachkräften ihrem ureigensten Wissensgebiet den Rükken kehrt, wird das Argument nur sehr schwer überzeugen können, daß ein „ernster Mangel“ vorliegt. Mindestens erscheint es nicht angezeigt, das ganze Problem am besten dadurch anzugehen, daß man noch mehr Menschen ausbildet, die ihren Beruf oberflächlich gewählt haben, oder ihn aber gar nicht beibehalten.

Ein auf vollen Touren laufender . „Werbefeldzug“ zur Rekrutierung von Studenten für die naturwissenschaftliche (oder irgendeine andere) Laufbahn lediglich unter dem Gesichtpunkt der „nationalen Interessen“, kann u. LI. nur die Zahl derer vermehren, die dann später ihre impulsiv getroffene Wahl bereuen und das Arbeitsgebiet verlassen, für das sie ausgebildet wurden, um sich einen ihnen mehr zusagenden, oder aber auch finanziell lukrativeren Beruf auszusuchen. Jeder Versuch, diesen Zustand mit Hilfe von gesetzgeberischen oder administrativen Maßnahmen zu ändern, würde einer Revolution im Leben Amerikas gleichkommen Bevor sogar noch der Faktor „Zeit" bei vielen Fachkräften berufliche Illusionen zerstört, hat bereits eine große Anzahl Stellungen angenommen, in denen sie ihre eigentlichen Kenntnisse nicht entscheidend, geschweige denn vollkommen anwenden können. Viel von der genossenen Fachausbildung wird entweder nur mangelhaft angewandt, oder aber völlig vertan, weil es an einer richtigen Analyse der zur Verfügung stehenden Stellen und an einer einigermaßen guten Personalpolitik fehlt Lins stehen keinerlei zuverlässige Informationen darüber zur Verfügung, wie man in Ruß-land mit diesen beiden, eben erwähnten Problemen fertig wird Wir wissen nicht, in welchem LImfang das vorhandene Fachwissen dort voll-eingesetzt wird, oder wie groß der Prozentsatz derjenigen ist, die ihrem Spezialgebiet auch im späteren Berufsleben treu bleiben Wegen dieses Mangels an Informationen sind alle Vergleiche im Grunde nahezu wertlos Die bei uns in jüngster Zeit durchgeführten Diskussionen sind einfach davon ausgegangen, daß die Sowjets in diesen beiden Punkten Amerika gegenüber im Vorteil sind Handfeste Beweise für solche Annahmen konnten jedoch bisher nicht erbracht werden.

Es gehört nun zu den in Amerika vertretenen Grundthesen, daß selbst vom Gesichtspunkt der „nationalen Interessen“ der in Freiheit und Freiwilligkeit handelnde menschliche Wille im Endeffekt immer noch mehr und besseres leistet, als eine gelenkte Aktivität von Menschen, die — mögen sie auch noch so gut ausgebildet worden sein — in völliger politischer Unterordnung alle ihnen gegebenen Befehlte ausführen und dabei u LI Beschäftigungen annehmen müssen, die ihnen im Grunde zuwider sind Indem wir diese Feststellung treffen, müssen wir allerdings eins zugeben: Lins stehen keinerlei objektive Beweise dafür zur Verfügung, daß die Dinge sich auf kurze Sicht hin so verhaltel. Die totalitären Systeme aller Schattierungen — ob schwarz, braun oder rot — haben verblüffende Erfolge aufzuweisen gehabt auf den Gebieten der Diplomatie, der Finanzen, der Fabrikation, sowie des technischen und naturwissenschaftlichen Fortschrittes.

Wo die Menschen wie in Rußland, niemals einen Zustand der Freiheit kennengelernt haben, wo der Staat vielmehr im gesamten Er-Ziehungsprozeß immer die dominierende Rolle gespielt hat, da werden die negativen Auswirkungen einer gelenkten Berufsausübung höchstwahrscheinlich nicht annähernd so ernst sein, wie wir, die wir die Freiheit als ein selbstverständliches Gut der Menschen betrachten, vielleicht annehmen könnten. Graf Sforza hat während seiner Verbannung aus dem faschistischen Italien ähnlich wie so viele Flüchtlinge aus Hitler-Deutschland immer wieder die Bereitschaft gerade der Intelektuellen aller Schattierungen beklagt, den Diktatoren gegenüber sofort in die Knie zu gehen und ihre Fähigkeiten dann dem totalitären System auf das loyalste zugute kommen zu lassen

Keine Gängelung von staatswegen

In Amerika, wo jede Form staatlicher Lenkung nahezu unbekannt ist, führen die Traditionen des Bildungswesens zu einer völlig anderen Reaktion. Als daher hier das System der „Loyalitäts-Überprüfungen“ eingeführt wurde und die Öffentlichkeit sich über Fälle erregte, in denen diese Überprüfungen negativ verlaufen waren, wirkte sich dies ungünstig aus auf die Bereitschaft führender Forscher, Sprachwissenschaftler, Studenten der Diplomatie, Naturwissenschaftler und Techniker, ihre Arbeitskraft in den Dienst von Planungen der Regierung zu stellen.

Bei uns sind Freiheit, Freiwilligkeit und Eigeninitiative unumstößliche Tradition. Wenn gewohnheitsmäßige Arbeits-und Denkmethoden einmal durch politische Fragestellungen kompliziert werden, dann führt das immer zu nachteiligen Folgen. Wenn überkomplizierte Loyalitäts-und Sicherheitsbestimmungen den Zustrom von Kräften für den öffentlichen Dienst ernstlich behindern, dann werden viele Menschen abgestoßen, die an die freie Luft einer Universität gewöhnt sind. Der Hochschultypus, der für eine spezialisierte Ausbildung auf dem Gebiet der Künste, der Sprachen, der Wirtschaft, Politik und Publizistik erforderlich ist, hat schon seit langem eigene Formen der Arbeit und eigene Leistungsformen entwickelt, ohne daß es dabei einer Gängelung von Seiten des Staates bedurft hätte. Wenn es aber einmal zu einer solchen Gängelung kommt, dann wird das als äußerst lästig empfunden. Solange der einzelne völlig frei wählen darf, auf welches Gebiet er seine Arbeitsenergien konzentriert, wird er für gewöhnlich eine Tätigkeit anstreben, bei der er eingestellt werden kann, ohne daß erst eine monatelange Verzögerung eintritt, nur weil seine Überprüfung noch nicht abgeschlossen ist.

Er wird seine Wahl so treffen, daß er sich nicht darüber Sorgen machen muß, ob irgendein Wort von ihm mißverstanden wird oder ob er auf Grund irgendeines früheren „Umganges“ ständig peinlichen Situationen ausgesetzt sein könnte.

Auf der anderen Seite bringen die Russen, die eine politische Gleichschaltung als Preis für ihre Fachausbildung bezahlt haben, und die ihre Universitätslaufbahn in der Gewißheit antreten, auch nach Abschluß des Studiums eine staatliche Lenkung akzeptieren zu müssen, nicht annähernd die gleiche Widerstandskraft gegen diese staatliche Lenkung ihrer Laufbahn auf, wie es bei den Amerikanern der Fall wäre. Dies trifft um so mehr zu, als den Russen andere Beschäftigungsmöglichkeiten nicht so offen stehen, wie den amerikanischen Spezialisten.

Selbst in bezug auf diesen Punkt sollten wir uns jedoch davor hüten, gegenwärtige Trends mit einer Entwicklung auf lange Sicht hin zu verwechseln. Denken wir doch nur einmal an folgendes: Die totalitären Systeme schienen uns einmal ausgesprochen langlebig zu sein. Dennoch hielten sich die nazistischen und faschistischen Diktatoren nicht lange genug, als daß ihr Erziehungssystem wirklich einer endgültigen Bewährungsprobe hätte unterworfen werden können. Die bolschewistischen Diktatoren sind erst seit kurzem dazu übergegangen, die Durchführung ihrer Erziehungsprogramme zubeschleu-nigen und Spezialisten in nennenswertem Ausmaß ins Ausland zu entsenden. Noch verfügen wir nicht über wirklich schlüssige Beweise dafür, daß dem Glauben der Sowjets an eine staatlich gelenkte Erziehung auch der Erfolg beschieden sein wird; genau so wenig, wie sich eindeutig beweisen läßt, daß sich unser Vertrauen in das Prinzip der Freiheit auf diesem speziellen Gebiet bewahrheiten wird. Unsere ganze pädagogische Tradition weist jedoch viele Elemente der Stärke auf: Die Grundlagen der höheren Schulbildung und des Universitätsstudiums sind bei uns viel breiter angelegt als in irgendeinem anderen Land der Welt einschließlich der Sowejtunion. Wenn wir in Amerika die höheren Schüler und Studenten auch nicht einer so rigorosen Disziplin unterwerfen und sie in Punkto Lernen nicht unter Druck setzen, so wird doch außerhalb des Lehrbetriebes viel getan, um die Phantasie anzuregen, das Selbstvertrauen zu stärken und eine gewisse „eigene Note“ und individuelle Betrachtungsweise zu fördern.

Das Prinzip der völligen Freiheit bei der Wahl der Studienfächer basiert auf der Annahme, daß ein unbehindertes, geistiges Schaffen bessere und reichhaltigere Früchte trägt, als ein rigoros gesteuertes. Immer wieder sprechen ausländische Besucher, die mit einer ausgesprochen kritischen Einstellung in die Vereinigten Staaten kommen, von einer überlegenen Aufgeschlossenheit der amerikanischen Studenten, von ihrem Lerneifer, ihrem kritischen Temperament und Selbstvertrauen. Die Pädagogen sind sich schon lange darüber einig, daß diese Charaktereigenschaften ein ungeheures Kräfte-reservoir für die ganze Nation darstellen.

Ja, wir dürfen noch weiter gehen. Es gibt in den Vereinigten Staaten eigentlich kein Spezialistentum auf irgendeinem Gebiet, für das man nicht irgendwo ausgebildet werden könnte. Die Ausstattung von Bibliotheken und Labors, sowie die Qualität der Ausbilder in diesen amerinischen Instituten, finden in der ganzen Welt nicht ihresgleichen. Das gilt für das Gebiet der Sprachwissenschaft, der Kunst und Literatur, der Nationalkökonomie und der politischen Wissenschaften, der Geschichte und Philosophie sowie schließlich eben auch der Naturwissenschaften und der Technik. Vielseitigkeit. Gründlichkeit und Qualität der in den einzelnen Instituten angebotenen Fachausbildung sind einfach erstaunlich.

Manchmal läßt sich nur sehr schwer entscheiden, welche Ausbildungszentren den intellektuellen und beruflichen Neigungen und Wünschen des einzelnen amerikanischen Studenten am besten gerecht werden, da das Staatsgebiet der USA ja ungeheuer groß ist, und die einzelnen Einrichtungen des höheren Bildungswesens hinsichtlich der über sie ausgeübten Aufsicht, hinsichtlich ihres finanziellen Unterhaltes, ihrer Lehrmittel und ihres Leistungsniveaus starke Unterschiede aufweisen. Im ganzen wird man aber sagen können, daß die Oberseminare und Institute unserer Universitäten den an sie gestellten Anforderungen gewachsen sind — auf jeden Fall, so weit es sich um das Aneignen von Fachwissen auf jedem beliebigem Gebiet von „nationalem Interesse“ handelt Wenn es dennoch zu einer gewissen zahlenmäßigen Begrenzung von hochspezialisierten Fachkräften kommt, dann liegt das nicht in erster Linie an einem etwaigen Mangel an Aus-bildungszentren, an Raum oder an der technischen Ausstattung. Natürlich haben alle Institute — und das zu Recht — den Ehrgeiz, noch geräumiger untergebracht und besser ausgestattet zu werden, oder sich noch größere Bibliotheken anzulegen. In ihrem Ruf nach diesen so begehrenswerten Dingen geben sich die Institute dann oft den Anschein, als ob das, was sie jetzt haben, völlig „unzureichend“ sei. Nach „utopischen“ Maßstäben, die jedes gute Institut anzulegen versucht, stimmt das dann auch. Im Vergleich zu der übrigen Welt nimmt das Universitätsleben in Amerika eine genau so überragende Stellung ein, wie dies auf anderen Gebieten unseres Lebensstandards der Fall ist. Viel wichtiger als irgendwelche Mangelerscheinungen in materieller Hinsicht sind auf dem Sektor der Fachausbildung die sich aus einer ungenügenden Vorbereitung der Bewerber ergebenden Unzulänglichkeiten. Diese Schwierigkeiten treten jedoch bereits in früheren Stadien der Ausbildung auf, d. h. also lange bevor den Universitäten irgendeine direkte Verantwortung zufällt.

Bildungswesen, Angelegenheit der Planung auf lange Sicht

Damit sind wir bei der Erörterung eines anderen, grundlegenden Problemes angelangt, ob nämlich unser Gesellschaftssystem Studenten „hervorbringt“, die an das Gebiet der internationalen Politik mit dem nötigen Wissen und einer richtigen Grundeinstellung herangehen und sich somit als gute Bürger nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern der ganzen Welt qualifizieren.

Es hat überhaupt keinen Sinn, sich mit diesem Problem theoretisch zu beschäftigen, wenn wir uns nicht immer wieder vor Augen führen, daß das ganze Bildungswesen in doppelter Hinsicht eine Angelegenheit der Planung auf lange Sicht hin ist, und daß daher Programme zur Bewältigung von grundlegenden, nationalen Fragen nicht aus dem Ärmel geschüttelt werden können:

Einmal hängt das, was ein Student auf der Universität tatsächlich tun kann, sehr wesentlich von den Erfahrungen ab, die er schon viel früher gesammelt hat. Diese Erfahrungen werden von Entscheidungen mitbestimmt, die unter Umständen völlig im Verborgenen, auf jeden Fall aber zu ganz verschiedenen Zeiten und an ganz verschiedenen Orten getroffen wurden. Oft treten solche Entscheidungen erst Jahre später zu Tage.

Zum zweiten: das, was wir den „staatsbürgerlichen" Nutzen nennen können, den ein Student aus seinen Studienjahren zieht, macht sich entscheidend eigentlich erst 10 bis 20 Jahre später bemerkbar, d. h. nämlich dann, wenn sich der Verantwortungsbereich des einzelnen vollends herauskristallisiert hat. Wenn man diese beiden Faktoren berücksichtigt, dann wird man sehen, daß durchaus 20 bis 30 Jahre vergehen können, bevor die Entwicklungstrends und ihre Auswirkungen voll ersichtlich werden.

Aus diesem Grunde lassen sich die Probleme des Kalten Krieges nicht gut mit dem bei uns so beliebten Rezept einer „Psychologie der Krise“ oder einem Programm zur Begegnung wirtschaftlicher Katastrophen angehen. Die augenblicklich vorherrschende Stimmung einer gewissen Verwirrung und Resigniertheit ist das Resultat früherer Fehlkalkulationen über das, was an Wissensstoff für unentbehrlich gehalten wurde. Entscheidungen, die vor langer Zeit mehr oder weniger unter Ausschluß der Öffentlichkeit getroffen wurden, haben einige wirklich ernste Auswirkungen gezeigt. Die dadurch entstandenen Schäden lassen sich nicht im Handumdrehen wieder gutmachen. „Intensive" Planungen, die man so oft als „Allheilmittel“

für irgendwelche Mangelerscheinungen vorschlägt, werden mit Sicherheit keinen Erfolg haben. Diese Seite der Sache ist von so entscheidender Bedeutung, daß wir an dieser Stelle die Gesamtzusammenhänge ein wenig beleuchten sollten.

Im Jahre 1940 veröffentlichte der „American Council on Education" (eine Organisation, die in bezug auf die Gesamtkonzeption des amerikanischen Bildungswesens allgemein als führend angesehen wird) eine Broschüre, für die als Herausgeber eine eindrucksvolle Reihe von namhaften Pädagogen verantwortlich zeichnete.

Diese Veröffentlichung mit dem Titel „Was an den Höheren Schulen unterrichtet werden

den Höheren Schulen unterrichtet werden sollte,“ war schon ihrem Inhalt nach von großer Bedeutung. Erst recht gilt das aber von ihrem ganzen Tenor. Schon das wenige, das an Mathematikunterricht in Amerika überhaupt erteilt werde, sei bedauerlich — so hieß es. Das Gleiche treffe auf den Englischunterricht zu. In beiden Fällen wurde die wirklich erstaunliche'Begründung gegeben, daß es sich hier um „schwierige" Fächer handele. Beide Fächer seien im Grunde „Hemmschuhe“. Wenn man von den Schülern verlange, daß sie sich eine flüssige und wirkungsvolle englische Ausdrudesweise und eine gewisse mathematische Befähigung aneigneten, dann würde ihnen dadurch die Schule nur verleidet. Mithin seien diese Fächer eben unerwünscht. Auch das Studium fremder Sprachen wurde in dieser Veröffentlichung ernstlich abgewertet. Als Ersatz wurde ein Fachkursus „Allgemeine Sprachen vorgeschlagen. In bezug auf die Naturwissenschaften erklärte man, daß „nur wenige Schüler“ angewandte Physik zu lernen brauchten. Bei jeder einzelnen der traditionellen Studien-richtungen sollte die „pragmatische“ Testfrage nach dem „Nutzen“ gestellt werden; denn nur zu oft werde Nutzen mit dem Nächstliegendsten und Gängigsten gleichgesetzt Aus der Broschüre sprach auf jeder Seite die ganze Niedergeschlagenheit, die durch die große Depression der 30iger Jahre verursacht worden war. Zum damaligen Zeitpunkt huldigte man der Ansicht, daß Hitlers Aufstieg von Leuten begünstigt worden war, die keine, ihrer Ausbildung gemäße Stellung hatten finden können. Viele Menschen glaubten damals, daß das amerikanische Erziehungswesen auf eine ähnliche Situation zusteuere. Es waren nicht nur „zu viele“ Ingenieure und Naturwissenschaftler vorhanden; vielmehr gingen überhaupt zu viele junge Menschen auf die Universität. In den höheren Schulen waren zu viele Hoffnungen auf eine „Angestelltenlaufbahn“ erweckt worden. Aus allen diesen Gründen wurden damals in Amerika Befürchtungen laut, daß die Jugend des Landes nach einer etwa einsetzenden Arbeitslosigkeit großen Stils an dem amerikanischen „System“ verzweifeln und dem Faschismus als Beute zum Opfer fallen könnte. In dem Bedürfnis, „Gefühle statistisch zu untermauern“, sollten damals plötzlich Zahlen „beweisen“, daß wir uns einem gefährlichen Überangebot von Akademikern gegenübersahen. Diese Auffassung hielt sich noch lange nach Überwindung der Depression, die solcherlei Stimmungen hervorgerufen hatte. Sogar noch im Frühjahr 1950 sagte man auf Grund von amtlichen Statistiken voraus, daß nur die Hälfte der Exmatrikulierten mit abgeschlossenem Ingenieurstudium eine Anstellung finden würden. Daraufhin ließen die Bewerbungen um Aufnahme in diesen Wissenschaftszweig rapide nach. Zur gleichen Zeit „bewies“ man das Vorhandensein eines „Überschusses“ an Oberschullehrern. Mit anderen Worten: man projezierte vorübergehende Erscheinungen als feste Größen in die Zukunft.

Negative Faktoren

Die Brochüre „Was an den Höheren Schulen unterrichtet werden sollte“ verursachte keinen allgemeinen Sturm im Wasserglas, weil es sich dabei nicht so sehr um die Aufstellung eines neuen Programmes, als vielmehr um eine rationale Erfassung von Phänomenen handelte, die sich während der Depression ganz allgemein im amerikanischen Erziehungswesen breit gemacht hatten. Als dann der Zweite Weltkrieg ausbrach, machte man zum Entsetzen der Armeeführung die Entdeckung, daß das Niveau der mathematischen Kenntnisse weit unter dem erforderlichen Durchschnitt lag. Die in der Broschüre zum Ausdruck gebrachten Gesichtspunkte hatten eben ganz offensichtlich eine Art Suggestivkraft entwickelt, obwohl die breitere Öffentlichkeit im Grunde von dieser Veröffentlichung wenig oder überhaupt nichts gehört hatte. Man hatte aber die im Mathematikunterricht zu stellenden Anforderungen auf ein solches Mindestmaß reduziert, daß eine Schädigung des „nationalen Interesses“ zwangsläufig die Folge sein mußte, ganz zu schweigen von der intellektuellen Verarmung ungezählter Einzelner. In der oben erwähnten Veröffentlichung, die einen solchen Trend verkörpert, ja noch gefördert hatte, vermißte man eben einen entscheidenden Hinweis darauf, daß im Grunde ein besserer Unterricht Wunder hätten wirken können im Gebrauch sowohl unserer Muttersprache wie eines der präzisesten „Werkzeuge“ menschlichen Geistes, d. h.der Mathematik. Man hatte sich mit einer Herausstellung der negativen Faktoren begnügt. Es war somit nicht verwunderlich, daß die sich aus der Veröffentlichung ergebenden Konsequenzen ebenfalls rein negativer Natur waren.

Hinzu kam, daß vor 25 Jahren das Schlagwort: „Das Versagen der Lernenden ist im Grunde das Versagen der Lehrenden“ besonders beliebt war. Mit diesem knappen Aphorismus wollte man ursprünglich vielleicht einen Anreiz für die Verbesserung des Unterrichtes bieten. Wenn dies die Absicht war, dann ging der Schuß allerdings böse nach „hinten“ Auf jeden Fall wirkte sich dieses Schlagwort nicht als Anreiz für ein verbessertes Studium aus. Vielmehr verfiel man in ein derart absurdes Extrem, daß viele Kommunalbehörden im ganzen Lande durch amtliche Verordnungen die Note „mangelhaft“ tatsächlich abschafften. Häufig ging man sogar dazu über, alle Noten überhaupt abzuschaffen, damit dadurch nicht etwa eine Atmosphäre des Wettbewerbes begünstigt würde.

Zu welchen Konsequenzen führten nun alle diese Maßnahmen? Der einzelne Student fühlte sich der persönlichen Verantwortung für seine eigenen Leistungen enthoben. Man mißdeutete den Sinn der Demokratie vollkommen, indem man eine gleiche Behandlung an die Stelle einer gleichen Chance für alle setzte und dadurch die bewährte Schulpraxis restlos aufgab, wonach die intelligenten Schüler zu weiteren Höchstleistungen animiert werden, die langsameren hingegen mehr Zeit zum Erlernen der Hauptfächer haben. Man huldigte nunmehr der Ansicht, daß ein Anpassen des Unterrichtstempos an die Fähigkeiten des Einzelnen zu einem Überheblichkeitskomplex bei den einen, und zu einem Minderwertigkeitskomplex bei den anderen Schülern führen würde.

Solche und viele andere Grundsatzentscheidungen, — die jede für sich genommen keineswegs „dramatischer“ Natur waren und die auch nicht kraft Bundes-, ja nicht einmal kraft Ländergesetze zur Ausführung gebracht wurden, wirkten sich mit der Zeit immer mehr in vielen Zweigen des amerikanischen Erziehungswesens aus. In ihrer Gesamtheit führten dann solche Einzelentscheidungen dazu, daß Qualität und Quantität auf ein Durchschnittsmaß heruntergeschraubt wurden, bis sich häufig die intelligenten Schüler gelangweilt fühlten und manchmal der Lerneifer bei denjenigen nachließ, die an sich von Hause aus die besten geistigen und charakterlichen Fähigkeiten mit sich brachten.

Besonders abgehandelt zu werden verdient in diesem Zusammenhang die für unsere heutige weltpolitische Verantwortung so wichtige Beherrschung von Fremdsprachen. Paradoxerweise florierten Sprachstudien bei uns gerade zu einer Zeit, als die Vereinigten Staaten noch wenig Kontakt mit dem Ausland hatten. Als sich dann unsere Kontakte in der ganzen Welt ausweiteten, nahm die Fertigkeit der Amerikaner auf dem Gebiet der Fremdsprachen immer mehr ab.

Im Laufe des Ersten Weltkrieges wurde in einem plötzlichen Gefühlsausbruch der Deutschunterricht in vielen Schulen fallen gelassen. Man schaltete auf Spanisch um, zum Teil, weil man sich von dem Erlernen dieser Sprache einen „größeren Nutzen“ für unsere Beziehungen mit Südamerika versprach, andererseits aber auch, weil diese Sprache angeblich „leichter“ ist. Der Französischunterricht wurde in den amerikanischen Schulen und Universitäten niemals sonderlich gepflegt. Vorschläge, den Russischunterricht einzuführen, wäre man damals mit einem Schrei des Entsetzens begegnet. Latein und Griechisch wurden von beinahe allen Lehrplänen mit dem Argument verbannt, daß diese Sprachen nicht nur schwer, sondern auch nicht sonderlich „nützlich“ seien. Handelte es sich hier — so wurde argumentiert — schließlich nicht um tote Sprachen von untergegangenen Zivilisationen? Worin sollte ihr Bezug für die Welt von heute bestehen? Lange bevor die jungen Amerikaner und Amerikanerinnen ihr Studium begannen, hatten sich bei ihnen somit ernste Mängel auf dem Gebiet der Sprachstudien eingestellt, eben weil man die alten Sprachen mit ihrer starken Betonung des Grammatikalischen, des Wortschatzes und der Genauigkeit fallen gelassen hatte, weil gegen den Deutschunterricht Vorurteile bestanden und weil die Präzision im Gebrauch der englischen Muttersprache nachließ.

Diese Mängel wurden dann noch weiter kompliziert durch die Tatsache, daß für die staatlich geförderten Hochschulen in vielen amerikanischen Bundesstaaten die Zulassung aller in dem jeweiligen Staat ansässigen Bewerber mit abgeschlossener höherer Schulbildung gesetzlich vorgeschrieben wurde. Da man den Sinn und Zweck eines Hochschulstudiums immer mehr darin sah, eine bestimmte Anzahl von Semestern hinter sich zu bringen, und immer weniger darin, einen fest umrissenen Wissensstoff zu erlernen, und da die qualitative Leistung in den Hintergrund trat, wurden viele Hochschulen von schlecht vorgebildeten Studenten geradezu überschwemmt. Diese Studenten strebten zumeist rein gesellschaftliche, nicht aber intellektuelle Ziele an und zeichneten sich keineswegs durch allzu großen Fleiß aus. Diese Lage wurde mit der Zeit doch so ernst, daß auf vielen Hochschulen mindestens ein Jahr, oft aber auch ein zweites, dazu benutzt werden mußte, um die Mängel wieder zu beseitigen, die eine allzu weiche Handhabung der Erziehung in der Zeit vor dem Universitätsstudium hervorgerufen hatte.

Jeder, der sich heute allzu intensiv mit den verschiedenen, negativen Faktoren in der Erziehung auf der Ebene der Volks-und Höheren Schulen befaßt, wird höchstwahrscheinlich in einem Zustand der Resignation geraten. Aus zwei Gründen darf man sich jedoch letzten Endes zu einer optimistischen Beurteilung der Lage berechtigt fühlen. Der erste hängt mit den ganzen Umwelteinflüssen zusammen, denen die heutige amerikanische Jugend ausgesetzt ist. Die Denk-und Verhaltensweisen dieser Jugend werden von vielen Erfahrungen geprägt, die völlig außerhalb des schulischen Bereiches liegen. Diese Erfahrungen sind nicht durchweg, aber doch vorwiegend positiver Natur. Das erklärt ja auch die unabhängige Denkweise und die unbefangene Grundeinstellung, die den ausländischen Besuchern der Vereinigten Staaten immer wieder auffallen.

Der zweite, günstige Faktor ist darin zu sehen, daß in vielen Schulen auf Grund einer bis zur Perfektion entwickelten Dezentralisierung der Zuständigkeiten die neue Moderichtung ignoriert und statt dessen ein gleichmäßiger pädagogischer Kurs gesteuert wurde. Darüber hinaus sind in den Fällen, wo man die Unterrichtspläne geradezu skandalös verwässert hatte, einige der schlechten pädagogischen Gewohnheiten bereits wieder abgestellt worden. So wird — um nur ein Beispiel zu nennen — dem begabten Studenten wieder besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der lange Zeit negative Entwicklungstrend auf dem Gebiet des Mathematikunterrichts hat seinen Tiefpunkt bereits eindeutig überschritten. Dieses Fach gilt heute wiederum als wichtig. Auch die Sprachfächer erhalten wieder eine zentralere Bedeutung, ebenso wie die Geisteswissenschaften ganz all-gemein. Es geht auf den Hochschulen nicht mehr darum, „Lebensregeln“ zu erlernen sondern wieder um ernsthafte Forschung. Die Mode, auf Grund eines Fehlens an jeglicher Diziplin in Extreme zu verfallen, ist abhanden gekommen. Schon machen sich die Früchte dieser neuen Reformbestrebungen bemerkbar: Die Qualität der Studenten, die sich in gut etablierten Hochschulen immatrikulieren wollen, nimmt ständig zu.

Auch hat sich der ganze Tenor der amtlichen Verlautbarungen verändert. Diese Tatsache wird besonders deutlich in dem Bericht des so-genannten „Interministeriellen Ausschusses an den Präsidenten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wird hier in einem amtlichen Dokument betont, wie notwendig es sei, ganz allgemein einen besseren Unterricht zu erteilen, sich besonders mehr der Mathematik und anderer Hauptfächer anzunehmen und schließlich Studenten mit außergewöhnlichen Begabungen frühzeitig zu entdecken und auch stärker zu fördern. Es ist wirklich begrüßenswert zu sehen, wie man jetzt zum ersten Mal anzuerkennen beginnt, daß die pädagogischen Probleme komplexer Natur sind und auf „vielen Fronten“ gleichzeitig angegangen werden müssen, wobei eine Planung auf lange Sicht hin als entscheidend angesehen wird.

Das Fach „Internationale Beziehungen"

Wenn es auf den amerikanischen Hochschulen oft schwierig ist, die Studierenden für die Bewältigung weltpolitischer Probleme richtig vorzubereiten, so liegt das keinesfalls allein etwa an den oben angedeuteten Mangelerscheinungen auf dem Sektor der Höheren Schulen Die Universitäten wurden in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu erdrückt von einer ungeheuren Ausweitung des Wissenstoffes. Neue Probleme von bislang ungeahnten Ausmaßen wurden geschaffen durch den Fortschritt auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, durch die Vielfalt der volkswirtschaftlichen Studienrichtungen, durch die Ausweitung der Anthropologie, der Sozial-Psychologie, der Soziologie und anderer Fächer.

Die Lehrpläne auf dem Gebiet der Künste wurden durch eine ganze Reihe von Spezialfragen bereichert. Schließlich sahen sich die Universitäten durch die einzelnen Berufsgruppen dazu gezwungen, sich immer intensiver der vorberuflichen Ausbildung zu widmen Es wurden mit der Zeit so viele verschiedene Studienkurse angeboten, daß viele Hochschulen jeden Gedanken an eine organisatorische Zusammenfassung der Dinge im Rahmen eines einheitlichen Lehrplanes beinahe aufgaben Früher konnte man sozusagen „das Beste“ herauspicken“

bei sehr begrenzten Auswahlmöglichkeiten.

letzt tat man es bei einem Überangebot von Studienrichtungen. Jede dieser Richtungen wurde nunmehr alleine aus ihrer eigenen Sicht heraus gelehrt. Ein besonderer Bezug zu dem Inhalt oder der Methode anderer Richtungen wurde gar nicht erst hergestellt Die Studenten trafen ihre Wahl oft auf Grund von irgendwelchen Trivialitäten, so etwa im Hinblick auf die Tageszeit, zu der in dem betreffenden Kursus gelehrt wurde. Es spielten Überlegungen eine Rolle, ob in dem Fach an Sonnabenden unterrichtet wurde oder nicht. Echte oder imaginäre Gesichtspunkte einer „Berufung“ — ja jede Art von irrelevanten oder nebensächlichen Impulsen — spielten ebenso in die Auswahl hinein, wie wirklich stichhaltige und gut durchdachte Gründe.

Genau zu dieser Zeit und unter solchen Um-

ständen begann sich die Erkenntnis Bahn zu brechen, daß das ganze Gebiet der internationalen Beziehungen für die Vereinigten Staaten von der allergrößten Bedeutung ist. Man zeigte sich besorgt ob der Möglichkeit, daß wir unter Umständen „internationale ABC-Schützen ausbildeten.

Das Fach „Internationale Beziehungen“

geriet ins Hintertreffen bei dem Versuch, sich in einen ohnehir. schon überfüllten Lehr plan hineinzuzwängen, und zwar einfach schon deshalb, weil es sich hier nicht um eine wissen-

schaftliche Disziplin im strengen Sinne des Wortes handelte. (Das heißt, es gab hier keinen genau umrissenen Wissensstoff und keine allgemein anerkannte Denkmethode bei der Bewältigung des Stoffes.)

In nicht-akademischen Kreisen mögen alle diese Faktoren als nebensächliche Hindernisse angesehen werden Im Rahmen des Universitätslebens jedoch erwiesen sie sich als ernst genug.

Ein nicht klar umrissenes Fach trat in einen Wettbewerb ein mit altehrwürdigen genau abgegrenzten Disziplinen. Die Geschichtswissenschaft zum Beispiel kennt „typische“ Inhalte ebenso wie eine identifizierbare wissenschaftliehe „Methode“ in bezug auf ihre Bewältigung. Das gleiche gilt für die Naturwissenschaften; ja es galt früher einmal auch für die Nationalökonomie und für die Wissenschaft von der Politik Das Fach „Internationale Beziehungen“ ist hingegen eine Mischung von Geschichte, Politik, Nationalökonomie, Diplomatie, Strategie, Beschäftigung mit kulturellen Fragen sowie eines ganzen Dutzend anderer Fächer, die zwar fest umrissen, dabei aber doch ausgesprochen kompliziert sind. Mit anderen Worten: das Fach „Internationale Beziehungen“ ließ sich nur sehr schlecht in irgend einen Lehrplan einordnen und schien im Grunde auf andere, traditionelle Studiengebiete überzugreifen

Es blieb daher nicht aus, daß sich dieses neue Fach wie ein Keil in die bisherigen Lehrpläne hineinschob. Zu Anfang konzentrierten sich die Vorlesungen und Seminare des neuen Faches auf das Gebiet des Völkerrechtes. In dieser Tendenz kam die Hoffnung zum Ausdruck, daß die Idee einer „Herrschaft des Gesetzes und nicht der Mensch" in den internationalen Beziehungen an Geltung und Wirksamkeit gewinnen würde. Gleichzeitig befand man sich hier ganz im Einklang mit der Begeisterung der Amerikaner für die Haager Konferenz und für die Errichtung eines „Weltgerichtshofes“. In Wirklichkeit aber wurden die Anzahl und die Bedeutung der Streitfragen überschätzt, die die gegnerischen Parteien einem Gerichtshof überhaupt zu unterbreiten bereit sein würden.

Der Erste Weltkrieg führte dann zu einer Ernüchterung über die Bedeutung des Völker-rechtes. Die Friedenskonferenz von Versailles, die Errichtung eines „Rates der Botschafter“, der Völkerbund sowie der neue Weltgerichtshof basierten mehr auf dem Prinzip einer strukturellen Friedenssicherung. Nach 1919 setzten daher in dem Fach „Internationale Beziehungen" eine Fülle von Vorlesungen und Seminaren zum Thema der internationalen Organisationsformen ein. Diese Richtung büßte allerdings vorübergehend an Popularität ein, als sich Amerika weigerte, dem Völkerbund beizutreten, und als der Völkerbund selber versagte. Erst die Gründung der LIN und die Anwendung von public relations-Methoden zur Popularisierung dieser Idee bei der breiten Masse der amerikanischen Bevölkerung führte dann in unseren Tagen dazu, daß man das Problem der internationalen Organisationsformen erneut in den Vordergrund rückte.

In der Zwischenzeit hatte sich das Schwergewicht des akademischen Unterrichtes in dem neuen Fach allerdings auf das Gebiet der diplomatischen Geschichte hin verlagert Dadurch schienen die Vereinigten Staaten oft zum Nabel der Welt erhoben zu werden, und zwar selbst dann, wenn es um Ereignisse ging, an denen Amerika nur ganz am Rande beteiligt gewesen war Auch zeigten sich immer wieder sowohl ein Mangel an Objektivität wie eine gewisse doktrinäre Grundeinstellung. Beides zusammen verursachte unter den Europäern eine erhebliche Verstimmung. Die Vorlesungen und Seminare über so große Themenkomplexe wie Asien oder Rußland waren — gelinde ausgedrückt — kümmerlich. Da man sprachliche Anforderungen immer mehr herabschraubte, ja manchmal sogar völlig aufgab. wurde die zur Verfügung stehende Literatur auf das englische Sprachgebiet eingeengt. Dr aber wiederum nur relativ wenige Veröffentlichungen von wirklicher Bedeutung zu diesen Themen in englischer Sprache erschienen, beschränkte man sich in vielen Universitäten und Instituten schließlich auf das Verarbeiten von Textbüchern. Letztere hat man einmal sehr zutreffend als „kondensierte Zusammenfassungen von übersimplifizierten und vorgekauten Informationen bar jeder Herausforderung an den Intellekt" bezeichnet Viele dieser Textbücher glichen im Grunde mehr Transmissionsriemen von Dogmen verschiedener Schattierungen als aufklärenden Darstellungen

Im Zweiten Weltkrieg zeigten sich dann erneut und mit aller Deutlichkeit ernste Mängel in der Beherrschung fremder Sprachen Ja, selbst dann, wenn eine sprachliche Fertigkeit gegeben war, erwies sich diese ohne eine gleichzeitige Kenntnis auch der ganzen Kultur des fremden Landes als völlig unzureichend. Auf Veranlassung und unter Aufsicht der Streitkräfte wurden nun Sprachstudien betrieben, die sich an bestimmte geographische Räume hielten. Dabei wurden neue und gründlichere Methoden der Sprachwissenschaft angewandt. Die meisten dieser Neuerungen verschwanden aber sehr bald wieder aus dem Lehrbetrieb der Universitäten. Heute ist die Lage auf dem Gebiet der Sprachen so ernst geworden, daß von den vielen Tausend Absolventen der Prüfungen für den Auswärtigen Dienst der USA nur ein sehr kleiner Prozentsatz die nicht allzu schweren Sprachprüfungen zu bestehen vermag. Die Mehrheit der Absolventen muß daher nach ihrer Ernennung noch sehr umfangreiche Sprachstudien betreiben.

Der Kalte Krieg führte zu einer starken Abkehr von der Praxis, die weltpolitische Geschehnisse nach rechtlichen und moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Im Unterricht auf den amerikanischen Hochschulen ging die Tendenz nunmehr in Richtung auf eine Betonung der geographischen und der Machtfaktoren. Aus diesem Grunde beschäftigte man sich in dem Fach „Internationale Beziehungen" stark mit Geopolitik und übernahm hier ziemlich unkritisch die Lehren von Mackinder und seinen Schülern. Die „Realisten“, die den Machtfaktor zum einzig realen Maßstab erhoben, fügten dem Verständnis der internationalen Politik genau so viel Schaden zu, wie die Anhänger einer sentimental-romantischen Betrachtungsweise das in früheren Zeiten getan hatten.

In diesem ganzen Zeitabschnitt nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auf den amerikanischen Hochschulen Vorlesungen und Seminare in Gegenwartsfragen mit oft sehr anspruchsvollen Bezeichnungen wie etwa „Weltpolitik" etc. Hier schweifte man meistens weit ab von den wirklich wichtigen Dingen und neigte auch zu einer gewissen Oberflächlichkeit. In Vorlesungsreihen über den Ersten Weltkrieg, zum Beispiel, machte man Stoddard’s und Frank’s „Stakes of the war“ zur Pflichtlektüre für die meisten Universitätsstudenten. Dieses Werk ist aber doch im Grunde sehr magere Kost und dazu noch alles andere als wissenschaftlich In all dem kam eben die Tendenz zum Ausdruck, das Fach „Internationale Beziehungen“ „zweckbedingt", d. h. ideologisiert zu lehren. Diese Tendenz ist seither niemals völlig aufgegeben worden

Unsere kurzen Betrachtungen übet die Art und Weise, in der sich das neue Lehrfach in das Hochschulstudium sozusagen hineingezwängt hat, deutet auf zwei Dinge hin: Zum ersten-Zu den verschiedenen Zeiten, in denen man den Begriff der „nationalen Interessen" schlecht auslegte, wurden im amerikanischen Erziehungswesen auch jeweils neue Akzente gesetzt Zum zweiten: die ganze Entwicklung der Universitätskurse hat gezeigt, wie außerordentlich komplex der Charakter der internationalen Beziehungen ist. Beinahe jede wissenschaftliche Disziplin im gesamten Bereich des akademischen Lehrplanes trägt in irgend einer Form zu dem Verständnis der Internationalen Beziehungen bei. Im Augenblick tendiert man zu der Auffassung, daß erstmalig die Naturwissenschaften auch für den Bereich der internationalen Beziehungen von großer Bedeutung sind. Das stimmt aber gar nicht; schließlich war ja die Erfindung des Schießpulvers früher kaum weniger bahnbrechend in ihren Auswirkungen, als es der Anbruch des Atomzeitalters in unseren Tagen ist. Auch damals kam es zwangsläufig zu einem Umdenken auf dem Gebiet der militärischen Taktik und Strategie sowie zu einer grundlegenden Verschiebung des Gleichgewichts der Kräfte (balance of power). Alle diese Faktoren dürfen im Bereich der internationalen Beziehungen nicht -ler acht gelassen werden.

Wir haben unseren Lesern nunmehr hoffentlich klargemacht, daß der Unterricht in dem Fach „Internationale Beziehungen“ eine geistige Bewältigung sehr vieler Disziplinen und Wert-systeme erforderlich macht. Wenn der Studierende das Fach wirklich „verstehen“ bzw beherrschen will, so muß er ein tüchtiger Amateur in vielen, völlig verschiedenartigen Wissensgebieten sein Der Sache dürfte mehr Schaden als Nutzen erwachsen, wenn der Studierende etwa den Versuch unternehmen sollte, die Dinge zu versimplifizieren, sich auf eins der Wissensgebiete alleine zu konzentrieren oder sich den Wissenstoff vorkauen zu lassen und dann in eine fertige Synthese hineinzupressen, die ihm selber keinerlei ernsthaften oder gar mühevollen Anstrengungen abverlangt.

Folgerungen

Welche Folgerungen lassen sich aus unseren Betrachtungen ziehen?

Zum ersten: das ganze Erziehungssystem, das ja immer nur eine Angelegenheit auf lange Sicht hin sein kann, wird — falls man sich in erster Linie nach den jeweiligen Gegebenheiten richtet, bereits überholt sein, bevor die Studenten, die diesem Erziehungssystem unterworfen werden, die Hochschulen verlassen haben.

Zum zweiten: es gibt Ziele und Werte in der Erziehung, die nicht nur von größerer Bedeutung, sondern auch von längerer Gültigkeit sind als lediglich das Prinzip des Wettbewerbes mit dem Kommunismus. Wenn wir die Forderung erheben, daß „wir die diplomatische Initiative wieder an uns reißen müssen“, dabei aber gleichzeitig die Initiative auf dem Sektor der Erziehung völlig den Sowjets überlassen und verballhornte Vergleiche zum Prüfstein des pädagogischen Erfolges oder Versagens machen, dann ist das im Grunde absurd.

Zum dritten: Wir dürfen den Sinn der Erziehung nicht länger darin sehen, die Studierenden bis zu ihrem 21. Lebensjahr mit so viel Wissen einzudecken, daß der Vorrat bis ans Ende ihres Lebens ausreicht. Auf solche Erwartungen stoßen wir immer wieder; sie sind aber völlig unrealistisch. Daraus erklärt sich auch die Tendenz, in der Anzahl der angebotenen Studienkurse einen Prüfstein für die Qualität des wissenschaftlichen Lehrbetriebes zu sehen. Dieses falsche Vertrauen in bloße Quantität erklärt schließlich auch die immer wiederkehrende Forderung des amerikanischen Kongresses nach einem „West Point" für Diplomaten. Welch ein Irrtum aber zu meinen, die Armee verlasse sich in ihren Offiziersnachwuchssorgen vor allem auf das, was die Kadetten einst in ihrer Ausbildung gelernt haben. Viel wichtiger ist doch für die Armee, daß die Offiziere durch praktische Erfahrungen und durch die vielen Militärakademien, zu denen sie nach Beendigung ihrer LIniversitätsstudien geschickt werden, weiter an Qualität heranreifen. Man sollte den entscheidenden Wert daher nicht so sehr auf das legen, was der Student gelernt hat und was er mit 21 Jahren weiß, als vielmehr auf seine Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen, über den von ihm bewältigten Wissens-stoff nachzudenken und ihn geistig nutzbringend zu verarbeiten. Vor allem aber sollten wir den Eifer zum Weiterlernen durch selbständige Studien und selbständiges Nachdenken anregen.

Mit einer ideologischen Schulung läßt sich nichts Nützliches erreichen. Im Gegenteil: dadurch wird doch nur eine Einengung des geistigen Horizontes bewirkt. In unserer heutigen, so überaus wandelbaren Welt müssen wir an die Probleme vor allem mit einer geistigen Beweglichkeit und Durchschlagskraft herangehen

Viertens: was die Studienpläne der Hochschulen betrifft, so gilt der Satz: je besser die Studierenden mit den grundlegenden klassischen Disziplinen und den sozialwissenschaftlichen Fächern vertraut sind, um so eher dürften sie zu einem richtigen Verständnis internationaler Probleme kommen. Die meisten Hochschulen sollten nicht eine eigene Fakultät für den Bereich der Internationalen Beziehungen einrichten, sondern sich vielmehr auf eine konzentrierte Zusammenarbeit zwischen den einzelnen, bereits bestehenden Fakultäten verlassen.

Fünftens: Für diejenigen, die eine Auslands-karriere einschlagen, oder aber sich in der Forschung oder Praxis den Fragen der internatio-nalen Beziehungen widmen wollen, ist nach Abschluß des eigentlichen Universitätsstudiums eine weitere Ausbildung unerläßlich. Bei der ungeheueren Vielschichtigkeit unseres heutigen Lebens kann sich niemand auf allen Gebieten spezialisieren. Die amerikanischen Hochschulen haben daher gut daran getan, die vielen Spezialgebiete des Studiums unter sich aufzuteilen. Sie sind dabei zwar nicht immer mit einem Sinn für die Ratio, auf jeden Fall aber mit einem Gefühl für das Praktische an die Arbeit gegangen. Wir haben in Amerika zum Beispiel mehrere hochangesehene Institute zum Studium Rußlands, das heißt seiner Sprache, Zivilisation, Tradition, Wirtschaft, Geschichte, Strategie und Diplomatie. Es gibt des weiteren vier bis fünf Institute, die sich mit dem Fernen Osten, vor-vornehmlich mit China, befassen. Andere wiederum konzentrieren sich auf den Nahen Osten, auf Südostasien oder Afrika Der indische Subkontinent ist bereits zu einem Spezialgebiet für sich geworden. Es gibt auch eine ganze Reihe von guten Studienkursen über Südamerika und Osteuropa. Schließlich werden den Studierenden nach Abschluß ihrer eigentlichen Universitätsstudien eine große Fülle von Spezialkursen auf dem Gebiet der Jurisprudenz, der Diplomatie und der Weltwirtschaft geboten. Kurzum: heute haben die Studierenden nach Ablauf ihres eigentlichen Studiums unerhört vielseitige Möglichkeiten, sich ein hochspezialisiertes Fachwissen anzueignen.

Schließlich dürfen wir nicht vergessen, daß in den Vereinigten Staaten die außerhalb des eigentlichen Lehrplanes liegenden Interessen der Studierenden häufig von allergrößtem pädagogischem Wert sind. Seit vielen Jahren gibt es in Amerika Clubs zur Pflege der internationalen Beziehungen, Foren verschiedenster Art und eine Fülle anderer Betätigungsfelder auf freiwilliger Basis, die alle das Interesse der Akademiker weiter angeregt und in ihnen den Wunsch wachgerufen haben, sich ein Wissen über internationale Probleme zu eigen zu machen. Nicht außer Betracht gelassen werden sollten in diesem Zusammenhang auch die informellen Kontakte der amerikanischen Studenten mit ausländischen Kommilitonen, die auf unseren Hochschulen studieren. Viele Betrachter sehen gerade in solchen Kontakten einen entscheidenden Beitrag zur Weckung des studentischen Interesses an internationalen Fragen. Alle diese, auf freiwilliger Basis beruhenden Einflußmöglichkeiten außerhalb des eigentlichen Lehrplanes sind deshalb besonders wertvoll, weil sie die Grundlage dafür legen, daß die jungen Amerikaner auch nach Beendigung ihres Studiums weiter an den Problemen der internationalen Beziehungen interessiert bleiben und im späteren Berufsleben an den unzähligen Vorhaben und Veranstaltungen teilhaben, die für das amerikanische Leben insgesamt so überaus charakteristisch sind.

Für das amerikanische Erziehungswesen sind gleichermaßen die Kommunalbehörden, die Bundesstaaten und private Organisationen aller Art zuständig. Aus diesem Grunde wird jedes neue pädagogische Problem mit einer Vielschichtigkeit angegangen, die nur langjährige Kenner amerikanischer Verhältnisse nicht in Verwirrung versetzt. Wem ein „Ordnungsprinzip“ über alles geht, oder wer das Erziehungswesen anderer Staaten bewundert, für den ist eine solche Vielschichtigkeit höchstwahrscheinlich nichts anderes als ein „Chaos". Andere jedoch sehen darin eine Fülle potentieller Möglichkeiten. Bei der Komplexität der amerikanischen Verhältnisse läßt sich keine „Lenkung" einführen, es sei denn durch die auf mancherlei Weise und in den verschiedensten Orten wirksam werdende öffentliche Meinung. Auch lassen sich keine verallgemeinernden Festste’lungen treffen, für die es keine Ausnahme gäbe Und dennoch: wenn wir das relativ „jugendliche" Alter der Vereinigten Staaten als Großmacht berücksichtigen, sowie die Probleme, mit denen unsere Hochschulen bei der Einbeziehung nicht nur des Faches „Internationale Beziegen", sondern auch einer ganzen Fülle anderer, neuer Gebiete in ihre Lehrpläne fertig werden mußten, dann werden wir abschließend sagen können, daß das amerikanische Erziehungssystem gute Früchte getragen hat.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Henry M. Wriston, ehern. Präsident der Brown Universität, Vorsitzender des Bundespersonalausschusses 1954 bis 1956, Geschäftsführender Direktor der American Assembly in der Columbia Universität. Autor von „Strategy of peace", „Diplomacy in a Democracy" u. a.