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Die Hitlerjugend-Generation Politische Folgen der Staatsjugenderziehung im Dritten Reich | APuZ 8/1960 | bpb.de

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APuZ 8/1960 Die Hitlerjugend-Generation Politische Folgen der Staatsjugenderziehung im Dritten Reich Politische Entwicklung in der Sowjetunion nach Stalins Tod Zehn Thesen

Die Hitlerjugend-Generation Politische Folgen der Staatsjugenderziehung im Dritten Reich

ARNO KLÖNNE

Ausführlich hat der Autor das Thema des nachfolgenden Artikels in seinem Buche „Hitlerjugend" dargestellt.

Die kritische Analyse des dunkelsten Kapitels in der deutschen Geschichte, nämlich der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, hat in den letzten Jahren in der politischen Wissenschaft und auch in der politischen Bildungsarbeit in der Bundesrepublik eine notwendige und positive Breite eingenommen. Daß es bei dieser geschichtlichen Klärung nicht nur um die Betrachtung der höchsten Spitzen des Nationalsozialismus gehen kann, sondern gerade auch das System der Massenorganisationen des Dritten Reiches und ihre organisatorische, sozialpsychologische und ideologische Struktur untersucht werden muß, wird allgemein anerkannt. Von hier aus ergibt sich die Frage nach der Wirksamkeit der „Hitlerjugend“, der Staatsjugendorganisation des Dritten Reiches.

Nach 193 3 war die möglichst restlose organisatorische und ideologische Erfassung der Jugend eines der wichtigsten Mittel, die Herrschaft des Nationalsozialismus zu festigen. So wurde also gleich nach der Machtergreifung der Totalitätsanspruch der Hitlerjungend proklamiert; ein führender HJ-Theoretiker schrieb damals: „Die HJ will sowohl die Gesamtheit der Jugend wie auch den gesamten Lebensbereich des jungen Deutschen erfassen“. Der Totalitätsanspruch der Hitlerjugend führte zur Ausschaltung aller konkurrierenden Jugendverbände und -bünde, zur Einordnung möglichst aller Erziehungsfunktionen, Betätigungsmöglichkeiten und einflußnehmenden Institutionen im Raume der Jugend in das HJ-System, schließlich zur ausnahmslosen Erfassung aller 10 bis 18 jährigen Jungen und Mädchen in der HJ. Dieses Programm lief in einigen Phasen ab: das „Gesetz über die Hitlerjugend" vom Dezember 1936 schloß mit der positiv-rechtlichen Verankerung des Monopols der HJ in der Jugendarbeit die vorletzte, die Verkündung der „Jugenddienstpflicht" im März 1939 die letzte Phase der Entwicklung ab, von nun ab war der sozusagen „idealtypische“ Zustand der HJ-Erzieh-ung erreicht. Jugenddienstpflicht in der HJ stand von 1939 an rechtlich weithin auch früher schon faktisch in Parallele zu den Dienstpflichten in Arbeitsdienst und Wehrmacht.

Für die Ausbildung eines politischen Bewußtseins war die HJ-Dienstpflicht noch weit wichtiger als Wehrmachts-und Arbeitdienstpflicht, da sie die bildsamsten Jahren in der Entwicklung des einzelnen besetzte.

Aufgabe und Struktur der HJ

Als Jugendverband war die HJ ein recht starres Gebilde, das keinen Raum für neue Entwicklungen, für Spontanität und freiwillige Gruppen-bildung ließ; Führer in der HJ waren allein von der Organisationshierarchie abhängig und ihr allein verantwortlich. Die Stellung der HJ gegenüber der verschränkten Partei-und Staatsführung nahm sich zwar auf unterer und mittlerer Ebene relativ selbständig aus, tatsächlich aber war die von hauptamtlichen Kadres gestellte Führung der HJ wiederum völlig von der Führung des Regimes abhängig und stellte lediglich eine Art erzieherischer Exekutive derselben dar. Diese Realitäten wurden indessen verhüllt durch eine Eigenschaft der HJ-Struktur, die vielen jungen Menschen Eindruck machte und die auch von der Staatsjugendführung bewußt immer wieder betont wurde: daß in der HJ zum ersten Mal in der Geschichte der Jugendverbände eindeutig „Jugend von Jugend geführt" wurde. Im Dritten Reich verfügten Jugendliche über Machtpositionen, wie das zuvor nie möglich gewesen war (das Durchschnittsalter selbst der Bannführer in der HJ — die also die Jugend mehrerer Städte bzw. Kreise zu führen hatten — lag unter fünfundzwanzig Jahren. . .); daß diese Machtausübung im Grunde inhalt-loswar, da sie nicht der Person, sondern dem Funktionsträger der Organisation zustand, da eigene Meinungsbildung, inhaltlicher Einfluß — selbst innerhalb des Rahmens der NS-Weltanschauung — nicht geduldet waren, wurde verständlicherweise geradezu von jungen Menschen vielfach nicht durchschaut. Die Staatsjugend des Dritten Reiches hatte ein nahezu lückenloses und unabänderliches System von Zwängen und Chancen ausgebildet, das ebensosehr auf seinem Dienstcharakter (und all den dahinterstehenden Druckmitteln) basierte wie andererseits auf der geschickten Inanspruchnahme jugendtypischer Motive wie Geltungsdrang, Wetteifer, Betätigungsdrang. Die Hitlerjugend stellte einen Erziehungsraum dar, dem man sich nicht freiwillig und mit der Absicht und Möglichkeit der Selbstgestaltung, sondern nur durch eine Art bedingungsloser Identifikation zuordnen konnte.

Obwohl die NS-Jugenderziehung und die Arbeit der HJ so „total“ war wie vorher oder nachher keine andere Jugendorganisation oder Staatsjugend 1), so gab es doch weitreichende Absonderungen oder Ge-genströmungen unter der Jugend Katholische Jugendarbeit konnte noch bis 1937/38 — wenn auch immer wieder terrorisiert — getan werden. Im „Deutschen Jungvolk" (der Organisation der HJ für die 10 bis 14 jährigen Jungen) gab es bis 1936/37, gelegentlich auch noch darüber hinausreichend, eine breite Strömung, die frühere hündische Jugend fortsetzte; erst in den späteren Jahren des Dritten Reiches gelang der Reichsjugendführung allmählich die Ausschaltung dieser Be-sonderheit. Und schließlich gab es von Beginn des Dritten Reiches an bis 1945, mit wechselnden Phasen und Schwerpunkten, unmittelbar oppositionelle Gruppierungen in der Jugend. Wenn also von einer „HJGeneration" gesprochen wird, so sind diese Ausnahmen dabei zu beachten; die Charakterisierungen der „HJ-Generation" treffen immer nur einen — wenn auch den überwiegenden — Teil der betroffenen Jahrgänge.

Die Verfälschung des Generationsproblems

Bei einer Durchforschung des Schrifttums und der Organisationsstruktur und Tätigkeit der HJ stellt man fest, daß zwei Fragestellungen zentrale Bedeutung hatten und die Art ihrer Beantwortung wichtigste Züge der HJ-Erziehung bezeichnet: die Frage „HJ und Jugendbewegung“ und die Frage „HJ und Sozialismus“, wobei die Frage nach der „Jugendbewegung" zugleich die nach dem Generationsproblem ist.

Der Nationalsozialismus hat sich, unter Anknüpfung an Begriffe und Formen der Jugendbewegung, in den Jahren vor kurz nach 19 3 und wie keine andere gleichzeitige politische Bewegung den Charakter der „Jugendlichkeit" zugesprochen und hat in seinem Agitationsstil größten Wert auf alles gelegt, was diesen Anspruch auf „Jugendlichkeit“ zu stützen und junge Leute anzusprechen geeignet schien, — übrigens haben auch verschiedene Autoren nach 1945 den NS als wesentlich 3) von einem Generationengegensatz getragen zu interpretieren versucht.

Die politische Soziologie weiß, daß die entwicklungspsychologisch bedingte Labilität des Jugendlichen unter Umständen zur Bereitschaft führt, mit historisch-gesellschaftlich dynamischen Kräften zu koaliieren und so generationstypische Verhaltensweisen auszubilden; von hier aus wird es verständlich, daß oft Jugend als Generation die Hoffnung auf gesellschaftliche Erneuerung darstellte und andererseits die Jugend als Generation ihren Protest gegen bestimmte gesellschaftliche Tatbestände mit dem Protest gegen „die alte Generation“ identifizierte. Es leuchtet ein, daß eine solche „Aufwertung“ der jungen Generation zu einer gesellschaftlichen Regenerationsmöglichkeit in der Regel eine akute gesellschaftliche Problemsituation zur Voraussetzung hat Diese Verschränkung zwischen dem Generationsproblem und der gesellschaftlichen Problematik wird am Beispiel der deutschen Jugendbewegung besonders deutlich. Infolge der Bedeutung, die die Jugendbünde gewonnen hatten, war jede „dynamische“ (oder scheinbar dynamische) gesellschaftspolitische Bewegung um 1930 gezwungen, der jungen Generation eine besondere Funktion (oder Schein-Funktion) beizumessen. Dies erklärt die Erfolge, die der Nationalsozialismus mit seiner Berücksichtigung jugendspezifischer Motivationen hatte. NS und HJ machten sich um 1933 die bestehenden Generationsspannungen und das Generationsbewußtsein der „Jungen“ — dem eine oft unklare Ablehnung des Weimarer Systems als Wirkungsfeld der „Alten" innewohnte — zunutze. Der außerordentlich rasche Aufbau der HJ nach der Machtergreifung wäre ohne den Appell an dieses Generationsbewußtsein nicht möglich gewesen. Schon in den Jahren vor 193 3 war quer durch alle Jugendverbände dem Ruf nach der „Einheit der jungen Generation“ zugestimmt worden, und so strömten nach 1933 viele junge Menschen und Gruppen, die politisch nicht genug gebildet waren, in die HJ, nicht weil sie Nationalsozialisten waren, sondern weil hier die Einheit der Jugend angelegt wurde. Daß die NS-Führung nach der Befestigung ihrer Macht ein Generationsbewußtsein als gesellschaftlich dynamisches Element nicht mehr dulden konnte, versteht sich; und so wurde denn auch von 1934 an in den HJ-Publikationen gegen „jugendliches Opponieren“ Front bezogen, die Jugendbewegung als Generationsbewegung für tot erklärt und die Einheit der Generation im Dritten Reich betont

Freilich wäre diese Unterdrückung weit weniger erfolgreich gewesen, wenn der NS nicht noch auf andere Weise das einst benutzte Generationsbewußtsein auszutilgen verstanden hätte: nämlich durch die Um-fälschung des von der Freideutschen Jugend 1913 formulierten Anspruchs der jungen Generation auf einen Raum „eigener Gestaltung und Verantwortung und innerer Wahrhaftigkeit (ein Anspruch, der den Ansatz zur Kritik und zur Erneuerung der jeweils vorhandenen Gesellschaft ja offenbar enthielt) in das Prinzip, daß „Jugend von Jugend geführt“ werden müsse. Wie leer dieses Prinzip war, wie sehr es nur der Abhängigkeit der Jugend von den Vorschriften des Regimes diente, haben wir bereits gezeigt. Die Folge war, daß Generationsbewußtsein und Generationenspannungen sich im Dritten Reich zunehmend auflösten und sich auch nach 1945 als vorerst kaum mehr aktivierbar erwiesen. Wer nicht Wirkung mit Ursache verwechselt (und meint), daß Generationenspannungen den NS heraufgeführt hätten, — während diese doch nur Folge eben jener ungelösten gesellschaftlichen Probleme waren, auf die der NS die falsche Antwort gab), der wird diese Tatsache der „Generationenangleichung" nach 1945 nicht so ohne weiteres für gut halten. Für eine Gesellschaft, die sich immer neuen Fragestellungen gegenübersieht, kann Generationsbewußtsein als Antrieb gesellschaftlicher Regeneration durchaus „gesund" sein. Heute klagen Erwachsenenverbände und Parteien schon zu Recht, daß ihnen ihre jeweiligen „jungen Generationen" nur funktionalen, nicht aber regenerativen Nachwuchs bringen, wobei der Begriff der „jungen Generation“ sich weit nach oben verschoben hat und meist jene Altersschicht meint, die in der HJ groß wurde.

Die „Lösung" der sozialen Fragen

Dieselbe Methode, eine Problematik, die zunächst nicht unbeachtet bleiben konnte, bewußtseinsmäßig zu kaschieren durch Lösungen, die das Problem scheinbar radikal lösten, es real jedoch völlig unbeantwortet ließen, wandten NS-und HJ-Führung auch gegenüber der Frage nach der „sozialen Umwandlung an. Die Bedeutung der sozialen Demagogie für die Machtergreifung des NS steht außer Zweifel; die Inanspruchnahme sozialrevolutionärer Motive und die Verwendung sozialrevolutionären Pathos haben in der HJ (die ursprünglich „Bund deutscher Arbeiterjugend“ hieß und diesem Titel in ihrem Habitus eher entsprochen hatte als die NSDAP dem Begriff „Arbeiterpartei“) eine noch weit bedeutsamere Rolle gespielt als irgendwo sonst innerhalb der NS-Verbände. Schirach bedachte in seinem programmatischen Buch „Die Hitlerjugend“ das Thema „Jugend und Sozialismus“ mit einem eigenen Kapitel. Darin wurde die „Lösung“ des sozialen Problems, wie die HJ-Führung sie sah und dann auch praktizierte, folgenderweise beschrieben: „Eine einzige Fahne flattert der HJ voran. Der Millionärssohn und der Arbeitersohn tragen ein und dieselbe Uniform. Denn Jugend ist in diesem Sinne vorurteilsfrei und einer eckten Gemeinschaft fähig, ja, Jugend ist Sozialismus.“

Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Tätigkeit der FIJ zu einem Abbau sozialpsychologischer, in der sozialen Herkunft begründeter Schranken innerhalb der Jugend beitrug und in der HJ-Zeit eine bis dahin nicht gegebene sozialpsychologische Nivellierung innerhalb der Jugend erreicht wurde (die freilich in bestimmten Sondereinheiten der HJ gelegentlich durchbrochen wurde). Diese sozialpsychologische Nivellierung ging jedoch keineswegs mit einer Auseinandersetzung der HJ mit sozialen Problemen überein, sondern war im Gegenteil — zumal nach der Ausschaltung der aus der „Kampfzeit" übernommenen Sozialrevolutionären Typen aus der HJ-Führerschaft um 1934/35 — dazu bestimmt, echte sozialkritische Ansätze zu verhüten. Eine Generation, die dieser Erziehung entstammt, kommt leicht in Gefahr, soziale Probleme eher als Fragen eines in der Demokratie kaum faßbaren „Sozial-Prestiges“ und sozialpsychologischen Gefälles, denn als Fragen einer möglichst zweckmäßigen und zugleich die Selbstbestimmung eines jeden Bürgers bestärkenden wirtschaftlichen und politischen Organisation anZusehen. Von hierher wird es erklärlich, wenn Facharbeiter aus der Generation der Fünfunddreißigjährigen, deren wirtschaftlicher Status heute in der Bundesrepublik besser ist als 1939, bei Befragungen erklären, im Dritten Reich sei es dem Arbeiter besser gegangen, — er sei „mehr geachtet“ worden . . . Von hierher wird weiterhin erklärlich, warum die Beteiligten der mittleren Generation an gewerkschaftlichen Forderungen nach wirtschaftsdemokratischer „Mitbestimmung" so relativ gering ist; der psychologische Trick des nationalsozialistischen 1. Mai, wo Unternehmer und Betriebsarbeiter in gleicher Uniform hinter der gleichen Fahne marschierten, hat offenbar vielfach noch die Oberhand über Bemühungen um reale Verantwortung im Wirtschaftsprozeß.

In beiden Fragen — der des „Jugendbewußtseins“ und der des „Sozialismus“ — zeigt sich ein Strukturprinzip der Jugenderziehung im Dritten Reich, das auch an anderen Problemen angewandt wurde: das der „Manipulierung", d. h.der Methode, vorwiegende Motive, Interessen und Einstellungen systematisch zur Befestigung anderer, gelegent-lieh geradezu entgegengesetzter Zwecke einzubauen und nutzbar zu machen oder aber durch vordergründige Inanspruchnahme und allzu rasche Befriedigung von einer folgerichtigen Weiterentwicklung abzulenken. Mit dieser Methode hat das Dritte Reich breiten Erfolg ge-gehabt, — nicht so sehr durch die direkt vertretenen Erziehungsziele und politischen Programme, sondern vielmehr durch die Herausbildung bestimmter typischer Verhaltensmuster. Was hier gemeint ist, wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir nach dem Inhalt der von der HJ geleisteten politischen Erziehung fragen.

Das Boxerethos

Wer Gelegenheit hat, einmal die Schulungshefte und Heimabendmappen der Hitlerjugend nach Materialien politischer Erziehung und Unterrichtung durchzusehen, wird verwundert feststellen, wie wenig eigentlich Politisches hier Platz hatte. Bei der „weltanschaulichen Schulung" in der HJ handelte es sich um die Entgegennahme, Wiederholung und „Anwendung" einiger weniger, immerwiederkehrender und primitiver Thesen. Es gab in der HJ — im Durchschnitt — weder Diskussion noch Lehre, noch aktive Beschäftigung auch nur mit dem NS-„Gedanken-gut“. Die politische Auseinandersetzung (wenn auch im Rahmen nationalsozialistischer Anschauungen!) mußte der Form der Mythen-Ver-mittlung weichen. Das zeigt sich etwa im Beispiel der HJ-Publikationen; die zentrale Wochenzeitung der HJ, die zumindest in der Form noch an politische Auseinandersetzung erinnerte, wurde 193 8 in eine Monatszeitschrift umgewandelt, die ganz offenbar auch diese Form ausschaltete und stattdessen weltanschauliche Thesen im Geschichtenstil brachte. Die Tatsache, daß Einheitsführer in der HJ durchweg nur wenig älter als die Geführten waren, daß in eine Monatszeitschrift umgewandelt, die ganz offenbar auch diese Form ausschaltete und stattdessen weltanschauliche Thesen im Geschichtenstil brachte. Die Tatsache, daß Einheitsführer in der HJ durchweg nur wenig älter als die Geführten waren, daß ferner weltanschauliche Schulung immer mehr mit anderen Tätigkeiten und Proben, etwa sportlicher oder beruflicher Art, verquickt wurde und sich dabei auf höchst einfache, gleichförmige und Nachdenklichkeit nicht erfordernde „Fragen“ mit vorgegebenen „Mindestantworten“ beschränkte, bestätigt uns in unserer Auffassung.

In den späteren Jahren des Dritten Reiches bemühte sich die Reichs-jugendführung, die weltanschauliche Schulung noch mehr von der politisch-geschichtlichen auf eine dogmatisch-scheinreligiöse Ebene zu verlagern; bezeichnend hierfür war die Einführung des „HJ-Katechismus“ und die immer stärkere Beanspruchung von „Mythen“ des NS und der HJ („Horst Wessel", „Herbert Norkus“ etc.). In unmittelbarem Zusammenhang hiermit steht der Zweck der NS-Rassenlehre, die sehr viel mehr Raum einnahm als eigentlich politische Schulung. In der Dissertation eines HJ-Führers über die Aufgaben der NS-Jugendarbeit hieß es damals: „Die Rassenlehre ist Ausgangspunkt des nationalsozialistischen Erziehungsprogramms, aus ihren Erkenntnissen sind die Folgerungen für die NS-Jugenderziehung zu entnehmen. Entsprechend deut Willen des Führers ist körperliche Ertüchtigung erste und höchste Pflicht der jungen Generation. Das Messen der Kräfte bedingt den Kampf, der allein zu einer rassischen Auslese der Besten führt. Selbstvertrauen durch Kampf und Sieg muß schon von Kindheit an deut jungen Volksgenossen anerzogen werden. Seine gesamte Erziehung muß darauf angelegt sein, ihm die Überzeugung zu geben, anderen über'legen zu sein. Der junge Mensch muß sidt frühzeitig daran gewöhnen, die Überlegenheit des Stärkeren anzuerkennen und sich ihm unterzuordnen . . ." 6). Ähnliche Gedankengänge finden sich bei allen prominenten NS-Führern bzw. NS-Pädagogen. Dieses „Boxerethos“ (wie Ernst Wiechert es einst genannt hat und dafür ins Konzentrationslager mußte) als politisches Prinzip war dazu angetan, jegliches intellektuelle Interesse an gesellschaftlich-historischen Fragen überhaupt abzubauen und jede mehr als technische Rationalität zu liquidieren. 7) Daß dieses „Boxerethos“ idealistisch (ein verschwommener Begriff für eine verschwommene Sadie!) gefärbt war, hat es erst für breite Schichten Gut-meinender anziehend gemacht, und diese eigenartige Verbindung von Anbetung des „Rechts des Stärkeren" und idealistischen Vorstellungen von „Reich“, „Volksgemeinschaft" usw. hat sich nach 1945 vielfach so ausgewirkt, daß Durchsetzungswille und „Kampf" -Verhalten sich auf das Verhalten im Wirtschaftsprozeß übertrugen, — bei gleichzeitiger Kritik am „bloßen Nützlichkeitsdenken“ im Staatlich-Politischen! Genau diese Einstellung, die „dem Staat“ zuviel und dem einzelnen im Wirtschaftsund Gesellschaftsverhalten zuwenig abfordert, ist ein wichtiges Kennzeichen nach-und vorfaschistischen Denkens.

Die Folgen und Nachwirkungen

Man hat nach 1945, wenn es um die Beurteilung der politischen Folgen der Jugenderziehung im Dritten Reich ging, oft Beruhigung in der Feststellung gefunden, daß doch kaum noch Anhängerschaft zum NS in dieser Generation zu bemerken sei. Dieses Urteil trifft den wirklichen Tatbestand nicht; die Auswirkung der HJ-Erziehung lag weniger in der Heranbildung einer größeren Schicht fanatisch-aktiver junger Nationalsozialisten, als vielmehr in der Dressur der Jugendlichen zu den von uns skizzierten Reaktionsweisen, zum Verzicht auf politische und gesellschaftliche Rationalität, in der Verhinderung politischer Erfahrungen und politischer Wertbildung, mit einem Wort: in der nahezu absoluten gesellschaftlich-politischen Neutralisierung der Jugend. 8) Die Nachwirkungen solcher Art Erziehung auf die jüngere Generation nach 1945 sind vielfach nicht klar genug gesehen worden; sie haben nicht nur die unmittelbar betroffene Generation, sondern auch die ihr nachfolgende Jugendgeneration mitgeprägt. Der geringe Anteil der mittleren Generation an der politischen Arbeit ist nicht nur aus der schrecklichen Ausblutung dieser Jahrgänge durch den Krieg zu erklären; auch , vom Erscheinungsbild der „skeptischen“ oder — besser gesagt — der gesellschaftspolitisch abstinenten Generation wird vieles erst aus dieser historischen Perspektive richtig verständlich. Über die Generation, die im Dritten Reich aufwuchs, die 1933 noch nicht alt genug war, um von der Weimarer Zeit mitgeprägt zu werden,

Fussnoten

Fußnoten

  1. Weder die FDJ noch der sowjetische Komsomol können sich an Totalität ihrer Einflußnahme mit der HJ messen.

  2. Hierzu Arno Klönne, „Gegen den Strom — Bericht über die Jugend-opposition im Dritten Reich", Frankfurt 1957.

  3. So etwa Rudolf Schneider-Schelde, „Die Frage der Jugend“, München 1046. •

  4. Vgl. hierzu Karl Mannheim, „Diagnose unserer Zeit", S. 52.

  5. Vgl. Karl O. Paetel, „Das Bild vom Menschen in der deutschen Jugendführung", Bad Godesberg 1954.

  6. Vgl. hierzu u. a. Vera Franke, . Antinazi development among German Youth", New York 1945.

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