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Die ungelösten Probleme der Verteidigung Europas | APuZ 42/1962 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 42/1962 Die ungelösten Probleme der Verteidigung Europas Die USA und die Vereinten Nationen

Die ungelösten Probleme der Verteidigung Europas

HENRY A. KISSINGER

Der nachstehende Artikel stellt einen Beitrag zur Diskussion über Probleme der westlichen Strategie dar und hat bei seinem Erscheinen, nicht zuletzt wegen der Zugehörigkeit des Verfassers zum Kreis der Berater des Präsidenten Kennedy, starke Beachtung gefunden. Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt, um die darin vorgetragenen Gedanken, die ausschließlich die Auffassung des Autors wiedergeben, einem breiten deutschen Leserkreis zugänglich zu machen.

Die Genehmigung zum Abdruck erteilte dankenswerterweise die New Yorker Vierteljahreszeitschrift „FOREIGN AFFAIRS“.

Die Tagung der Verteidigungs-und Außenminister der NATO-Länder in Athen endete mit den üblichen Proklamationen der Einigkeit der Verbündeten. Viel Wesens wurde um die Übergabe von fünf — später mehr — Polaris-Unterseebooten an die NATO gemacht. Die Bedeutung der Tagung jedoch ging sehr über diese weitgehend symbolische Geste hinaus. Die Konferenz von Athen bezeichnete den Punkt, an dem eine Überprüfung der NATO-Strategie nicht länger zu vermeiden war; sie unterstrich die dringende Notwendigkeit, die Diskussion der letzten Jahre über die relative Rolle nuklearer und konventioneller Streitkräfte, über das Verhältnis von Abschreckung und Strategie sowie über die Kontrolle und Verwendung von Kernwaffen abzuschließen.

Den Anstoß zu dieser Diskussion gab — kurz nach der Amtseinführung Präsident Kennedys — der Vorschlag der Vereinigten Staaten, die konventionellen Streitkräfte der NATO zu verstärken — genauer gesagt, sie auf die Stärke von 30 Divisionen zu bringen, auf die man sich 1957 geeinigt hatte. Die europäischen Verbündeten ihrerseits versuchten festzustellen, ob die Vereinigten Staaten ihr Vertrauen auf die Kernwaffen einschränkten und ob die nukleare Garantie für Europa ihre Glaubwürdigkeit verlieren würde. Die Amerikaner erwiderten, daß der Aufbau konventioneller Streitkräfte kein verringertes Vertrauen auf die sogenannte Abschreckung bedeute. Im Gegenteil, die strategische Schlagkraft würde vergrößert und unverwundbarer gemacht Die nicht-nukleare Rüstung würde — weit davon entfernt, die Glaub-Würdigkeit der amerikanischen nuklearen Macht zu schmälern — diese in Wirklichkeit stärken Mit anderen Worten, die in offiziellen amerikanischen Stellungnahmen verkündete NATO-Politik war nicht neu; die Amerikaner forderten ihre Verbündeten lediglich auf, ihren früher eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen. Das Ziel war Elastizität in den Gegenmaßnahmen (auf einen eventuellen Angriff).

Dieser merkwürdige Dialog, in dem eine Akzentverschiebung in der Politik der Vereinigten Staaten in Begriffen traditioneller NATO-Konzeptionen verteidigt wurde, erhöhte in vieler Hinsicht das Unbehagen bei den europäischen Verbündeten. Es gibt eine Anahl von Gründen, warum die NATO-Ziele hinsichtlich konventioneller Streitkräfte nie erreicht worden sind. Ein wichtiger Grund ist die Tatsache, daß diese Streitkräfte unter den Bedingungen der vorherrschenden NATO-Strategie ziemlich nutzlos waren.

Jene Strategie war zu einer Zeit entwickelt worden, als die Vereinigten Staaten das strategische Übergewicht besaßen. Während des größeren Teils des Kernwaffenzeitalters konnten sie einen allgemeinen Krieg gewinnen, ob sie nun zuerst losschlügen oder als zweite. Sie konnten die sowjetische Vergeltungsstreitmacht mit einem Minimum an Aufwand zerstören. Diese Überlegenheit ermöglichte es den USA nicht nur, einen Angriff auf ihr eigenes Gebiet zu verhindern, sondern auch ihre Verbündeten durch eine praktisch einseitige amerikanische Garantie zu schützen. Die Sowjetunion war auf konventionellem Gebiet stärker, aber sie konnte diese ihre Streitkräfte nicht in Marsch setzen, weil jede derartige Aktion den Einsatz des Strategischen Luftkommandos (SAC) ausgelöst hätte. Sie konnte — sogar nachdem das technisch möglich geworden war — die Vereinigten Staaten nicht zur gleichen Zeit wie Europa angreifen, weil das zwar die amerikanischen Verluste vergrößert hätte, eine sowjetische Niederlage aber trotzdem unvermeidbar gewesen wäre. Während ihrer ganzen Existenz hing die Sicherheit der NATO wesentlich von der Fähigkeit der Vereinigten Staaten ab, die sowjetische Vergeltungsmacht zu zerstören — technisch ausgedrückt: von dem Vermögen der USA, eine Gegenschlag-Strategie anzuwenden

Jede umsichtige Planung der NATO für die 60er Jahre muß von der Annahme ausgehen, daß der Nutzen einer Gegenschlag-Strategie für die Verteidigung Europas notwendigerweise abnehmen wird. Man kann die Feststellungen der amerikanischen militärischen Führung akzeptieren, daß die Vereinigten Staaten an strategischer Schlagkraft überlegen sind und es zu bleiben gedenken. Die strategische und politische Bedeutung dieser Überlegenheit jedoch wird mit Sicherheit geringer werden Für die unmittelbare Zukunft — solange die sowjetische Raketenmacht verhältnismäßig klein bleibt — mag eine Gegen-schlag-Strategie technisch durchführbar bleiben. Diese Situation sollte jedoch als vorübergehende Frist für die Anpassung an unvermeidbare Tatsachen, nicht aber als Entschuldigung für die fortdauernde Abhängigkeit von traditioneller Politik angesehen werden.

Erstens muß die Lage der Ziele im voraus bekannt sein, wenn die Gegenschlag-Strategie eine Aussicht auf Erfolg behalten soll Das gilt besonders für Raketen, die sich ihre Ziele nicht selbst suchen können. Angesichts der Natur der Sowjetgesellschaft und der Weite des sowjetischen Raumes ist es wahrscheinlich, daß unsere Kenntnis sowjetischer Abschußbasen lückenhaft ist. Da sich zweitens die Raketensysteme immer weiter entwickeln, werden die Raketen — ein Nornalmaß an Klugheit beim Gegner vorausgesetzt — weit auseinandergezogen stationiert werden, wodurch es einer angreifenden Rakete unmöglich gemacht wird, mehr als eine Rakete am Boden zu zerstören. Viele Raketen werden in befestigten unterirdischen Steilungen geschützt stehen. Diese beiden Faktoren werden die für einen erfolgreichen Gegenschlag erforderlichen Kräfte erheblich vergrößern. Andere Raketen werden beweglich oder auf See stationiert sein und so die Notwendigkeit entstehen lassen, viele verschiedene Angriffsarten zu koordinieren. Die ständig wachsende Kompliziertheit eines Raketenangriffes muß zwangsläufig den politischen Nutzen einer Gegenschlag-Strategie vermindern — vielleicht sogar schneller, als es aus rein militärischen Erwägungen gerechtfertigt ist. Angesichts der Risiken, die sicher noch bedeutend wachsen, wird es immer schwieriger werden, politische Führer davon zu überzeugen, sich auf eine Strategie zu verlassen, die auf lückenhaften Informationen beruht und große Mengen von Waffen voraussetzt, für die es aus Kriegszeiten keine Einsatzerfahrungen gibt. Selbst wenn der Prozentsatz der gegnerischen strategischen Streitmacht, den zu zerstören die USA in der Lage sind, die 60er Jahre hindurch gleich bleibt — eine übermäßig optimistische Annahme —, so wird doch die verbleibende absolute Stärke der gegnerischen Streitmacht wachsen. Die sowjetische Fähigkeit, die NATO-Länder in einem Gegenschlag zu verwüsten, wird sich somit unvermeidbar erhöhen.

So zu tun, als ob diese Faktoren nicht die Bereitschaft jedes Präsidenten der Vereinigten Staaten verringern werden, einen allgemeinen Krieg zu beginnen, wäre ebenso unverantwortlich auf amerikanischer Seite wie es eine bequeme Täuschung für manche Verbündeten wäre. Auch die intensivsten Bemühungen werden es nicht verhindern können, daß in den kommenden Jahren die Glaubwürdigkeit einer Gegenschlag-Strategie abnehmen wird. Es wird immer schwieriger werden, die Sowjets davon zu überzeugen, daß die USA dazu in der Lage und bereit sind, die Risiken einzugehen, die sie in sich birgt. Wenn die NATO mit dem fortschreitenden Raketen-zeitalter ihre Strategie nicht ändert, werden direkte sowjetische Herausforderungen zunehmend die Folge sein.

Es gibt natürlich Leute, die einwenden, daß ein amerikanisches Zuschlägen nie erforderlich sein wird, solange die nukleare Drohung ernst genug ist. Wenn jedoch das Leben von Dutzenden von Millionen auf dem Spiel steht, kann kein Staatsmann auf Grund derartiger psychologischer Konstruktionen Hasard spielen. Es ist einfach unverantwortlich, die Zukunft der Freiheit auf die Spekulation zu gründen, daß eine Drohung, die wahr zu machen man nicht bereit ist — oder sein sollte —, niemals herausgefordert werden wird. Und wenn diese Drohung wahr gemacht würde, — es sei denn als letztes Mittel — hätte die NATO-Strategie eine unnötige Katastrophe heraufbeschworen. Wo immer möglich, sollte die NATO in der Lage sein, kommunistischem Druck mit Mitteln entgegenzutreten, die der Herausforderung angemessen sind, und dabei der anderen Seite die Verantwortung für ein „Hinaufschaukeln''(escalation) zu überlassen.

Das ist kein spezifisch amerikanisches Problem. Der verringerte Nutzen der Gegenschlag-Strategie für die Verteidigung Europas entspringt nicht dem Wunsch der Vereinigten Staaten, unangetastet zu bleiben und gleichzeitig das Gebiet ihrer Verbündeten in ein Schlachtfeld zu verwandeln, wie manchmal in Europa behauptet wird. Die gegen Europa gerichteten strategischen Waffen der Sowjetunion sind weitaus zahlreicher als die gegen die Vereinigten Staaten gerichteten. Ein Gegenschlag des Strategischen Luftkommandos, der von beiden Gruppen von Waffen den gleichen Prozentsatz vernichten würde, würde eine weit größere Anzahl von den gegen Europa als von den gegen Amerika gerichteten Kernwaffen übrig lassen. Eigene europäische strategische Streitkräfte würden diese Situation nicht wesentlich ändern.

Ein allgemeiner Krieg ist für die europäischen Verbündeten sicher vernichtender als für die Vereinigten Staaten. Die Hemmungen, mit denen sie einer Strategie der reinen Verwüstung gegenüberstehen, können also nicht geringer sein als die amerikanischen. Wenn sie ihre eigenen Interessen verstehen, sollten sie Alternativen zur gegenwärtigen Strategie für die Verteidigung Europas fordern, statt sich ihnen zu widersetzen.

Konventionelle Waffen und traditionelle Konzeption

Adlai E. Stevenson Die USA und die Vereinten Nationen (s. Seite 515)

Während ihrer ganzen Geschichte hat die NATO unter der Schwierigkeit gelitten, daß ihr strategisches Konzept der Entwicklung ihrer Streitkräfte eher hinterherlief, statt ihr voranzugehen. Entscheidungen wurden getroffen, um bestimmten Krisen zu begegnen, auf Grund fiskalischer Überlegungen oder mit einem Blick auf das voraussichtliche politische Ergebnis. Zu häufig sind über zehn Jahre lang mehr Gedanken auf Auswege verwandt worden, um über die nächste NATO-Konferenz hinweg-zukommen, als auf eine neue Konzeption der NATO für die nächsten Jahre.

Wie immer bestimmte Truppenstärken auch zustande gekommen sein mochten, nachdem sie einmal festgesetzt waren, haben sie ein Eigenleben entwickelt. Das Ziel von 30 Divisionen aus dem Jahre 1957 hatte, als es zuerst ins Auge gefaßt wurde, nicht viel Sinn — es sei denn als Überschlag dessen, was man von den europäischen Verbündeten billigerweise als Beitrag erwarten konnte. Das Ziel bot jedoch für die Kennedy-Regierung einen bequemen Ansatzpunkt, als sie beschloß, die herkömmlichen Streitkräfte zu verstärken. Die Folge ist, daß Ziele, die ursprünglich nicht erreicht wurden, weil sie im Rahmen der traditionellen NATO-Konzeption zu hoch lagen, nun nicht mehr genügen, weil sie für eine wirksame lokale Verteidigung zu niedrig sind.

Tatsächlich — und glücklicherweise — klaffte zwischen der Stärke der Streitkräfte auf dem Kontinent — bei Amtsantritt der Kennedy-Regierung etwa 22 Divisionen — und der theoretischen NATO-Strategie immer eine große Lücke. Wenn die NATO die herrschende strategische Konzeption wirklich ernst genommen hätte, wäre es die einzige Funktion der Schild-streitkräfte — der auf dem europäischen Kontinent aufgestellten Streitkräfte — gewesen, festzustellen, daß ein allgemeiner sowjetischer Vormarsch wirklich begonnen hätte. In diesem Augenblick hätte das strategische Luftkommando seinen Gegenschlag geführt.

Es war kein Zufall, daß die 1957 geforderten 30 Divisionen nie aufgestellt wurden. Um festzustellen, daß etwas mehr als eine Grenzverletzung vorliegt, braucht man keine 30 Divisionen. Tatsächlich wurden auch, um die NATO-Ziele hinsichtlich der Truppenstärke vernünftig zu begründen, verschiedene andere Funktionen — ausgedrückt in Begriffen wie „Vorwärtsstrategie" (forward strategy) und „Strategie des gebrochenen Rückgrates" (broken-back strategy) *) — ersonnen, die jedoch ebenfalls mit der grundsätzlichen NATO-Strategie unvereinbar waren. Im Kriegsfälle wären nicht die Landstreitkräfte. ih Europa der entscheidende Faktor, sondern die Wirksamkeit des Strategischen Luftkommandos. Nur ein Erfolg des Strategischen Luftkommandos könnte den sowjetischen Vormarsch aufhalten, und dann wäre die genaue Zahl der Divisionen ohne größere Bedeutung. Die Stärke der Truppen in Europa spiegelte psychologische und nicht strategische Überlegungen wider. Den europäischen Ländern ist es ') Zerstörung von nichtmilitärischen Zielen im Hinterland, vor allem von Industrieanlagen. (Anm. d. übers.) immer unbehaglich gewesen, die Hauptverantwortung für ihre Verteidigung einem fast 5 000 km entfernten, bis vor kurzem in der Tradition des Isolationismus stehenden Verbündeten zu überlassen. Keine moralische Verpflichtung konnte ihre Furcht zerstreuen, die Amerikaner könnten ihre Garantie nicht einhalten. Sie versuchten daher, die amerikanische Entscheidungsfreiheit dadurch aufzuheben oder wenigstens einzuschränken, daß sie die USA verpflichteten, starke Landstreitkräfte auf dem europäischen Kontinent zu unterhalten. Das konnte man von den Amerikanern jedoch nur erwarten, wenn die Europäer zu eigenen Anstrengungen bereit waren.

So entstanden auf dem europäischen Kontinent starke Truppenverbände, obgleich die herrschende NATO-Konzeption ihnen keine besondere Funktion zuweisen konnte. Die augenblick-liehen Diskussionen in der NATO bleiben weitgehend unverständlich, wenn wir nicht erkennen, daß in den Augen der europäischen Verbündeten die Schildstreitkräfte immer als Preis für die nukleare Garantie der Vereinigten Staaten, als eine Art Selbstauslöser für die amerikanischen strategischen Streitkräfte, angesehen worden sind. Die Europäer haben ihren Beitrag auf einem Niveau gehalten, das hoch genug war, die Amerikaner zu veranlassen, ihre Truppen-verbände auf dem Kontinent zu halten, aber nicht so hoch, eine echte Alternative zu der Gegenschlag-Strategie zu bieten.

Eine andere Folge der NATO-Konzeption ist der außerordentlich große Ansporn zur Schaffung nationaler nuklearer Vergeltungsstreitkräfte. Die Konzeption hatte die Kernwaffen als letztlich entscheidende Waffen angesehen. Um die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern, Einfluß auf die amerikanische Politik zu gewinnen, sowie aus Prestigegründen beschritten zuerst Großbritannien und dann Frankreich den außerordentlich kostspieligen und schwierigen Weg, eine nukleare strategische Streitmacht aufzubauen.

Das war die Situation, als die gegenwärtige amerikanische Regierung ihr Amt übernahm. Nach amerikanischer Doktrin war jeder Krieg, in dem sich Truppen der Vereinigten Staaten mit sowjetischen oder rotchinesischen Truppen schlugen, ein großer Krieg. Das erklärte nicht nur den mit halbem Herzen durchgeführten Aufbau der Schildstreitkräfte auf dem Kontinent, sondern auch die geringen strategischen Reserven in den Vereinigten Staaten. In jedem direkten Zusammenstoß mit den kommunistischen Großmächten hätten die Vereinigten Staaten kaum eine andere Wahl, als nachzugeben oder einen nuklearen Gegenschlag zu führen.

Seit ihrer Amtsübernahme hat die Kennedy-Regierung versucht, diese Lage zu ändern. Sie hat sich ihre Aufgabe jedoch dadurch erschwert, daß sie nicht klar darlegt, welche Art von Flexibilität sie anstrebt. Eine echte Fähigkeit zu „flexiblen Gegenmaßnahmen" würde die USA in die Lage versetzen, einer sowjetischen Herausforderung mit dem gleichen Grad von Gewalt zu begegnen. Statt dessen wird der Aufbau konventioneller Streitkräfte mit einem technischen Argument gerechtfertigt: als Voraussetzung für die Fähigkeit zu einer letzten Warnung vor der Anwendung einer Gegenschlag-Strategie. Dieses Argument verfehlt seinen Zweck im Hinblick auf Europa. Eine Verstärkung der strategischen Reserve in den Vereinigten Staaten um drei oder vier Divisionen erhöht die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung für die Verteidigung, sagen wir, Südostasiens; denn sie verschafft den USA die physische Möglichkeit, einzugreifen.

In Europa jedoch, wo die USA schon physisch engagiert sind, gewinnen ein paar zusätzliche Divisionen eine andere Bedeutung. Dort mußten die ständigen Versicherungen, daß eine Vermehrung der Schildstreitkräfte dazu bestimmt sei, einen Gegenschlag wahrscheinlicher zu machen, als Vorwand für die amerikanische Abneigung erscheinen, einem Atomkrieg ins Auge zu sehen.

Die Notwendigkeit einer flexiblen Antwort in Europa kann nicht zur Rechtfertigung einer Gegenschlag-Strategie benutzt werden; sie muß dazu dienen, die Abhängigkeit von ihr zu vermindern. Solange das nicht offen eingestanden wird, wird der Unterschied zwischen 22 und 30 Divisionen unerheblich erscheinen. Und wenn die Folgen der bevorstehenden Unverwundbarkeit der Vergeltungsstreitkräfte offen ins Auge gefaßt werden, müssen die Rüstungsziele neu bestimmt werden.

Diese Erwägungen werden noch anschaulicher durch die Vorstellungen, die zur Rechtfertigung der Stärkung der Schildstreitkräfte zu dienen pflegten, und die dadurch hervorgerufene Unruhe. Wie von General Norstad dargelegt und von Präsident Kennedy bestätigt, sollten die Schildstreitkräfte — vermutlich die konventionellen, obwohl das nicht ausdrücklich gesagt wurde — stark genug sein, eine „Pause" in den militärischen Operationen zu erzwingen, die es den Sowjets erlauben würde, „die damit verbundenen größeren Risiken richtig abzuschätzen". Das heißt, die Schildstreitkräfte sollen eine „Schwelle" bezeichnen, unterhalb derer Kernwaffen nicht angewandt werden dürften.

Aber ist es wirklich so, . daß die Sowjets am Ende einer kurzen Periode konventioneller Operationen die größeren Risiken eines Atom-krieges klarer sehen würden? Sollte ein groß-angelegter konventioneller Angriff stattfinden, so hätten die Sowjets vermutlich die Drohung amerikanischer nuklearer Vergeltung nicht für voll genommen. Warum sollte diese Drohung im Verlauf konventioneller Operationen glaubhafter werden, wo jeder Tag das Gleichgewicht an Ort und Stelle zu unseren Ungunsten verschieben würde? Warum sollte unsere Verhandlungsposition nach 30 Tagen — nachdem unsere Streitkräfte wahrscheinlich starke Verluste erlitten hätten — besser sein als am Anfang? Was geschieht, wenn die Sowjets Verhandlungen anböten, nachdem sie von ihrer Siegesbeute Besitz ergriffen hätten? Wenn ein Atomkrieg zu Beginn des Konflikts zu riskant war, warum sollte er dann nicht noch riskanter sein, nachdem der lokale Konflikt im wesentlichen gegen uns entschieden wäre und die Verwüstungen, die ein beiderseitiger Einsatz von Kernwaffen verursachen würde, die lokale Streitfrage belanglos erscheinen lassen könnten?

Wenn andererseits eingewandt wird, die Sowjets würden es nie wagen, die Schildstreitkräfte anzugreifen aus Furcht, das könnte einen beiderseitigen Einsatz von Kernwaffen auslösen, was haben wir dann durch die Erhöhung der Zahl unserer Divisionen von 22 auf 30 gewonnen? Mit anderen Worten: solange ein atomarer Schlag die Hauptwaffe in unserem Arsenal bleibt, kann sich die jetzt geplante Erhöhung der konventionellen Streitkräfte in Europa leicht als zu klein oder zu groß erweisen; zu klein für eine wirksame örtliche Verteidigung, und zu groß, um eine Gegenschlag-Strategie glaubhaft bleiben zu lassen.

Die gleiche Schwierigkeit gilt für die Konzeption der „Schwelle“. Diese ist von dem stellvertretenden amerikanischen Verteidigungsminister, Roswell Gilpatric, folgendermaßen umschrieben worden: „Die gegenwärtige Konzeption sieht vor, daß die NATO Kernwaffen einsetzt, wenn ihre Streitkräfte durch nicht-nukleare Angriffe von Ostblockstaaten in Gefahr sind, überrannt zu werden." Hier erheben sich zwei Fragen: 1. Wer entscheidet, ob die konventionellen NATO-Streitkräfte in Gefahr sind, überrannt zu werden? 2. Diese Entscheidung vorausgesetzt, wie sollen dann Kernwaffen eingesetzt werden?

Hinsichtlich der ersten Frage lassen sich Situationen vorhersehen, in denen NATO-Streitkräfte einfach zurückgeschlagen werden, ohne überrannt zu werden. Wird das dann die Atom-schwelle sein? Was geschieht, wenn die Sowjets in Osteuropa eine ganz klar überlegene Streit-macht zusammenziehen, ohne noch einen Angriff begonnen zu haben? Es könnte auch sein, daß bei einer im übrigen erfolgreichen Verteidigung einzelne Einheiten von, sagen wir, Divisionsgröße Rückschläge erleiden würden. Wenn Kernwaffen in Europa bis auf Divisionsebene und darunter . verteilt sind, ist es denkbar, daß schon die Lage amerikanischer Kernwaffenvorräte und ihrer Träger die Frage des Einsatzes von Kernwaffen entscheiden wird. Diese Situation kann sehr wohl zur Abschreckung beitragen. Sie ist jedoch nicht mit der Absicht in Einklang zu bringen, wirkungsvolle konventionelle Operationen durchzuführen.

Nehmen wir jedoch an, es sei möglich, genau zu entscheiden, daß die konventionellen NATO-Streitkräfte in Gefahr sind, überrannt zu werden: Dann erhebt sich die Frage, welche Kernwaffen und wie sie eingesetzt werden sollen. Wenn wir voraussetzen, daß beide Seiten über taktische Kernwaffen in genügender Anzahl und Größe verfügen, ist es noch lange nicht gesagt, daß die Anwendung dieser Waffen auf dieser Stufe des Kampfes für den Verteidiger günstiger wäre. Nach Überwältigung der konventionellen Verteidigung würden vermutlich zu wenige Schildstreitkräfte übrigbleiben, um die Flut einzudämmen, auch wenn die angreifenden Einheiten durch Kernwaffen reduziert wären. Nach einem Durchbruch ist es sehr wohl möglich, daß der Einsatz von Kernwaffen im Kampfgebiet den Angreifer begünstigt, dessen Einheiten dann schon auseinandergezogen sein können, während der • erteidiger seine Einheiten in vorhersehbare Räume zurückziehen muß. Mit anderen Worten: wenn Kernwaffen überhaupt taktisch eingesetzt werden sollen, dann liegt wahrscheinlich der günstigste — vielleicht der einzige günstige — Augenblick dazu in der ersten Phase militärischer Operationen, oder höchstens, solange die Schildstreitkräfte noch einigermaßen intakt und sowjetische Reserven noch nicht auf dem Kampf-feld erschienen sind.

Die Fähigkeit, eine Niederlage — oder eine drohende Niederlage — von den konventionellen Streitkräften abzuwenden, würde damit von der Wirksamkeit eines ersten Vergeltungsschlages abhängen, und damit wären wir wieder am Ausgangspunkt. Wenn wir zu einem wirksamen Gegenschlag in der Lage sind, ist es gleich, ob 22 oder 30 Divisionen geschlagen werden. Sind wir es nicht, so werden auch 30 Divisionen nicht genügen. Ähnliche Überlegungen löst die unangenehme Konzeption einer „Vorwärtsverteidigung" aus, womit die Fähigkeit gemeint ist, entlang dem Eisernen Vorhang eine Verteidigung aufzubauen und vor allem Städte in der Nähe dieser Trennungslinie zu schützen. Es ist oft eingewandt worden, dies könne mit einer Verstärkung auf 30 Divisionen erreicht werden. Wenn man an einen begrenzten Handstreich denkt, ist der Einwand richtig. Hegt man jedoch die Hoffnung, die Mittelfront entlang dem Eisernen Vorhang im Fall eines größeren Angriffs zu halten, so ist es außerordentlich gefährlich. Die nahe den gegnerischen Kraftzentren aufgestellten konventionellen Streitkräfte sind nämlich am meisten gefährdet, und das um so mehr, als die Verteidigung notwendigerweise auseinandergezogen ist, während der Angreifer Schwerpunkte bilden kann. Die meisten konventionellen Schlachten sind nicht durch allgemeine, sondern durch örtliche Überlegenheit entschieden worden — durch die Fähigkeit, Streitkräfte an einem kritischen Punkt zu konzentrieren und dann den Gegner im einzelnen zu schlagen. Der Versuch, eine Linie entlang dem Eisernen Vorhang mit 30 Divisionen zu halten, würde den Fehler der Alliierten von 1940 wiederholen, als sie in den Niederlanden eingekesselt wurden.

Natürlich bilden 30 Divisionen eine stärkere Kraft als 22. Ihr größter Nutzen liegt jedoch im Rahmen von Aufgaben, die wir nicht festgelegt haben. Schildstreitkräfte dieser Größe werden in hohem Maße die Fähigkeit der NATO verstärken, Verbündete wie Griechenland und die Türkei gegen Angriffe der Satellitenstaaten zu verteidigen. Sie werden es leichter machen, einem Drude auf europäische Länder, die nicht der NATO angehören, wie z. B. Österreich und Jugoslawien, entgegenzutreten. Sie mögen vor allem nötig sein, wenn eine taktische Nuklear-Verteidigung der mitteleuropäischen Front ins Auge gefaßt wird — obwohl es scheint, daß dieses Ziel ausdrücklich ausgeschlossen worden ist

Im Abschnitt Mitteleuropa werden 30 Divisionen die Fähigkeit der NATO erhöhen, kleineren Angriffen zu widerstehen. Darüber hinaus werden sie es der NATO ermöglichen, einem Groß-angriff etwas länger Widerstand zu leisten. Der springende Punkt ist jedoch die Definition des Begriffs „kleinerer Angriff". Einem sowjetischen Handstreich an der mitteleuropäischen Front mit, sagen wir, fünf Divisionen können schon 22 Divisionen widerstehen, wenn auch nicht in gleichem Maße beweglich. Ein größerer sowjetischer Angriff wäre gleichbedeutend mit einem großen Krieg in Mitteleuropa. Es ist gegen jede Vernunft, anzunehmen, daß die Entscheidung der Sowjets darüber, einen größeren Angriff oder einen kleineren Übergriff zu unternehmen, davon abhängt, ob sie 22 oder 30 Divisionen gegenüberstehen. Da das Risiko eines Angriffs auf einige 20 Divisionen nicht viel kleiner wäre, als das eines Großangriffs, würde die Sowjetunion wahrscheinlich gerade so starke Kräfte einsetzen, wie nötig wären, die mitteleuropäische Front zu zerschlagen, solange sie unzureichend gehalten wird. Wenn, mit anderen Worten, der konventionelle Aufbau der NATO etwas anderes sein soll als eine unbedeutende Variation traditioneller Strategie, so ist eine grundlegende Überprüfung der NATO-Konzeption und der Truppenstärken nötig.

Die Entscheidung für örtliche Verteidigung

Die NATO wird klarer als bisher die Notwendigkeit ins Auge fassen müssen, Streitkräfte für eine örtliche Verteidigung Europas aufzustellen. Diejenigen Europäer, die glauben, daß eine Betonung der lokalen Verteidigung die Glaubhaftigkeit der Abschreckung verringere, verwechseln Ursache und Wirkung. Das Fehlen von Alternativen zu einem strategischen Gegen-schlag ruft mit Sicherheit eine Schwäche hervor, die zum Angriff reizt. Die Schaffung dieser Alternativen wird größere Anstrengungen erfordern als die bisher vorgesehenen verhältnismäßig geringfügigen Änderungen der Konzeption und der Truppenstärken.

Zwei Wege sind möglich Der erste würde dazu führen, die Schildstreitkräfte und Einsatzreserven so zu verstärken, daß sie nicht nur 30 Tage, sondern so lange standhalten könnten, bis das überlegene Potential des Westens sich auswirken kann. Das Ziel der konventionellen Streitkräfte wäre es dann, ein örtliches Unentschieden zu erreichen, vergleichbar dem Unentschieden der strategischen Streitkräfte, das die lokale Verstärkung erst nötig gemacht hat. Diese Kräfte müßten in nuklearer -Kriegführung ausgebildet sein und Rückenstärkung durch eine Atomstreitmacht erhalten, die sie vor dem sowjetischen Kernwaffeneinsatz bewahren könnte. Da jedoch bei iesem Weg der taktische Einsatz von Kernwaffen nicht ausgeschlossen wäre, würde die NATO im wesentlichen versuchen, der sowjetischen Macht mit den gleichen Mitteln zu begegnen, die sie anwendet, und damit die Skala der Abschreckung vervollständigen. Wenn dieser Weg gewählt wird, wird das Ziel von 30 Divisionen wesentlich erhöht und eine Reserveorganisation fast aus dem Nichts geschaffen werden müssen.

Dieser Kurs geht nicht über die Möglichkeiten der NATO hinaus. Westeuropa allein ist der UdSSR an Industriepotential und sogar an Menschenzahl überlegen, und für die Nordatlantische Gemeinschaft als Ganzes sollte es viel leichter als für den Ostblock sein, die ganze Skala der Abschreckungsmacht zu unterhalten. Der oft gehörte Einwand, daß die NATO ihre gegenwärtige Strategie beibehalten müsse, da ihre Völker nicht bereit seien, die für eine wirksame lokale Verteidigung nötigen Opfer zu bringen, ist zweifellos unvereinbar mit der Aufrechterhaltung der Glaubhaftigkeit eines ersten Gegenschlages. Aus welchem Grunde sollte ein Angreifer daran glauben, daß Völker und Politiker, die nicht bereit sind, die für die Sicherstellung einer konventionellen lokalen Verteidigung nötigen, vergleichsweise kleinen Opfer zu bringen, bereit wären, die ungeheuren Verwüstungen auf sich zu nehmen, die ein Atomkrieg mit sich bringt?

Gleichzeitig ist auch die Entscheidung, sich auf eine weitgehend konventionelle Verteidigung zu verlassen, nicht ohne Risiken. Wenn wir nicht sehr behutsam und feinfühlig vorgehen, könnte der Eindruck entstehen, der Westen betrachte jede Art von Atomkrieg als undenkbar, wie groß die Herausforderung auch sein mag. Unter diesen Umständen könnten die Sowjets die konventionelle Verstärkung der NATO durch die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen gegen die konventionellen Truppenverbände bedeutungslos machen. Übrigens ist es trotz der oben angestellten Betrachtungen möglich, daß keine westliche Regierung einschließlich der der Vereinigten Staaten gewillt ist, die Anstrengungen zu machen, die die Verlagerung auf die konventionelle Verteidigung mit sich brächte. Sollte es nicht gelingen, die erforderlichen Verbände aufzustellen, würde ein Gefühl der Schwäche eintreten und sowjetische Pressionen herausfordern. Nichts könnte gefährlicher sein, als die Verteidigungskonzeption zu ändern, ohne die nötigen Streitkräfte für ihre Verwirklichung aufzustellen.

Wenn die NATO nicht gewillt ist, die für eine konventionelle Verteidigung nötigen Anstrengungen zu machen, wäre die zweite Möglichkeit, sich stärker auf taktische Kernwaffen zu verlassen. Ein taktischer Atomkrieg erfordert zu Beginn nicht weniger Truppen als ein konventio-neller Krieg — eher sogar mehr. Ein solcher Krieg wird jedoch höchstwahrscheinlich mit aktiven Verbänden ausgetragen, und der Einsatz von Kernwaffen sollte eine umfassende Verstärkung der Truppen im Frontgebiet verhindern können.

Im Rahmen dieser Strategie sollten die konventionellen Streitkräfte wenigstens stark genug sein, die in Deutschland und Osteuropa stehenden sowjetischen Kräfte aufzuhalten. Das würde einen unerwarteten Handstreich verhindern. Ein entscheidender sowjetischer Angriff würde einen vorherigen Truppenaufmarsch erfordern. Wenn die konventionellen Streitkräfte des Westens so stark wären, daß zu ihrer Über-windung bedeutende sowjetische Verstärkungen nötig wären, würden sich für taktische Waffen viele Ziele bieten. Der Zweck der konventionellen Streitkräfte wäre es, optimale Bedingungen für den Einsatz taktischer Kernwaffen zu schaffen. Die Abschreckung würde nicht durch Vorsorge für jeden unvorhersehbaren Fall erreicht, sondern dadurch, daß sich die Sowjets der Aussicht auf einen Konflikt mit unübersehbaren Folgen gegenübersähen.

Von der gegenwärtigen Strategie unterscheidet sich dieser Weg in drei Punkten: a) man würde größeres Vertrauen darin setzen, einen sowjetischen Angriff ohne Anwendung eines Gegenschlages aufzuhalten; b) Kernwaffen würden nicht erst nach einer Pause und wenn die NATO-Streitkräfte am Rande der Niederlage stünden eingesetzt werden. Sie würden eher in einem frühen Operationsstadium verwendet werden, nämlich sobald es sich herausstellte, daß ein sowjetischer Groß-angriff im Gange ist;

c) zuerst würden Kernwaffen im Kampfgebiet eingesetzt werden

Das überzeugendste Argument für die Zahl von 30 Divisionen liegt in der Verteidigung mit taktischen Kernwaffen, nicht in der konventionellen.

Gleichzeitig ist der Verlaß auf eine Verteidigung mit taktischen Atomwaffen offenbar der unsicherere und risikoreichere Weg, wenn er auch leichter zu beschreiten ist. Er würde vom Westen verlangen, Kernwaffen in einem frühen Stadium der Operationen einzusetzen. Zögerte die NATO, könnten die Sowjets den Widerstand der Verteidigungsstreitkräfte so weit brechen, daß auch der Einsatz von taktischen Kernwaffen die Situation nicht wiederherstellen könnte.

Diese Strategie könnte die Sowjets daher zu nicht eindeutig bestimmbaren Herausforderungen veranlassen, um die NATO in einen ungünstigen Zermürbungskrieg zu verwickeln. Die Schwierigkeit entsteht dadurch, daß es der Westen versäumt hat, eine klare Konzeption für den Krieg mit taktischen Kernwaffen auszuarbeiten oder eigens dafür bestimmte Streitkräfte aufzustellen. Aus verschiedenen Gründen ist die Möglichkeit der Begrenzung eines Kernwaffenkonflikts verworfen und sind alle Kernwaffen ohne Rücksicht auf ihre Art in Acht und Bann getan worden. Wenn dieser Trend andauert, wird wahrscheinlich eine Strategie, die das Schwergewicht auf den Einsatz taktischer Atomwaffen legt, auf ähnliche Hemmnisse'stoßen wie die Gegenschlag-Strategie, die den Sowjets fast gleichartige Möglichkeiten für Erpressungen bieten würden.

Welcher Weg auch immer eingeschlagen wird, eine Reihe von Überlegungen muß festgehalten werden. Erstens ist die Wahl zwischen konven-• tionellem und atomarem Krieg nicht länger dem Westen allein überlassen. Unabhängig von ihren eigenen Wünschen muß die NATO darauf gefaßt sein, daß der Gegner zuerst Kernwaffen einsetzt. Jeder Krieg wird — ob Kernwaffen eingesetzt werden oder nicht — nuklear sein in dem Sinn, daß der Aufmarsch auch konventioneller Streitkräfte das Vorhandensein taktischer Kernwaffen in Betracht ziehen muß und das Risiko des „Hinaufschaukelns“ auch bei gegenseitiger Unverwundbarkeit niemals ganz ausgeschaltet werden kann.

Zweitens besteht bei der Entscheidung über die Stärke der benötigten Streitkräfte die Gefahr eines zu mechanischen Vorgehens. Zu oft ist der Eindruck erweckt worden, eine wirksame konventionelle Verteidigung könne unter der Voraussetzung erreicht werden, daß zum Angriff eine Überlegenheit von etwa 3 : 1 nötig ist. Diese Voraussetzung, die merkwürdig an gewisse französische Theorien vor dem zweiten Weltkrieg erinnert, darf, selbst wenn sie stimmt, nicht so wörtlich genommen werden. Der Angreifer braucht nicht an der ganzen Front eine Überlegenheit von 3: 1. Er kann dadurch gewinnen, daß er Truppen an dem entscheidenden Punkt massiert und ihn überrennt. Im konventionellen Krieg sind Siege sehr oft bei ungefähr gleichen Stärkeverhältnissen errungen worden. (Deutschland hat schließlich seine Siege im zweiten Weltkrieg mit unterlegenen Kräften errungen)

Eine Akzentverschiebung auf die örtliche Verteidigung wird die NATO zwingen, sich entschlossen drei anderen Problemen zuzuwenden:

der Standardisierung der Waffen, der Schaffung von Spezialstreitkräften für den konventionellen Krieg und einer Überprüfung der Kernwaffenstationierung. Im Augenblick ist die NATO mit verschiedenen Typen von Panzern, Artillerie und Kleinwaffen ausgerüstet. Obwohl das NATO-Oberkommando integriert ist, besitzt jeder nationaler Heeresverband seine eigenen Waffen. Im Falle eines Konfliktes könnten sich die Probleme der Logistik als unlösbar herausstellen. Wahrscheinlich bildet hinsichtlich der Begriffe „Pause“ und „Schwelle" jede nationale Streitmacht innerhalb des integrierten Ober-kommandos einen Faktor für sich.

Mit den augenblicklichen Waffen könnte außerdem ein konventioneller Kampf von einiger Dauer eine unerträgliche Abnützung der nuklearen Streitkräfte zu Folge haben. Dies gilt besonders für die Luftwaffe. Lim eine moderne Luftabwehr zu überwinden und tief in feindliches Gebiet einzudringen, sind komplizierte, schnelle Flugzeuge erforderlich. Die Kosten dieser Maschinen zwingen unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit fast zum Einsatz von Kernwaffen. Außerdem ist die Zahl der verfügbaren Kampfflugzeuge heute bedeutend geringer als im zweiten Weltkrieg. In einem längeren konventionellen Krieg könnte ein wesentlicher Teil der für ein eventuelles Eingreifen mit nuklearen Waffen nötigen Flugzeuge verloren-gehen. Wenn die konventionelle Rüstung wirksam sein soll, muß die NATO ihre taktischen Luftstreitkräfte verstärken und billige, einfache Maschinen zur Unterstützung der Bodenstreitkräfte entwickeln.

Das wirft unmittelbar die Frage der Verteilung und Kontrolle von Kernwaffenträger auf. In Europa sind sie im Augenblick so weit vorn stationiert, daß jeder örtliche Rückzug ihren sofortigen Einsatz erzwingen könnte. Gleichzeitig sind sie so verstreut, daß, obwohl dem amerikanischen Präsidenten die allgemeine Entscheidung über ihren Einsatz vorbehalten ist, nadt einer solchen Entscheidung eine differenzierte Kontrolle außerordentlich schwierig sein wird. Diese unbehagliche Situation wird noch dadurch verschlimmert, daß der Begriff „taktisch im üblichen Sprachgebrauch alle Waffen umfaßt, die nicht dem Strategischen Luftkommando unterstellt sind. Während einige der Waffen in Europa für den Einsatz auf dem Schlachtfeld bestimmt sind, haben andere im wesentlichen Vergeltungsfunktionen, die nicht von denen des Strategischen Luftkommandos zu unterscheiden sind. Somit entsteht durch die augenblickliche Aufstellung zwangsläufig ein Drude in Richtung einer ständigen Steigerung der Mittel, nicht nur auf den Atomkrieg hin, sondern, nachdem jene Schwelle einmal überschritten ist, zu seiner verheerendsten Form.

Auf welcher Höhe auch immer sich die konventionelle Rüstung befinden mag, eine Überprüfung der Stationierung von Kernwaffen sowie des ihrem Einsatz zugrunde liegenden Plans sind unbedingt erforderlich.

Somit hat die NATO erst die ersten Probe-schritte in Richtung auf eine Neubewertung ihrer Strategie getan. Sie hat die Anzahl ihrer Divisionen um ein geringes erhöht und ihre Ausrüstung verbessert. Eine ernsthafte Entscheidung für die örtliche Verteidigung erfordert jedoch umfassendere Anstrengungen. Wenn die hier dargestellten Unklarheiten nicht beseitigt werden, könnte die Sowjetunion unsere Aktionen mißverstehen. Innerhalb der NATO wird es sich als schwierig herausstellen, eine wirksame politische Kontrolle der militärischen Planung durchsetzen. Halbe Maßnahmen könnten die NATO dazu führen, jeweils die Nachteile jedes möglichen Weges auf sich nehmen zu müssen.

Die NATO und taktische Kernwalten

Der augenblickliche Aufmarsch der NATO-Kernwaffenstreitmacht ist im Rahmen der gegenwärtigen NATO-Konzeption eine Anomalie. Kernwaffen und Abschußrampen für den taktischen Einsatz sind in Europa in beträchtlicher Anzahl stationiert worden. Der stellvertretende amerikanische Verteidigungsminister Gilpatric hat jedoch den Gedanken an einen taktischen Atomkrieg abgelehnt: „Ich für meine Person habe niemals an einen sogenannten begrenzten Krieg geglaubt Ich weiß einfach nicht, wie man eine Schranke einbauen will, nachdem man einmal angefangen hat, irgendeine Art von Atomschlag anzuwenden.

8)Diese Ansicht scheint von Verteidigungsminister McNamara auf der Tagung der NATO-Minister in Athen bekräftigt worden zu sein

Gleichzeitig beteuerte McNamara, daß im Fall eines großen Krieges die strategischen Streitkräfte allein genügen würden, jeden nuklearen Auftrag auszuführen: „Es ist gar keine Frage, daß unsere strategischen Vergeltungsstreitkräfte — Bomber, Raketen und Polaris-Unterseeboote — voll und ganz in der Lage sind, sowjetische Ziele zu vernichten, selbst nachdem sie einem nuklearen Überraschungsangriff ausgesetzt gewesen sind. Nach Abzug der Verluste durch einen ersten nuklearen Angriff von Seiten des Gegners rechnen wir damit, daß unsere (strategischen) Streitkräfte prinzipiell alle sowjetischen Ziele ohne jede Hilfe durch taktische Luftwaffeneinheiten oder von Flugzeugträgern vernichten werden, die ebenfalls in der Lage sind, diese Ziele mit Kernwaffen anzugreifen .“

In diesem Rahmen sind die nuklearen Verbände auf dem Kontinent gefährlich und nutzlos zugleich. Gefährlich, weil sie vielleicht den begrenzten Atomkrieg unvermeidbar machen, von dem sowohl McNamara als auch Gilpatric behauptet haben, er werde sich zu einem allgemeinen Atomkrieg ausweiten. Nutzlos, weil sie Ziele ein zweites Mal angreifen würden, die schon für unsere strategischen Streitkräfte vorgesehen sind.

Die Gültigkeit der Feststellungen unserer höchsten für die Verteidigung verantwortlichen Beamten hängt natürlich davon ab, was man vom Zentralproblem der NATO, der Wirksamkeit der Gegenschlag-Strategie, hält. Wenn die sich gegenüberstehenden strategischen Streitkräfte leicht verwundbar sind, wird wahrscheinlich jeder Einsatz von Kernwaffen zur ständigen Steigerung der Mittel führen. Nadi dieser Hypothese wäre jedoch eine echte konventionelle Rüstung ebenso unnötig wie die nuklearen Verbände auf dem Kontinent überflüssig wären. Wenn, was viel wahrscheinlicher ist, die Unverwundbarkeit der sich gegenüberstehenden Vergeltungsstreitkräfte zunimmt, gewinnt der kontrollierte Einsatz von Kernwaffen eine andere Bedeutung.

Präsident Kennedy hat von der Notwendigkeit von Alternativen zwischen LInterwerfung und großem Atomkrieg gesprochen. Dafür scheint die Fähigkeit zu taktischen nuklearen Operationen ausschlaggebend zu sein. Tatsächlich ist das die nützlichste — vielleicht die einzig sinnvolle Aufgabe für die auf dem Kontinent stationierten Kernwaffen.

Manche Leute wenden ein, die begrenzte Anwendung von Kernwaffen könne, wenn man sie als notwendig erachte, den strategischen Streitkräften überlassen werden. Nach dieser Argumentation würde ein — wenn auch begrenzter — Atomkrieg so verworrene und gefahrvolle Situationen mit sich bringen, daß die örtliche Lage verhältnismäßig unwichtig wird. Diese Theoretiker treten deshalb dafür ein, daß, wenn ein konventioneller Kampf atomar zu werden droht, „demonstrativ“ und als „Schuß vor den Bug“ Kernwaffen eingesetzt werden sollen.

Aber was gedenkt man damit zu demonstrieren? Es gibt zwei Möglichkeiten, die strategischen Kräfte einzusetzen: einen begrenzten Angriff auf die gegnerische strategische Streitmacht oder einen „Strafangriff“ auf nichtmilitärische Ziele des Aggressors. Bei beiden Methoden sind ernste Zweifel an der Zweckmäßigkeit angebracht.

Wenn die gegnerische strategische Streitmacht verwundbar und der begrenzte amerikanische Angriff wirksam ist, kann die sowjetische Antwort in einem Gegenschlag auf unsere Städte bestehen, solange der Sowjetunion einige strategische Waffen verbleiben. Ist die gegnerische Vergeltungsstreitmacht verhältnismäßig unverwundbar, ist das Ergebnis vielleicht ein „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. In dem Fall kann der Ausgang sehr wohl von dem Sieg auf dem Schlachtfeld in Mitteleuropa abhängen. In fast jeder vorhersehbaren Situation ist ein Gegen-schlag in voller Stärke vielleicht weniger riskant, als ein begrenzter.

Wenn Kernwaffen „zur Strafe" eingesetzt werden, hängt das Ergebnis wahrscheinlich wieder von der örtlichen Situation ab. Nachdem sowjetische Streitkräfte den Rhein erreicht haben, kann zum Beispiel die Zerstörung Kiews, gefolgt von einer ähnlichen Zerstörung im Westen, alle anderen Überlegungen zurückdrängen in dem Wunsch, die Spirale zu immer größerer Verwüstung aufzuhalten. Die darauf folgende Verwirrung und Panik kann es den Sowjets sehr wohl erlauben, ihre neuen Eroberungen zu sichern. Die wirksamste Methode zur Anwendung von Kernwaffen in begrenztem Umfang ist offenbar ihr taktischer Einsatz, um eine Schlacht zu beenden und einen Durchbruch zu verhindern.

Auch unter günstigsten Umständen wird die jedem Einsatz von Kernwaffen folgende Verwirrung beträchtlich sein. Hinzu kommt die mangelnde Erfahrung aller Länder in der Anwendung von Kernwaffen. Der Einsatz von Kernwaffen zur Verhinderung eines bedeutenderen Gebietsgewinnes durch den Angreifer hätte den Vorteil, genau festgelegte geographische Grenzen zu beachten. Von allen Begrenzungen ist das diejenige, die am einfachsten zu verstehen und zu vereinbaren ist. Wenn ein Stillstand in den militärischen Operationen erzwungen werden kann, ist das Hauptziel der Verteidigung erreicht.

Bis jetzt stoßen Überlegungen dieser Art auf den Widerstand verschiedenartiger Gruppen: Anhänger der traditionellen Luftkriegs-Theorie sind überzeugt, daß jede begrenzte Anwendung von Kernwaffen mit Sicherheit ergebnislos bleiben wird; Pazifisten sind darauf aus, unsere Möglichkeiten auf die beiden extremsten Alternativen festzulegen; Verfechter begrenzter Abrüstungspläne möchten die Tür für Maßnahmen wie eine atomwaffenfreie Zone in Europa offen halten. Der Mangel an Konzeption und Vorbereitung auf einen taktischen Atomkrieg — verstanden als Beherrschung des Kampfgebietes — ist eine der größten Lücken im gegenwärtigen Verteidigungsplan sowohl der Vereinigten Staaten als auch der NATO. Diesem Mangel sollte im Rahmen der Neukonzeption der NATO-Strategie abgeholfen werden. Strategische Waffen können diese Aufgabe nicht übernehmen. Ihnen fehlt die Genauigkeit, sie sind zu gewaltig, und sie würden bei einer taktischen Verwendung rasch aufgebraucht sein.

Eine Reform des atomaren Aufmarsches auf dem europäischen Kontinent sollte systematisch die Rolle der Kernwaffen bei der Stabilisierung einer Kampffront berücksichtigen. Das ist vor allem nötig, wenn die NATO nicht genügend konventionelle Streitkräfte aufstellen kann, um einem massiven Angriff zu widerstehen; es ist jedoch auf jeden Fall erforderlich, damit wir wissen, was wir mit den Kernwaffen machen sollen, wenn sie zuerst von den Sowjets gegen NATO-Streitkräfte eingesetzt werden. Die NATO sollte nicht einfach danach trachten, existierende Waffen durch modernere Typen mit ähnlichen Aufgaben zu ersetzen, wie zum Beispiel Flugzeuge durch Raketen. Eher sollte man sich bemühen, erst die Aufgaben neu zu durchdenken und erst danach dem neuen Konzept entsprechende Waffen zu entwickeln. Der Ausdruck „taktischer Einsatz“ sollte viel genauer definiert werden, als er es in der Vergangenheit gewesen ist. Im gängigen Denken unterscheidet sich ein taktischer von einem allgemeinen Atomkrieg in erster Linie durch seine geographische Begrenzung — eine Betrachtungsweise, die für das mögliche Opfer uninteressant sein muß. Alle Aufgaben und die ihnen angemessenen Waffen werden gründlich neu durchdacht werden müssen. Jeder taktische Einsatz von Kernwaffen erferfordert eine differenzierende Kontrolle und eine genaue Vorausplanung. Wahrscheinlich wird keins der beiden Ziele erreicht werden, solange Kernwaffen einen derart integrierenden Bestandteil jeder größeren militärischen Einheit bilden. Um sowohl die konventionelle Rüstung wirksam zu gestalten als auch einen flexiblen Einsatz von Kernwaffen zu ermöglichen, sollten die Kernwaffenverbände auf dem europäischen Kontinent unter einem eigenen Kommando zusammengefaßt werden. Wenn man eine NATO-Atommacht für nötig hält, wäre die Kontrolle taktischer Operationen ihre angemessenste Aufgabe

Es ist leicht, über die Regeln des „Marquis of Queensbury"zu spotten, die der begrenzte Atomkrieg angeblich erfordern soll. Viele wenden ein, ein begrenzter Atomkrieg werde sich automatisch „hochschaukeln“, da die verlierende Seite immer mehr Mittel einsetzen werde, um die Lage wiederherzustellen. Daher, so wird behauptet, sei ein Sieg unmöglich. Diejenigen jedoch, die die Idee eines taktischen Atomkrieges verspotten, sollten uns erklären, welche Alternativen sie Vorschlägen, wenn — in welcher Phase der konventionellen Rüstung auch immer — die Sowjets als erste Kernwaffen gegen unsere Schildstreitkräfte einsetzen sollten. Wenn wir weder die Kapitulation noch den großen Atom-krieg wollen, ist der taktische Einsatz von Kernwaffen vielleicht unsere einzige Möglichkeit, eine Niederlage zu verhindern. Das Schlimmste, was geschehen könnte, wenn Kernwaffen taktisch eingesetzt werden, geschieht mit Sicherheit bei Anwendung der Gegenschlag-Strategie.

Wenn es schließlich richtig ist, daß in einem taktischen Atomkrieg ein Sieg unmöglich ist, dann würde damit gleichzeitig die Abschreckung verstärkt, denn eine Aggression wäre dann sinnlos. Diese Feststellung ist jedoch nur teilweise richtig. Wenn die Schildstreitkräfte zerschlagen sind, könnte es dahin kommen, daß auch der Einsatz immer stärkerer Kampfmittel die Lage nicht wiederherstellen kann. Ein wirksamer Einsatz taktischer Kernwaffen hängt daher von der Stärke der Schildstreitkräfte ab.

Die NATO und die Verfügungsgewalt über Kernwaffen

Weiche Strategie auch immer die NATO wählt, sie wird sich mit der Frage der Verfügungsgewalt über die Kernwaffen auseinandersetzen müssen. Seit fast zwei Jahren ist diese schwierige Frage Gegenstand von Beratungen und Diskussionen. Frankreich versucht, seine eigene Vergeltungsstreitmacht aufzubauen und geht damit einen Weg, den Großbritannien schon seit langem eingeschlagen hat. Die Bundesrepublik Deutschland hat (nach der letzten Erklärung ihres Verteidigungsministers) um Informationen über die Lage der Kernwaffenvorräte in Deutschland gebeten, und um eine Garantie, daß diese nicht ohne Zustimmung der NATO zurückgezogen werden sowie schließlich eine Art von nicht näher bestimmter gemeinsamer Kontrolle über Kernwaffen verlangt, die von deutschem Boden abgeschossen würden Die französischen Anstrengungen zielen darauf ab, die Abhängigkeit von der Vergeltungsstreitmacht der Vereinigten Staaten zu verringern, während der deutsche Vorschlag in erster Linie mit der Frage eines taktischen Atomkrieges zusammenhängt, da die Kernwaffen auf deutschem Gebiet für eine Vergeltungsstrategie weder geeignet noch gedacht sind. Andere NATO-Verbündete denken an irgendeine Form gemeinsamer Kontrolle, weniger, um zu einer positiven Entscheidung über die Anwendung von Kernwaffen beizutragen, als vielmehr, um gegen ihren Einsatz ein Veto einlegen zu können.

Die amerikanischen Überlegungen leiden unter dem Bemühen, mehrere unvereinbarte Aktionspläne zu verbinden. Die USA möchten die Vermehrung nationaler Atomstreitkräfte verhindern und betonen die steigende Bedeutung konventioneller Streitkräfte. Sie möchten aber gleichzeitig die entscheidende Stimme in der nuklearen Politik der NATO behalten. Es ist jedoch gegen alle Vernunft, von den europäischen Verbündeten zu erwarten, daß sie ihre konventionellen Streitkräfte in einem gemeinsamen Kommando integrieren und größeres Vertrauen in eine konventionelle Verteidigung setzen, während einer der Partner für sich das Monopol über die Gegenmittel gegen eine sowjetische nukleare Drohung sowie die Handlungsfreiheit beim Einsatz von Kernwaffen beansprucht.

Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die französische atomare Rüstung nicht so sinnlos, wie sie oft hingestellt wird. Man kann leicht zeigen, daß nationale Atomstreitkräfte in Europa wirkungslos sind, weil sie bei einem entschlossenen Überraschungsangriff nutzlos wären und weil es Selbstmord wäre, sie selbständig gegen die Sowjetunion einzusetzen. Die Kernfrage ist jedoch, ob diese Streitkräfte dafür gedacht sind, separat eingesetzt zu werden. Könnte die Sowjetunion jemals einen Überraschungsangriff auf die strategischen Streitkräfte Großbritanniens oder Frankreichs führen, ohne das unannehmbare Risiko eines Gegenschlages durch die Vereinigten Staaten oder einen anderen einstweilig verschonten Verbündeten auf sich zu nehmen? Für den Fall, daß umgekehrt die strategischen Streitkräfte eines der europäischen Verbündeten die UdSSR ohne amerikanische Zustimmung oder vielleicht sogar gegen den Willen der LISA angreifen würden, kann man natürlich einfach sagen, dann würden die USA diesem Verbündeten seinem Schicksal über-überlassen. In Wirklichkeit wäre das äußerst unwahrscheinlich. Es handelt sich nicht nur darum, daß die Sowjets vielleicht trotzdem einen Atomschlag gegen die USA führen würden. Was wichtiger ist, einen widerspenstigen Verbündeten zu „bestrafen", indem er einem sowjetischen Gegenschlag ausgeliefert wird, hätte für Amerika sicherlich ebenso ernste Folgen wie für den Übeltäter.

Wenn die Amerikaner ehrlich sein wollen, müssen sie zugeben, daß einer ihrer Einwände gegen die Aufstellung neuer nationaler Nuklear-streitkräfte innerhalb der NATO daher rührt, daß sie nicht zulassen wollen, daß ein Verbündeter in der Lage ist, die USA in einen Atomkrieg zu zwingen. Aus diesem Grunde wird die Entstehung nationaler Nuklearstreitkräfte unabhängig von ihrer militärischen Wirksamkeit praktisch zu politischer Koordination der NATO-Politik zwingen, wie sie zuerst Präsident de Gaulle in seinem Direktoriumsplan vorgeschlagen hat. Präsident de Gaulle hat zweifellos auch noch andere Ziele im Sinn. Die Frage für die NATO bleibt trotzdem, ob es möglich ist, eine Koordination ohne kostspielige und vergeudete doppelte Anstrengungen zu erreichen.

Mehrere Pläne sind vorgeschlagen worden. Im Mai 1961 bot Präsident Kennedy ausdrücklich an, „der NATO . . . fünf — und später noch mehr — Polaris-Atomunterseeboote zu unterstellen . . . vorbehaltlich der Einigung der NATO über Richtlinien über Verfügungsgewalt und Einsatz.“ Dieses Versprechen wurde von Verteidigungsminister McNamara auf der Ministertagung in Athen eingelöst, als er mitteilte, daß der NATO schon fünf Polaris-Unterseeboote unterstellt worden seien und mehr folgen sollten Ebenso hat Präsident Kennedy die Bereitschaft ausgedrückt, „eine NATO-Seestreitmacht in Betracht zu ziehen, die in Besitz und Verfügungsgewalt wirklich multilateral wäre . . ." Außenminister Rusk bestätigte die amerikanische Bereitschaft, an Beratungen über dieses Projekt teilzunehmen

Bei der Bewertung dieser Vorschläge und Versprechen ist es jedoch wichtig, daß wir uns über ihr Wesen im klaren sind. Der NATO Polaris-Unterseeboote zu unterstellen ist ein wichtiges Symbol amerikanischen Engagements. Es ist jedoch kein Plan für eine wirksame gemeinsame Verfügungsgewalt über Kernwaffen — und es als solche darzustellen ruft nur Verwirrung hervor.

Was bedeutet tatsächlich diese Unterstellung unter die Befehlsgewalt der NATO? Wie angekündigt, bleiben die U-Boote unter ausschließlicher Kontrolle der Vereinigten Staaten. Bedeutet dies, daß eine stärkere Verpflichtung zum Einsatz der der NATO unterstellten nuklearen Streitkräfte für die Verteidigung Europas besteht als zum Einsatz des -Strategischen Luftkommandos? Es besteht die Gefahr, den Eindruck zu erwecken, als bestünden verschiedene Stufen amerikanischer nuklearer Verpflichtung gegenüber der NATO. Das muß abgewogen werden gegen die Beruhigung, die unsere Verbündeten aus der Unterstellung dieser U-Boote unter die NATO schöpfen. Was soll man dann von dem Satz im NATO-Kommunique von Athen halten, daß die Vereinigten Staaten und Großbritannien feste Zusagen abgegeben hätten, „daß ihre strategischen Streitkräfte auch weiterhin Schutz gegen Bedrohungen des Bündnisses bieten, die über den Rahmen dessen hinausgehen, mit dem die der NATO unter-stellten Streitkräfte fertig werden können“? Bedeutet das, daß es in der NATO-Strategie zwei „Schwellen" gibt, eine zwischen konventionellem und Atomkrieg und eine zweite zwischen dem Einsatz der der NATO unterstellten strategischen Streitkräfte und dem des Strategischen Luftkommandos in Verbindung mit dem britischen Bomberkommando? Wenn ja, so würde das allein das Ende einer Gegenschlag-Strategie bedeuten, denn eine derartige Strategie geht über die Möglichkeiten einer der NATO unterstellten Streitmacht von Polaris-U-Booten hinaus — sowohl der gegenwärtigen von fünf Booten wie auch einer künftigen stärkeren. Wenn jedoch alle strategischen Streitkräfte zusammenwirken sollen, ist es die Frage, ob es klug ist, sie in zwei Teile aufzuspalten.

Man kann einwenden, daß die Unterstellung der Polaris-Unterseeboote unter die NATO sie gemeinsamen Richtlinien unterwirft, wie das in der Rede von Präsident Kennedy in Ottawa zum Ausdrude kommt. Aber was bedeuten Richtlinien für einige wenige U-Boote? Gemeinsame Pläne, die strategisch sinnvoll sein sollen, müßten die gesamte Nuklearstreitmacht der NATO erfassen, einschließlich des SAC und des britischen Bomberkommandos.

Eine ernstere Frage jedoch ist die folgende: sind diese Richtlinien als Eventualplan für den Einsatz von Kernwaffen zu verstehen, vorausgesetzt, die betroffenen Regierungen stimmten ihrer Anwendung zu? Oder sollen sie die NATO verpflichten, in gewissen vorher festgelegten Situationen Kernwaffen einzusetzen, d. h„ soll der NATO-Oberbefehlshaber im voraus eine Vollmacht erhalten, so daß er keine weiteren Rücksichten auf politische Direktiven mehr zu nehmen braucht? Sollte ersteres der Fall sein, so schafft die Diskussion von Richtlinien vielleicht ebenso viele Probleme, wie sie löst. Ein Eventualplan dieser Art bietet nicht nur Möglichkeiten, er schließt auch welche aus. Er bestimmt nicht nur, wann Kernwaffen angewandt, er legt auch genau fest, wann sie nicht eingesetzt werden sollen. Der Versuch, zu sehr ins einzelne zu gehen, kann daher die Schwierigkeiten vergrößern, das Versäumnis, ins einzelne zu gehen, könnte die Interessen einiger NATO-Partner verletzen.

Wenn andererseits die Richtlinien als Direktive für den NATO-Oberbefehlshaber ausgearbeitet werden, würde das einen bisher beispiellosen Verzicht auf ein traditionelles Schlüsselelement der NATO-Politik bedeuten, nämlich auf die politische Kontrolle des militärischen Apparates. Auf jeden Fall sind einige europäische NATO-Partner nicht so sehr über Mängel der amerikanischen Planung beunruhigt wie — um es grob auszudrücken — über den Mangel an Entschlossenheit. Einige Verbündete erklären ganz offen, sie bezweifelten nicht die Fähigkeit der Amerikaner, Kernwaffen einzusetzen, sondern ihre Bereitschaft dazu.

Lassen sich diese Sorgen beheben durch die Schaffung einer NATO-Kernstreitmacht, sei es durch gemeinsamen Besitz einer NATO-Polarisstreitmacht oder durch die Bildung einer multilateralen zentralen Steuerung der der NATO unterstellten Polaris-Unterseeboote? Man meint, die Ausgestaltung der NATO zu einer „vierten Atommacht" würde zu einer gemeinsamen Planung führen und nationale Atomstreitkräfte ersetzen. In der Praxis wird wahrscheinlich keins von beidem erreicht werden.

Eine multilaterale NATO-Atomstreitmacht, die auf den schon bestehenden Bau der NATO aufgesetzt würde, brächte innerhalb des Bündnisses drei, vielleicht sogar vier verschiedene Arten strategischer Streitkräfte hervor: eine sehr große unter ausschließlicher Kontrolle der Vereinigten Staaten (diese kann je nachdem, wie dieNATOStreitmacht aussehen soll, aus zwei Teilen bestehen, einem unter dem Strategischen Luftkommando und einem der NATO „unterstellten“), zwei kleinere nationale, und schließlich eine mittelgroße NATO-Streitmacht, an der alle Länder beteiligt wären, die schon nationale Atomstreitkräfte besitzen. Dieses Sammelsurium von Streitkräften würde außerordentlich schwierige Kommando-und Kontrollprobleme mit sich bringen. Wie wir gesehen haben, könnte dies den Sowjets auch zu verstehen geben, es bestünden verschiedene Intensitätsgrade der amerikanischen nuklearen Verpflichtung Europa gegenüber. Warum sonst würden wir so viele Abstufungen der Vergeltungsmacht ersinnen?

Welchen Zweck soll ferner eine derartige multilaterale NATO-Streitmacht haben? Wenn die amerikanischen strategischen Streitkräfte auch ohne die Hilfe von außerhalb Amerikas stehenden Kräften jedes sowjetische Ziel in Schach halten, wie Minister McNamara sagte, ist sie militärisch vermutlich überflüssig. Eine multilaterale NATO-Streitmacht kann auch keine bessere Gegenschlag-Strategie ausführen als eine kleine, von den Vereinigten Staaten kontrollierte NATO-Streitmacht. Außerdem muß sie bei jeder denkbaren Operation mit den weitaus stärkeren, unter ausschließlich amerikanischer Kontrolle stehenden Kräften koordiniert werden.

Falls wir eine multilaterale NATO-Atomstreitmacht schaffen, die militärisch sinnlos ist, werden wir nicht am Ende, sondern am Anfang einer Entwicklung stehen. Ist die gemeinsame Streitmacht einmal aufgestellt, wird es so gut wie unmöglich sein, dem Verlangen derer zu widerstehen, die sie in ein militärisch nützliches Instrument verwandeln wollen. Sie werden darauf drängen, sie zu verstärken und den europäischen Verbündeten ein entscheidenderes Mitbestimmungsrecht einzuräumen, als es augenblicklich vorgesehen ist. Das mag wünschenswert sein, aber die Amerikaner sollten sich doch wenigstens mit offenen Augen auf einen derartigen Weg begeben.

Wenn eine NATO-Streitmacht, wie sie gegenwärtig geplant ist, militärisch unnötig ist, ist sie dann wenigstens eine Antwort auf Europas Sorgen wegen der nuklearen Vorherrschaft der USA? Das wirft unmittelbar das Problem des amerikanischen Vetorechtes in der atomaren Politik der NATO auf.

Wenn die USA ein Vetorecht behalten, bleiben für die Verteidigung der NATO zwei Arten von strategischen Streitkräften bestehen: eine verhältnismäßig kleine, die der amerikanischen Zu-stimmung zusätzlich zu der des NATO-Kontrollmechanismus bedürfte; daneben eine große Streitmacht — das Strategische Luftkommando —, das ausschließlich unter amerikanischer Kontrolle bleiben würde, wenn vielleicht auch in zwei Teile zersplittert. Die europäischen Verbündeten könnten dann den Einsatz der kleineren Streitmacht verhindern, aber sie könnten ihn nicht erzwingen. Den Einsatz der größeren Streitmacht der Vereinigten Staaten — vom militärischen Standpunkt aus der entscheidenden — könnten die Verbündeten weder verhindern noch erzwingen.

Im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen den USA und den europäischen Verbündeten gäbe es zwei Alternativen. Sollten die Amerikaner Kernwaffen anwenden wollen und die Europäer nicht, könnten die USA immer noch das Strategische Luftkommando (und wahrscheinlich sogar die der NATO unterstellten Polaris-Unterseeboote) einsetzen. Sollten die Europäer Kernwaffen anwenden wollen und die Amerikaner nicht, würde sowohl die NATO-Atomstreitmacht als auch das Strategische Luft-kommando untätig bleiben. Mit anderen Worten, eine NATO-Atomstreitmacht mit amerikanischem Veto würde wohl die Sicherungsvorkehrungen, nicht aber die Auslösevorrichtungen vermehren. Es läßt sich leicht nachweisen, daß sie nur eine Überweisung von Kernwaffen von einem amerikanischen Hauptquartier in ein anderes bedeutete — wie die Franzosen schon behauptet haben.

Wenn die USA andererseits auf ihr Vetorecht verzichteten, würde ein schwieriges und vielleicht unlösbares verfassungsrechtliches Problem auftauchen. Kann eine Gruppe von fremden Mächten die Vereinigten Staaten ohne ihr Einverständnis zu einem Atomkrieg zwingen? Obwohl die augenblickliche Situation nicht viel anders ist, kann doch sehr viel davon abhängen, ob diese kleine Nuance bestehen bleibt. Der Versuch, sie zu eliminieren, könnte eine Diskussion auslösen, die das Ausmaß der amerikanischen nuklearen Bündnistreue der NATO gegenüber in Zweifel ziehen könnte.

Wenn die USA ihr Vetorecht aufgäben, verpflichten sie sich dann nur zum Einsatz der NATO-Streitkräfte oder zum Einsatz ihrer ganzen strategischen Streitmacht? Im ersten Fall wäre wieder ungewiß, ob die NATO-Streit-macht die Grenze der amerikanischen Bündnis-treue darstellt. Im zweiten Fall wäre eine eigene NATO-Streitmacht unnötig, da die USA dann gezwungen wären, alle ihre nuklearen Streitkräfte auf Befehl der in der Kontrollkörperschaft vorgesehenen Mehrheit einzusetzen.

Die Diskussion um das Vetorecht macht deutlich, daß die europäischen Sorgen um die Kernwaffenkontrolle nicht so grundlos sind, wie oft behauptet wird. Wären Meinungsverschiedenheiten zwischen Amerika und seitens europäischen Verbündeten undenkbar, dann könnten die USA sich damit einverstanden erklären, ihr Kernwaffenarsenal nach vorher gegenseitig abgestimmten Plänen einzusetzen, sobald eine gewisse Anzahl der Verbündeten es verlangt. Da Amerika sich weigert, das zu tun, muß man annehmen, daß es sich das Recht vorbehalten will, über die Lebensinteressen oder die Mittel zu ihrer Verteidigung anderer Ansicht wie die Verbündeten zu sein. So eifersüchtig die Amerikaner auch auf ihre Vorrechte bedacht sind, so sollten sie doch Verständnis für die Versuche einiger der Verbündeten haben, ein stärkeres Stimmrecht bei der Entscheidung über ihr Schicksal zu erhalten, auch wenn sie ihnen nicht prinzipiell zustimmen.

Kurz gesagt, die einzige Maßnahme, die jene Besorgnisse ausräumen könnte, die in erster Linie das Verlangen nach multilateraler Kontrolle geweckt haben, ist eine Modifizierung des Vetorechts der Vereinigten Staaten. Abgesehen von den innenpolitischen Problemen, die das in den USA aufwerfen würde, stellte eine eigene NATO-Atomstreitmacht vielleicht nicht die ergiebigste Verwendung einer derart weitreichenden amerikanischen Bindung dar. Eine NATO-Atomstreitmacht ohne amerikanisches Veto ist eine europäische Atomstreitmacht. Wenn die USA bereit sind, ihr Vetorecht aufzugeben, wäre es besser, entweder eine Kontrollinstanz für alle strategischen Streitkräfte innerhalb der NATO zu bilden, oder einer unabhängigen Europäischen Atomstreitmacht zuzustimmen, die einen Verfassungskonflikt in den USA ersparen würde.

Tatsächlich wäre die einzige sinnvolle multilaterale strategische Streitmacht innerhalb der NATO eine Europäische Atomstreitmacht, in der die britischen und französischen nuklearen Verbände aufgehen würden. Sie würde verfassungsrechtlich Konflikte wegen des Vetos vermeiden und würde nicht den gleichen Zweifel am Umfang der amerikanischen nuklearen Bündnistreue aufkommen lassen wie eine NATO-Streitmacht. Die Tatsache, daß eine Europäische Atomstreitmacht nicht über die ganze Skala nuklearer Drohungen verfügen würde, hätte nicht die Auflösung der NATO zur Folge, wie oft behauptet wird, sondern eine europäisch-amerikanische Partnerschaft in der Planung.

Aufgabe einer Europäischen Atomstreitmacht wäre es, mit speziell europäischen Problemen fertig zu werden. Sie könnte vor allem die Furcht beseitigen, die Schwerpunktverlagerung auf die lokale Verteidigung könnte die Sowjetunion in die Lage versetzen, Europa zu verwüsten und gleichzeitig die Vereinigten Staaten 2u verschonen. Die amerikanische Unterstützung einer Europäischen Atomstreitmacht würde den Eindruck verwischen, die USA strebten danach, Europa in nuklearen Angelegenheiten in einem Zustand der Abhängigkeit zu erhalten. Eine derartige Streitmacht wird wahrscheinlich ohnehin das Ergebnis der europäischen Integration sein und könnte dazu beitragen, sie zu fördern.

Man muß sich jedoch darüber klar sein, daß im Augenblick weder die Vereinigten Staaten noch Großbritannien noch Frankreich bereit zu sein scheinen, diesen Kurs einzuschlagen; aber das darf nicht als Entschuldigung dafür dienen, vor den Problemen, die die NATO gefährden, auszuweichen. Wir dürfen auch nicht Notbehelfe mit Heilmitteln und Symbole mit Realitäten verwechseln. Die Unterstellung von Atomunterseebooten unter die NATO ist ein Zeichen amerikanischer Bündnistreue, sie ändert jedoch nichts an der bestehenden Lage. Sicher ist es wünschenswert, daß die europäischen Verbündeten mehr Informationen über die Ziele und den geplanten Einsatz amerikanischer Atomstreitkräfte erhalten. Der Austausch von Informationen, auf den man sich auf der NATO-Tagung in Athen geeinigt hat, ist ein wichtiger Schritt. Er betrifft jedoch nur die eine Seite des Dilemmas. Die andere bildet das Problem des Vetorechts der Vereinigten Staaten und die französische Anstrengung, eine eigene Atommacht zu bekommen.

Tatsächlich bilden die französisch-amerikanischen Meinungsverschiedenheiten das größte Einzelhindernis für eine Reform der NATO-Strategie. Amerikas Empfindlichkeit in der Veto-frage und seine Weigerung, den Vorschlag Präsident de Gaulles für ein politisches Direktorium auch nur zu beantworten, erklären wenigstens teilweise Frankreichs Alleingang auf dem nuklearen Sektor, wenn sie ihn auch nicht rechtfertigen. Jedenfalls sollte der Ärger über die Taktik de Gaulles nicht die Tatsache verdecken, daß Politik, wie Bismarck einmal sagte, die Kunst des Möglichen, die Wissenschaft vom Relativen ist. Amerikas Urteil über die militärische Bedeutung einer unabhängigen französischen nuklearen Streitmacht ist zweifellos richtig. Die Frage ist, ob nicht alle amerikanischen Anstrengungen, sie zu vereiteln, die NATO zwingen werden, an einer veralteten Strategie festzuhalten.

Die Amerikaner werden wählen müssen, ob sie die Verbreitung von Kernwaffen innerhalb der NATO verhindern oder die örtliche Verteidigung stärker betonen wollen. Eine örtliche Verteidigung in Europa ist ohne französischen Beitrag, ohne französische Mitarbeit undenkbar.

Die Weigerung, Frankreich zu helfen, sei es auch bei Projekten, die nicht direkt mit der Kernwaffenentwicklung Zusammenhängen (z. B. Leitsysteme für Flugzeuge), kann dazu führen, daß eine falsche französische Konzeption sich in eine fixe Idee verwandelt. Da die Kernwaffenentwidclung Frankreichs Mittel immer mehr in Anspruch nimmt, verringert es auch seinen potentiellen Beitrag zu anderen Projekten. Solange Frankreich dieser Konzeption anhängt, würde — sogar für den unwahrscheinlichen Fall, daß seine nuklearen Anstrengungen fehlschlagen sollten — die Folge aller Wahrscheinlichkeit nach kein größerer Beitrag Frankreichs zu den Schildstreitkräften sein, sondern ein Gefühl der Ohnmacht, das zum Neutralismus führt.

Der größte Nachteil der gegenwärtigen amerikanischen Politik, so richtig sie theoretisch sein mag, ist die Tatsache, daß sie nicht funktioniert. Sie wird die Verbreitung von Kernwaffen nicht verhindern, nicht einmal im Falle Frankreichs. Sie wird jedoch die Aufstellung lokaler Verteidigungsstreitkräfte verhindern. Wenn die USA hinsichtlich des Hauptziels, die Fähigkeit der NATO zu lokaler Verteidigung zu erhöhen, Fortschritte machen wollen, werden sie — so schmerzlich es auch sein mag — bereit sein müssen, ihre Haltung Frankreichs atomaren Ambitionen gegenüber zu überprüfen. Entscheiden die USA sich jedoch dafür, dem französischen Atomprogramm gegenüber entgegenkommender zu sein, sei es auch nur durch Hilfe bei der Entwidclung von Kernwaffen-trägern, so gewinnen sie das Recht zu fordern, daß die eingesparten Mittel zur Verstärkung der konventionellen NATO-Schildstreitkräfte verwandt würden. Amerika sollte seine Hilfe von der Bereitschaft Frankreichs (und in diesem Punkt auch Großbritanniens) abhängig machen, diejenigen Streitkräfte zu unterhalten, die zum NATO-Schild beizutragen sie versprochen haben. Wenn Frankreich einverstanden ist, besteht eine Basis für eine viel entschiedenere und systematischere Verstärkung der lokalen Verteidigung. Die Unterstützung einer bescheidenen französischen Atomstreitmacht kann in diesem Stadium auch das beste Mittel sein, die oben erwähnte Europäische Nuklearstreitmacht zu fördern. Lehnt Frankreich diese Bedingungen ab, dann ist es klar, daß es seine „Grandeur“

über die gemeinsamen Interessen der NATO und letztlich über seine eigenen wohlverstandenen Interessen stellt.

Die künftigen Aufgaben

Die obige Analyse zeigt, daß der Westen vor folgenden Aufgaben steht:

1. Die NATO muß sich mit der Tatsache abfinden, daß in den 60er Jahren die gegnerischen strategischen Streitkräfte wahrscheinlich immer unverwundbarer werden. Das zwingt zu einem echten Wechsel von der Gegenschlag-Strategie zu irgendeiner Konzeption örtlicher Verteidigung. Wenn dieses Problem nicht eindeutig gelöst wird, ist die NATO zu ständigen Ausweichmanövern verurteilt. Damit entsteht ein sehr starker Anreiz, neue nationale Vergeltungsstreitkräfte aufzubauen. 2. Die NATO muß zwischen den beiden möglichen Konzeptionen örtlicher Verteidigung wählen: entweder konventionelle Verteidigung mit Atomstreitkräften als Rückhalt — oder taktisch-nukleare Verteidigung. Der Versuch, beide Möglichkeiten zu verbinden oder so zu tun, als hätte die NATO eine Möglichkeit, während sie in Wirklichkeit nur die andere hat, kann ins Verderben führen.

3. Welche Entscheidung auch fällt — die NATO muß dann die Konsequenzen ziehen. Entscheidet man sich für die örtliche Verteidigung, so ist die Vorbedingung ein detaillierter und integrierter NATO-Mobilmachungsplan. Entscheidet man sich für die taktische nukleare Verteidigung, so ist die Vorbedingung eine wirksame politische Kontrolle dieser Strategie. In beiden Fällen werden die Schildstreikräfte über die 1957 festgelegten Grenzen hinaus verstärkt werden müssen. 4. Die Wahl zwischen konventioneller und nuklearer Verteidigung ist nicht ganz dem Westen überlassen. Daher ist es außerordentlich gefährlich, die Idee einer taktischen nuklearen Verteidigung so strikt abzulehnen, wie es offenbar bisher geschehen ist 5. Schwerpunktverlagerung auf örtliche Verteidigung macht nicht nur eine konventionelle Rüstung nötig, sondern erfordert auch die Fähigkeit, differenzierte, taktisch-nukleare Operationen durchzuführen. Man sollte daher den gegenwärtig auf dem Kontinent stationierten Kernwaffen eine klare taktische Aufgabe zuweisen — in erster Linie die der Kontrolle der Kampfsituation. Unter SACEUR sollte ein taktisches Nuklearkommando gebildet werden, dessen Aufgabe die Planung und Kontrolle taktisch-nuklearer Operationen wäre. Kernwaffen sollten der Verfügungsgewalt der Fronteinheiten entzogen und diesem Kommando unterstellt werden. Das taktische Kernwaffenarsenal wäre ein wirksamerer Kristallisationspunkt für ein multilaterales NATO-Kommando als eine kleine strategische Streitmacht, da ihm alle für taktische Aufgaben wichtigen Waffen unterstellt wären. Um dem europäischen Wunsch nach einer größeren Rolle in der nuklearen Planung Rechnung zu tragen, könnte der Befehlshaber dieser Streitmacht Europäer, vielleicht Franzose, sein. 6. Wenn es für die NATO richtig ist, sich auf konventionelle Verteidigung zu stützen, müssen die entsprechenden Folgerungen auch für andere Gebiete gründlich untersucht werden. Es ist einfach eine unhaltbare Situation, sich im lebenswichtigsten Gebiet auf eine örtliche Verteidigung zu verlassen, während man überall sonst von einer Strategie der nuklearen Vergeltung abhängig ist. Daher wird die bewegliche strategische Reserve in den Vereinigten Staaten verstärkt werden müssen. 7. Hinsichtlich der strategischen Kernwaffen sollte die NATO streng unterscheiden zwischen Mittel zur Abwehr unmittelbaren Drucks und Schritten zur Erreichung langfristiger Ziele. Um sinnvoll zu sein, sollten sich die NATO-Richtlinien für strategische Streitkräfte auf alle strategischen Streitkräfte der Bündnispartner erstrecken, und nicht nur auf eine kleine, etwas künstliche NATO-Streitmacht. Ein wirksames multilaterales Kontrollsystem wäre am sinn-vollsten für eine europäische und nicht für eine NATO-Streitmacht. Was Frankreich angeht, liegt in diesem Stadium die beste Gelegenheit zu einer konstruktiven Politik in dem Bemühen, es von der ausschließlichen Beschäftigung mit seinem nuklearen Programm abzubringen, nicht aber in dem Versuch, es zu durchkreuzen. Hilfe für Frankreich oder Großbritannien auf nuklearem oder damit zusammenhängenden Gebiet sollte jedoch davon abhängig gemacht werden, daß sie ihre Verpflichtungen gegenüber den Schildstreitkräften erfüllen und nichts unternehmen, um Kernwaffen ohne amerikanische Zustimmung an andere Länder weiterzugeben. 8. Das Kernproblem der NATO ist nicht militärischer Natur. Es ist sehr schön, die unteilbaren Interessen der Nordatlantischen Gemeinschaft der Nationen abstrakt zu proklamieren. Bei einer ganzen Reihe von Streitpunkten — vom Kongo bis Berlin — jedoch haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten die Sache verschieden gesehen. Die NATO kann nicht militärisch zu einer Einheit zusammengeschweißt werden, bevor sie politisch eine wird.

Einige der strukturellen Veränderungen, die Alastair Buchan vorgeschlagen hat, mögen helfen Das wahre Problem jedoch reicht tiefer. Es geht um nichts Geringeres als um eine grundlegende Überprüfung der Einstellung von beiden Seiten des Atlantik. Als die NATO geschaffen wurde, hatten die Vereinigten Staaten das politische und strategische Übergewicht. Die einzige Sicherheit für die europäischen Verbündeten war die amerikanische Garantie. Sie waren daher ohne viele Worte bereit, die meisten amerikanischen Vorschläge ohne Rücksicht auf ihre wahre Meinung anzunehmen, denn schon ihre Unterwerfung erhöhte die amerikanische Verpflichtung. Seitdem haben sich die Amerikaner angewöhnt, ihre europäischen Verbünde-ten, mit Ausnahme Großbritanniens, fast mit psychotherapeutischen Methoden zu behandeln. Sie neigen dazu, ihre periodischen beruhigenden Versicherungen mit echter Partnerschaft und die Beschwichtigung der europäischen Besorgnisse mit der Behebung der Ursachen dieser Sorgen zu verwechseln. Die kontinental-europäischen Verbündeten ihrerseits zeigten ihr Unbehagen häufiger, indem sie abgesprochene Maßnahmen verzögerten, als in offener Formulierung ihrer abweichenden Meinung.

Im kommenden Jahrzehnt muß Amerika sich mit der Tatsache abfinden, daß die bloße Verkündung einer Politik nicht länger ihre Akzeptierung garantiert. Künftig werden die Europäer nicht nur die amerikanische Verpflichtung an sich überdenken müssen, sondern auch ihre Natur. Gleichzeitig müssen die europäischen Verbündeten die Verantwortung übernehmen, die sich aus ihrer neuen Gleichberechtigung ergibt. Wenn sie nur Verdrießlichkeit an den Tag legen, dabei aber keine konstruktiven Alternativen Vorschlägen, werden sie das Bündnis seiner Dynamik berauben.

In vieler Hinsicht sollte das neue europäische Selbstbewußtsein für die Vereinigten Staaten eine Quelle des Stolzes sein. Es kennzeichnet den Erfolg der durch den Marshallplan eingeleiteten Politik. Viele der in diesem Aufsatz analysierten Schwierigkeiten entspringen gerade der Vitalität und Stärke innerhalb des nordatlantischen Raumes. Diese Probleme zu lösen ist eine würdige Aufgabe, denn dadurc werden Energien freigesetzt, die die Nationen des nordatlantischen Raumes in eine echte Gemeinschaft verwandeln könnten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rede von Heeresminister Stahr vor der NATO-Parlamentarierkonferenz am 13 November 1961; zit. in “ New York Times ', 14. November 1961.

  2. Verteidigungsminister McNamara am 17 Februar 1962 Rede vor den Mitgliedern der American Bar Foundation in Chicago; “ New York Times", 18. Februar 1962.

  3. Der Begriff „Gegenschlag-Strategie" (amerik. " Counterforce strategyd Ubers) kann in zwei Bedeutungen gebraucht werden: a) als Strategie für einen großen Krieg, vor allem als Erwiderung auf einen sowjetischen Angriff gegen die amerikanischen strategischen Streitkräfte; b) als Strategie, um mit allen Herausforderungen, einschließlich der Verteidigung der NATO, fertig zu werden. Vers, ist der Ansicht, daß im Falle eines Angriffs auf die amerikanischen Vergeltungsstreitkräfte eine Gegenschlag-Strategie den höchsten Grad an Elastizität verleiht und eine äußerst wichtige Verhandlungsposition darstellen kann Für fast jede andere Herausforderung, einschließlich der Verteidigung der NATO, wird jedoch ihr Nutzen aus den in diesem Artikel dargelegten Gründen ständig abnehmen. Wo immer in diesem Artikel der Ausdruck Gegenschlag-Strategie gebraucht wird, wird er in seiner zweiten Bedeutung gebraucht werden: als Strategie zu Erwiderung auf andere Herausforderungen als einen Angriff auf die amerikanischen strategischen Streitkräfte Dieser Artikel will nicht gegen den Besitz einer Fähigkeit zum Gegenschlag argumentieren, sondern dagegen, sich zu sehr auf sie zu verlassen.

  4. “ New York Times” vom 7. Juni 1961.

  5. Vgl. die Berichte in der " New York Times" über den V orschlag von Verteidigungsnrinister McNamara auf der NATO-Ministertagung in Athen am 6. Mai 1962.

  6. Siehe unten S. 511.

  7. Um die Gefahr eines plötzlichen Durchbruchs zu verringern, sollten wir die Anlage von Befestigungsanlagen zum Schutze strategischer Punkte an der Mittelfront erwägen.

  8. Amerik. " discriminating control ’, d. h. nach einer generellen Entscheidung zugunsten des Einsatzes von Kernwaffen die Entscheidung über Einsatz oder Nichteinsatz von Kernwaffen an einzelnen Punkten, die auf Grund der Beurteilung der örtlichen Lage getroffen werden muß (Anm. d. übers.)

  9. " New York Times", 6. Mai 1962.

  10. Rede vor den Mitgliedern der American Bar Foundation, a. a. O.

  11. Siehe unten S. 514.

  12. Der Marquis of Queensbury (auch Queensberry geschrieben) gründete 1866 zusammen mit John G. Chambers die " Amateur Athletic Union" und stellte für das Boxen feste Regeln auf. (Anm. d. Übers. Siehe „Frankfurter Allgemeine Zeitung", 21. April 1962.

  13. Rede von Präsident Kennedy in Ottawa vom 17. Mai 1961; Text in “ New York Times", 18. Mai

  14. " New York Times", 6. Mai 1962.

  15. Rede von Präsident Kennedy in Ottawa, a. a. O.

  16. Siehe Pressekonferenz vom 1. März, abgedruckt im " Department of State Bulletin", 19. März 1962, S. 456.

  17. Text des Kommuniques, ‘New York Times", 7. Mai 1962.

  18. Siehe die Berichte über den Vorschlag von Verteidigungsminister McNamara auf der NATO-Ministertagung in ‘New York Times" und ‘New York Herald Tribune", 6. Mai 1962.

  19. ‘Foreign Affairs", Januar 1962.

Weitere Inhalte

Anmerkung: Henry Alfred Kissinger, 38 Jahre alt, wurde in Deutschland geboren. 1938 wanderte er nach USA aus. Er studierte an der Harvard-Universität und erwarb drei akademische Grade; in Harvard leitet er seit mehreren Jahren das Internationale Seminar und ist Herausgeber der Vierteljahreszeitschrift “ Confluence". Als Direktor der 'Special Studies'beim Rockefeller Brothers Fund in New York zeichnete er für das militärische Kapitel des Rockefeller Report on International Security verantwortlich, der im Januar 1958 dem amerikanischen Kongreß vorgelegt wurde. Von Kissingers politisch-strategischen Werken sind in deutscher Übersetzung erschienen: Kernwaffen und auswärtige Politik (1959), Die Entscheidung drängt; Grundfragen westlicher Außenpolitik (1961), Großmacht und Diplomatie (1962).