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Zum Problem der historischen Wurzeln des Nationalsozialismus | APuZ 5/1963 | bpb.de

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APuZ 5/1963 Machtergreifung und Kontinuität des Imperalismus Gedanken zum 30. Januar Zum Problem der historischen Wurzeln des Nationalsozialismus Hitlers Erfolg. Rückblick nach 30 Jahren Der Nationalsozialismus in amerikanischer und englischer Sicht

Zum Problem der historischen Wurzeln des Nationalsozialismus

Theodor Schieder

Der Nationalsozialismus und seine Herrschaft über Deutschland, die vor nun 30 Jahren einsetzte und vor 18 Jahren in einer furchtbaren nationalen Katastrophe endete, ist ein Ereignis, das tiefere Spuren in die deutsche Geschichte eingegraben hat als kaum ein Ereignis zuvor. Und doch haben wir es, 30 Jahre danach, in seiner geschichtlichen Bedeutung, seiner Herkunft und Abstammung noch keineswegs begriffen, ja, es scheint manchmal, als würden wir — noch betäubt von dem Schlag, der uns getroffen — erst langsam unser Gedächtnis wiederfinden. Die zeitgeschichtlichen Ursachen dieses Verhaltens zu analysieren ist nicht einfach, jedenfalls ist das Bild weit vielschichtiger, als daß sich dafür eine knappe Formel finden ließe. Doch eines ist sicher: Das Erschrecken, das die Gegenüberstellung mit dem wahren Gesicht des Nationalsozialismus seit 1945 hervorgerufen hat, hat ganz abgesehen von der moralischen Seite einer in die Tiefe gehenden Gewissensprüfung noch zu keiner ausreichenden historischen Auseinandersetzung geführt. Auch dies ist schwieriger, als man gemeinhin glaubt, und jeder, der sich auf dieses Gebiet wagt, ist sich der Vorläufigkeit seiner Thesen bewußt. Er weiß auch, daß er sich Mißverständnissen nach allen Richtungen aussetzen kann, aber er kann keinem anderen Leitstern folgen als dem der ernsten wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, die ja in erster Linie ein ethisches und kein nur von der wissenschaftlichen Methode gebotenes Postulat ist. Wer der Wahrheit auf dem Felde geschichtlichen und das heißt menschlichen Handelns nachstrebt, der wird zuvor sich selbst als erkennendes Subjekt nicht ausschalten können, aber er muß dieses Selbst ständig unter das Gericht dieser Wahrheit stellen können. Dann sind die subjektiven Voraussetzungen des historischen Forschens nicht nur ein beklagenswerter Rest menschlicher Unzulänglichkeit, sondern gerade der innere Antrieb unserer Wahrheitssuche. Wer könnte besser gerüstet sein, ein historisches Phänomen zu beurteilen als der, der sein eigenes Schicksal in der Geschichte deutet?

Bisher stehen sich — extrem zugespitzt •— zwei Anschauungsweisen über die Entstehung des Nationalsozialismus gegenüber: Die eine sieht in ihm eine geschichtlich nicht abzuleitende plötzliche Naturkatastrophe, die über die deutsche Geschichte hereinbrach, ohne daß sie in dieser irgendwie angelegt oder vorbereitet war. Diese Deutung kann sich bis zu der These vom persönlichen Unglücksfall Hitler in der Geschichte steigern: Man verliert sich in die Abgründe von Hitlers verworrener Jugend, in die abnormen Züge seines Charakters, um ausschließlich von da aus das ganze geschichtliche Phänomen Nationalsozialismus erklären zu wollen. Hitler, dessen historische Verantwortung und Schuld ohnedies unmeßbar ist, erfährt hier nachdrücklich eine gigantische Überhöhung, als ob er wirklich allein das Zeitalter darstelle, das wir durchlebten, und die Lebenszufälle seiner Person das Schicksal unseres Zeitalters seien. Diese Anschauung mag manchen entlastend und bequem vorkommen, als historisch kann man sie nicht bezeichnen.

Diesem ahistorischen Bild vom Dämon, der eine Welt zerstört, die mit ihm durch kein Band verknüpft ist als den Zufall, steht ein anderes gegenüber, dessen Hintergrund ganz und gar von der Geschichte und zwar der deutschen Nationalgeschichte gebildet wird. Mit ihm wurden wir Deutsche nach der großen Katastrophe von 1945 zum erstenmal wieder unserer Geschichte gegenübergestellt und zwar von den Siegern des Zweiten Weltkrieges, die das Dritte Reich niedergeworfen hatten: Der Nationalsozialismus sei, so hieß es jetzt, ein fast logisches Ergebnis der deutschen nationalen Überlieferung, des deutschen Nationalcharakters, in einem negativen Sinne die Vollendung der deutschen Geschichte. Was die nationalsozialistische Geschichtslehre vorher verklärt hatte, um sich eine geschichtliche Legitimation zu geben, die ihr fehlte, wurde jetzt umgekehrt als Beweis dieser These verwendet: die Tradition der reinen Machtpolitik, die sich immer bewußt außer Völkerrecht und Staatengemeinschaft gestellt habe, die Vergottung des Staates, die ideologisch in der deutschen idealistischen Philosophie, praktisch in der preußischen Geschichte vorgenommen sei, der auf Weltherrschaft ziel. -le Wille einer Nation, die sich als Herrschernation und Herrscherrasse fühle und dies mindestens seit einem Jahrhundert zum Ausdruck gebracht habe. Der historischen Linien, die hier gezogen werden können, sind dann viele: von Friedrich d. Gr. über Bismarck zu Hitler, von Luther über Hegel zu Rosenberg. Kein geschichtlich denkender Mensch wird die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit bestreiten, historische Herleitungen der nationalsozilistischen Ära zu versuchen, aber die hier angedeuteten Versuche leiden samt und sonders an einem zu starken Historismus: Sie sehen ein Ereignis wie den Nationalsozialismus zu einseitig aus der Kontinuität der deutschen nationalen Geschichte und in dieser Geschichte die Epiphanie eines umwandelbaren nationalen Charakters. Zwei Dinge rücken dadurch zu wenig ins Licht: einmal die Tatsache, daß der Kontinuitätsbegriff gar nicht mehr ausreicht, um ein die Kontinuität durchbrechendes revolutionäres Phänomen wie die nationalsozialistische Revolution in seiner historischen Bedeutung zu verstehen. Das Zweite ist der universalgeschichtliche Charakter, den unsere Epoche und alles, was sich in ihr ereignet hat und ereignet, besitzt. Auch der Nationalsozialismus ist nur als universal-historische Erscheinung zu begreifen; diese These darf allerdings nicht dahin mißverstanden werden, daß wir Deutsche uns um die Verantwortung drücken, die wir nun einmal in einer von vielen Völkern gewirkten Weltgeschichte tragen. Es ist gar kein Zweifel daran erlaubt, daß der Nationalsozialismus spezifisch deutsche Züge hatte, wie er als Ganzes ein Produkt der europäisch-abendländischen Entwicklung in der Phase der modernen Industriegesellschaft gewesen ist.

Unser Versuch, die historische Wurzel des Nationalsozialismus freizulegen, wird also sowohl den unhistorischen wie den — ich möchte einmal sagen — überhistorischen Irrweg vermeiden müssen. Jedes weitere Eindringen in die Geschichte stößt uns darauf, daß sie weder als ein ununterbrochener Kontinuitätsstrom noch als eine Folge unzusammenhängender vulkanischer Ausbrüche verstanden werden darf, sondern als ein höchst unlogisches, oft geradezu absurdes Nebeneinander von beidem. Gehen wir mit dieser skeptischen Einsicht an den Nationalsozialismus heran, dann wird fürs erste die Frage zu stellen sein: war er seinem Erscheinungstypus nach ein vulkanischer Ausbruch — besser historisch formuliert: War er eine Revolution? Hier scheiden sich schon meist die Geister. Viele Betrachter sprechen ihm die Qualität einer wirklichen Revolution ab mit dem Argument, daß ihm das produktive Element gefehlt habe, das in jeder Revolution enthalten sei — Eugen Rosenstock hat in seinem berühmten Buch über die europäischen Revolutionen unter diesen nur Ereignisse verstanden, die den Charakter der europäischen Nationen geprägt haben — oder sie tun es mit dem Hinweis darauf, daß im Zuge der deutschen Geschichte seit 1918 der nationalsozialistische Umbruch 1933 eher als Gegenrevolution bezeichnet werden müsse. Daran ist etwa Richtiges, was dadurch verdeckt wird, daß offenbar seit der russischen Revolution von 1917 der liberaldemokratische Staat in Europa allgemein in eine kritische Phase eintrat und sich ganz allgemein eine revolutionäre Situation ausbildete, die zu Umwälzungen in vielen Ländern: in Italien 1922, in den liberischen Ländern, in Osteuropa führte. Diesen Prozeß muß man als einheitlichen Vorgang ansehen, so verschieden seine Erscheinungsformen sind; auch die nationalsozialistische Machtergreifung gehört in diesen Zusammenhang, ja sie ist zweifellos das folgenrichtigste Glied in dieser Ereigniskette. Gegenrevolutionär an ihr ist ihre geschichtliche Stellung als Antwort auf 1918 oder in weiterem Sinne auf 1789, aber darin erschöpft sich ihre Wirkung doch nicht: Sie stellte nicht einfach die monarchisch-bürgerliche Ordnung von 1914 wieder her, sondern schuf daraus etwas anderes, ein System, das keinem älteren Staats-und Geschichtsmodell der deutschen Geschichte nachgebildet war: den autoritären Führer-und Einparteienstaat, der eine einheitliche, wenn auch aus sehr heterogenen Bestandteilen zusammengesetzte Ideologie oder „Weltanschauung" durch Propaganda und Terror verwirklichen wollte und sonst terroristische Methoden zum Bestandteil der Staats-praxis machte in einem Ausmaße, das vorher nur aus dem Sowjetstaat bekannt war. Er entwickelte aus dem mit einer Rassenlehre vermischten Nationalismus den Imperialismus eines Herrenvolkes, das sich über alle anderen Völker setzen wollte. Dies kann man kaum anders als revolutionär nennen, wenn dieses Wort einfach eine völlige Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung bezeichnen soll.

Die Vorgeschichte dieser Revolution unterscheidet sich aber in sehr auffälliger Weise von der der vorausgehenden europäischen Revolutionen. Sowohl der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, wie der französischen des 18. Jahrhunderts und der russischen des 20. Jahrhunderts geht ein langes, fast überall ein halbes Jahrhundert dauerndes Vorspiel voraus, währenddessen sich ein System revolutionärer Ideen und eine Schicht revolutionärer Aktivisten von jeweils sehr verschiedenartiger Zusammensetzung gebildet hat. Die englischen nonkonformistischen Sekten, die sogenannten „Philosophen" in Frankreich, die russischen Intelligentsia wären hier zu nennen. Von etwas ähnlichem kann man im Deutschland vor 1918 kaum sprechen: Hier gibt es keine revolutionäre Tradition und keine eigentliche revolutionäre Schicht; das deutsche Bürgertum hat sich nach 1848 niemals mehr zu revolutionärer Tat aufgeschwungen; die deutsche Arbeiterschaft kam zwar theoretisch von einem revolutionären Ausgangspunkt her, war aber doch seit der Jahrhundertwende auf dem Wege, eine Partei der sozialen Reformpolitik zu werden. Karl Marx hat schon vor 1848 die Deutschen als das Volk ohne Revolution verhöhnt, und im Grunde hat sich an dem Fehlen revolutionärer Tradition und revolutionären Willens bis 1918 nichts geändert. Erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges zeichnet sich eine Wendung ab. Während die Masse der deutschen Sozialdemokratie durch die Kriegsereignisse eher einem Integrationsprozeß in die nationale Gesellschaft unterliegt,, als daß sie sich in ein proletarisch-revolutionäres Bewußtsein zurückzieht, formt sich die Minderheit der linken Marxisten zu einer Partei um, die den deutschen Zusammenbruch zu einer echten sozialen und politischen Revolution unter der Parole der Räteverfassung ausnutzen will. Sie bleibt als Kommunistische Partei Deutschlands in der auf einem sozialistisch-bürgerlichen Kompromiß beruhenden Weimarer Republik ein revolutionäres Element, das sich aus einer proletarischen Anhängerschaft zusammensetzte.

Die in der sozialdemokratischen Partei politisch organisierte Arbeiterschaft dagegen regierte in Verbindung mit dem liberalen Bürgertum und dem durch die Zentrumspartei repräsentierten Katholizismus den Weimarer Staat durchaus nicht mit revolutionären Mitteln, sondern alle diese Kräfte zusammen suchten mit immer mehr sich verringerndem Erfolg im Rahmen einer liberalen Verfassungskonstruktion den sozialen und politischen Ausgleich sehr divergierender Interessen. Inzwischen hatten sich aber in der nationalen Gesellschaft ganz neuartige revolutionäre Elemente entwickelt, die man als ein Produkt der Niederlage und ihrer wirtschaftlichen Folgen ansprechen muß. Eines davon ist der seines bürgerlichen Bewußtseins verlustig gegangene Weltkriegssoldat, der zweimal entwurzelt worden ist: zum erstenmal in den Schützengräben des Stellungskrieges und dann nach der Heimkehr, als ihn die Demobilisierung aus dem Kriegsdasein mitten in eine von Unsicherheit erfüllte zivile Welt zurückversetzte. Der geistige Umbruch, der durch den Ersten Weltkrieg im Bewußtsein der europäischen Menschheit hervorgerufen wurde, ist eine der größten geistigen Umwälzungen der europäischen Geschichte. Seine tiefe Bedeutung liegt darin, daß der Krieg nicht eigentlich ein unangekränkeltes Sekuritätsgefühl zerstört, sondern daß er den schon vor dem Krieg begonnenen Aufstand gegen diese Sekurität in entschiedener Weise bestätigt hat. In den westlichen Ländern — außer etwa in Italien — konnten die durch den Krieg ausgelösten destruktiven Bewegungen im allgemeinen in dem Bewußtsein eines weltgeschichtlichen Sieges aufgefangen werden, in Deutschland war das unmöglich. Der entbürgerlichte Landsknecht, der die Welt nur mehr als Krieg zu sehen vermag, schafft zum erstenmal in Deutschland die Kader revolutionärer Verschwörungen und Aktionen. Wir begegnen ihm jetzt überall: in den Freikorps, den Femeorganisationen, den gegen die Republik gerichteten Putschen. Das revolutionäre Bewußtsein dieser Gruppen war in dem Augenblick geschaffen, in dem sie mit einer ihrer Existenz entsprechenden Ideologie erfüllt wurden. Von manchen Seiten ist in den erregten Jahren nach dem Kriege eine ideologische Brücke von Kriegertum, preußischer Tradition zum Sozialismus geschlagen worden: von Oswald Spengler vor allem, aber auch von Emst Jünger in seiner Schrift über den Arbeiter. Sie konnten dabei schon an Nietzsche und Jacob Burckhardt anknüpfen, die wohl als die ersten die innere Verwandtschaft der industriellen Gesellschaft mit militärischen Lebensformen gesehen haben. Hitler gelang es, diese Kräfte politisch zu sammeln, ihnen in den militanten Organisationen der Partei ein Aktionsfeld zu öffnen, auf dem das Militärische politisch gesehen wurde und das Politische militärisch. Hier war nur Mussolini mit seinen Fasci di combattimento vorausgegangen, in denen allerdings noch ein Stück syndikalistischer Tradition steckte.

Der Weltkriegssoldat, der weder einen militärischen Beruf mehr ausüben kann noch in die in Auflösung begriffene bürgerliche Welt zurückfindet, ist ein wesentlicher, wenn nicht der wesentlichste soziologische Bestandteil des Kaders der sich nach dem Kriege bildenden NSDAP[Hitler gehört selbst dazu. Die Massen der Anhängerschaft dieser Partei, die seit 1930 einen unerhörten zahlenmäßigen Aufschwung erlebt, rekrutierte sich aber aus anderen Kräften. Die nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts werden von einem selbstbewußten, wirtschaftlich aufstrebenden und leistungsfähigen Bürgertum getragen, sie waren wie schon die Französische Revolution von 1789 also nicht Bewegungen wirtschaftlich absinkender Gruppen. Beim Nationalismus des 20. Jahrhunderts scheint das wesentlich anders zu sein; er ist — bis zum Antikolonialismus unserer Tage •— aus dem Protest gegen Verarmung, Enteignung und ökonomischer Verkümmerung geboren. Seine Träger werden in Deutschland kleinbürgerliche und mittelständische Schichten, die sich im Nationalstaat am besten eingelebt hatten und nun auf seine Niederlage am heftigsten reagierten. Diese Niederlage fiel für sie zusammen mit der Inflation und mit dem Verlust ihrer materiellen Sicherheiten, ihrer Vermögen, ihrer sozialen und politischen Einflußmöglichkeiten in einem gesellschaftlichen System, in dem die großen Interessenverbände der industriellen Arbeitswelt alle anderen Gruppen zurückdrängten. Darum die heftigen Reaktionen dieser Schichten, als in der Weltwirtschaftskrise seit 1929 die wirtschaftliche Stabilität erneut erschüttert wurde, darum die Empfindlichkeit der Abwehr in der Reparationsfrage, in der der Zusammenhang ökonomischer und nationaler Probleme besonders deutlich ist. Die Panikstimmung dieser Schichten wurde von der Propaganda der Nationalsozialisten vor allem in den Wahlkämpfen von 1930— 32 geschickt genutzt, in denen der wirtschaftliche Schrumpfungsprozeß ausschließlich als Folge äußerer wirtschaftlicher Unfreiheit infolge der Reparationsverpflichtungen der Dawes-und Youngpläne dargestellt wurde.

So hat der Nationalismus, den die NSDAP verkündete, seine Stäbe und die Masse seiner Anhänger gefunden. Aber worin besteht er und woher stammt er selbst? Um diese Frage zu beantworten, müssen sowohl die ideologischen Quellen des Nationalsozialismus herangezogen wie in gewissem Umfange seine politische Praxis, die uns erst die Möglichkeit gibt, diese Quellen zu deuten. In dreierlei Hinsicht will sich die nationalsozialistische Ideologie vom bürgerlichen Nationalbewußtsein unterscheiden: Indem sie sich sozialistisch, völkisch und rassisch begründet. Ich will hier das Problem des nationalen Sozialismus zurückstellen, da dieser kaum mehr als eine antimarxistische Parole ohne reale Konsequenz, abgesehen vom Kriegssozialismus des zweiten Weltkrieges geblieben ist Auf jeden Fall sind von den Volks-und Rasseideen des Nationalsozialismus die größten und furchtbarsten Wirkungen ausgegangen, und es ist deshalb dingend nötig, sich vor allem mit ihrer Herkunft zu beschäftigen. Die moderne deutsche Nationalidee bildete sich um die Wende des 18. Jahrhunderts zum 19. Jahrhundert aus einem geistigen Volksbegriff, der die Sprache als einen Anhauch Gottes, als ein Mysterium der Gemeinschaft eines Volkes begriff. Volk ist für die Romantik Sprach-und Geistgemeinschaft. Daß es auch Staatsgemeinschaft sein soll, ist bald als politische Forderung hinzugekommen, aber auch dann noch glaubten die späteren Jünger Herders an die Möglichkeit, die europäische Staaten-und Völkerordnung durch das Nationalitätsprinzip nicht aufzulösen, sondern sie vielmehr erst auf stabile Grundlage stellen zu können. Der Bismarck-sehe Nationalstaat, das Deutsche Reich von 1870 war nur eine unvollkommene Schöpfung vom Standpunkt des Volks-und Sprachnationalismus und seiner Forderung nach staatlichem Zusammenschluß aller, die die deutsche Sprache sprechen. Aber seine staatliche Komponente war um so stärker und mächtiger und an ihr entwickelte sich bald ein staatlich gerichtetes, reichsdeutsches Nationalbewußtsein, das sich von den Deutschen außerhalb der Reichsgrenze abhob. In vielen meist ausländischen Darstellungen wird dies übersehen und es so dargestellt, als ob eine gerade, ununterbrochene Linie von dem Volksbegriff der Romantik zur völkischen Ideologie des Nationalsozialismus gezogen werden könne.

Dies trifft keineswegs zu. Vielmehr sind es nur einzelne Außenseiter, die die völkische Ideologie abseits vom allgemeinen nationalen Bewußtsein, das national mit reichspatriotisch gleichsetzt, fortbilden. Ihnen ist es gemeinsam, daß sie den Weltmacht-Imperialismus des Reiches mit Kolonial-und Flottenpolitik ablehnen und dafür wie etwa Paul de Lagarde einen kontinentalen Imperialismus mit deutscher Siedlungspolitik, Angliederung Österreichs fordern. Auf solche Vorstellungen trifft man dann wieder bei Hitler, schon in . Mein Kampf" wo wir lesen können: „Wir schließen endlich ab die Kolonial-und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Boden-politik der Zukunft.“ Aber Hitler hat — und damit kommen wir zu einer der wichtigsten Feststellungen — diese Anschauung gar nicht aus der reichsdeutschen Politik mitgebracht, sondern aus dem überhitzten Nationalitäten-kampf der östereichisch-ungarischen Monarchie. Das östereichische Alldeutschtum unter Georg von Schönerer ist die Schule, in die er gegangen ist. In ihr fand er auch, wie wir noch hören werden, die enge Verbindung von nationaldeutschem Radikalismus und Antisemitismus vor.

Der reichsdeutsche Alldeutsche Verband ist mit der Schönerer-Bewegung nicht gleichzusetzen. Wohl finden sich bei ihm auch großdeutsche Parolen, aber viel näher liegt ihm schon nach der Zusammensetzung seiner Anhängerschaft die Begründung und Unterstützung eines von nationaler Grundlage ausgehender, aber die Nation als politische Einheit weit zurücklassenden Imperialismus. Der Umschlag von nationalstaatlicher zu weltimperialistischer Politik europäisches Phäno - ist allgemeines men seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Hannah Arendt stellt in ihrem großangelegten Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" die eigentliche Antinomie dar, die zwischen Nationalstaat und Imperialismus besteht. Beides sind der Idee nach sich widersprechende Begriffe, in der politischen Praxis jedoch wird der Sprung vom einem zum anderen ohne viel Skrupel getan, in England vor allem, aber auch in Deutschland. DieserSprung wurde nun vor allem, wie wiederum Hannah Arendt gezeigt hat, durch die Einführung des Rassebegriffs ermöglicht, der viel weitergeformt war als die Nation und außerdem ermöglichte, eine Elite-Idee innerhalb und außerhalb der Nation zu begründen. Der Rassebegriff wurde um die Jahrhundertwende zu der eigentlichen Ideologie aller imperialistischen Politik, der Rassismus die politische Waffe des Imperialismus. Vorstellungen vom Herren-volk, von Herrenrasse, von dem Herrenrecht des weißen Mannes sind in der kolonialistisehen Politik der großen Imperialisten wie Cecil Rhodes, Carl Peters gewachsen. Auf die nationalsozialistische, speziell die Hitlersche Ideologie hat davon manches abgefärbt, in sublimierter Form entwickelte der nach Deutschland emigrierte Engländer Houston Stewart Chamberlain den Gedanken einer arisch-germanischen Berufung zur Besitzergreifung der Erde, die Hitler dann ganz darwinistisch als Recht des Stärkeren im Kampl ums Dasein auffaßte. Wenn Hannah Arendt recht hat, daß der Rassismus aus dem kolonialen Imperialismus erwachsen ist, dann wäre er durch den Nationalsozialismus auf die kontinental-europäischen Verhältnisse übertragen worden. Dadurch hat sich seine innere Unmöglichkeit als politische Ideologie aber erst ganz enthüllt. Die Rede von der Überlegenheit des weißen Mannes war in Afrika aus einer Art Schockwirkung beim Zusammenprall mit der schwarzen Bevölkerung entstanden. In der Beziehung der europäischen Völker zueinander, die anderthalb Jahrtausende zusammen gelebt und Geschichte gemacht hatten, konnte am Ende nicht die Herrschaft einer Herrennation über Heloten stehen. Das widersprach allen Anschauungen der europäischen Völker, das widersprach aber auch dem bei allen kriegerischen Auseinandersetzungen nie verlorenen europäischen Rechtsbewußtsein. Hitlers „germanisches Reich deutscher Nation" wie es in „Mein Kampf" genannt und wie es in den Jahren des Krieges einzelnen ideologisch und praktisch ausgebaut wird, ist die Ausgeburt einer wirklichkeits-und geschichtsfremden Phantasie, die in ihrer Hybris sich zu reinen Wahnvorstellungen versteigt; es gibt dafür viele Belege, die nach dem Kriege zutage gekommen sind. So lesen wir etwa in den Tischgesprächen aus den Jahren 1941/42: „Bei unserer Besiedelung des russischen Raumes soll der „Reichsbauer" in hervorragend schönen Siedlungen hausen. Die deutschen Stellen und Behörden sollen wunderbare Gebäulichkeiten haben, die Gouvereure Paläste. Um die Dienststellen herum baut sich an, was der Aufrechterhaltung des Lebens dient. Und um die Stadt wird auf 30 bis 40 km ein Ring gelegt von schönen Dörfern, durch die besten Straßen verbunden. Was dann kommt, ist die andere Welt, in der wir die Russen leben lassen wollen, wie sie es wünschen. Nur, daß wir sie beherrschen. Im Falle einer Revolution brauchen wir dann nur ein paar Bomben zu werfen auf die betreffenden Städte, und die Sache ist erledigt. Einmal im Jahr wird dann ein Trupp Kirgisen durch die Reichshauptstadt geführt, um ihre Vorstellung mit der Gewalt und Größe unserer steinernen Denkmäler zu erfüllen." Und er schließt, wenige Jahre bevor Großbritannien Indien aus seiner Herrschaft entläßt mit dem Satz: „Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein." So etwas hatte noch kein deutscher Staatsmann zu denken gewagt, geschweige denn gesagt. Der ganze deutsche Imperialis-mus bis in den ersten Weltkrieg bleibt trotz mancher hybriden Vorstellungen ein Kinderspiel gegen den Hitlerschen Herrschaftswahn, für den man keine unmittelbaren historischen Wurzeln nachweisen kann.

Den verhängnisvollsten Bestandteil der nationalsozialistischen Rassenlehre und Rassen-politik haben wir bisher noch nicht berührt: den bis zur physischen Vernichtung von Millionen gesteigerte Kampf gegen das Judentum. Angesichts des Unheils, das damit über unser Volk gebracht und die Schande, die uns damit bereitet wurde, scheint es fast unmöglich, die nüchterne historische Analyse fortzusetzen, aber nicht nur der Historiker, kein nachdenklicher Deutscher wird es sich ersparen dürfen, gerade an dieser Stelle den Dingen auf den Grund zu gehen. Bei der Judenpolitik des Nationalsozialismus handelt es sich, das wissen wir längst, nicht um Auswüchse einer überschäumenden revolutionären Bewegung, sondern um einen mit eiserner Konsequenz verfolgten Kernpunkt der nationalsozialistischen Lehre und Politik. In dem Kapitel „Volk und Rasse" in „Mein Kampf" hat Hitler das Judentum als den Gegenpol seiner arisch-germanischen Weltherrschaftspolitik gekennzeichnet, und von dieser Grundstellung aus führt ein gerader Weg bis zur „Endlösung" der Judenfrage. Man muß wenigstens mit einigen Strichen den historischen Hintergrund skizzieren, auf dem sich diese ungeheuerliche Entwicklung vollzieht, wenn auch die Geschichte des jüdischen Problems in der Nationalstaats-entwicklung des 19. Jahrhunderts noch nicht in allen Punkten aufgehellt ist. Der Liberalismus, Träger der Nationalidee des vorigen Jahrhunderts, war auch die geschichtliche Kraft, die die jüdische Emanzipation, die Aufnahme des Judentums in die nationale Gesellschaft betrieben und größtenteils durchgesetzt hat. Die Gegner dieser Entwicklung lassen sich nicht einheitlich charakterisieren. Sie reichen von einem christlichen Konservativismus bis zu kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen wirtschaftlich begründeten Abwehrbewegungen, die in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu antisemitischen Parteibildungen führten. Die großen Auseinandersetzungen um die Stellung des Judentums in der modernen nationalstaatlichen Weltwerden nicht in Deutschland, sondern im Frankreich des Dreyfus-Prozesses und im Rußland der Juden-Pogrome vor allem der achtziger Jahre durchgekämpft. Das deutsche Judentum stand nicht etwa allein auf der Seite der Gegner und Kritiker des Nationalstaates, also in dem linken Liberalismus, in der Sozialdemokratie, es war ebenso im deutschen, besonders preußischen Konservatismus vertreten, an dessen theoretischer Bewußtseinsbildung ein Mann wie Friedrich Julius Stahl entscheidend beteiligt gewesen war. So wenig das Judentum politisch einheitlich orientiert war, so wenig konnte der Antisemitismus sich als politisch fest fixierte Bewegung etablieren, wenn ihn auch seit der Jahrhundertwende der Konservatismus aufzufangen trachtete. Seitdem mehrten sich auch völkische Gruppen aller Art mit militanter antisemitischer Tendenz.

Doch nicht im Reiche, sondern auf dem Boden der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde das Bündnis eines integralen Nationalismus mit einem integralen Antisemitismus geschlossen: in der Alldeutschen Partei unter Georg von Schönerer. Hier wurde der Antisemitismus „zum Zentrum einer Gesamtweltanschauung"

(H. Arendt) unter den besonderen Voraussetzungen eines Nationalitätenkampfes, in dem die Ausfällung national reiner Blutgemeinschaften als Programm gegenüber aller Vermischung und Vermengung eines Völkermischgebietes verkündet wurde. Der immer deutlichere Verlust der Führungsstellung der Deutschen machte diese nicht nur in steigendem Maße reizbar, sondern trieb sie dazu an, die verlorene Vormacht auf dem Wege über einen Zusammenschluß mit den Deutschen des Reiches und dann aber gleich in Europa und in der Welt wiederzugewinnen. Man braucht nur die ersten Kapitel von Hitlers Programmbuch zu lesen, um zu erkennen, in welchem Maße ihn der fanatische Radikalismus des österreichischen Alldeutschtums geformt hat. Die Übertragung des radikalen Antisemitismus nach dem Reich ist indessen nicht einfach das Werk einer teuflischen Propaganda, sondern sie war nur möglich, weil der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der mittelständischen Schichten für die Lehre von einem großen Schuldigen gewisse innere Voraussetzungen geschaffen hatte. Die Skala der Empfindungen reicht dabei von primitiven Bereicherungs-und Rachetrieben bis zu ideologischen Vorstellungen eines völkischen Reinigungsprozesses. Trotzdem möchte ich glauben, daß der integrale Antisemitismus in der breiten Masse des deutschen Volkes im Grunde wenig Eingang gefunden hat. Mangelnder Ausdruck an Empörung bedeutet noch nicht immer Zustimmung, zumal in einem System der Diktatur, das nicht nur die Meinung unter-drücken, sondern auch seine Entscheidungen hinter einem dichten Vorhang treffen kann, so wenig diese Feststellung unser Gewissen entlasten kann.

Die physische Vernichtung des Judentums in Deutschland und Europa ist der wesentliche Bestandteil des Terrors der nationalsozialistischen Revolution. Damit stehen wir vor einer neuen Frage. Terrorismus und Revolution gehören seit je, vor allem seit der großen terreur der französichen Revolution zusammen: der Terror kann auf einschüchternde Wirkung, moralische Unterwerfung zielen, er kann aber auch die Vernichtung bestimmter Gruppen, die als Gegner einer Revolution hervorgetreten sind oder auch nur gelten wie der Adel in Frankreich, die Oberschicht des Zarenreichs in Rußland, wollen. Es muß hier gesagt werden, daß Terrorismus in irgendeiner Form in der deutschen Geschichte, in dem Lande ohne Revolution, vor dem Ersten Weltkriege nicht oder wenigstens kaum hervorgetreten ist. Die deutsche Sozialdemokratie verwahrte sich Ende der 70er Jahre nach den Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. mit Recht gegen den Vorwurf, sie treibe terroristische Politik; wenn sie es vielleicht verbaliter gelegentlich tat, So entsprach dem keineswegs ihre politische Praxis. Politischer Terror auf der Straße, in Attentaten, Femeorganisationen und ähnlichem ist zum erstenmal nach dem Ausgang des Ersten Weltkrieges in Deutschland in Erscheinung getreten. Am ehesten haben dabei anarchistische Vorbilder eine Rolle gespielt, so bei der berüchtigten Organisation Consul. Der Nationalsozialismus knüpft in der Zeit vor der Machtergreifung hieran an: die Sturm-abteilungen, die SA sind daraus entstanden. Man kann diesen offenen Terror, wie ich ihn nennen möchte, bis zum 30. Juni 1934, bis zum 9. November 1938 verfolgen. Es zeigt sich dabei, daß die Steuerung der terroristischen Aktionen immer systematischer wird. In steigendem Maße wird die zentrale Lenkung erkennbar wie bei den Judenprognomen vom November 1938. Das, was der Nationalsozialismus bis zur äußersten erschreckenden Perfektion getrieben hat, ist aber ein System des geheimen Terrors. Man will nicht mehr durch Aktionen auch propagandistische Wirkung erzielen, sondern man baut ein terroristisches System bis in die letzten Feinheiten aus, das ein Höchstmaß von Effektivität haben, aber gerade vor jeder Öffentlichkeit abgeschirmt bleiben soll. Dies war größtenteils die Methode, mit der die Konzentrationslager behandelt wurden, es war vor allem die Methode der Judenvernichtung. Daraus werden uns immer furchtbarere Einzelheiten bekannt. Die Niederschrift des Kommandanten von Auschwitz, Höss, die vom Institut für Zeitgeschichte in München herausgegeben wurde, macht uns mit dem Entsetzlichsten bekannt, was sich in diesem Zusammenhang abgespielt hat.

Hier nach den historischen Wurzeln zu fragen, scheint vorerst fast unmöglich, doch muß auch dies gewagt werden. Je mehr wir die Akteure dieser Verbrechen kennen lernen, desto mehr stellt sich heraus, daß sie im allgemeinen — nicht immer — zweierlei nicht sind: kriminelle Verbrecher und besessene Fanatiker! Höss schreibt fast so, als habe er etwas getan, was sich als Pflicht bezeichnen läßt, und zwar nicht so sehr im Sinne eines Handelns im so-genannten Befehlsnotstand, also unter dem Zwang einer nur mit Gefahr des eigenen Lebens zu verweigernden Anordnung, sondern im Sinne der selbstverständlichen Erledigung eines Auftrages. Die darin zum Ausdruck kommende Mentalität kann man nicht einfach aus einem deutschen Hang zur Servilität, zum Kadavergehorsam ableiten, sondern sie ist ein allgemeines Symptom. Wir stehen hier vor dem völligen Verlust der Personalität, wie sie in einem System technischen oder bürokratischen Funktionierens entstehen kann. Der einzelne trägt in diesem System keine Verantwortung mehr. Er führt nur aus, ohne nach dem Sinn des Aufgetragenen zu fragen. Dieser völlig entleerte Mensch ist sozusagen der Rohstoff, aus dem die Handlanger und Henker des Verilichtungsterrors geformt werden, der selbst nur noch ein Stück technisch-rationaler Apparatur war. Ohne Kenntnis der Abgründe, die sich in der Spätzeit aufgetan haben, hat Hermann Rauschning schon 1938 die nationalsozialistische Revolution überhaupt von diesem Bild der völligen Entleerung her als Revolution des Nihilismus bestimmen wollen. Er spricht von ihr als von der modernen doktrinlosen Revolution: „Alle politischen Motive haben in dieser revolutionären Bewegung nur die Bedeutung vorübergehender Mittel, sie haben nur funktionelle Bedeutung im Weitertreiben der Ordnungszersetzung." „Diese Tatsache ist dadurch allerdings verdeckt, daß sich paradoxerweise dieser politische Nihilismus mit einer absolut verpflichtenden, mehr oder minder rational begründeten, religiös gesteigerten „Weltanschauung* oder Lehre umkleidet. Die Verschiedenheit der Lehren und Weltanschauun-gen kann nicht über den wesensgleichen Charakter der in verschiedenen Nationen aufbrechenden Revolutionen hinwegtäuschen; das ist die totale Despotie ihres Herrschaftscharakters und der bis zur totalen Erschöpfung gehende Charakter der Zerstörung". Ich möchte meinen, daß hier in einem relativ frühen Stadium die Endform der revolutionären Entwicklung mit Scharfsinn erkannt wird, daß aber in den früheren Phasen der Revolution die ideologischen Elemente doch größeres Gewicht hatte. Das gilt auch für den nationalsozialistischen Machtbegriff, der vor allem in den Äußerungen Hitlers schlechthin als Wert an sich erscheint. ihn aber Man kann von einem hybriden, völkisch oder rassisch begründeten Nationalismus nicht trennen, der mindestens der Ausgangspunkt Hitlers gewesen ist. An dieser Stelle scheint nun der deutsche nationalgeschichtliche Untergrund besonders greifbar; den Machtcharakter der Politik haben nicht nur die meisten deutschen Publizisten und Historiker im 19. Jahrhundert, voran Heinrich von Treitschke, betont, sondern namentlich auch Bismarck. Aber hier ergeben sich doch bei näherem Zusehen fundamentale Unterschiede: Bismarck verwandte den Machtgedanken nur dazu, um beschränkte Ziele zu verwirklichen. Sein höchst differenziertes politisches Denken setzte Macht als bestimmende Größe nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei allen anderen voraus. Er blieb in seinen Vorstellungen immer innerhalb des gegebenen Staatensystems, also einer Staatenvielheit. Hitler setzte dagegen das Wort: Deutschland werde entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein, eine furchtbare Alternative, die seine Unfähigkeit zeigte, für Deutschland begrenzte Machtziele ohne Zerstörung des Mächtegleichgewichts ins Auge zu fassen.

Es scheint ein schwieriges Unterfangen, eine Politik, über die Hitler das Wort von der „neuen antihistorischen Ordnung" gesagt haben soll, in den Ablauf der deutschen und europäischen Geschichte einzuordnen, und sie auf ihre historischen Wurzeln zurückzuführen. Ich nehme zwei Deutungen der Hitlerschen Weltmachtpolitik, die nach dem Zweiten Weltkriege erschienen sind, zur Hilfe, um an ihnen das Für und Wider der Argumente zu erörtern. Die eine stammt von dem Historiker Otto Westphal, der mit dem Nationalsozialismus gegangen war und in seiner „Weltgeschichte der Neuzeit" einen durch Aufrichtigkeit und Gedankenreichtum herausragenden Rechenschaftsbericht hinterlassen hat; die andere von Ludwig Dehio in seinem epoche-machenden Buche „Gleichgewicht oder Hegemonie". Westphal unternimmt keinen Rettungsversuch an Hitler, aber er sieht in der Ära des Nationalsozialismus und zwar im Moment des seither zum Symbol verfehlter Politik gewordenen Münchner Abkommens von 1938 Möglichkeiten einer Befriedigung und „Aufrichtung Europas in sich selbst, getragen von seinen vier vorwaltenden Mächten ohne Teilnahme Rußlands und Amerikas" direkt an die Oberfläche kommen, von der sie dann Hitlers Einmarsch in Prag hinweg-fegt. Hier wird mindestens die These vertreten, es habe in der Hitlerschen Politik eine von ihm selbst verspielte Chance gelegen, noch einmal eine autonome, von den Weltmächten unabhängige europäische Ordnung zu schaffen. Wenn sich darin nicht einfach Wunschbilder der Nachkriegszeit widerspiegeln, dann hätten wir es mit einer Anknüpfung an das Europa der Mächte im Zeitalter Metternichs bis spätestens Bismarcks zu tun, München erschiene dann als eine späte Wiederholung der europäischen Kongresse nach 1815. Diese These ist nicht haltbar und zwar aus den verschiedensten Gründen: München und was darauf folgte war für Hitler nur ein Mittel, die europäische Staatengemeinschaft zu sprengen, in die Weite einer Weltmachtpolitik auszubrechen, die auf den Trümmern der bisherigen europäischen Ordnung errichtet werden sollte.

Diese Politik war also das Instrument eines gigantischen Hegemonial-Kampfes. Damit stehen wir bei der Grundthese des Buches von Dehio. Die nationalsozialistische Revolution trägt nach ihm die Familienähnlichkeit mit den vorhergehenden Hegemonialkämpfen der europäischen Geschichte seit Philipp II., Ludwig XIV., Napoleon, Wilhelm II. an der Stirn. Das altgewohnte Prinzip des Machtstaates wird in ihr revolutionär gesteigert: „Zu der erneuerten altpreußischen militärisch-bürokratischen Tradition traten nun die modernsten revolutionären Methoden hinzu. Denn der Ungeheuerlichkeit des Zieles mußte notwendig die Ungeheuerlichkeit der Mittel entsprechen." Als das nationalsozialistische Reich scheiterte, riß es auch Europa und sein Staatensystem in seinem Sturz mit. Wohl erlebte dieses, so schreibt Dehio, „einen letzten Triumph, als es noch einmal verhindern half, daß eine Macht aus seinem Kreise die Freiheit der anderen unterdrückte. Aber es bezahlte seinen Triumpf ebenso mit seinem Leben, wie das anstürmen-de Deutschland seine Niederlage. Es ist, als ob sich Duellanten wechselweise durchbohrt hätten." Die beiden Weltriesen übernahmen ihre Rolle. In der Tat, so scheint mir, wird hier ein Ausblick auf die geschichtliche Ahnenreihe der nationalsozialistischen Weltmachtpolitik eröffnet. Ihr kontinentaler Imperialismus ist die Endform europäischer Hegemonialpolitik, nach ihr ist auch das Nachspiel des europäischen Weltzeitalters zu Ende gegangen.

Diese Deutung, so einleuchtend sie ist, befriedigt indessen noch nicht in allen Punkten. Sie verwischt doch das Spezifische der nationalsozialistischen Machttechnik, ihren totalitären Charakter, ihren Terrorismus, ihren Versuch, eine entgliederte und aufgelöste Massengesellschaft durch einen politischen Apparat, die alle Lebensbereiche durchdringende Partei zu reorganisieren. Dies alles ist zwar Mittel der Machtplanung und zwar in erster Linie der außenpolitischen Machtplanung, aber es bleibt doch in seinen Formen das — durchaus negativ zu bewertende — Charakteristikum der nationalsozialistischen Ära. Hier werden wir ständig auf den Parallelismus zum sowjetischen System verwiesen. Dieser Parallelismus wird von kommunistischer Seite, die das Spezifische des Kommunismus eben in seinem Antifaschismus sehen will, mit Entrüstung geleugnet, seine Anerkennung setzt sich aber in der westlichen Welt immer mehr durch. So sprechen wir — Hannah Arendt tut dies ebenso wie Carl Friedrich — von der totalitären Diktatur, der totalen Herrschaft als einer Erscheinungsform der jüngsten Weltgeschichte, und zweifellos wird sich diese Anschauung noch wesentlich vertiefen lassen. Was uns dabei besonders interessieren muß, ist wiederum die Frage nach den geschichtlichen Wurzeln. Präzis gestellt lautet sie: In welchem Umfange ist die nationalsozialistische Herrschaftstechnik, vor allem ihr Terrorismus, direkt von kommunistisch-sowjetischen Vorbildern und Erfahrungen angeregt? Der ostensible Antikommunismus des nationalsozialistischen Systems, der aus taktischen Gründen zwischen 1939 bis 1941 zurückgehalten wurde, ließ diese Frage lange nicht aufkommen. Neuere Quellen zeigen aber, daß unter den Führern der NSDAP einige, besonders Goebbels, das russische System genauer gekannt und in seinem Wirkungsgrad außerordentlich geschätzt haben. Auch von Hitler finden sich Äußerungen, die daraufhin deuten. Unbekannt ist noch, ob in den internen Führerkreisen der SS russische Methoden planmäßig studiert wurden. Für den italienischen Faschismus und den russischen Bolschewismus, Mussolini und Lenin läßt sich in dem franzöischen Schriftsteller Georges Sorel mit seiner Lehre von der direkten Aktion ein gemeinsamer Ahne ermitteln; man wird fragen müssen, wie weit diese Vaterschaft auch für den deutschen Nationalismus gilt.

Ich fasse zusammen: Die Frage nach der geschichtlichen Herkunft des Nationalsozialismus stößt überall, gleich in welchem Zusammenhang wir sie stellen, auf das Problem, daß die Herkunft aus historischen Überlieferungen durch einen ahistorischen Willen zu einer utopischen revolutionären Zukunft verdeckt wird. Es entsteht die paradoxe Lage, daß eine in ihrem Wesen unhistorische Bewegung sich der Geschichte als eines ungeheuren Arsenals von Scheingründen für ihre Ziele bemächtigt und eben dadurch die Geschichtsferne noch vermehrt. Man stelle nebeneinander, wie etwa Bismarck aus der Geschichte heraus dachte und wie Hitler seine historischen Argumente in einem geschichtslosen Raum entwickelte. Aber auch der geschicbtsloseste Mensch unserer modernen Massenwelt lebt aus geschichtlichem Erbe, das er nicht mehr kennt, das aber in ihm wirksam bleibt. Nicht anders ist es mit einer politischen Bewegung in dieser Massen-welt, die die Jahrtausende ständig als Zeit-maß im Munde führte, ohne zu bedenken, daß auch die Uhren der Geschichte nach Minuten, Stunden und Tagen gehen. Nur wenn wir unsere Uhren auf diese bescheidenen, kleinen Maße einstellen, können wir hoffen, das geschichtliche Phänomen Nationalsozialismus zu erfassen. Den Anfang dazu zu machen, das ist heute — 30 Jahre danach — eine Frage der Einsicht, aber auch eine Frage des guten Willens.

Fussnoten

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Theodor Schieder, Dr. phil., geb. 11. April 1908, o. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Köln, z. Z. Rektor magnificus der Universität Köln.