Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Gedanken zum 30. Januar | APuZ 5/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 5/1963 Machtergreifung und Kontinuität des Imperalismus Gedanken zum 30. Januar Zum Problem der historischen Wurzeln des Nationalsozialismus Hitlers Erfolg. Rückblick nach 30 Jahren Der Nationalsozialismus in amerikanischer und englischer Sicht

Gedanken zum 30. Januar

Heinz Gollwitzer

Vorläufiges und Gesichertes Heute des 30. Januar 1933 gedenken, heißt, sich mehr vornehmen als eine Erörterung über die Umstände der „Machtergreifung" Adolf Hitlers. Zwar sind bereits die Vorgänge, die zur Reichskanzlerschaft dieses Mannes geführt haben, fesselnd genug für den, der Sinn für die Dramatik der Geschichte besitzt, und überaus lehrreich für jeden, der Einsicht in das Wesen des Politischen gewinnen will. Im Zusammenhang unserer Betrachtung verstehen wir indessen den 30. Januar 1933 als ein Symboldatum. Er figuriert für eine Epoche und für ein System, und es kommt uns darauf an, aus Distanz und Erfahrung einen Rückblick zu wagen, Verbindungslinien zwischen dem Damals und dem Heute zu ziehen und zu sagen, welche Gedanken uns dabei bewegen.

Ist es tatsächlich möglich, das Geschehen von 1933 bis 1945 heute schon mit dem Maß von persönlicher Zurückhaltung und Unbefangenheit zu behandeln, das man vom Historiker bei seinem Umgang mit allen, aber auch allen Gegenständen der Vergangenheit erwartet? Die mittlere und die ältere Generation der Zeitgenossen besteht aus Miterlebenden, Mithandelnden, Mitleidenden der nationalsozialistischen Ära. Durch die Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Regimes, den Krieg und die nach dem Krieg verhängten Maßnahmen sind Ungezählte so sehr aus der Bahn geworfen, geschädigt und erschüttert, gequält worden, hat sich soviel und erniedrigt an Haß, Erbitterung und Verbitterung angesammelt, daß bei uns heute noch der Alltag des Berufs und des öffentlichen wie des privaten Lebens nur und durch eine gewisse bedingte Verdrängung dei Erinnerung an das Geschehene gemeistert werden kann. Es sind nicht immer Indolenz und Gewissensabstumpfung, die die Menschen so handeln lassen, sondern eher Selbstbehauptung, die Notwendigkeit, sich auf das Heute und Morgen zu konzentrieren, um nicht vom Gestern übermannt zu werden, die Abwehr mancher Gefahren, die Nietzsche in seiner Schrift vom Nutzen und Nachteil der Historie beschrieben hat. Die Zone des konventionellen Nichtberührens und Ignorierens einer fatalen Vergangenheit ist überdies eng begrenzt. Die deutsche wie die internationale Politik können nicht umhin, fortwährend an die damals geschaffenen Tatsachen anzuknüpfen. Die der Presse wie der anderen Massen-kommunikationsmittel sich bedienende Publizistik, die Erziehung und Ausbildung in allen Schularten, die Wissenschaft haben schlechterdings die Pflicht, sich mit diesem Gestern auseinanderzusetzen. Heute noch und auf absehbare Zeit laufen Prozesse, in denen es um Tatbestände aus jener Zeit geht und die allerdings je länger je mehr den Eindruck des Gespenstischen erwecken. In aller Welt vermögen — jedenfalls heute noch — Bücher, Filme, Funk-und Fernsehreportagen über das soge-nannte Dritte Reich ein großes Publikum zu fesseln. Sind diese Umstände demjenigen förderlich, der sein Engagement in die Wahrheitsfindung verlegt? Selbst gesetzt den Fall, es stünden der historischen Betrachtung keine psychischen und andere Hindernisse entgegen, eine Bilanz nach dreißig Jahren könnte so oder so nur vorläufig und unvollständig sein. Jedes historische Geschehen wächst im Laufe der Zeit in neue Perspektiven. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß nach weiteren dreißig Jahren oder später ganz neue Fragestellungen zu dem Thema „Hitler-Reich" auftreten, die unserer heutigen Einsicht und unserem derzeitigen Fassungsvermögen noch entrückt sind. Es kann sich also auf jeden Fall nur um ein der späteren Revision beinahe sicheres Unterfangen handeln, wenn folgendes aphoristisch interpretiert wird: die Veränderung der Großen Politik durch das Hitler-Reich, der ideologische Effekt der Jahre von 1933 bis 1945, die Internationalität des Faschismus und die nationalsozialistische Verlassenschaft als seelisches Problem des deut -schen Volkes. Der Charakter der Vorläufigkeit, der den zu machenden Aussagen zukommt, beruht auf der Standpunktgebundenheit der Auslegung, nicht auf Mangel an Quellen. Die meisten und wichtigsten Tatsachen über die nationalsozialistische Ära in Deutschland sind bekannt und gesichert. An ihnen ist nicht zu rütteln. Aber auch der Deutung und Stellungnahme sollte nicht unbegrenzt das Zeichen des Provisorischen anhaften. Wer in der Humanität und im Recht Bleibendes und Gültiges erkannt hat, wird auch die Beurteilung wichtiger Bereiche des Nationalsozialismus für gesichert ansphen, Außenpolitisches Facit Versuchen wir einen Augenblick, die uns differenziert genug erscheinende sogenannte jüngste Vergangenheit aus ferner Zukunft zu betrachten. In der Konsequenz einer unumgänglichen Sichtvereinfachung würden dann vermutlich die beiden Weltkriege sehr eng aneinanderrücken und die Zwischenkriegszeit noch kürzer erscheinen als sie faktisch gewesen ist. Während wir heute noch aus guten Gründen besonderen Wert darauf legen, die Unterschiede in Ursprung, Verlauf und Ausgang des Ersten und des Zweiten Weltkrieges deutlich zu machen, könnte ein zukünftiger Historiker die Zeit von 1914 bis 1945 als ein großes Kriegsgeschehen zusammenfassen. Die seit 1919 geschlossenen Friedensverträge müßten dann mehr als Waffenstillstände denn als brauchbare Grundlagen internationaler Ordnung ausgelegt werden. Wenn wir in Anschlag bringen, daß die militärische Auseinandersetzung Sowjetsrußlands mit Polen erst 1920 zu einem vorläufigen Abschluß kam und der Auftakt zu Japans kriegerischer fernöstlicher Expansion schon in das Jahr 1931 fällt, von anderen Kriegshändeln innerhalb und außerhalb Europas zu schweigen, hätte diese Betrachtungsweise schon einiges für sich.

Die Frage ist nun, wie angesichts der Tatsache, daß Deutschland und Japan schließlich aus dem Zeitalter der Weltkriege als Verlierer und Besiegte hervorgegangen sind, das Schicksal beider Nationen historisch verstanden werden wird und soll. War nur die Überhebung und Selbstüberschätzung kleiner, im Vollbesitz der Macht befindlicher Gruppen am Werk, die ihre Völker ins Unglück gestürzt haben, oder ließen sich, vorausgesetzt, es wäre in Deutschland und Japan mehr Einsicht und Mäßigung vorhanden gewesen, Chancen für eine übergreifende Ordnung in Europa und Ost-asien ausrechnen, die Berlin bzw. Tokio bestimmt hätte? Alles spricht dafür, daß das deutsche und das japanische Großreich in ihrer weitesten (1941/42 bzw. 1942/43) Ausdehnung, selbst wenn wir wirtschaftliche und militärisch-strategische Erwägungen hier außer Betracht lassen, hybride Gebilde waren. Die vorübergehend unterworfenen Nationen waren zu groß, zu selbstbewußt, zu kultiviert, um auf die Dauer ein im wesentlichen nur militärisch, polizeilich und technokratisch gestütztes Gewaltsystem zu ertragen. Wenn man demgegenüber auf die bisher im ganzen mit Erfolg aufrechterhaltene Blockbildung des Kreml verweist, so ist zu bedenken, daß die russisch-kommunistische Herrschaft über eine gründliche gesellschaftspolitische Konzeption und eine geschlossene Ideologie verfügt, in jedem Lande eine seit Jahrzehnten organisierte Anhängerschaft vorfand und bei der Mehrheit der Arbeiterschaft wenn nicht auf Zustimmung rechne, so doch mindestens an eng verwandte Auffassungen anknüpfen konnte. Eins vor allem: Der Kommunismus weiß genau, was er will, während der Nationalsozialismus und das japanische System weit mehr improvisierten und ihre Verlegenheiten und Unzulänglichkeiten mit Maßnahmen kompensierten, die im besten Fall aus der Kriegssituation verständlich waren, aber niemals eine neue staatliche oder zwischenstaatliche Ordnung begründen konnten. Was das imperialistische Deutschland und Japan ideologisch und sozialpolitisch anzubieten hatten, wirkt stümperhaft gegenüber der methodischen Sicherheit und der inneren Konsequenz des Kommunismus.

Beschränken wir uns auf Deutschland: Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg lag eine ungeheure Kraftanstrengung des Reiches vor, aus der Stellung einer europäischen Großmacht, die es 1914 wie 1939 ohnehin war, in die einer Weltmacht aufzurücken. (Dieser Satz ist nicht als eine Bestätigung der Konzeption aufzufassen, die F. Fischer in seinem Buch „Der Griff nach der Weltmacht" vertritt.) Welt-macht ist von Weltherrschaft, die auch im Zweiten Weltkrieg deutscherseits nicht angestrebt werden konnte, streng zu unterscheiden.

Es fällt in diesem Zusammenhang nicht ausschlaggebend ins Gewicht, daß die deutsche Staatsführung vor und während dem Ersten Weltkrieg nicht so sehr eine Weltmachtstellung in doktrinärem Sinn, als einen ihr angemessen erscheinenden Anteil an der Weltpolitik erstrebte. Ein überzeugender Sieg hätte jedenfalls nicht erst im Zweiten, sondern schon im Ersten Weltkrieg Deutschland zur Vormacht auf dem europäischen Kontinent gemacht, und dies wäre gleichbedeutend mit Weltmachtstellung gewesen. Eine der universalgeschichtlichen Wirkungen der nationalsozialistischen Ara bestand nun im Endeffekt darin, daß Hitler wider Willen die Vergeblichkeit deutscher Weltmachtbestrebungen bewiesen und die wahren Größenordnungen heutiger Weltpolitik endgültig klargelegt hat. Heute ist es allerdings eine Binsenwahrheit, von der Weltpräponderanz Nordamerikas und Rußlands zu sprechen, aber noch 1939 war der Anschein ein ganz anderer. Man vergegenwärtigt sich heute meistens nicht mehr, wie sehr damals allgemein die militärische und politische Potenz Sowjetrußlands unterschätzt wurde. Tatsächlich stand es um die Stärke, Schlagkraft und innere Konsolidierung Rußlands am Vorabend des Zweiten Weltkriegs verglichen mit dem heutigen Zustand weit bescheidener, und Stalin hat sich damals kaum träumen lassen, welche ungeheuren Gewinne ihm sechs Jahre später der Ausgang des Krieges verschaffen würde. Hitler hat, sehr im Gegensatz zu der weit verbreiteten Legende von der durch ihn übernommenen Verteidigung des Abendlandes gegen den Bolschewismus, erst die Dämme aufgerissen, die den Koloß bis dahin behinderten, und ihn zur vollen Entwicklung und zum klaren Bewußtsein der in ihm vorhandenen Kräfte verhülfen.

Die Potenz der USA wurde auf Grund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wohl allgemein etwas realistischer, wenn auch in Deutschland bei weitem nicht in adäquatem Maße eingeschätzt. Im Isolationismus sah man eine selbstgeschmiedete Fessel, die Nordamerika abhalten würde, sich seiner Stärke gemäß in der Weltpolitik einzusetzen. Es war wiederum der Zweite Weltkrieg, der von Präsident Roosevelt benutzt wurde, über die Hürde des Isolationismus hinwegzukommen, und der die USA bei Strafe der Existenzgefährdung unwiderruflich den Weg zu ihrer führenden Weltmachtstellung gewiesen hat. Unter ungebührlicher Zurücksetzung der USA und Rußlands standen noch 1939 England, Frankreich, Deutschland und in einem uns heute schon nicht mehr recht begreiflichen Maße Italien im Vordergrund aller außen-politischen Erwägungen. Diese europazentrische Verengung des Gesichtsfeldes wurde durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ebenfalls beseitigt. Die Europäer gewannen aus dem Ergebnis des letzten Krieges die Einsicht, sich keine unbegrenzte Konkurrenz und Rivalität mehr leisten zu können, das Gefühl einer gemeinsamen Bedrohung ihres Gesellschaftssystems und die Überzeugung, ihre früheren Positionen kaum mehr und allein auf keinen Fall mehr halten zu können. Diese Erkenntnis machte West-und Mitteleuropa reif für föderative Bemühungen. Erst durch den Untergang dessen, was man früher als europäisches Konzert und europäische Pentarchie bezeichnet hat, war der Weg frei geworden für europäische Zusammenschlüsse. Gewiß, der Prozeß der Dekomposition Europas war schon seit langem im Gange, und noch älter waren die Bemühungen um einen europäischen Staatenbund als Friedensorganisation. Aber erst der Zweite Weltkrieg hat den Vorstellungen im Sinn des europäischen Glechgewichts definitiv die Grundlage entzogen und ebenso den Bestrebungen nach europäischer Hegemonie. Selbst die heute möglichen europäisch-föderativen Zusammenschlüsse sind noch nicht Gebilde oberster Größenordnung, sondern nur regionale Allianzen im Rahmen größerer Weltsysteme. Die Begriffe „Westen“ und „Osten" übergreifen nicht nur die nationale, sondern auch die europäische Terminologie. Die Epoche der Weltkriege hat uns gezwungen, ältere Vorstellungen von Nationalstaatspolitik wie von imperialistischer Weltpolitik zu revidieren und nach neuen Kategorien internationaler Politik Ausschau zu halten. Die Weltkriegsepoche gipfelt in der Politik und Kriegführung Adolf Hitlers; mit mit ihm überschlug sie sich aber auch und brach zusammen. Das Ergebnis seiner Politik ist zunächst darin zu sehen, daß er nicht nur die deutsche Weltmachtstellung nicht erreicht, sondern auch die deutsche Großmachtstellung verspielt und eine völlig neue weltpolitische Kombination mit herbeigeführt hat. Darüber hinaus hat er den herkömmlichen europäischen Nationalismus und Imperialismus in ihre extremsten Formen gesteigert. Sie sind zusammen mit seinem System endgültig diskreditiert.

Wie so oft sind also aus dem Wirken einer geschichtlichen Persönlichkeit und der mit ihr verbundenen politischen Partei oder Bewegung Folgen hervorgegangen, die von ihnen weder gewünscht noch vorausgesehen wurden. Der Historiker hat nicht nur die Taten und Untaten Hitlers zu registrieren, sondern auch festzustellen, welche Entwicklungen er ausgelöst und welche Vorgänge er in Bewegung gesetzt hat. Vergleicht man, was nicht nur Hitler, sondern auch die anderen Staatsmänner der Großmächte 1933 oder 1939 erwartet und welche Konzepte sie verfolgt haben, und das, was sich ein Vierteljahrhundert später als tatsächliche Folge des Hitlersystems, des Krieges und der sich ihm anschließenden Auseinandersetzungen ergeben hat, so kann man nur mit Beklemmung feststellen, in welchem Maße das Unvorhersehbare die Weltgeschichte regiert und wie wenig Wahrscheinlichkeit langfristige politische Berechnungen für sich haben. Inzwischen mehren sich seit längerem die Anzeichen, daß neuerdings eine Veränderung der politischen Welt-szenerie im Gange ist. Einer der bekanntesten Männer aus dem Braintrust Präsident Kenne-dys, W. W. Rostow, stellt fest, die Konstellation des Ersten und Zweiten Weltkriegs und der ersten Phase des Kalten Krieges bestehe nicht mehr. Der Aufstieg zahlreicher Nationen zu wirtschaftlicher Reife werde notwendigerweise wieder eine größere Streuung der weltpolitischen Machtballungen ergeben: „Das Bild der bipolaren Welt, in der außer Washington und Moskau alle anderen nur Beobachter sind, ist schon jetzt nicht mehr richtig und wird im Zeitablauf immer ungenauer werden". Es mag sein, daß Rostow recht hat, aber die von ihm diagnostizierte und prognostizierte Entwicklung führt in eine Geschichtsphase, die mit der Hitler-Ära keine unmittelbaren Beziehungen mehr aufweist. Für die im Augenblick noch geltende Situation darf indessen Hitler die Rolle eines der Demiurgen in Anspruch nehmen, und nur von solchen Dingen ist hier zu reden, die mit ihm und dem Nationalsozalismus Zusammenhängen. Außen-und Innenpolitik stehen in enger Wechselwirkung. In einem Rückblick aus Anlaß 30.des Januar 1933 vom läßt sich dies gerade am deutschen Beispiel vorzüglich belegen. Das Hohenzollernreich hatte — ursprünglich wenigstens — einen sehr weiten Spielraum für Kombinationen innerhalb der großen Politik, die Weimarer Republik konnte sich westlich oder östlich orientieren, Bonn und Pankow aber sind bereits seit ihrer Geburtsstunde eindeutig festgelegt. Der relativ noch großen außenpolitischen Manövrierfähigkeit der Weimarer Demokratie entsprach eine Mehrzahl ernsthafter innenpolitischer Möglichkeiten von 1918 bis 1933: rote Republik, liberale Demokratie, autoritärer Staat, nationalsozialistischer Totalitarismus. zu der Schrumpfung des außen-politischen Spielraums seit 1945 hat sich dann auch die innere Politik Deutschlands stark In der für Bevölke -ist vereinfacht. SBZ die überhaupt Wahl--rung keine und Entschei mehr vorhanden.der dungsmöglichkeit In Bundesrepublik sind die inneren bestehenden Gegensätze zwar nicht gering, aber die Festlegung auf die politischen und gesellschaftlichen Formen des Westens hat eine gemeinsame Basis geschaffen, wie sie früher in dieser Form nicht vorhanden war. Bezeichnenderweise ist die Zahl der politisch ernsthaft in Betracht kommenden Parteien klein geworden und überdies gleichen sie sich, was ihre Programme betrifft, in einem vor 1933 kaum vorstellbaren Maße an. Mit der Hitlerzeit hängt dieser Vorgang nur mehr insofern zusammen, als erst die durch sie hervorgerufenen Erschütterungen manche früher für unüberwindbar gehaltene Gegensätze verblassen ließen und die Katastrophe des nationalsozialistischen Reichs den Weg zu einer neuen Phase des politischen Zusammenlebens frei gemacht hat. Bejahen wir den heutigen Zustand von Staat und Gesellschaft im Prinzip und für die Möglichkeiten unserer Zeit, so liegt darin bereits eine Stellungnahme, und zwar eine entschiedene gegen die hinter uns liegende Epoche.

Ideologische Bilanz Im Zeichen des vordringenden Nationalismus hat man im 19. Jahuhundert gleichläufig zu anderen Nationen in Deutschland das Bedürfnis empfunden, eine speziell deutsche Politik und eine deutsche Weltanschauung zu entwickeln. Solange der Nationalismus „rein" und doktrinär blieb, liefen solche Bestrebungen auf eine Art von geistiger Autarkie hinaus. Als aber der Nationalismus der großen Staaten Impe zum -

rialismus führte, stellte sich das Problem anders: Wie es beim Imperialismus selbst um prestigemäßige, politische und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit auf mondialer Basis ging, so handelte es sich nun darum, ob man sich auf der internationalen Bühne mit nationalbedingten Ideologien sehen lassen und behaupten konnte, ob der eigene politische Stil und das eigene politische Denken Weltgültigkeit im Sinn internationaler Konkurrenzfähigkeit erlangten. Solange Deutschland sich in seiner imperialistischen Epoche befand oder eine imperialistische Position zurückzugewinnen trachtete, war es mehr oder minder selbstverständlich, daß man sich ideologisch und propagandistisch entsprechend engagierte. Aber Deutschland hatte auf dem Gebiet der geistigen Kriegführung so wenig Erfolg wie auf dem der politisch-militärischen. Welch redliches und doch auch krampfhaftes Bemühen deutscher Professoren und Publizisten im I. Weltkrieg auf der Grundlage der „Ideen von 1914" eine dritte ideologische Front zwischen der westlichen Demokratie und der russischen Autokartie aufzubauenl Das Experiment ist gänzlich mißlungen. Am Ende des I. Weltkriegs sah man sich vor die Wahl zwischen Wilson oder Lenin gestellt. Keine Rede davon, daß man sich auf eine eigene deutsche Politik oder eigene geistige Positionen hätte zurückziehen können. Unter Hitler wurde ein weiterer, sehr viel kraftvollerer und rabiate-rer Anlauf in der Richtung der ideologischen Selbstständigkeit genommen. Nicht nur politisch, auch ideologisch hatte sich Deutschland an die Spitze des internationalen Faschismus gesetzt. Dessen Niederlage hat Deutschland abermals bewiesen, daß es nicht in der Lage ist, zwischen der kommunistischen und der demokratischen Welt ein unabhängiges politisch-weltanschauliches Dasein zu führen. Eine deutsche Ideologie hat sich so wenig durchzusetzen vermocht wie verfassungspolitisch die Sonderform eines deutschen Konstitutionalismus, und sie verhält sich zu den weltgestaltenden Gedankenmächten des 20. Jahrhunderts wie die deutschen zu den großen universal-geschichtlichen Revolutionen. Dies soll freilich nicht heißen, daß wir den gegenwärtigen Welt-antagonismus zwischen dem westlichen und dem östlichen System als einen so unabänderlichen Dualismus wie den zwischen Gut und Böse auffassen. Zahlreiche Möglichkeiten der inneren Wandlung beider Systeme und ihres gegenseitigen Ausgleichs sind gegeben. Wir sprechen indessen nur von der augenblicklichen Lage als einer Kontrastsituation zur Hitlerzeit.

Wer sich mit der Ideologie des Nationalsozialismus beschäftigt, muß heute mit dem Einwand rechnen, er nehme propagandistische Thesen ernst, während tatsächlich die „Revolution des Nihilismus" und die Philosophie der bloßen Aktion, ein geistfeindliches Handeln und Kämpfen um seiner selbst willen den Kem der faschistischen Haltung in Deutschland und anderswo gebildet hätten. Diese Auffassung hält jedoch nicht Stich. Man kann nicht von der Geistesverfassung eines Heydrich ausgehen, wenn man die nationalsozialistische Vorstellungswelt analysieren will. Für Hitler wie für die große Mehrzahl der führenden und geführten Nationalsozialisten hat es teils mehr, teils weniger bestimmte und bestimmende Leitideen und Überzeugungen gegeben, die zwar nicht den Namen einer Philosophie verdienen, sich jedoch oberhalb der tagtäglich auswechselbaren Propagandaparolen, also in der typischen Zwischenlage der Ideologie befanden — der Ideologie, von der man gesagt hat, sie stelle das seiner Abhängigkeit nicht bewußte, geschichtlich aber bereits durchschaubare Wissen, das vor der fortgeschrittensten Erkenntnis bereits zum Schein herabgesunkene Meinen im Gegensatz zur Wahrheit dar. Dieser Definition Horkheimers ist allerdings entgegenzuhalten, daß weltgestaltende Meinungen häufig erheblich hinter dem Stand der fortgeschrittensten Erkenntnis zurückbleiben, ja sich mitunter von „gesunkenem“, auf den Höhen der Intellektualität schon preisgegebenem Geistesgut nähren. Die nicht wie der Marxismus logisch konstruierte, sondern eklektische Gedankenwelt des Nationalsozialismus bietet ein Beispiel dafür. Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus, Militarismus, Sozialdarwinismus und andere den Tatsachen und Notwendigkeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im 20. Jahrhundert zuwiderlaufende reaktionäre, romantische, utopische und in vieler Hinsicht irrige und widerlegte Ansichten sind in der nationalsozialistischen Ideologie zusammengeflossen und vermochten in deren Fassung, obwohl der Stab der Erkenntnis über sie schon gebrochen war, die Parteienergien noch beträchtlich zu aktivieren. Es ist nun kein übertriebener Optimismus zu sagen, daß die Katastrophe des Nationalsozialismus alle diese Residuen des 19. Jahrhunderts ad absurdum geführt hat. In einer furchtbaren Krankheit sind sie als Gift erkannt worden. Man kann zwar nicht sagen, daß die erwähnten Vorstellungskomplexe schlechterdings und „restlos" abgestorben sind — dies läßt sich bei so machtvollen und lange herrschenden Richtungen wie z. B.dem Nationalismus und dem Sozialdarwinismus auch nicht erwarten —, aber in ihrer Lebenskraft sind sie entscheidend geschwächt. Die Behauptungen über das Fortleben „nazistischer" Ideologie in Deutschland sind im allgemeinen übertrieben und zu einem Teil das Ergebnis propagandistischen Hochspielens an sich unbedeutender Sachverhalte. Von der nationalsozialitischen Gedankenwelt geht heute keine ernsthafte Behinderung vernünftigen Denkens und zeitgemäßer Lösungen mehr aus. Aber der Hydra der Irrtümer wachsen auch nach der Besiegung und Ausmerzung des Nationalsozialismus neue Köpfe nach.

Sehr zweifelhaft erscheint es andererseits, ob die Enttäuschung über die nationalsozialistische Ideologie zu einer grundsätzlich antiideologischen Tendenz, zu einer allgemeinen Entideologisierung führt. Die Bekämpfung des Ideologischen hat nachgerade den Charakter einer intellektuellen Mode angenommen; aber wer darf sich schon rühmen, ideologiefrei zu sein? Eine relative Berechtigung der Ideologien läßt sich kaum abstreiten. Jede neue Epoche verlangt neue Antworten und Bewältigungsversuche, und der einzelne ist nur selten in der Lage, von sich aus den Vers auf seine Zeit zu machen, nach dem es ihn verlangt. Was ihm Religion und Philosophie bieten, ist meist zu allgemein gehalten, oft auch zu hoch und zu fern. Man wünscht sich konkretere, handfestere Formulierungen und Erklärungen der rasch wechselnden Situationen. Mit jeder neuen politischen und gesellschaftlichen Lage bildet sich ein geistiges Vakuum, das ausgefüllt werden muß, und nach wie vor tritt in solchen Fällen die Ideologie in Funktion.

Im übrigen wäre eine rein ideengeschichtliche Interpretation der nationalsozialistischen Vorstellungswelt verfehlt. Was dem an sich dürftigen Programm des Nationalsozialismus (nicht nur das Parteiprogramm ist hier gemeint, sondern der gedankliche Gesamtgehalt) zu historischer Wirksamkeit verhalf, war erst seine Verbindung mit zahlreichen nichtideologischen Faktoren. Die rückständigen nationalsozialistischen Ideen amalgamierten sich mit der technischen Modernität der dreißiger und vierziger Jahre, sie waren getragen vom Elan einer siegreichen Bewegung. Organisationstalent, das Propagandamonopol auf alle Kommunikationsmittel und die gesamte totalitäre Apparatur standen hinter ihnen. Ferner konnte sich die nationalsozialistische Ideologie in einem Augenblick zur Geltung bringen, da die liberale Demokratie in Europa in einen Zustand bedenklicher Schwäche geraten war, an Selbstvertrauen schwer eingebüßt und in Deutschland einen Zusammenbruch erlebt hatte. Schwerer als die Ideologie selbst wogen die Mächte, die ihre zweifelhafte und kurzlebige Geltung im Hitler-Reich erst möglich gemacht haben: Die Freisetzung und Konzentration enormer Energien des deutschen Volkes, die Hoffnung von Millionen Menschen, die einen Ausweg aus wirtschaftlicher und politischer Not suchten, der Enthusiasmus, den auch noch so fragwürdige profane Erweckungsbewegungen hervorrufen können, über alle Charakter-unterschiede hinweg, die dem einen im Nationalsozialismus eine Chance materiellen Profits erblicken ließen, dem anderen eine Gelegenheit, sein Geltungsbedürfnis zu befriedigen und den dritten zu heroischen Träumen und gefährlichen Experimenten verführten, kann man von einer vorherrschenden geistigen Haltung im Hitler-Reich sprechen, einer merkwürdigen Verbindung von Hingabe, Leistungswillen, „Einsatzbereitschaft" mit Verblendung, Überhebung und Herzensverhärtung. Da die meisten Menschen nicht mit einem doktrinären Naturell ausgestattet sind, war diese Stimmung und Bewußtseinlage ausschlaggebender als die eigentliche Ideologie, die jedoch solche Gesinnungen und Verhaltensweisen in eine Form bringen, sie systematisieren und rationalisieren wollte und tatsächlich verhängnisvoll verschärfen und lenken konnte.

Abschließend sei darauf hingewiesen, daß die nationalsozialistische Ideologie schon während ihrer offiziellen Herrschaft durch starke gegenläufige Tendenzen untergraben wurde. Die Weltanschauung des Hitler-Reichs orientierte sich — theoretisch — an den Vorstellungen der Elite, des Führertums, der Ordnung einer weltlichen Hierarchie. Es gab zwar beträchtliche institutioneile und pädagogische Bemühungen, um solchen Zielen näherzukommen, aber die Wirklichkeit des öffentlichen Lebens war von etwas ganz anderem, nämlich einem Egalisierungsprozeß, bestimmt. Von der Abschaffung der Schüler-und Abiturientenmützen und dem Wegfall der Anrede „Herr" bei den Offiziersgraden der NS-Formationen über die strenge parteiamtliche Ausrichtung aller Organisationen bis zum schrecklichen geistigen Konformismus erstreckte sich der Vorgang einer unerbittlichen „Gleichschaltung". Sieht man von der Persönlichkeit Hitlers selbst ab, der mit billigen schematischen Formeln kaum beizukommen ist, so waren es in der Mehrzahl Funktionäre und Apparatschiks, die in Deutschland ein totalitäres System aufbauten und perfektionierten. Welches die Rolle der Ideologie in solchen Systemen ist, braucht kaum erörtert zu werden. Manchmal fragt man sich, ob nicht das nationalsozialistische System u. a. eines der Vehikel in einem weltweiten Nivellierungsprozeß gewesen ist.

Internationalität des Faschismus Unter den deutschen Meinungsmachern von heute gibt es nicht wenige, die den Begriff des Nationalen am liebsten überhaupt fallen und verschwinden ließen. Wenn sie aber auf die jüngste deutsche Vergangenheit zu sprechen kommen, werden sie umgehend zu Nationalisten in dem Sinne, daß sie in einer erstaunlichen nationalen Blickverengung nur mehr die Deutschen am Werke sehen. Als ob man irgendeine Phase der Geschichte aus dem internationalen Geschichtsprozeß lösen und isoliert betrachten könnte! Was für jede Vergangenheit gilt, gilt auch für die nationalsozialistische. Sie ist eine Periode der deutschen Geschichte und ein deutsches Verhängnis gewesen, aber gleichzeitig steht sie in europäischen Zusammenhängen und muß als Teilstück des internationalen Faschismus begriffen werden. Wenn wir uns fragen, wie dieser internationale Faschismus entstehen konnte, wollen wir von seiner eklektischen und zum Teil abenteuerlichen Ideologie ab-sehen. Ebenso wird hier nicht auf den wichtigen Unterschied zwischen den nur autoritären und den faschistischen Systemen eingegangen. Wir stellen summarisch fest, daß der Faschismus nur in einer Zone zwischen dem kommunistischen Rußland und den gefestigten Demokratien namhafte Erfolge verzeichnen konnte. Schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen gingen dem Aufstieg des Faschismus in jedem Falle voraus oder bildeten seine Begleitumstände. Eine Quelle dieser Nöte ist der I. Weltkrieg und der sogenannte Nachkrieg gewesen. Die vergleichsweise stabilen Vorkriegsverhältnisse hätten einen Faschismus nie aufkommen lassen; unvorstellbar, daß Adolf Hitler im Hohenzollernreich vor 1914 Chancen gehabt hätte! Die bekanntesten Führer des Faschismus waren Männer der Kriegsgeneration von 1914/18 oder hatten als Jugendliche im Banne des Kriegserlebens gestanden. Eine funktionierende Demokratie hatten sie nicht erlebt. Für eine pluralistische Ordnung als Gewähr der Freiheit, für öffentliches Leben im Zeichen der Grundrechte, für Rechtsstaatlichkeit, freien Wettbewerb der Meinungen und Interessen hatte ihnen niemand Verständnis beizubringen vermocht. Sie dachten in den Kategorien des Krieges: Kampf, Sieg, Ruhm, Führung und Gefolgschaft, Befehl und Gehorsam. Das „Alles oder Nichts" suchten sie an die Stelle des vernünftigen Kompromisses zu setzen und die Gewalt dorthin, wo die Justiz ihren Platz haben sollte. Ein militantes System sollte die in ihren Augen versagenden Demokratien ablösen. Noch mehr denn als Epiphänomen des Krieges erscheint uns der internationale Faschismus als Reaktion des Bürgertums auf den Schock, den ihm der Weltkommunismus versetzte. Sowjetrußland bot zunächst das Schauspiel einer klassischen Bürgerkriegssituation, die für die Entwicklung und Taktik des Faschismus beinahe noch einflußreicher wurde als die Erinnerungen an die Fronterfahrungen des Weltkriegs. Mit dem Beispiel eines ungeheuren systematischen Terrors, mit der planmäßigen Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen, die zu Klassenfeinden gestempelt worden waren, ging der Kommunismus voran. Nicht nur das Bürgertum, sondern alle nichtproletarischen Bevölkerungsschichten fühlten sich durch das Auftreten des internationalen Kommunismus tödlich bedroht. Daß diese Gefahr vorübergehend neutralisiert wurde, besagt nicht, daß sie nicht weiter bestand und alle bedrohten Gruppen der Gesellschaft auf das schwerste beunruhigte. Eine differenzierende Darstellung hätte nun freilich zu berücksichtigen, daß die führenden Schichten und breite Kreise des Bürgertums zwischen Kommunismus und Sozialismus zu unterscheiden oft nicht fähig und noch häufiger gar nicht willens waren, daß andererseits der Faschismus zu einem guten Teil auch sich selbst als sozialreformerisch, antibürgerlich, sozialistisch und linken Ursprungs auffaßte. Es geht hier nur um die Quintessenz, und diese zeigt den Faschismus im Gegenangriff als den Todfeind des Kommunismus. Im Verlauf dieses Kampfes sind die Faschisten jedoch, wenn sie es je waren, keineswegs die Söldner und Marionetten des Kapitalismus, der Bourgeoisie und des Rest-feudalismus geblieben. Sie sind allenthalben ihren Geldgebern und Gönnern über den Kopf gewachsen und haben sich selbständig gemacht. Und sie ähnelten am Ende ihren bolschewistischen Widersachern der Stalin-Ara mehr als ihren Patronen von einst.

Der Nationalsozialismus als seelische V e r 1 a s s e n s c h a f t im deutschen Volke Der Historiker fragt nicht nur: „Wie ist es gewesen?", sondern auch: „Was ist daraus geworden?" Das heißt u. a., die Gegenwart auf ihre historischen Elemente analysieren. Wir haben versucht, einige Wirkungen der HitlerÄra auf die große Politik zu skizzieren. Wie steht es mit der Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus im deutschen Volke selbst? Wie stehen die Deutschen heute zum Nationalsozialismus? Wir sprechen eine Binsenwahrheit aus: jede freie und geheime Abstimmung — wenn wir diesen fiktiven Fall einmal annehmen wollen — unter der Alternative „Nationalsozialismus, ja oder nein" würde ein schlechthin „überwältigendes" Votum gegen das Hitler-Reich zutage bringen.

Das Nein ist allerdings differenziert. Die Jugend ist vom 30. Januar 1933 nicht dreißig, sondern hundert Jahre entfernt. Für sie steht er im Geschichtsbuch, nicht in der lebendigen Erinnerung. Der Beschleunigungsfaktor, der unsere Zeit kennzeichnet, läßt auch eine relativ nahe Vergangenheit rascher zurücktreten und abklingen, als dies früher der Fall gewesen sein mag. Es läßt sich kein schärferer Gegensatz denken als der zwischen dem Lebensgefühl, dem Stil, dem Geschmack, der geistigen Welt und den Interessen derer, die zwischen den beiden Weltkriegen jung waren, und derer, die es heute sind. Daher bereitet es der heutigen Jugend eine nicht geringe intellektuelle Mühe, sich in die Motive und Emotionen der Generationen zu versetzen, die das Hitler-Reich getragen haben. Sie wünscht allerdings darüber informiert zu werden, und die Aufklärung wird ihr nicht etwa, wie man häufig lesen kann, vorenthalten, sondern reichlich zuteil. Hat sie nun die erstaunlichen und befremdlichen Dinge, die sich zwischen 1933 und 1945 zugetragen haben, zur Kenntnis genommen, fühlt sie sich in ihrer ohnehin schon vorhandenen Ablehnung um so mehr bestärkt. Unvorstellbar, daß man vor dreißig Jahren Uniformen liebte, Wehrsport trieb, an Gepäckmärschen teilnahm; von anderen Dingen ganz zu schweigen. Verstehendes Einfühlen in die Vergangenheit kann sich zwar mit deren entschiedener Ablehnung durchaus vertragen, aber es ist, abgesehen von der winzigen, von Berufs wegen dazu gehaltenen Gruppe der Historiker, nur von wenigen zu erwarten. Die meisten Menschen sind weder willens noch fähig, ihr politisches Ja oder Nein mit historischen Bemühungen zu belasten, Wenn die Jakobiner das Ancien Regime und die Kommunisten das Bürgertum verstehend erfaßt hätten, hätte es weder eine französische noch eine russische Revolution gegeben. Wahrscheinlich zählt die Unbekümmertheit dem Historischen gegenüber zu den Listen der Vernunft, um den Gang der Welt aufrecht zu erhalten.

Bei der mittleren oder älteren Generation, die das Hitler-Reich bewußt miterlebt hat, gibt es eine beträchtliche Anzahl, für die dieses Erleben ein Erleiden war, sei es in physischer oder in psychischer Hinsicht oder in beider. Ihre Meinung hat sich spätestens im Laufe des Hitler-Reichs zu prinzipieller Gegnerschaft und Feindschaft entwickelt. Anders steht es mit der Majorität der genannten Generationen. Sie ist zustimmend oder indifferent von 1933 bis 1945 den Weg des Regimes mitgegangen, aber auch häufig hingerissen und hoffnungsvoll. Selbstverständlich haben in den Tagen des Glanzes unendlich mehr Menschen zu Hitler gestanden als in der letzten Kriegsphase mit ihrem unaufhaltsamen Abstieg. Aber es wäre unrichtig, die Zustimmung nur mit der Teilhabe am Erfolg zu identifizieren. Auch eine böse Sache lebt von den ihr beigemischten guten Elementen. Der Terror konnte zwar das System in seinen letzten Jahren noch entscheidend sichern und stützen, aber er hat es nicht heraufgeführt und zustandekommen lassen. Daß der Nationalsozialismus, der so viele üble Instinkte entfesselte, auch Wagemut, Zukunftswillen, Begeisterung, Opferbereitschaft, „Idealismus" damals meist jüngerer Leute ansprechen und hervorrufen konnte, daß er fast jeder Schicht des deutschen Volkes, von der Arbeiterschaft bis zu den Großgrundbesitzern, verlockende Vorstellungen präsentierte, hat zu seinem Aufstieg schon eher beigetragen. Die Mehrzahl der heute mittleren und älteren Generation hat sich irgendwann und irgendwie einmal von den ihr positiv erscheinenden Aspekten des Nationalsozialismus beeinflussen lassen, und sie wehrt sich heute gegen die Vermutung oder Unterstellung, ihr subjektiver Ausgangspunkt sei schlecht oder verwerflich gewesen.

Sie vergegenwärtigt sich ferner die Situation von 1933 und unmittelbar vorher und fragt sich, ob ihr in Unterricht und Erziehung oder in der politischen Wirklichkeit die Demokratie so überzeugend nahegebracht worden ist, daß es sich auf Grund ihrer damaligen Meinungen lohnen konnte, für das Weimarer System Partei zu ergreifen. Die Erfahrung, daß auch eine kümmerliche Demokratie einem totalitären System vorzuziehen sei, war damals in Deutschland noch nicht gemacht. Schließlich denken die meisten Menschen mehr in der Dimension ihrer persönlichen Erfahrungen als in überpersönlich-historischen Perspektiven. Es gibt Frauen, die ihr Halbjahr beim weiblichen Arbeitsdienst, und Männer, die ihre Fahrten mit der HJ oder die kleinen Freuden und noch mehr die großen Leiden ihrer Militärzeit als positiv in ihre Erinnerung eingebaut haben, ohne deswegen die Gesamtzusammenhänge von Schuld und Schicksal in Erscheinung treten zu lassen und ihre privat-ungeschichtliche Sphäre mehr zu politisieren als es vernünftigerweise vorauszusetzen ist. Das ist aber auch alles! Mehr als eine bescheidene Wahrung der Selbstachtung, mehr als das Bewußtsein, daß die zwölf Jahre unter Hitler eben ein Stück des eigenen Lebens gewesen sind (mit allen Konsequenzen, die für einen normalen Menschen aus dieser Überzeugung hervorgehen), mehr als die Überzeugung, daß man einst ein Ja zu Hitler als politische Entscheidung für Deutschland und nicht als kriminelle Entscheidung für Auschwitz aufgefaßt hat, wird nirgends geltend gemacht, abgesehen von sehr kleinen Gruppen, die nicht zählen. Die Ablehnung, die den Verbrechen des Nationalsozialismus heute durch das deutsche Volk widerfährt und in den Wahlen, in der Gestaltung des öffentlichen Lebens und den dominierenden Richtungen des kulturellen Lebens zum Ausdruck kommt, ist schlechterdings einhellig; freilich, wer voreingenommen und ohne guten Willen ist, vermag auch das Eindeutige nicht mehr zu erkennen Nichts unrichtiger und abwegiger in diesem Zusammenhang als die Behauptung, es fehle an geistiger und sittlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Hitler-Reichs. Wie demoskopische Umfragen, wenn von Meinungsforschung überhaupt etwas zu halten ist, schlüssig ergeben, daß das deutsche Volk vom Nationalsozialismus nichts mehr wissen will, so beweisen die Bibliographien, wenn sie überhaupt Aussagewert besitzen, welchen riesigen Umfang die Literatur angenommen hat, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Aber nicht nur um die Literatur geht es hier. Wer klaren Kopfes überprüft, welchen Anteil die meistens in schärfster Form geführte Abrechnung mit dem Nationalsozialismus in der Produktion der Presse, des Funks, des Fernsehens und gelegentlich auch des Films einnimmt, kann nicht mehr behaupten, es geschehe in dieser Richtung zu wenig. Schließlich die unausgesetzten Bemühungen in Schulunterricht, Jugenderziehung und Erwachsenenbildung, dokumentiert durch Lehrpläne, Schulbücher, Fortbildungskurse für Pädagogen aller Grade! Es mag sein, daß einzelne Angehörige der mittleren und älteren Generation unter den Lehrern ihr Soll in dieser Hinsicht etwas reservierter erfüllen als die jüngeren Kollegen. Jene haben schließlich im Gegensatz zu diesen einige Erfahrungen mit mehrmaliger behördlich angeordneter Umorientierung hinter sich, und je stärker sie sich engagierten, um so übler ist es ihnen ergangen. Aber ob es nun hier zurückhaltender oder dort temperamentvoller geschieht: an allen deutschen Lehranstalten werden — und zwar ganz überwiegend aus Überzeugung — demokratische Staatsbürger erzogen. Die Kritiker einer angeblich mangelhaften Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit mögen deutlich sagen, was sie sich als psychologisch mögliches und erreichbares Ziel überhaupt vorstellen. Und folgendes sei immerhin zur Erwägung anheimgestellt: es ist selbstverständlich, daß das Hitler-Reich und seine Folgen heute und auf lange Zeit hin einen bevorzugten Platz unter den Gegenständen des Schulunterrichts wie der publizistischen Massenmedien einnehmen müssen. Es ist die Pflicht der Historiker und ihnen verwandter Berufszweige in Deutschland, der Zeit von 1933 bis 1945 erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden, es ist ihre und aller Lehrenden und Erziehenden staatsbürgerliche Aufgabe auf dem Weg der historischen Besinnung, in kritischer und politisch verantwortlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, gerade auch mit der jüngsten Vergangenheit, der Jugend und den Erwachsenen den Weg in eine andere und bessere Zukunft zu erleichtern und bewußt zu machen. Dabei kommt es jedoch auf die Relationen an, in denen sich diese Tätigkeit abspielt, auf das Beziehungsgefüge, in das man den Nationalsozialismus hineinstellt auf die quantitativ und qualitativ richtige Einordnung. Der 30. Januar 1933 war ein Ereignis und das Hitler-Reich eine Periode von universalgeschichtlicher Bedeutung. Aber beide verlieren, wie alles auf der Welt, mit fortschreitender Zeit an Aktualität. Die Welt hat sich gegenüber 1933, aber auch gegenüber 1945 und 1950 gewaltig verändert. Man muß stets im Auge behalten, was heute wichtig und gewichtig ist. D. h. es sollte die Behandlung des Nationalsozialismus in einem angemessenen Verhältnis zu der Beschäftigung mit dem kommunistischen Rußland und dem Kommunismus überhaupt, zu der Emanzipation der Farbigen und anderen weltpolitischen Vorgängen erfolgen, die heute mehr Interesse beanspruchen dürfen als die Hitler-Zeit. Die didaktische Konzentration auf den Nationalsozialismus und die Aktualisierung dieses untergegangenen Phänomens sollten nicht dazu führen, gefährlichere, weil lebende Tendenzen, zu übersehen. Jedenfalls wird eine Zeitgeschichtsschreibung, die sich auf das Hitler-Reich allein spezialisiert, eines Tages und vielleicht schon sehr bald erkennen müssen, daß ihre Basis etwas schmal ist. Loths Weib gehörte zwar zu den Gerechten, die der Herr erretten wollte, aber selbst sie erstarrte zur Salzsäule, als sie den Blick nicht von dem wenden mochte, was hinter ihr lag. Wer diesen Vergleich mißdeuten will, mag es tun! Meine Meinung ist nur, daß der Historiker nicht nur zurückblicken, sondern auch vorwärts schreiten, sich neuen Perspektiven, die sich je und je ergeben, öffnen und daraus für seine Fragestellung und Forschungsrichtung Konsequenzen ziehen soll.

Das rechte Maß und die rechten Relationen einzuhalten, gilt es auch hinsichtlich eines Gesichtspunkts, der heute mehr als früher die geschichtliche Betrachtung beherrscht, nämlich des moralischen Urteils. Grundsätzlich ist das Vordringen moralischer Wertung im Politischen nur zu begrüßen. In dem technischen und zivilisatorischen Zustand, den wir heute erreicht haben, kann eine machiavellistische Politik nur mehr zur Katastrophe führen. Die vom Sittlichen vermeintlich befreite, „reine" Politik ist in unserer Zeit Antipolitik und Unpolitik. Den Vernichtungsmitteln, denen die Politik heute gebietet, kann man nur Humanität und Gewissen entgegensetzen.

Diese Einsicht ermuntert uns, die Geschichte der Gewissensbildung und die sittlichen Taten in der Geschichte wieder mehr zu berücksichtigen, das Moralische als historische Macht anzuerkennen und moralische Kritik da zu üben, wo es angebracht ist.

„Wo es angebracht ist" — das will allerdings besagen, daß das Moralische nicht der einzige Maßstab historischer Beurteilung sein kann. Die Geschichtswissenschaft hat es stets mit einer Vielzahl von Faktoren und Aspekten zu tun. Der heutige Historiker kann nicht mehr zurück zu den Anschauungen einer einst sehr verbreiteten naiv-moralischen, man kann auch sagen moralistischen Geschichtsbetrachtung. Klare moralische Begriffe verbieten es geradezu, geschichtliche Erscheinungen in moralischer Schwarz-Weiß-Malerei anzugehen. Und wo sich die moralische Frage unüberhörbar stellt, ist es nicht mit Simplifizierung und noch weniger mit Pharisäismus getan. Am Platze ist vielmehr, woran es weithin so sehr mangelt: Aufrichtigkeit, Mut und — Takt-gefühl. Es ist heute in Deutschland in einem vorher nie gekannten Umfang eine Phalanx politischer Moralisten am Werk, die einen enormen publizistischen Einfluß ausüben. Bei der Beurteilung der Wirksamkeit dieser Männer ist allerdings die Gabe der Unterscheidung vonnöten. Wir zweifeln nicht, daß es sich bei den meisten um Patrioten handelt, und ihre Tätigkeit möchte man nicht missen. Aber es treten unter ihnen auch Scharlatane auf, die ein Schattenboxen mit Phantomen veranstalten, ferner Männer, die mehr Leidenschaftlichkeit als Besonnenheit an den Tag legen, und schließlich solche, die bewußt oder unbewußt unter dem Deckmantel des Moralischen fragwürdige politische Geschäfte besorgen. Man erkennt sie unschwer daran, daß sie den „Fall“ Deutschland unzulässig isolieren, die Gewichte nicht den Tatsachen entsprechend verteilen und die geschichtlich beweisbaren Relationen übergehen. Nichts liegt dem Verfasser ferner, als auf ein banales Quitt, das in der moralischen Sphäre nicht möglich ist, hinauszuspielen und so die Partie remis enden lassen zu wollen. Der Historiker ist nicht dazu da, die Akten zu schließen; er soll sie vielmehr erschließen. Mit dem Erschließen hat sich eine politisch verantwortliche Interpretation der Vergangenheit zu verbinden. Der Verantwortlichkeit entspricht man allerdings eher durch ein höchstmögliches Maß an Offenheit als durch gouvernantenhafte volkspädagogische Überängstlichkeit. Solche Überängstlichkeit liegt nicht nur da vor, wo man die Fehler der eigenen Vergangenheit verschweigt, sondern auch bei denen, die so tun, als ob die Ungerechtigkeit in der Welt seit 1945 im großen und ganzen verschwunden wäre.

In ihrer Masse sind es dieselben Menschen, die das Hitler-Reich und den Krieg getragen und ertragen und die den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates in der Bundesrepublik bejaht und ermöglicht haben. Ein Sachverhalt, der dafür spricht, daß ganze Völker umdenken und sich neu orientieren können.

Tatsächlich gehört ja der Glaube an die positive Wandlungsfähigkeit des Menschen unabdingbar zum Wesen der Humanität und — zur Konzeption der Demokratie. Es ist zuzugeben, daß zwar keinerlei Anhänglichkeit an Hitler und seine Partei, wohl aber manches mit der Hitlerzeit in engem Zusammenhang stehende Trauma fortbesteht. Hinter der Fassade des Wohlstands gibt es viel Unsicherheit und Unklarheit. Viele sind von einem Extrem ins andere gefallen und haben den rechten Mittelweg zwischen Überhebung und Mangel an Selbstachtung noch nicht gefunden. Vielfach vermißt man das rechte Zueinander von Freiheit und Selbstdisziplin. Daß das Verhältnis zwischen Gegenwartsbewußtsein und Tradition gestört ist, wird niemand wundern, der die Schwere unserer Katastrophe ermißt. *Um so größer die Aufgaben, die sich hier stellen. Bedenkliches und Gefährliches zeigt sich genug; aber wann wäre es anders gewesen? Gewichtiger ist, was sich zugunsten unserer Situation ins Feld führen läßt. Gerade im Rückblick auf den 30. 1. 1933 und alles, was er symbolisiert, läßt sich guten Gewissens behaupten, daß heute im deutschen Volk alle Voraussetzungen für eine Teilhabe an einer friedlichen und fortschrittlichen Ökumene gegeben sind. Nie zuvor hat es in Deutschland ein solches Maß an internationaler Aufgeschlossenheit gegeben wie heute, solche Abkehr vom Nationalismus, solche Ansprechbarkeit für das Moralische in der Politik. Der Nationalsozialismus ist tot. Auch in einer vorläufigen Bilanz kann dies mit vollständiger Sicherheit gesagt werden. Wir haben die Verbindlichkeiten der nationalsozialistischen Verlassenschaft auf uns nehmen müssen und wir tragen schwer genug an ihnen. Es kommt aber gleichzeitig alles für uns darauf an, uns nicht auf eine Vergangenheit festlegen zu lassen, die äußerlich und innerlich überwunden ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Heinz Gollwitzer, Dr. phil., geb. 30. Januar 1917, o. Professor für Politische, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Münster.