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Politische Entwicklung in der Sowjetunion nach Stalins Tod Zehn Thesen | APuZ 8/1960 | bpb.de

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APuZ 8/1960 Die Hitlerjugend-Generation Politische Folgen der Staatsjugenderziehung im Dritten Reich Politische Entwicklung in der Sowjetunion nach Stalins Tod Zehn Thesen

Politische Entwicklung in der Sowjetunion nach Stalins Tod Zehn Thesen

WOLFGANG LEONHARD

1945 aber nicht mehr jung genug war, um die nationalsozialistische Zeit zu vergessen, ist bisher erstaunlich wenig publiziert worden. Audi dies könnte zu der Meinung führen, daß Thema sei unergiebig, weil die Hitlerjugenderziehung keine generationstypischen Verhaltensweisen zur Folge gehabt habe und also „spurlos“ geblieben sei. Diese Annahme — so erwies sich — ist unrichtig: Das System der Hitlerjugend hat sehr wohl breite Folgen hinterlassen, die freilich weit genug im Untergründigen liegen, um sie der üblichen Art der Dauerstellung eines „Generationsschicksals“ ziemlich unzugänglich zu machen.

Publizität in der Romanliteratur (Günter Wagner, „Die Fahne ist mehr als der Tod“, Klaus Stephan, „So wahr mir Gott helfe". Die beiden Bücher weisen verblüffende Parallelen in Story und Begrifflichkeit auf), die jedoch auch wieder nicht von größerer Nachhaltigkeit zu sein scheint. Soweit nach 1945 in wissenschaftlichen Publikationen überhaupt auf das Phänomen Hitlerjugend eingegangen wurde, geschah dies durchweg nur anmerkend oder schlichtweg unzutreffend. Als der Verfasser dieses Beitrages vor einigen Jahren eine erste umfassende Darstellung der HJ versuchte, hat diese Veröffentlichung entgegen den Erfahrungen mit ähnlichen Themen — keine weiteren Arbeiten angeregt. Vgl. Klönne, Hitlerjugend — „Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich"; Hannover und Frankfurt/M. 1955.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Politik und Wirtschaft veröffentlichen wir die Zusammenfassung aus dem eben erschienenen Werk von Wolfgang Leonhard „Kreml ohne Stalin".

Seit Stalins Tod im März 1953 sind erst sechseinhalb Jahre vergangen. Die Zeit ist zu kurz, als daß sich bereits Endgültiges über die Bedeutung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in der Sowjetunion aussagen ließe. Dennoch haben sich in diesen wenigen Jahren Tendenzen gezeigt, die einige Schlußfolgerungen zulassen. 1. Die innenpolitischen 'Veränderungen in der UdSSR seit Stalins Tod sind so einschneidend, daß sie nicht als taktische Manöver abgetan werden können. Andererseits stellen sie — zumindest bisher — noch keine Demokratisierung oder Liberalisierung dar, sondern vielmehr eine Modernisierung des Systems unter der Kontrolle des Parteiapparates.

Nach Stalins Tod sind zwei Tendenzen deutlich geworden: auf der einen Seite das Bestreben, von überlebten Herrschaftsformen und Methoden abzugehen und das System den Erfordernissen einer entwickelten Industriegesellschaft anzupassen; auf der anderen Seite das Bemühen der Führung und des Parteiapparates, die notwendigen Veränderungen im Rahmen des Systems zu halten und die Kontrolle darüber nicht zu verlieren. Das Wirken dieser beiden Faktoren erklärt sowohl das Ausmaß als auch die Grenzen der Veränderungen nach Stalins Tod.

Unter Stalin wurden die Grundlagen einer modernen Industriegesellschaft mit brutalsten Terror-und Zwangsmethoden geschaffen. Für die Weiterentwicklung der Sowjetgesellschaft erwiesen sich aber diese alten Methoden — Polizeiterror, Sklavenarbeit, bürokratisch-zentralistische Reglementierung aller Lebensbereiche — als unrationell und unrentabel, denn die Sowjetunion hatte inzwischen ein industrielles Niveau erreicht, das differenzierte Lenkungsmethoden erfordert und Menschen, die aus eigenem Antrieb und eigenem Interesse an der Bewältigung der komplizierten neuen Probleme arbeiten, die Initiative entwickeln und ihre Fähigkeiten frei entfalten können. Diesen Erfordernissen entsprachen die wichtigsten Reformen der nachstalinschen Führung: die Dezentralisierung der Wirtschaftsleitung, die Gewährung neuer Rechte und Kompetenzen an Betriebsdirektoren und Kolchosvorsitzende, die Vereinfachung des Plansystems in Industrie und Landwirtschaft, die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen, die Vereinfachung des Erfassungssystems für landwirtschaftliche Produkte, die Aktivierung der Gewerkschaften, die Einführung ständiger Produktionsberatungen und andere Maßnahmen zur Schaffung materieller Anreize und ökonomischer Antriebe.

Die Modernisierung des Wirtschaftssystems konnte nur dann erfolgreich sein, wenn die schlimmsten Auswüchse des Terrors beseitigt wurden. Wirtschaftsfunktionäre in Stadt und Land, Arbeiter und Kolchosbauern mußten von der lähmenden Furcht befreit werden, ein gewisses Maß an persönlicher Sicherheit und einige elementare Grundrechte erhalten, die ihnen unter Stalin vorenthalten worden waren. Die Einschränkungen der Befugnisse des Staatssicherheitsdienstes, die Reduzierung der Lager, Rehabilitierungen und Haftentlassungen sowie die Strafrechtsreform waren entscheidende Schritte auf diesem Weg. Diese Maßnahmen, die eine erhebliche Lockerung der Lebensweise zur Folge hatten, enthalten gewisse Elemente einer Liberalisierung, aber sie sind nicht Inhalt, sondern Nebenprodukte der nachstalinschen Reformen.

Die Notwendigkeiten der industriellen Entwicklung und das Wirken neuer gesellschaftlicher Kräfte, vor allem der technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz, drängten auf Beschleunigung und Erweiterung der Reformen. Die Führung und der Parteiapparat dagegen waren bestrebt, die Reformen in Grenzen zu halten, damit ihre Herrschaft nicht in Gefahr geriet. Der häufig zu beobachtende Zickzackkurs war ein Resultat dieses Widerspruches.

Bei den Veränderungen nach Stalins Tod handelt es sich also um wesentliche und wichtige Erscheinungen, aber nicht um eine Liberalisierung oder gar einen Bruch mit dem Stalinismus, sondern um V er ä n -derungen innerhalb des Systems, um seine Moder-nisierung. Es ging und geht der nachstalinschen Führung darum, jene „überflüssigen Widersprüche" zu überwinden, die das Stalinregime seinen Nachfolgern hinterlassen hatte, den „Überbau“ des Regimes der Realität der sowjetischen Industriegesellschaft anzupassen, das System moderner, elastischer und rationeller zu gestalten, ohne die absolute Vorherrschaft und Kontrolle zu verlieren. 2. Seit Stalins Tod haben sich wichtige Machtverschiebungen zwischen den einzelnen „Säulen“ des Systems (Parteiapparat, Staat, Armee, Wirtschaft und Staatssicherheitsdienst) vollzogen, die zu einem Vordringen des Parteiapparats geführt haben.

Initiator und Träger der gesellschaftspolitischen Wandlungen ist die sowjetische Oberschicht. Sie hat ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung und Modernisierung des Systems, aber stark divergierende Vorstellungen von den dabei einzuschlagenden Wegen und den anzuwendenden Methoden. Schon unter Stalin differenzierte sich die Oberschicht in zum Teil rivalisierende Gruppen mit unterschiedlichen sozial-und machtpolitischen Interessen. Die fünf Hauptgruppen waren die Apparate der Partei, des Staates, der Armee, der Wirtschaft und des Staatssicherheitsdienstes. Keine konnte sich jedoch selbständig entfalten, denn Stalin übte über alle eine terroristische persönliche Diktatur aus, er stützte sich dabei bald auf eine, bald auf die andere Gruppe und spielte sie gegeneinander aus. Seine Nachfolger zerschlugen als erstes seine Privatkanzlei, das entscheidende Instrument seiner Diktatur. Damit waren die einzelnen Apparate zunächst freigesetzt, um ihre eigenen Forderungen und Interessen zu verfolgen. Es begann der Kampf um die Vorherrschaft in dem Transformationsprozeß. Zunächst wurde bereits 1953 der alle bedrohende Staatssicherheitsdienst als autonome Kraft weitgehend entmachtet und seine Tätigkeit unter die Kontrolle des Parteiapparats gestellt. Mit der Dezentralisierung und anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen wurden die Machtbereiche des Staats-und Wirtschaftsapparates eingeengt. Der Sturz Marschall Shukows im Spätherbst 1957 und die darauf folgenden Maßnahmen zur Stärkung des Einflusses der Partei in den Streitkräften schwächten auch die Armee als autonome politische Kraft.

Diese Machtverschiebungen haben bisher dazu geführt, daß der Parteiapparat sich zur führenden Kraft über alle Bereiche des öffentlichen Lebens aufschwang, sich die übrigen „Säulen" des Systems unterordnete und Inhalt und Richtung der Entwicklung bestimmte. Der Parteiapparat unter Führung Chruschtschows siegte vor allem deshalb, weil er durch seine weitverzweigte, straffe Organisation, die strenge Disziplin und die ideologische Ausrichtung organisatorisch und politisch allen anderen Apparaten überlegen ist. Er gewährleistet am besten die einheitliche politische Führung, die der von oben gelenkte Transformationsprozeß erfordert. 3. Die personellen Veränderungen in der Führung, oft als „Machtkämpfe im Kreml“ bezeichnet, widerspiegeln die beiden erwähnten Prozesse: Die Modernisierung des Systems und das Vordringen des Parteiapparates.

Nach Stalins Tod sind die obersten Führungsgremien der UdSSR fast völlig ausgewechselt worden. Als Stalin starb, bestand das Partei-Präsidium aus zehn Personen. Sie waren damals die höchsten Führer der UdSSR. Im Laufe von sechs Jahren wurden sieben von ihnen ausgestoßen: Berija wurde im Dezember 1953 erschossen, Molotow, Malenkow und Kaganowitsch wurden im Juni 1957 aller Funktionen beraubt und gelten als Parteifeinde. Saburow und Perwuchin verloren ebenfalls im Juni 1957 ihre Partei-und Staatsfunktionen und wurden auf dem XXL Parteitag als Parteifeinde angeklagt. Bulganin gehört seit September 195 8 dem Parteipräsidium nicht mehr an und gilt seit November 195 8 ebenfalls als Parteifeind. Nur drei Führer blieben: Kliment Woroschilow, er spielt als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets (nominelles Staatsoberhaupt) nur noch eine repräsentative Rolle; Anastas Mikojan, er verstand es stets, alle Klippen zu umschiffen, und hat diese Fähigkeit auch nach Stalins Tod bewiesen; Nikita Chruschtschow, er vereinigt als Erster Sekretär der Partei und Ministerpräsident der UdSSR die höchsten Staats-und Parteifunktionen in seiner Hand und besitzt als Vorsitzender des ZK-Büros für die RSFSR eine zusätzliche Machtposition.

Von den vier Kandidaten des Parteipräsidiums von 1953 sind drei ausgeschieden: Mir Dshafar Bagirow (im April 1956 erschossen), Leonid Melnikow und Pantelejmon Ponomarenko. Übrig blieb Nikolai Schwernik.

Von den fünf Mitgliedern des ZK-Sekretariats von 1953 sind zwei ausgeschieden: Semjon Ignatjew, er wurde zum Parteisekretär von Baschkirien (später der Tatarischen Autonomen Republik) degradiert Nikolai Schatalin, er wurde im Frühjahr 1955 degradiert; die drei anderen haben ihre Funktionen bewahren, ja ausbauen können: Nikita Chruschtschow, Michail Suslow und Pjotr Pospelow.

Von den zehn Mitgliedern des Parteipräsidiums blieben also bisher drei übrig, von vier Präsidiumskandidaten einer, von fünf Mitgliedern des ZK-Sekretariats drei.

Zur gleichen Zeit trat eine Reihe neuer Spitzenführer in Erscheinung: Awerki Aristow, Leonid Breshnew, Alexej Kiritschenko, Nikolai Ignatow, Frol Koslow, Jekaterina Furzewa, Nuritdin Muchitdinow.

In der Stalin-Ära hatten sie nur unbedeutende Funktionen und waren außerhalb ihres territorial begrenzten Wirkungskreises fast völlig unbekannt. In den vierziger und Anfang der fünfziger Jahre sammelten sie praktische Erfahrungen als Parteisekretäre in der Provinz: Frol Koslow in Kuibyschew und Leningrad; Alexej Kiritschenko in Odessa und als zweiter Parteisekretär der Ukraine; Nikolai Ignatow in Kuibyschew, Orel, Krasnodar, Leningrad, Woronesh und Gorki; Nuritdin Muchitdinow in Taschkent und als Vorsitzender des Ministerrats der usbekischen Republik; Awerki Aristow in Tscheljabinsk und im fernöstlichen Chabarowsk; Nikolai Beljajew als langjähriger Parteisekretär des Altai-Gebietes; Leonid Breshnew in der ukrainischen Industriestadt Dnjepopetrowsk und anschließend als Parteiführer der Moldauer Uni-onsrepublik; Jekaterina Furzewa in Moskau.

Aber nicht nur die langjährigen Mitarbeiter Stalins (Malenkow, Molotow und Kaganowitsch) verloren ihre Positionen, auch führende Repräsentanten der Staatspolizei (Berija, Rjumin, Abakumow, Bagirow), der Wirtschaft (Perwuchin und Saburow), des Staatsapparats (Bulganin) und der Armee (Marschall Shukow) wurden ausgebootet. Sie alle wurden entweder durch Parteifunktionäre aus dem Parteiapparat ersetzt oder durch Repräsentanten der jeweiligen Apparate, die bereit waren, sich dem Parteiapparat unterzuordnen. Der Ausbau und die Intensivierung des Systems der vierjährigen Parteischulen und der auf dem XXL Parteitag angekündigte Generationswechsel in der Führungsschicht zeigen, daß die Wachablösung in den Führungskadern fortgesetzt werden soll. 4. Im Laufe der nachstalinschen Entwicklung ist es N. S. Chruschtschow gelungen, die führenden Partei-und Staatsfunktionen in seiner Hand zu konzentrieren. Der Aufstieg Chruschtschows von . 1953 bis 1959 ähnelt in vielem dem Aufstieg Stalins von 1923 bis 1929. Dennoch wäre es verfehlt, in Chruschtschow einen neuen Stalin zu sehen. . Der Sieg des Parteiapparates wurde zu einem persönlichen Erfolg N. S. Chruschtschows. In verhältnismäßig kurzer Zeit gelang es ihm, die gleiche institutioneile Macht zu erlangen wie Stalin.

Wie Stalin ist auch Chruschtschow aus dem Parteiapparat hervorgegangen. Er wurde durch ihn geformt und hat mit seiner Hilfe die höchste Spitze'der Führung erklommen. Das Tor zur Macht war für beide das ZK-Sekretariat. Von dort aus festigten sie ihre Position in den Provinzen, indem sie die wichtigsten Funktionen mit ergebenen Anhängern besetzten. Die fähigsten zogen sie dann in das ZK-Sekretariat, bauten dieses zu einer Schlüsselposition aus und eroberten von dort das Parteipräsidium.

Stalin wie Chruschtschow hatten auf ihrem Wege zur Macht große Hindernisse und schwere Niederlagen zu überwinden, die sich tief in ihre Erinnerungen eingruben.

Über Stalin hing das Damoklesschwert des leninschen Testaments, in dem Lenin die Partei vor Stalin gewarnt und seine Abberufung vom Posten des Generalsekretärs empfohlen hatte. Als dieses Testament im Mai 1924 vor dem ZK verlesen wurde, schien Stalins Parteikarriere beendet zu sein. Er verdankte es nur dem Einsatz Kamenjews und Sinowjews, daß er an der Macht blieb — seine beiden Retter hat er ein Jahr-. zehnt später liquidiert. Seine zweite große Niederlage war die Kollektivierung, die 1931/32 zu einer Hungerkatastrophe führte, die dritte das Vordringen deutscher Truppen bis vor Moskau 1941. In den zwei ersten Fällen wollte er aufgeben und wurde nur durch das Dazwischentreten einiger seiner Getreuen gehalten.

Chruschtschow war im Frühjahr 1951 wegen seiner Propagierung der Agrostädte von der „Prawda“ zurechtgewiesen und auf dem XIX. Parteitag im Oktober 1952 noch einmal dafür gerügt worden. Am 16. Juni 1954 wurde seine Prager Rede zensuriert. Im Frühjahr 1955, nachdem Bulganin die Regierung übernommen hatte, wurde Chruschtschow in der „Prawda" und im „Kommunist“ öffentlich in die Schranken gewiesen. Im Juni 1957 wäre er von der Mehrheit des Präsidiums abgesetzt worden, wenn Shukow ihm nicht beigestanden hätte. Ihm gegenüber verhielt er sich ähnlich undankbar wie seinerzeit Stalin gegen Kamen-jew und Sinowjew: Drei Monate später setzte er ihn ab.

Stalin wie Chruschtschow haben zu Beginn ihrer Karriere das Prinzip der kollektiven Führung proklamiert und es später durch einen eigenen Personenkult ersetzt. Beide haben — freilich mit unterschiedlichen Methoden — sich der erprobten Funktionäre aus derZeit vor ihrem Aufstieg entledigt und den Parteiapparat mit neuen, ihnen ergebenen Leuten durchsetzt.

Bei alledem sollten jedoch einige Unterschiede nicht vergessen werden, die im Charakter und in den Umständen begründet sind.

Stalin zeigte sich selten in der Öffentlichkeit, er residierte einsam und finster hinter den Mauern des Kreml und war äußerst sparsam mit politischen Erklärungen. Chruschtschow läßt kaum ein Ereignis vorübergehen, ohne dazu Stellung zu nehmen, er zeigt eine ausgesprochene Vorliebe für die große Schau, reist viel und gibt sich betont volkstümlich. Stalin konnte warten. 1922 war er Generalsekretär geworden, seit 1929 hatte er die absolute Macht, aber erst 1939 ließ er sich den Titel „Held der sozialistischen Arbeit" verleihen, und erst im Mai 1941 ließ er sich formell den Posten des Ministerpräsidenten übertragen.

Chruschtschow, im September 1953 zum Ersten Parteisekretär ernannt, ließ sich schon am 17. April 1954, zu seinem 60. Geburtstag, den Titel „Held der sozialistischen Arbeit" verleihen. Vier Jahre später übernahm er den Regierungsvorsitz.

Stalin machte in jüngeren Jahren Karriere, er wurde mit dreiundvierzig Jahren Generalsekretär; als Chuschtschow zum Ersten Sekretär ernannt wurde, war er bereits sechzig.

Stalins Aufstieg Ende der zwanziger und in den dreißiger Jahren vollzog sich zur Zeit der sowjetischen Industrialisierung und Kollektivierung. Die Sowjetunion stand damals allein. Sie war eine „belagerte Festung“, wie Stalin zur Rechtfertigung seines Terrorsystems sagte, und dieses Wort hatte für den Parteiapparat einen realen Sinn.

Chruschtschow erlangte die Macht in einer modernen Industriegesellschaft, zu einer Zeit, da bereits ein ganzes „System sozialistischer Staaten“ bestand. Die Sowjetunion grenzt heute überall an abhängige oder verbündete Ostblockstaaten. Chruschtschow kann also zur Rechtfertigung von Gewaltmaßnahmen nicht mehr auf die „belagerte Festung"

hinweisen. Im Innern des Landes ist der Terror nicht mehr mit „historischen Notwendigkeiten“ zu rechtfertigen. Noch mehr: er wirkt hemmend. Die großen wirtschaftlichen Ziele sind nicht durch den Terror der Staatspolizei, sondern nur durch breiteste Anwendung ökonomischer Anreize zu verwirklichen. Große Kreise der sowjetischen Wirtschaftsfunktionäre und der Intelligenz fordern, nicht ohne Rückhalt in der Bevölkerung, neue Reformen. Im ganzen Ostblock zeichnen sich immer deutlicher Selbständigkeitstendenzen und „revisionistische Strömungen“

ab.

Chruschtschow ist es zwar gelungen, mit ähnlichen Methoden wie einst Stalin sich zum Führer von Partei und Regierung aufzuschwingen, aber die Sowjetunion von heute ist nicht mehr die der dreißiger Jahre.

Chruschtschow hat seine Opponenten überspielen, absetzen, entmachten und beschimpfen können, aber er konnte sie bis jetzt nicht einmal aus der Partei ausschließen, geschweige denn erschießen lassen. Die große Frage, vor der die Sowjetunion steht, ist, ob die heutige, moderne sowjetische Industriegesellschaft noch von einem Parteiapparat und einem „unfehlbaren Alleinherrscher“ mit doktrinären Vorstellungen zu leiten ist. 5. Die nadistalinsdie Entwicklung hat erwiesen, daß die „uioralisch-politisdte Einheit des Sowjetvolkes“ eine Fiktion ist. Innerhalb der Sowjetunion sind, wenn audt wandiwal nodi versteckt, untersdiiedlidte politisdie Strömungen zutage getreten.

Selbst unter der Decke des stalinschen Terrorsystems waren unterschiedliche Auffassungen und Tendenzen nicht ausgelöscht. Durch die Entmachtung des Staatssicherheitsdienstes nach Stalins. Tod, die wechselnden Machtverhältnisse in der Führung und vor allem durch die „Reformen von oben“ traten diese Tendenzen offener als früher in Erscheinung. Die Führung gab Dezentralisierungsmaßnahmen bekannt; sofort wurden weitergehende Wirtschaftsreformen verlangt. Die Gewerkschaften wurden aktiviert und Produktionsberatungen eingeführt; schon mußte sich die Parteipresse mit Forderungen nach gewählten Arbeiterräten und der geheimen Wahl der Betriebsdirektoren auseinander-setzen. Kaum war der Druck auf die Schriftsteller ein wenig gelockert worden, da wandten sich die Schriftsteller gegen das Prinzip der Parteilichkeit in der Literatur und gegen den sozialistischen Realismus. Die Parteiführung proklamierte das Prinzip der kollektiven Führung und mußte sich schon bald darauf mit Strömungen auseinandersetzen, die eine innerparteiliche Demokratie und einen freien Meinungsaustausch in der Partei verlangten. Die Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) sollten schrittweise in Reparaturwerkstätten umgewandelt werden; kaum war dies ausgesprochen, als ein Sturm auf die MTS einsetzte und ihre völlige Auflösung verlangt wurde. Von oben wurde die sozialistische Gesetzlichkeit proklamiert; zahlreiche Juristen nahmen das zum Anlaß, um Vorschläge zu unterbreiten, die auf Einführung rechtsstaatlicher Zustände hinausliefen. Einige Leitsätze Stalins wurden von der Führung kritisiert und als überlebt bezeichnet; kurz darauf mußten sich die Parteizeitschriften mit Historikern, Philosophen, Wirtschaftswissenschaftlern und Ideologen auseinandersetzen, die eine radikale Abkehr von der stalinistischen Ideologie befürworteten.

Die Parteiführung muß seit Stalins Tod ständig gegen zwei „Abweichungen" kämpfen: auf der einen Seite gegen retardierende, prostalinistische Kräfte, die sich gegen die begrenzten Reformen von oben stemmen, auf der anderen Seite — und dies in viel stärkerem Maße — gegen die „revisionistischen“ Kräfte, die die Reformen von oben nur als Beginn einer gründlichen Wandlung des Systems ansehen. Dazu kommt, daß unter der Jugend, selbst unter Mitgliedern und Funktionären des Komsomol und unter jüngeren Parteimitgliedern, religiöse Strömungen aufgetreten sind. Diese äußern sich sowohl in einer Hin-wendung zur Kirche als auch — in noch viel größerem Maße — in der Zugehörigkeit zu illegalen religiösen Sekten. 6. Eines der wichtigsten Probleme in der heutigen Sowjetunion ist das Verhältnis von Parteiherrsdtaft und moderner Industriegesellsdtaft, die Frage, wie ein schneller wirtschaftlicher Aufschwung zu gewährleisten ist, ohne die absolute Kontrolle des Parteiapparates einschränken zu müssen.

s Die nachstalinsche Führung hat sich den schnellsten wirtschaftlichen Aufschwung der UdSSR, die Einführung der modernsten Technik, die Vollautomatisierung ganzer Produktionszweige zum Ziel gesetzt, um in möglichst kurzer Frist die USA einzuholen und zu überholen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die materiellen Anreize zu vergrößern, den Wirtschaftsmanagern, Technikern und Ingenieuren größere Bewegungsfreiheit zu geben, Wirtschaft und Wissenschaft von den Fesseln staatlicher und ideologischer Vormundschaft zu befreien. Das kann nur durch die Einschränkung der Tätigkeit des Parteiapparates erreicht werden. Andererseits aber ist der Parteiapparat das wichtigste Macht-instrument des Systems. Die Verwirklichung der großen wirtschaftlichen Ziele steht also in ständigem Widerspruch zu den politischen Machtinteressen. Je mehr der Parteiapparat die anderen Machtsäulen verdrängt und seinen Einfluß auf alle Lebensbereiche erstreckt, um so mehr droht die Gefahr, daß er seine Sonderstellung gegenüber allen anderen Institutionen und Organisationen verliert und daß die Widersprüche, die früher zwischen den einzelnen Säulen (vor allem zwischen Partei und Wirtschaft) bestanden, sich nun in den Parteiapparat verlagern. Der Parteiapparat hat heute sowohl politisch-ideologische als auch praktische wirtschaftliche Funktionen auszuüben. Er wird als „Herz und Hirn un-serer Epoche", „beseelende Kraft“ und das „Licht unseres Lebens" gefeiert, ist aber gleichzeitig für die Festlegung der Pflanzabstände beim Baumwollanbau, die Anbaubezirke für Klee und die Produktion neuer Zementsorten verantwortlich — Dinge, die sich auf die Dauer nicht miteinander vereinbaren lassen. 7. In der sowjetischen Politik spielt die neue Obersdiidtt eine immer größere Rolle. Sie ist bereits so stark, daß die Parteiführung auf sie Rücksicht nehmen muß; aber sie ist nodt nicht stark genug, um der Spitzenführung ihren Willen aufzuzwingen.

Mit der fortschreitenden Entwicklung der Industriegesellschaft wachsen unaufhörlich Machit und Einfluß der neuen sowjetischen Oberschicht, d. h. jener Kräfte, die noch nicht zum engsten Gremium der Spitzenführung gehören, aber schon weit über der „gewöhnlichen“ Bevölkerung stehen: die Vorsitzenden der Volkswirtschaftsräte, Direktoren und Chefingenieure großer Werke, Wissenschaftler und Konstrukteure, Marschälle, Generäle und höhere Offiziere, Funktionäre der führenden Staats-und Parteiorgane in den Unionsrepubliken, Parteigebietssekretäre und ihre Mitarbeiter, verantwortliche Funktionäre in der Staatlichen Plankommission, den Staatskomitees und den Ministerien, Abteilungsleiter und Mitarbeiter des zentralen Parteiapparates, Chefredakteure und leitende Mitarbeiter der wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften, bekannte Juristen, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Ideologen, Schriftsteller und'Künstler.

Diese Schicht war unter Stalin rechtlos. Sie hatte Anordnungen und Befehle zu befolgen. Die Angehörigen dieser Schicht konnten ohne weiteres verhaftet werden. Seit Stalins Tod hat sich das grundlegend geändert. Die Oberschicht hat ein ungleich größeres Maß an persönlicher Sicherheit; sie ist selbstbewußt geworden und vertritt nachdrücklich ihre Interessen. Bei wichtigen Reformen wie der Wirtschaftsund Schulreform war die Spitzenführung gezwungen, die Wünsche der Ober-

schicht zu berücksichtigen. Das relativ vorsichtige Verhalten des Parteiapparates gegenüber den Schriftstellern dürfte darauf zurückzufüh.sein, daß diese in der Oberschicht einen gewissen Rückhalt haben. Mehr und mehr scheint die Spitzenführung bestrebt zu sein, bei wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen sich der Unterstützung maßgebender Kräfte der Oberschicht zu vergewissern-. Die großen Ziele des Siebenjahrplans und der Automatisierung sind nur zu bewältigen, wenn führende Kräfte der Wirtschaft und Wissenschaft nicht nur eine gewisse Selbständigkeit, sondern auch ein Mitspracherecht erhalten. Das macht aber auch auf anderen Gebieten Konzessionen an die übrigen Kreise der Oberschicht notwendig. 8. Die nachstalinsche Entwicklung hat das Leben aller Kreise der Sowjetbevölkerung verändert. Im Vergleich zur Stalinzeit sind diese Veränderungen bedeutend, aber sie bleiben noch weit hinter den Wünschen der Bevölkerung zurück.

Die Industriearbeiter wurden von einer Reihe drakonischer Strafbestimmungen der Stalin-Ära befreit. Das Lohnsystem wurde verbessert, die Arbeitszeit verkürzt. Die ständigen Produktionskonferenzen geben den Industriearbeitern ein wenn auch noch sehr begrenztes Mitspracherecht, die Reaktivierung der Gewerkschaften gibt ihnen gewisse Möglichkeiten, sich vor Willkür auf sozialem und arbeitsrechtlichem Gebiet zu schützen. Die Kolchosbauern erhalten ein höheres Entgelt für ihre Arbeit. Durch die Einführung von monatlichen Vorschüssen wurde ihnen ein Existenzminimum gesichert. Die Reaktivierung der Kolchosversammlungen hat ihnen ein gewisses Mitspracherecht an der Leitung der Kollektivwirtschaft ermöglicht. Die Steuern für ihr privates Hofland und privates Vieh wurden abgeschafft. Das Leben der Häftlinge in den Lagern wurde erleichtert. Sie haben Kontakt mit der Außenwelt (Briefe, Besuche, Zeitungen), den meisten wird Lohn für ihre Arbeit gezahlt, die Ernährung ist verbessert worden. Viele Häftlinge wurden als Kolonisten in Verbannungsgebieten angesiedelt, in denen sie sich frei bewegen können.

Die Kontrolle über die Schriftsteller und Künstler wurde gelockert, die Zensur wird großzügiger gehandhabt.

Die 240 000 Betriebsdirektoren erhielten vor allem durch die Verordnung vom 9. August 1955 größere Rechte und Kompetenzen.

Die 70 000 Kolchosvorsitzenden haben vor allem durch die Verordnung vom 9. März 195 5 größere Rechte und Kompetenzen erhalten. Sie können selbständiger planen, durch die Reorganisierung des Erfassungssystems und andere Maßnahmen sind sie von der kleinlichen Bevormundung in allen Detailfragen befreit.

Die nichtrussischen Nationalitäten erhielten mehr Selbständigkeit, es werden mehr Einheimische zu leitenden Aufgaben in Staat und Wirtschaft herangezogen, das nationale Kulturerbe darf, wenn auch in engen Grenzen, wieder gepflegt werden.

Die Parteiaufsicht über die W issenschaftler wurde gelockert. Sie können ausländische wissenschaftliche Publikationen beziehen, ihre Meinung wird gehört und oft auch berücksichtigt.

Ideologen, Ökonomen, Philosophen und Historiker sind nicht mehr sklavisch an enggefaßte Lehrsätze gebunden. Der Rahmen ihres Wirkungsbereiches ist weiter geworden. Es gibt eine begrenzte Diskussionsfreiheit, und es ist möglich, sich mit Arbeiten ausländischer Kollegen sachlich auseinanderzusetzen, ohne sie mit Ausdrücken wie „Schakale", „Möpse“, „Schweine“ beschimpfen zu müssen.

Für die gesamte Bevölkerung der UdSSR war vor allem die Einschränkung des Terrors eine wesentliche Erleichterung. Die Atmosphäre ist freier geworden, und auch die materiellen Lebensverhältnisse haben sich gebessert. Es gibt mehr industrielle Bedarfsgüter, der Wohnungsbau wurde forciert, der Lebensstandard hat sich erhöht.

So unbestreitbar die Verbesserung der Lebenslage für weite Bevölkerungskreise ist, so unbestreitbar steht allerdings auch fest, daß es sich nur um eine relative Verbesserung handelt. Im Vergleich zur Stalin-Ära ring im Verhältnis zu den Wünschen und Bestrebungen der Sowjetbe-sind die Veränderungen von großer Bedeutung, aber sie sind sehr gevölkerung und zu den Möglichkeiten, die bei einem entschlossenen Bruch mit dem Stalinismus gegeben wären. 9. Die Ideologie wird in zunehmendem Maße den realpolitischen Notwendigkeiten der Entwiddung der UdSSR angepaßt, aber sie spielt, zumindest für eine absehbare Zukunft, noch eine bedeutende Rolle.

Stalin hatte die Zentralisierung der Wirtschaft zum Postulat erhoben. Sie wurde über Bord geworfen, als die nachstalinsche Führung die Dezentralisierung der Wirtschaft einleitete.

Die These von den zwei Eigentumsformen im Sozialismus, dem „höheren“ Staatseigentum und dem „niederen“ kollektivwirtschaftlichgenossenschaftlichen Eigentum, war unter Stalin ein integraler Bestandteil der Ideologie. Mit der Auflösung der staatlichen Maschinen-Traktoren-Stationen im Frühjahr 1958 wurde diese bis dahin sakrosankte These liquidiert. Stalins These von der Verschärfung des Klassenkampfes im Sozialismus diente als ideologische Begründung der Säuberungen und des verschärften Terrors. Sie wurde verurteilt, als die nachstalinsche Führung den Machtapparat des Staatssicherheitsdienstes einschränkte, um den leitenden Kräften des Landes die zur Bewältigung der wirtschaftlichen und staatspolitischen Aufgaben nötige persönliche Sicherheit zu verschaffen. Ende 1956, nach der ungarischen Revolution, als sich selbst in der Sowjetunion Reformtendenzen zeigten, wurde sie vorsichtig wieder hervorgeholt.

Diese und viele andere Beispiele zeigen, wie scheinbar untrennbare Bestandteile der Sowjetideologie modifiziert und widerrufen werden, sofern es realpolitische Notwendigkeiten oder machtpolitische Erwägungen erfordern.

Daraus sollte jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß die Ideologie abstirbt. Obgleich der Parteiapparat sich immer mehr praktischer, wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Aufgaben bemächtigt, ist die Aufrechterhaltung seiner Herrschaft letzfen Endes nur ideologisch zu rechtfertigen. Die Erhaltung der Ideologie liegt daher im ureigensten Interesse des Parteiapparates, der nicht nur die „lenkende", sondern auch die „beseelende“ Kraft des Sowjetlandes sein will.

Der Widerspruch zwischen Parteiherrschaft und moderner Industriegesellschaft spiegelt sich folgendermaßen in der Ideologie: Die Anpassung ideologischer Thesen an realpolitische Notwendigkeiten ist eine Konzession des Parteiapparates an die Erfordernisse der fortschreiten-den Industriegesellschaft. Zugleich versucht der Parteiapparat aber, durch verstärkte Aktivität auf ideologischem Gebiet seine Herrschaft theoretisch zu fundieren. 10. Die Bedeutung der internationalen kowntunistisdten Bewegung in der Sowjetrepublik hat seit Stalins Tod erheblich zuge. -nownten. Die Sowjetführung hat neue internationale Ziele gesetzt, die sich sowohl von der leninschen Weltrevolution als auch von Stalins Politik unterscheiden.

Mit dem Tode Stalins ist das Verhältnis der Sowjetführung zum internationalen Kommunismus in eine neue Phase getreten. In der ersten Phase — vom Sieg der Oktoberrevolution 1917 bis etwa zu Lenins Tod im Januar 1924 — wurde die enge Verknüpfung des damals noch schwachen Sowjetrußlands mit dem Schicksal der Weltrevolution immer wieder unterstrichen. Lenin und seine damaligen engsten Mitkämpfer, Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Rykow, dachten und handelten weniger in russisch-nationalen als in weltrevolutionären Maßstäben. Stalin verkündete dann die These vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land". Unter Stalin rangierten sowjetische Staatsinteressen stets vor den Interessen des internationalen Kommunismus. Die Kommunistische Internationale wurde zu einem Hilfsinstrument der sowjetischen Außenpolitik. Selbst der Begriff „Weltrevolution“ verschwand aus den Spalten der Sowjetpresse und aus allen ideologischen Lehrbüchern. Nachdem Stalin im März 1936 in einem Interview die Weltrevolution als „komisches“ bzw. „tragikomisches Mißverständnis“ bezeichnet hatte, galt dieser Begriff als „trotzkistische Abweichung“. Nicht der Weltrevolution, sondern der machtpolitischen Ausdehnung der Sowjetunion galt das Hauptinteresse.

Nach Stalins Tod ist der internationale Kommunismus durch die Ausbreitung nationalrevolutionärer Bewegungen in den asiatischen und afrikanischen Ländern, aber auch durch die teilweise Abkehr der Sowjetführung von Stalin und die Rückkehr zum Leninismus wieder aufgewertet worden.

Die Sowjetführung hofft, daß sie imstande sein wird, die national-revolutionären Bewegungen Asiens, Afrikas und Südamerikas zu beeinflussen und schließlich sogar zu lenken. Außerdem glaubt sie, daß es möglich sein wird, in einem bestimmten Zeitraum auf wirtschaftlichem Gebiet die westlichen Industriestaaten einzuholen und zu überholen. Damit würde eines Tages der Ostblock ein ökonomisches Übergewicht gewinnen, was als wesentliche Voraussetzung für den Sieg des Kommunismus sowjetischer Prägung in der ganzen Welt angesehen wird.

Diese optimistische Einschätzung wird allerdings durch die tatsächliche Lage nicht gerechtfertigt. Neben unbestreitbaren politischen Erfolgen Moskaus in den Ländern Asiens und Afrikas zeigt sich andererseits, daß die unabhängigen, neutralen Staaten, auf die Moskau große Hoffnungen gesetzt hat, nicht bereit sind, Hilfskräfte der Sowjetunion zu werden. Die jüngste Entwicklung zeigt sogar ein wachsendes Mißtrauen in diesen Ländern. Dazu kommt, daß in den Ostblockstaaten immer mehr Schwierigkeiten auftauchen, denn mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung enstehen neue gesellschaftliche Kräfte, denen die Führung Konzessionen machen muß.

Schließlich hängt die Verwirklichung der Ziele des Kreml nicht allein von der Sowjetunion und dem Ostblock ab, sondern auch von dem Verhalten der nichtsowjetischen Länder, von ihrer Fähigkeit, sich von vorgefaßten Meinungen und Klischeevorstellungen über „den Kommunismus“ zu lösen, Veränderungen im Sowjetkommunismus rechtzeitig wahrzunehmen und richtig einzuschätzen. Sachkenntnis ist gewiß kein Allheilmittel, wohl aber eine wichtige Voraussetzung für eine Politik, die sowohl Provokation als auch Kapitulation vermeiden will.

Fussnoten

Fußnoten

  1. 1947 gab es ein paar literarische Ansätze, die jedoch bald wieder von anderen Themen verdrängt wurden. Jetzt eben — bald fünfzehn Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches — gewinnt das Thema noch einmal einige

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