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18 Jahre Vereinte Nationen Eine Bilanz | APuZ 32/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32/1963 Gestaltungsfaktoren der amerikanischen Außenpolitik nach 1945 18 Jahre Vereinte Nationen Eine Bilanz

18 Jahre Vereinte Nationen Eine Bilanz

Hilmar Werner Schlüter

Die Organisation der Vereinten Nationen besteht nunmehr 18 Jahre. Am 26. Juni 1945 wurde die Charta in San Francisco von den Gründernationen unterzeichnet. Nach der Ratifizierung trat die Verfassung der Weltorganisation am 24. Oktober des gleichen Jahres in Kraft. Der zurückliegende Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten ermöglicht es durchaus, eine Bestandsaufnahme der Arbeit der UNO vorzunehmen und ein, wenn auch vielleicht noch vorläufiges Urteil über die Funktionen, Grenzen und Möglichkeiten der Vereinten Nationen zu fällen. Es geht dabei im wesentlichen um die Fragen: Was kann die UNO leisten? Was kann sie nicht leisten? Wie können die Funktionen der UNO erweitert bzw. die Grenzen der Funktionsfähigkeit der Vereinten Nationen zurückgedrängt werden?

Grundsätzlich kann trotz gelegentlicher Kritik über die Notwendigkeit einer internationalen politischen und prinzipiell universalen Organisation nach Art der UNO in unserer interdependenten Welt kein Zweifel bestehen. Im großen und ganzen kann ferner gesagt werden, daß die UNO erfolgreicher gewesen ist als der Völkerbund. Es genügt der Hinweis, daß der Völkerbund achtzehn Jahre nach seiner Gründung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges praktisch zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken war, während die UNO doch — trotz des Ost-West-Konflikts — zu einem bedeutenden Faktor der internationalen Politik der Gegenwart geworden ist.

Die Vereinten Nationen haben sich selbst zwei Hauptaufgaben gestellt: die Erhaltung des internationalen Friedens und die Hebung der allgemeinen Wohlfahrt unter den Völkern. Im folgenden soll ausschließlich die friedenserhaltende Funktion der UNO in ihren Grenzen und Möglichkeiten untersucht werden, da jedes ernsthafte Bemühen um eine allgemeine Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Welt notwendigerweise die Erhaltung des Friedens voraussetzt und weil die Kriegsverhütung nach der Charta eindeutig den Vorrang erhalten hat. In den Mittelpunkt der Betrachtung muß aber die Tatsache gerückt werden, daß die Vereinten Nationen nach 1945 wichtige strukturelle Wandlungen erlebten, deren Untersuchung eine wichtige Voraussetzung für die Aufstellung einer Bilanz der Leistungen der UNO ist.

I.

Zur Erhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit sind der UNO nach der Charta erhebliche Möglichkeiten gegeben worden. Der Sicherheitsrat kann das Vorliegen einer friedensbedrohenden Handlung bestimmen, er kann Zwangsmaßnahmen gegen einen Aggressor ergreifen, Truppenkontingente aufstellen, und seine Entscheidungen über kollektive Maßnahmen der Sicherheit sind für alle Mitglieder bindend Im Sicherheitsrat, dem Organ der UNO, das die Hauptverantwortung für die Erhaltung des Weltfriedens innehat, haben die Großmächte eine herausragende Position, da kein Beschluß gegen die Stimme eines der ständigen Mitglieder des Rates getroffen werden kann

Der Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrats sind allerdings durch die Charta bereits feste Grenzen gesetzt. Die UNO beruht erstens auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Mitglieder. Weiter ist es der Weltorganisation nach der Charta nicht gestattet, sich in Angelegenheiten einzumischen, die im wesentlichen zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören Diese beiden — miteinander in enger Verbindung stehenden — Grundsätze sind in der Praxis wohl vielfach durchbrochen worden, doch bilden sie auch heute noch eine bedeutsame Grenze für die Tätigkeit der UNO. Verstärkt wird diese Grenze zweitens durch das Recht auf Selbstverteidigung und durch die Möglichkeit, regionale Zusammenschlüsse, also klassische Militärbündnisse, zu bilden Die wichtigste Grenze für die Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrates bildet aber schließlich das Erfordernis der Einstimmigkeit der Großmächte im Rat für Entscheidungen in allen wichtigen Fragen

Die Regelung der Charta, die die Großmächte und den Sicherheitsrat bei der Friedenserhaltung in den Mittelpunkt stellte, konnte nur unter vier grundsätzlichen Voraussetzungen funktionieren, von denen man 1945 in San Francisco noch angenommen hatte, daß sie für die Nachkriegszeit bestimmend sein würden: 1. Einigkeit der fünf Großmächte in allen wichtigen Fragen, da jede Großmacht, d. h. jedes ständige Mitglied des Sicherheitsrats über ein Veto-Recht verfügte, 2. Abschluß der Friedensverträge außerhalb der UNO durch Vereinbarung aller Groß-mächte, 3. gemeinsame Regelung der kritischen Nachkriegsprobleme auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, 4. Notwendigkeit einer allgemeinen Abrüstung, wobei jedoch die Möglichkeit, atomare Waffen herzustellen, in San Francisco noch nicht allgemein bekannt war

Die Nachkriegsentwicklung hat gezeigt, daß keine dieser Voraussetzungen ganz erfüllt werden konnte. Vor allem der Grundgedanke der Einigkeit der Großmächte blieb ein Traum. An die Stelle der Einigkeit der Großmächte aus dem Zweiten Weltkrieg trat der weltweite Kalte Krieg zwischen Ost und West. Dennoch ist die UNO nicht „zwei Jahre nach Unterzeichnung der Charta wie ein Kartenhaus zusammengebrochen", wie damals ein Kritiker meinte Andererseits nat aber das sowjetische Veto den Sicherheitsrat weitestgehend funktionsunfähig gemacht, so daß die ursprünglich in die Weltorganisation gesetzten Hoffnungen in den Anfangs]ahren nicht voll erfüllt werden konnten.

War auch der Sicherheitsrat so gut wie handlungsunfähig geworden, so ist der Beitrag der UNO zur Erhaltung des Friedens in dieser so-genannten Phase des Sicherheitsrates — die von 1946 bis 1950 gerechnet werden kann — dennoch nicht völlig unbedeutend. Der langjährige amerikanische Delegierte bei der UNO, Cabot-Lodge, vertritt etwa den Standpunkt, daß die UNO in dieser Phase folgende Probleme zumindest mitgelöst hat:

1. Die UNO führte den Abzug der sowjetischen Truppen aus Nordpersien herbei, 2. sie dämmte die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Israel und Ägypten ein.

3. in Griechenland wurden die kommunistischen Angriffe eingedämmt, 4. im Kaschmir-Streit wurde der Ausbruch ernsthafter Feindseligkeiten verhindert und 5. zwischen Indonesien und den Niederlanden wurde erfolgreich vermittelt

Eine etwas weitergefaßte Zusammenfassung der Leistungen der UNO in diesem Zeitabschnitt gibt ein anderer Beobachter:

1. Die UNO hat den amerikanischen Isolationismus wirkungsvoll bekämpft, 2. die UNO war ein geeignetes Medium, um die amerikanische Macht an verschiedenen Spannungszentren der Ost-West-Peripherie zur Wirkung zu bringen (Persien, Griechenland, Korea und im Nahen Osten), 3. die UNO bildete den Hintergrund für wichtige diplomatische Verhandlungen (etwa während der Berliner Blockade), 4. verschiedentlich hat die UNO dabei geholfen, Kämpfe zu beenden (Indonesien und Palästina),

5. die UNO hat schließlich gelegentlich — wie im Korea-Konflikt — die Vermittlung durch eine neutrale Macht (Indien) erleichtert Von 1946 bis 1950 — also bis zum Beginn des Korea-Krieges — beschränkten sich die Funktionen der UNO angesichts der Lähmung des Sicherheitsrates im wesentlichen auf eine reine Vermittlungstätigkeit bei verschiedenen Streitfragen und Konflikten, wobei die Vollversammlung, die nach der Charta auf dem Gebiet der Friedenssicherung eindeutig eine sekundäre Rolle erhalten hatte, allmählich politisch an Boden gewann. Wesentlich aber ist, daß die drei entscheidenden Grenzen — die Souveränität der Mitgliedstaaten, die Unmöglichkeit, gegen eine Großmacht Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, und der Regionalismus — bis auf den heutigen Tag geblieben sind, ja sich noch verstärkt haben.

II.

Mit dem Beginn des Korea-Krieges im Juni 1950 endete diese erste Phase der Geschichte der UNO. Der sowjetische Boykott des Sicherheitsrates und die dadurch bewirkte Beschlußunfähigkeit des Rates hatten mit einem Male gezeigt, daß wirkungsvolle kollektive Sicherheitsmaßnahmen nicht getroffen werden können, weil der Rat durch das Vetorecht ständig funktionsunfähig gemacht werden kann. Vor allem auf amerikanische Initiative erlangte die Vollversammlung der UNO, in der alle Mitglieder der Weltorganisation vertreten sind, nun durch die bedeutsame Resolution " Uniting for Peace" vom 3. November 1950 die Vollmacht, im Falle einer Friedensbedrohung innerhalb kürzester Frist zusammenzutreten und die Mitglieder im Falle einer Friedensbedrohung zu kollektiven Maßnahmen aufzurufen, unter der wichtigen Voraussetzung allerdings, daß der Sicherheitsrat — aus welchem Grunde auch immer — untätig blieb. Uniting for Peace läuft in der Praxis auf eine Abänderung der Charta hinaus, da nun die Vollversammlung auch auf dem Gebiet der Kriegsverhütung in den Mittelpunkt, der Sicherheitsrat dagegen in den Hintergrund rückt Sicher ist aber auch, daß die Vollversammlung mit ihrer großen Mitgliederzahl die neuen Kompetenzen nur in großen Zügen wahrnehmen kann. Eine Versammlung von (heute) 111 Mitgliedern kann eben keine wirksame Exekutive sein. So übernahm unter dem Druck der Erfordernisse der praktischen Politik der Generalsekretär der UNO in den fünfziger Jahren mehr und mehr die Funktionen eines „Organisators, Unterhändlers und Initiators", der den gemeinsamen Willen der Organisation zusammenfaßt Damit begann die Phase der Vollversammlung und des Generalsekretärs, die bis in die Gegenwart reicht. Noch einmal sollte sich die Szenerie der UNO in der Mitte der fünfziger Jahre entscheidend ändern. Genauso wie die Pläne für eine kollektive Sicherheit — stellt ein Beobachter fest — nach Ansicht der Charta-Gründer auf der Großmächteeinheit des Zweiten Weltkrieges beruhen sollten — eine Erwartung, die sich bekanntlich nicht erfüllte —, erwarteten die Väter der Uniting for Peace-Resolution bei ihrer Stärkung der Funktionen der Vollversammlung, daß die politische Orientierung zu Beginn des Korea-Krieges — als die überwältigende Mehrheit den amerikanischen, d. h.den westlichen Standpunkt unterstützte — über die Beendigung der Feindseligkeiten hinaus erhalten bleiben würde. Aber auch diese Annahme erwies sich als ein Irrtum. Tatsächlich begannen sich die Fronten bereits vor dem Waffenstillstand in Korea (1953) zu verschieben, und zwar zugunsten der sogenannten Dritten Kraft

Für die Weltpolitik war in der Zeit von 1946 bis 1950 — mithin in der Phase des Sicherheitsrates — die reine Bipolarität, also der machtpolitische Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, kennzeichnend. In der UNO war der amerikanische Einfluß in dieser Zeit vorherrschend, dem die Sowjets nicht viel mehr als ihr Veto entgegensetzen konnten Etwa von 1950 an trat an die Seite des Ost-West-Konflikts, der stets auch in der UNO ausgetragen wurde, der Kampf der Kolonialländer um ihre Unabhängigkeit. Auch für diese Auseinandersetzung wurde die UNO ein bedeutsamer Kampfplatz, wobei die Kolonialländer von den neuen unabhängigen Ländern, die ab 1955 in immer größerer Zahl in die Vereinten Nationen ausgenommen wurden, tatkräftig unterstützt wurden. Kompliziert wurde diese neuartige Kräftekonstellation durch die vielfachen Überschneidungen zwischen dem Ost-West-Konfilkt und dem Kampf der dritten Länder um ihre volle Unabhängigkeit und um eine größere Weltgeltung Diese neue Konstellation stellte den Westen vor ein äußerst schwieriges Dilemma: Die Mitgliedschaft der Sowjetunion und der anderen kommunistischen Staaten in der UNO ist notwendig, „denn es würde noch gefährlicher sein, wenn sie (die kommunistischen Staaten) wie Piraten, die mit Atomwaffen ausgerüstet sind, frei her-umfahren würden". Andererseits wird Amerika zwischen den jungen Nationen, mit deren Freiheitsbestrebungen es sympathisiert, und seinen traditionellen Verbündeten hin-und hergerissen. „Die bedeutendste Schwierigkeit für die Vereinigten Staaten ergibt sich aber dann, wenn diese beiden Probleme kombiniert auftauchen, wenn nämlich die Kommunisten den Nationalismus der neuen Staaten anheizen und gegen den Westen richten." Die Kombination zwischen den kommunistischen Staaten und den Entwicklungsländern konnte in der Tat rein rechnerisch zu einer Gefahr für den Westen werden: die neuen Staaten, d. h. die afro-asiatischen Staaten, erlangten um die Mitte der fünfziger Jahre eine Sperrminorität in der Vollversammlung — heute verfügen sie bereits über die absolute Mehrheit —; gleichzeitig konnte, zumindest theoretisch, eine Kombination der afro-asiatischen, lateinamerikanischen und kommunistischen Staaten die Zweidrittelmehrheit erreichen und so Resolutionen gegen die Stimmen der westlichen Länder durchsetzen. Auf diese Frage wird noch zurückzukommen sein. Jedoch hat diese neue Phase in der Geschichte der UNO, die, wie bereits bemerkt wurde, auch heute noch nicht abgeschlossen ist, wohl zu einem Anwachsen des sowjetischen und zu einer Abschwächung des amerikanischen Einflusses in den Vereinten Nationen geführt. Entscheidend aber ist, daß die Sowjetunion nicht so viel gewonnen hat wie Amerika verlor — die Haupt-nutznießer wurden die kleinen und kleinsten Staaten

III.

Konnte nun die UNO unter den veränderten Umständen eine wirkungsvollere Tätigkeit entfalten als in der Phase des Sicherheitsrates? Die eben geschilderte Schwerpunktverlagerung vom Sicherheitsrat zur Vollversammlung und zum Generalsekretär hat im großen und ganzen die Funktionsfähigkeit der UNO erhöht.

Die Untätigkeit oder Lähmung des Sicherheitsrats brauchte nun nicht mehr zur Funktionsunfähigkeit der ganzen UNO zu führen. Den Resolutionen kommt ein erhebliches politisches und moralisches Gewicht zu, da sie in allen wichtigen Fragen, d. h. auch bei allen Problemen der Friedenserhaltung einer Zweidrittelmehrheit bedürfen. Da in der Vollversammlung alle Staaten — auch die kleinsten — das gleiche Stimmgewicht haben, zeigt das neue System weitaus stärker als der oligarchisch konstruierte Sicherheitsrat demokratische Züge. Rusk und Jessup sprechen denn auch von dem neuen Institut der „parlamentarischen . Diplomatie" „Niemals zuvor", heißt es in einer Untersuchung jüngeren Datums, „konnten Staaten, die über so geringe militärische Kräfte geboten, einen so großen Einfluß ausüben, wie heute." Mit gewissen Einschränkungen könne gesagt werden, „daß die mögliche moralische Verurteilung durch die Vollversammlung einen beträchtlichen Abschrekkungseffekt auf das Verhalten der Großmächte hat"

Dem stehen natürlich gewisse Nachteile gegenüber. So hat der Sicherheitsrat grundsätzlich keine seiner Kompetenzen verloren. Auch nach der Uniting for Peace-Resolution kann die Vollversammlung auf dem Gebiet der Friedenssicherung nur tätig werden, wenn der Rat untätig bleibt. Weiter tragen die Resolutionen der Vollversammlung lediglich einen Empfehlungscharakter, ihnen kommt also keine bindende Wirkung zu, im Gegensatz etwa zu den Entscheidungen des Sicherheitsrates nach Kapitel VII, die für alle Mitglieder bindend sind. Die Empfehlungen der Vollversammlung bedürfen außerdem einer so großen Mehrheit, daß sie bisweilen keinen konkreten Inhalt haben können. Dem steht allerdings ein anderes Argument gegenüber, das den eben erwähnten Einwand teilweise wieder aufheben dürfte. Es könnte nämlich sein — so lautet dieses Argument —, daß die Vollversammlung „unverantwortliche" Beschlüsse fassen könnte. Mit diesem Argument sowie mit einigen anderen, ernster zu nehmenden Einwänden gegen die „parlamentarische Diplomatie" müssen wir uns daher jetzt etwas eingehender befassen.

Die Gegner des gleichen Stimmrechts in der Vollversammlung sagen, daß die Abstimmungen nur ganz selten das wahre Kräfteverhältnis in der Welt widerspiegeln daß häufige Abstimmungen in der Vollversammlung auf die Dauer die Tendenz haben, die Gegensätze zu akzentuieren, anstatt das Gemeinsame herauszustellen und zu entwickeln daß das bedeutende kollektive Stimmgewicht der kleinen Mächte unter Umständen die Großmächte zu Zwangsmaßnahmen gegeneinander auffordern könnte und daß daher eine unverantwortliche Ausübung des Stimmrechts durch die kleinen und verhältnismäßig schwachen Staaten die Zukunft der Vereinten Nationen ebenso bedrohen könnte wie die Ausübung des Vetos durch die Großmächte Sicherheitsrat im ).

In der Tat haben sich die Zeiten seit der Gründung der UNO erheblich verändert. Konnten die Vereinigten Staaten in den ersten Jahren nach 1945 mit einer verhältnismäßig sicheren Mehrheit — in der sowjetischen Terminologie mit „mechanischen" Mehrheiten — rechnen, so werden die Amerikaner heute zwar keineswegs etwa regelmäßig überstimmt, immerhin sind die Abstimmungsergebnisse in der Vollversammlung, wie ein Beobachter es einmal formuliert hat, jetzt „fast ebenso schwer vorauszusagen, wie einst in der Nationalversammlung der III. Französischen Republik" Richtig ist sicherlich, daß die kleinen Staaten, vor allem wenn sie geschlossen abstimmen, eine sehr große Macht entfalten können. Hinsichtlich der bereits erwähnten Möglichkeit einer Kombination der afro-asiatischen, lateinamerikanischen und kommunistischen Stimmen, die die entscheidende Zweidrittelmehrheit erreichen kann, darf aber doch festgestellt werden, daß sich diese Konstellation bisher nur einmal ergab, und zwar bei der Suez-Krise. Die Wiederkehr dieses extremen Falles dürfte in der Praxis recht unwahrscheinlich sein.

Nach den bisherigen Erfahrungen erscheint die vielfach geäußerte Besorgnis über die Abstimmungsblöcke in der UNO stark übertrieben zu sein Streng genommen gibt es in der Vollversammlung nur einen fest gefügten, regelmäßig einheitlich abstimmenden „Block", den Sowjetblock Bei allen anderen „Blöcken" variiert das Votum von Abstimmung zu Abstimmung Die meisten Beobachter stimmen nun aber gerade in der Auffassung überein, daß gewisse, wenn auch vielleicht lockere Gruppierungen in der Vollversammlung notwendig sind, um ein Funktionieren der Versammlung überhaupt erst zu ermöglichen

Die Vereinten Nationen und die Vollversammlung ohne ihre „Blöcke“ sind genauso schwer vorstellbar wie ein nationales Parlament, das lediglich aus Hinterbänklern ohne Parteizugehörigkeit besteht und in dem stets ohne irgendeinen Fraktionszwang abgestimmt wird Selbstverständlich finden sich in der Praxis regelmäßig starke Mehrheiten in den sogenannten Kolonialfragen; in allen „Fragen des Kalten Krieges" ist die Stimmabgabe schon wesentlich unterschiedlicher; bei allen übrigen Fragen kommt es sehr auf das spezielle Thema, den Zeitpunkt der Abstimmung und nicht zuletzt auf die diplomatische Vorbereitung, die regelmäßig in vertraulichen Beratungen der Delegierten hinter der Kulisse stattfindet, auf den gesamtpolitischen Zusammenhang und auf andere mehr oder weniger präzise feststellbare Umstände für die Stimmgabe und für die Bildung der Abstimmungsformationen an. Auf jeden Fall ist aber die Auffassung unrichtig, daß sich die „Dritte Kraft" in der UNO zu einem zuverlässigen Verbündeten der Sowjets entwickelt habe. Die Sowjetunion hat sicherlich mit großem Wohlwollen den Einzug der neuen Staaten in die UNO beobachtet, weil sie glaubte, daß diese Staaten in zahlreichen Fragen aus einem gewissen Ressentiment gegen die einstigen Kolonialherren heraus gegen den Westen stimmen würden. Diese sowjetische Annahme erwies sich bald als ein Trugschluß. Bereits Ende der fünfziger Jahre wurde der Einfluß der neuen Staaten in der UNO der Sowjetunion sogar ausgesprochen unheimlich.

Da die neuen Staaten sich durch Moskau nicht manipulieren ließen und gleichzeitig die Position des Generalsekretärs der UNO, in dem sie gewissermaßen ihren Treuhänder und Sprecher sahen, stärkten, sah sich die Sowjetunion sogar veranlaßt, zu drastischen Mitteln zu greifen, um den neugewonnenen Einfluß der kleinen Staaten und des Generalsekretärs zumindest zu neutralisieren. Diesem Ziel diente der Troika-Vorstoß und der Angriff gegen Hammarskjöld während der Kongo-Krise. Durch die Einsetzung von drei Generalsekretären, die nur einstimmig entscheiden durften, sollte praktisch das Veto in die UNO-Exekutive eingebaut werden. Die Realisierung der Troika-Idee hätte die Vollversammlung ebenso funktionsunfähig gemacht wie den Sicherheitsrat. Ein ganz ähnliches Ziel verfolgte Moskau mit den Angriffen auf die Position Hammarskjölds und in jüngster Zeit mit der Weigerung, zu verschiedenen UNO-Operationen Zahlungen zu leisten.

Die Handlungsfähigkeit der Vollversammlung wird außerdem bezweifelt, weil die Resolutionen keine rechtliche Verbindlichkeit für die Mitglieder haben, im Gegensatz zu den Entschließungen des Sicherheitsrates. Dieser Einwand ist jedoch — obwohl er nach dem strikten Wortlaut der Charta begründet ist — politisch keineswegs stichhaltig. Auch der rechtlich verpflichtende Charakter der Entscheidungen des Sicherheitsrats darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch weniger mächtige Staaten sich keineswegs gescheut . haben, die Entscheidungen des Rates straflos zu mißachten. Andererseits wird eine Minderheit einer an sich rechtlich nicht bindenden Empfehlung der Vollversammlung aller Wahrscheinlichkeit nach dann zustimmen, wenn sie andernfalls erhebliche diplomatische oder politische Nachteile zu befürchten hätte. Entscheidend ist denn auch nicht die rechnerische, sondern die machtpolitische Zusammensetzung der Mehrheit. Die Mehrheit, die z. B. am 2. November 1956 während der Suez-Krise an England, Frankreich und Israel appellierte, umfaßte die Vereinigten Staaten, die Mehrzahl der NATO-Staaten, das halbe Commonwealth, praktisch alle lateinamerikanischen und afroasiatischen Staaten (und natürlich auch die Stimmen des Ostblocks). Diese ganz außerordentliche Übereinstimmung zeigte ganz unmißverständlich die große diplomatische Isolierung, in der sich Großbritannien und Frankreich damals befanden. Diese Art des „geistigen Abwägens" der Stimmen zeigt sich auch in der allgemeinen Neigung der kleineren Staaten, den Großmächten oder einigen bedeutenden mittelgroßen Staaten die Initiative für Entscheidungen zu überlassen

Kann die Vollversammlung also trotz Blockbildung und ungeachtet des rechtlich an sich nicht verpflichtenden Charakters ihrer Entschließungen ihre neugewonnenen Funktionen auf dem Gebiet der Kriegsverhütung grundsätzlich ausüben, so steht die Versammlung doch vor einer Grenze, die sich bisher als unübersteigbar erwies: die Vollversammlung kann keine der beiden wirklichen Großmächte — Amerika oder Rußland — zur Befolgung ihrer Resolutionen zwingen oder gar Zwangs-maßnahmen gegen eine dieser beiden Mächte in die Wege leiten. Das zeigte sich mit aller Deutlichkeit während des ungarischen Volksaufstandes. Alle Resolutionen der Vollversammlung haben am Schicksal der ungarischen Freiheitskämpfer nicht das mindeste ändern können. In diesem Zusammenhang ist immer wieder das Wort von der „doppelten Moral" der UNO gefallen. Dieser Vorwurf ist aber sicherlich unberechtigt. Sir Leslie Munro, der Präsident der Vollversammlung im Jahre 1957/1958, beurteilt rückblickend die Einwirkungsmöglichkeiten der UNO auf den Ungarnaufstand folgendermaßen: „Es gibt keinen Hinweis, daß die Vereinigten Staaten im Verlauf der langen Debatten in der Vollversammlung über Ungarn jemals bereit waren, Sanktionen gegen die Sowjets zur Debatte zu stellen •— Sanktionen, die aller Wahrscheinlichkeit zu einem atomaren Weltkrieg geführt hätten. . . Viele sprechen in ihrem Urteil über Erfolg und Versagen der UNO so, als handele es sich um eine Gemeinschaft, die neben den Mitgliedern steht. . . Politisch gesehen ist die UNO aber nur ein Instrument der Mitglieder, das von ihnen eingesetzt oder auch nicht eingesetzt werden kann, und zwar so, wie es die Mehrheit entscheidet." Damit erhebt sich aber auch vor der Vollversammlung die gleiche machtpolitische Grenze, die auch der Sicherheitsrat nicht übersteigen konnte — und auch nicht übersteigen sollte. Der Grundgedanke des Vetorechts im Sicherheitsrat ist es ja eben, daß Zwangsmaßnahmen gegen eine Großmacht nicht den Frieden erhalten können, sonder zu einem neuen Weltkrieg führen müssen. Die Vollversammlung ist also durchaus funktionsfähig. Sie kann sogar Mächte wie Großbritannien und Frankreich diplomatisch isolieren und zur Einstellung von militärischen Operationen veranlassen, aber auch eine funktionsfähige Vollversammlung kann keine der beiden Weltmächte zur Befolgung ihrer Entschließungen zwingen. Das gilt natürlich in verstärktem Maße, wenn beide Großmächte gemeinschaftlich die UNO ausschalten, wie es in der Kuba-Krise der Fall war. Die UNO hat diese gleichsam natürliche Begrenzung durchaus anerkannt und in der Kuba-Krise nur eine sehr zurückhaltende und vermittelnde Tätigkeit ausgeübt.

Welche Mittel kann die Vollversammlung nun einsetzen, um innerhalb der dargestellten Grenzen ihre neue Funktion der Friedens-erhaltung auszuüben? Bekanntlich ist die zur Durchsetzung kollektiver Zwangsmaßnahmen gegen einen Aggressor nach der Charta zu bildende Streitmacht des Sicherheitsrats, die primär aus Kontingenten der Großmächte gebildet werden sollte niemals zustandegekommen Die erfolgreiche UNO-Aktion in Korea war praktisch von den Amerikanern geplant und geleitet worden. Im Grunde haben Sicherheitsrat und Vollversammlung nur amerikanische Entscheidungen ratifiziert Die erste Gelegenheit, der UNO „Zähne" einzufügen, ergab sich während der Suez-Krise. Auf Initiative des heutigen kanadischen Premierministers (und damaligen UNO-Delegierten) Lester Pearson beschloß die Vollversammlung am 4. November 1956 die Schaffung einer speziellen UNO-Streitmacht, die unter der Bezeichnung UNEF in die Geschichte eingegangen ist.

UNEF war keine Polizeistreitmacht, sondern ein Kontingent, das einen Cordon Sanitaire zwischen den kämpfenden Parteien bilden, Großbritannien und Frankreich die geordnete Einstellung der Kampfhandlungen ermöglichen und den Waffenstillstand überwachen, grundsätzlich aber selbst nicht kämpfen sollte. Wichtiger und einschränkender war jedoch die Tatsache, daß UNEF keine politischen Lösungen durchsetzen oder auch nur präjudizieren durfte und daß die Streitmacht nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Gastlandes (in diesem Falle Ägyptens) ihre Aufgaben beginnen durfte. UNEF bildet daher bestenfalls eine Fortentwicklung der UNO-Überwachungskommission für den Waffenstillstand in Palästina, nicht etwa eine Kampftruppe im Sinne des VII. Kapitels der Charta. Diesen Gesichts-punkt hat vor allem Hammarskjöld immer wieder betont

Von ganz entscheidender Bedeutung aber ist, daß die UNO-Streitmacht in Suez ebenso wie die spätere Kongo-Streitmacht der UNO ausdrücklich ohne Beteiligung der Großmächte (d. h. in diesem Falle aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats) allein aus Truppen-kontingenten der kleinen Staaten gebildet wurden. Dieser Umstand ist deshalb wichtig, weil er die Position der kleinen Staaten in der UNO noch weiter aufgewertet hat, gleichzeitig ist aber diesen Mitgliedern eine zusätzliche Last und Verantwortung aufgebürdet worden, was ganz allgemein dazu geführt hat, daß sie in der UNO besonnen handeln und somit durchaus eine stabilisierende Funktion in der Weltorganisation und in der Weltpolitik ausüben. Die Funktionen der UNO lassen sich jetzt zusammenfassend darstellen. Suez, die Libanon-Jordanien-Krise (1958) und die Kongo-Entwicklung haben gezeigt, daß die UNO kleinere Krisen unter der Voraussetzung lösen kann, daß die Großmächte nicht aktiv im Kriegsgebiet eingreifen. „Durch eine Reihe glücklicher Umstände", schrieb der " New Statesman", „wurde die UNO zum Instrument der kleinen Staaten, die Berührung der Großmächte in kritischen Gebieten zu verhindern." Letzten Endes erfordert dieses System aber zumindest eine negative Einstimmigkeit der Großmächte. In Suez und im Kongo zeigte sich der Gedanke eines Stabilisierungssystems der UNO, das von der „einstimmigen Abstinenz der Großmächte abhängt"

Die vielleicht wichtigste Funktion der UNO in der internationalen Politik der Gegenwart ist aber in ihrer ausgleichenden Wirkung zu suchen. Die UNO stellt eine permanente internationale Konferenz zur Diskussion und zur Lösung der Streitfälle dar und vermindert allein dadurch schon die Zahl möglicher militärischer Konflikte. „In dem gegenwärtigen lockeren bipolaren System in der Welt liegt die Hauptrolle der UNO in der Vermittlung, der Versöhnung und in ihrem Vorhandensein als internationales Forum." Oder anders ausgedrückt: „Die UNO ist grundsätzlich eine permanente multilaterale diplomatische Konferenz.

Das Bestehen einer internationalen Organisation wie der UNO führt nicht zu einer automatischen Lösung der Streitfragen, da eine Regelung davon abhängt, daß eine für die meisten, wenn nicht alle Staaten befriedigende Lösung gefunden wird. Aber die UNO ist der Treffpunkt, wo jede Hauptfrage zu einem Lösungsversuch unterbreitet werden kann. An vielen internationalen Problemen sind so viele Staaten beteiligt, daß Ad-hoc-Konferenzen erforderlich gewesen wären, wenn es den Völkerbund oder die Vereinten Nationen nicht gegeben hätte. Das Vorhandensein einer solchen permanenten Konferenz ist aber praktisch viel zweckmäßiger."

Neben der politischen Wirksamkeit wohnt den Entschließungen der Vollversammlung sicherlich auch eine moralische Kraft inne, die nicht unterschätzt werden sollte. Die UNO ist sicher nicht das „Weltgewissen" und kann es auch als Versammlung souveräner Einzelstaaten mit divergierenden und oft konträren Interessen nicht sein. Die moralische Kraft der Voten der Vollversammlung zeigt sich aber allein darin, daß sogar Resolutionen, die die erforderliche Mehrheit verfehlen, hinter denen aber doch sehr zahlreiche und einflußreiche Mitglieder und damit große Teile der Weltöffentlichkeit stehen, von den Adressaten doch nicht einfach ignoriert werden können. Ein treffendes Beispiel sind die alljährlich in den fünfziger Jahren wiederkehrenden Abstimmungen über die Algerien-oder über die Zypernfrage.

Wie bereits oben dargelegt, wird die Funktionsfähigkeit der UNO dadurch eingegrenzt, daß sie Amerika und Rußland gegen den Willen dieser Mächte zu keinerlei Handlungen zwingen kann. Hinter diesem machtpolitischen Veto der Großmächte erhebt sich aber eine noch bedeutsamere, allerdings gegenwärtig nur potentielle Grenze für die Wirksamkeit der UNO. Die Resolution Uniting for Peace hat der Vollversammlung gewiß neue Funktionen auf dem Gebiet der Friedenserhaltung gegeben — aber gewissermaßen nur auf Abruf. Dem Sicherheitsrat ist keine einzige seiner Kompetenzen für die Kriegsverhütung genommen worden. Er trägt weiterhin die Hauptverantwortung für die Erhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit. Nur wenn der Rat untätig bleibt, wird die Vollversammlung kraft ihrer sekundären Vollmachten voll zuständig. Dies ist eine echte Verfassungsschranke, denn hinter einem funktionsfähigen Sicherheitsrat — in dem etwa die Einlegung des Vetos durch Vereinbarung stark reduziert sein würde — stünden automatisch alle Großmächte. Die Möglichkeit, daß sich diese Grenze in einer absehbaren Zukunft erheben könnte, ist allerdings höchstens theoretischer Natur.

Dieser Überblick läßt sicherlich manche Wünsche bei all denen offen, die ein wirksameres internationales System der kollektiven Sicherheit anstreben. In einer Welt aber, die sich am Rande der atomaren Selbstzerstörung bewegt, sind überbrückende Regelungen durch Vermittlung, Fernhaltung der Großmächte von empfindlichen Krisengebieten, wodurch die Anwendung von Gewalt zumindest in Grenzen gehalten wird, sicherlich keine gering einzuschätzende Leistung

IV.

Welche Möglichkeiten haben nun die Vereinten Nationen? Hierbei geht es in der Praxis im wesentlichen um eine Erweiterung der bereits gegebenen Funktionen und um die Untersuchung der Ansatzpunkte für ein Zurückdrängen der bestehenden Grenzen der Wirksamkeit der UNO. Wir haben bereits einleitend festgestellt, daß es drei grundlegende Schranken gibt: die Souveränität der Mitgliedstaaten, das Veto der Großmächte und den Regionalismus. Könnte eine dieser Schranken eingerissen werden, müßte sich ganz automatisch die Funktionsfähigkeit der UNO vergrößern. Solche weitgehenden Möglichkeiten sind aber nicht in Sicht. Daher wird es im großen und ganzen darum gehen, weitere Möglichkeiten auf der Grundlage der bereits erkannten Funktionen und innerhalb der vorgesehenen Grenzen zu suchen.

Die Suche nach neuen Möglichkeiten stößt sofort auf das Problem der Charta-Änderung. Grundsätzlich kann die Charta abgeändert und sogar revidiert werden. Jede Charta-Änderung und -Revision setzt aber die Ratifizierung durch eine Zweidrittelmehrheit aller Mitgliedstaaten, einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates voraus. Die erforderliche große Mehrheit und das VetoRecht jeder Großmacht machen es höchst unwahrscheinlich, daß die Charta in einer absehbaren Zukunft auch nur geringfügig geändert wird. Formal ist die Charta bisher auch nicht im geringsten geändert worden

Aussichtsreicher erscheinen materielle Änderungen der UNO-Verfassung. Auf diese Weise ist z. B. die festgestellte strukturelle Funktionsverlagerung vom Sicherheitsrat zur Vollversammlung und zum Generalsekretär zustandegekommen. Jede Entschließung der UNO, jede neue Aufgabe, die sie auf irgendeinem Teilgebiet übernimmt, kurz die gesamte Tätigkeit der Weltorganisation schafft ständig neue Präjudizien, die gewissermaßen die Charta gewohnheitsrechtlich weiterentwickeln. Diesem Verfahren sind jedoch bedeutende Grenzen gesetzt. Es handelt sich im wesentlichem um kleine Korrekturen oder nur sehr allmähliche Veränderungen, wie beispielsweise bei der Abschwächung des Vetos — die Stimmenthaltung oder Abwesenheit eines ständigen Mitglieds im Sicherheitsrat gilt nicht mehr als Veto — oder bei der schon besprochenen Uniting for Peace-Resolution.

Daraus folgt, daß neue Möglichkeiten nur innerhalb des gegebenen Rahmenwerks der UNO gesucht werden können. Radikale Änderungen, natürlich auch die grundsätzlichen, die etwa eine Weltföderation mit einer Weltregierung vorsehen sind unter den obwaltenden Umständen nicht realisierbar. Die Gründe für diese sehr starke Einengung der Entwicklungsmöglichkeiten der UNO sind in erster Linie politischer Natur. „Die Verfassung der Vereinten Nationen", bemerkte Toynbee bereits in den ersten Jahren der UNO, „bildete in der Praxis die engstmögliche Assoziierung zwischen den Vereinigten Staaten mit ihrer freiwirtschaftlichen Tradition und der Sowjetunion, die das Ziel der Verwirklichung des Kommunismus verfolgt.“ In jedem Falle, heißt es in einem Überblick über die bisherige UNO-Geschichte, „dürfte die Schaffung einer internationalen Autorität nach den Prinzipien der Demokratie in der heutigen Zeit kaum realisierbar sein, denn abstrakte politische Prinzipien sind gefährliche Richtlinien. Es ist unmöglich, die Schwächen der gegenwärtigen lockeren Gemeinschaft unabhängiger Staaten durch Institutionen zu überdecken, die für eine fortschrittlichere neue Gesellschaftsform geeignet sind, ebenso wie es unmöglich ist, ein Volk allein durch demokratische Institutionen in eine Demokratie umzuwandeln. Internationale Institutionen können nicht von der Stufe der Zusammenarbeit auf die Stufe der organischen Gemeinschaft gehoben werden, ehe wir nicht eine Staatengemeinschaft haben, die viel enger untereinander verbunden ist, als die heutige."

Die internationale Politik der Nachkriegszeit läßt erkennen, daß die Suche nach neuen Möglichkeiten nur zum Teil im eigentlichen Rahmen der Weltorganisation stattfinden kann.

Weitere Möglichkeiten müssen außerhalb der UNO gesucht werden. Die souveränen Staaten nämlich, die sich heute im Ost-West-Konflikt und an den zahlreichen Spannungszentren der Welt gegenüberstehen, sind gleichzeitig Mitglieder der Weltorganisation. So ist es ganz folgerichtig, daß sie ihre Gegnerschaft, ihr wechselseitiges Mißtrauen in die UNO hin-eintragen und dadurch die Wirksamkeit der Vereinten Nationen begrenzen. Es ergibt sich ein Kreislauf, der die UNO schwächen muß, wenn es nicht gelingt, ihn an einer Stelle zu unterbrechen: Das Mißtrauen und die Gegnerschaft der Mitglieder verhindern die Stärkung der UNO. Eine schwache UNO wiederum kann keinen Beitrag zur Verbesserung des Vertrauensverhältnisses unter den Nationen, zu einer gewissen Entspannung leisten.

Wurde soeben gesagt, daß die UNO heute die wichtige Funktion ausübt, die weltpolitischen Gegensätze zu überbrücken und die Groß-mächte bei bestimmten Krisen zumindest zu einer „einstimmigen Abstinenz" zu veranlassen, dann können neue Möglichkeiten für eine Vermittler-und Versöhnungstätigkeit der Weltorganisation nur gefunden werden, wenn die Großmächte unter sich ein gewisses Mindestmaß an Entspannung anstreben und keinen Ansatz zu einem weltpolitischen Ausgleich ungenutzt lassen. Ein Konsens der Groß-mächte — nicht über die Köpfe der UNO hinweg oder gar auf Kosten der kleinen Staaten, sondern zur schließlichen Stärkung der Welt-organisation — ist das Gebot der Stunde. Zu dieser Frage erklärte Hammarskjöld: „Ein Sichabwenden von der UNO zum jetzigen Zeitpunkt mit der Begründung, daß die Vereinten Nationen nicht in eine Weltautorität umgewandelt werden können, die den Nationen das Gesetz vorschreibt, würde alle stetigen, wenn auch langsam und mühevoll erreichten Fortschritte (der UNO) auslöschen, die bereits erzielt worden sind und die Tür zu den Hoffnungen auf eine künftige Weltgesellschaft ins Schloß fallen lassen." Ein anderer Beobachter wiederum meint: „Wenn der erkennbare Trend auf Seiten der Großmächte, die UNO zur Ohnmacht zu verurteilen, nicht aufgehalten wird, könnten wir unsere letzte und beste Hoffnung für den Weltfrieden verlieren. Ein Konsens der Großmächte über neue Mittel und Wege zur Erhaltung des Friedens ist dringend notwendig."

Gelingt es aber, einen solchen Konsens der Großmächte zu finden, gelingt es, wie es der heutige amerikanische Außenminister einmal gesagt hat, gewisse Spielregeln für die Beziehungen der Großmächte zu schaffen, so würde das sicher zu einer Stärkung der Weltorganisation führen, denn richtig eingesetzt, kann die UNO gerade einer Diplomatie der Verständigung besser dienen, als andere Möglichkeiten, die den Regierungen zur Verfügung stehen Möglicherweise müssen so schwierige Probleme, wie erste Schritte in der Abrüstung oder ein Vertrag über die Einstellung der Atomversuche außerhalb der Vereinten Nationen getan werden. Aber auch Präsident Kennedy erklärte in seiner Rede vom 10. Juni 1963, in der er seine „Friedensstrategie" darlegte: „In der Zwischenzeit wollen wir die Vereinten Nationen stärken, ihre finanziellen Probleme lösen helfen, sie zu einem wirksameren Instrument des Friedens machen, sie zu einem echten Sicherheitssystem für die Welt entwickeln — einem System, das in der Lage ist, Meinungsverschiedenheiten auf der Basis des Rechts beizulegen, die Sicherheit der großen und kleinen Staaten zu garantieren und die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Waffen schließlich abgeschafft werden können."

Daraus ergibt sich im einzelnen, daß die Möglichkeiten der UNO in der Gegenwart in einer Weiterentwicklung der dargestellten konziliatorischen Funktionen der Weltorganisation liegen. So wies Hammarskjöld darauf hin, daß die bedeutenden Möglichkeiten etwa des Artikels 28, Absatz 2 noch keineswegs voll genutzt worden seien Nach dieser Bestimmung der Charta soll der Sicherheitsrat periodische Sitzungen abhalten, „auf denen sich jedes seiner Mitglieder, wenn es das wünscht, durch ein Mitglied seiner Regierung oder durch irgendeinen anderen Delegierten vertreten lassen kann". In der Praxis würde das auf häufigere Außenminister-, ja Gipfeltreffen im Rahmen des Sicherheitsrates, also auf eine stärkere Einschaltung der UNO in die Verhandlungen der Großmächte, hinauslaufen. Ähnliche Vorschläge sind auch von anderer Seite gemacht worden In einer Rede über die „lebenswichtige Rolle der UNO in einer Diplomatie der Verständigung" — ein richtungweisender Titel! — verweist der verstorbene Generalsekretär auf die Notwendigkeit, als wichtige Voraussetzung für eine Stärkung der UNO die Zielsetzungen der Mitglieder nachhaltiger als bisher im Sinne des 4. Zieles der Weltorganisation (Art. 1, Abs. 1) zu harmonisieren

V.

In diesem Versuch, die internationalen Beziehungen im allgemeinen auf eine harmonischere Grundlage zu stellen, liegt vielleicht die bedeutendste Möglichkeit der UNO auf weitere Sicht. Zu diesem Zweck müßte die UNO stärker noch als bisher ihre Funktionen der Vermittlung und der Versöhnung ausbauen und weiterentwickeln. „Die Organe der UNO", meint Cohen, „sollten die Bemühungen vergrößern, die Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken oder zu verkleinern, zu vermitteln oder auszugleichen." Chase schreibt, die UNO könne ihre Struktur am besten stärken, wenn sie ganz pragmatisch „vorangeht, wo dies möglich ist, und sich zurückhält, sollte das notwendig sein und indem sie mit größeren Zukunftsaufgaben rechnet und sich darauf vorbereitet" Und schließlich sollte die UNO sich auf das wirklich Mögliche beschränken und die Lösung scheinbar unlösbarer Konflikte der Zeit oder unvorhergesehenen Ereignissen überlassen, sagt schließlich Cohen und fährt fort: „Wir sollten praktische Lösungen suchen, die auf wechselseitiger Toleranz basieren, so daß künftige Generationen überleben können, um die volle Übereinstimmung zu erreichen, die unsere Generation nicht herbeiführen konnte."

Das erzielte Ergebnis dieses notwendigerweise sehr gestrafften Überblicks über 18 Jahre Vereinte Nationen ist vielleicht ein wenig enttäuschend. Berücksichtigt man jedoch die bedeutenden weltpolitischen Gegensätze zwischen den Großmächten, bedenkt man ferner, welche Schwierigkeiten es den Mächten schon bereitet, erste kleine Vereinbarungen, wie etwa einen Vertrag über die Einstellung der Atomwaffenversuche zu erzielen, hält man sich schließlich vor Augen, daß wichtige Probleme der Nachkriegszeit, wie z. B. die deutsche Frage, immer noch nicht gelöst sind, dann sollte man die Möglichkeiten der UNO, eine notwendigerweise begrenzte Funktion der Vermittlung und des Ausgleichs in der Weltpolitik auszuüben, durchaus würdigen.

Der gegenwärtige UNO-Generalsekretär U Thant hat die weltpolitische Bedeutung der Vereinten Nationen so umrissen: „Die UNO kann nur das sein, was die Mitglieder aus ihr machen. Gegenwärtig ist sie — vor allem bei der Bewältigung ihrer politischen Funktionen — schwach und unzulänglich. Aber sie ist immer noch die beste Hoffnung, um aus unserem unerträglich gefährlichen atomaren Dschungel zu entkommen und die Anfänge einer zivilisierten internationalen Gemeinschaft zu schaffen."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kapitel VII sowie Art. 24 und 25 der Charta.

  2. Art. 24 und 27, 3.

  3. Art. 2, 1 und 7.

  4. Art. 51 und Kapitel VIII.

  5. Art. 27, 3.

  6. Wilcox und Marcy, " Proposais for Changes in the United Nations”. Washington D. C., 1955, S. 56.

  7. Wilcox-Marcy, a. a. O., S. 57.

  8. Cabot-Lodge, " You and the United Nations", in: Mc Clelland, The United Nations, San Francisco 1960, S 68— 76.

  9. Goodwin, " The Role of the United Nations in World Affairs”, in: McClelland, a. a. O., S. 184— 185.

  10. Deutscher Text in „Die Charta der Vereinten Nationen", herausgegeben von Walter Schätzel, München 1957, S. 100 ff.

  11. Nicholas, " The United Nations as a political Institution”, London 1959, S. 52 ff.

  12. Nicholas, a. a. O., S. 158.

  13. E. Hula, " The United Nations in Crisis" (1960), zitiert nach Hartmann, “ World in Crisis”, 1962, S. 123— 148 (130).

  14. Hula, a. a. O., S. 130.

  15. Hula, a. a. O., S. 132.

  16. Ernest A. Gross, New York Times Magazine vom 21. 9. 1958.

  17. Hula, a. a. O., S. 144.

  18. Rusk, " Parliamentary Diplomacy — Debate vs Negotiation" — World Affairs Interpreter, Band XXVI, Nr. 2 1955, S. 121 ff.; Jessup, " Parliamentary Diplomacy", Leyden 1956.

  19. Harold and Margaret Sprout, „Foundations of international Politics", New Yersey-Toronto-London 1962. S 574.

  20. Cohen, " The United Nations", Cambridge Mass. 1961, S. 93.

  21. Cohen, a. a. O., S. 93, ebenso Wellington Koo, " Voting Procedures in international Organisations", New York 1947, S. 220.

  22. Hula, a. a. O., S. 135.

  23. Goodwin in: International Affairs, Bd. 36, S. 174

  24. Nicholas, a. a. O., S. 120.

  25. Nicholas, a. a. O., S. 117.

  26. Wilcox-Marcy, a. a. O., S. 350.

  27. Nicholas, a. a. O., S. 118, Hawden-Kaufmann, “ How United Nations Decisions are made”, Leyden 1960, S. 66, Andrew Boyd, " United Nations: Piety, Myth and Truth", Baltimore 1962, S. 73 ff. Vgl. die ausgezeichnete Studie über die Vollversammlung von Bailay, " The General Assembly of the United Nations", London — New York 1960.

  28. Nicholas, a a. O., S. 118.

  29. Den sogenannten „Feuerbrigaden", d. h. Adhoc-initiativen einflußreicher und neutraler Staaten wie etwa Indien, Jugoslawien, Schweden (und auch Kanada).

  30. Goodwin, " The Role of the United Nations in World Affairs", bei McClelland, a. a. O., S. 186— 88.

  31. Sir Leslie Munro, " The United Nations: Hope for a divided World", 1960, S. 10— 11 und 8— 9.

  32. Goodrich-Simons, " The United Nations and the Maintenance of international Peace and Security”, Washington D. C. 1955, S. 398 ff.

  33. Goodrich-Simons, a. a. O., S. 405— 406 und 460.

  34. United Nations Emergency Force.

  35. Nicholas, a. a. O., S. 61— 62 und 159— 163.

  36. Hammarskjöld-Bericht vom 9. Oktober 1958 bei: Hula a. a. O., S. 138.

  37. Im späteren Verlauf der Kongo-Krise hat die UNO-Streitmacht eine politische Lösung doch mit militärischen Mitteln durchgesetzt, da sie die Sezession Katangas beendet hat. So bildet denn — heißt es in einer Untersuchung neueren Datums — das Kongo-Unternehmen eine bemerkenswerte Neuerung für eine Organisation, deren Charta die strikte Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten vorschreibt. „Diese Aktion (im Kongo) zerstört alte Präzedenzfälle und ist voller Komplikationen, aber auch voller bedeutender Möglichkeiten für eine besser geordnete Welt. Wohin sie führt, kann heute noch nicht gesagt werden." (F. H. Hartmann, " The Relations of Nations”, New York 1962, S. 209.)

  38. Vom 13. August 1960 .

  39. Sprout, a. a. O., S. 574 ff.

  40. Kaplan-Katzenbach, " The political Foundations of International Law", New York — London, S. 309.

  41. Hartmann, a. a. O., S. 222— 223.

  42. Goodrich, " The United Nations", London 1960, S. 322.

  43. Art. 108 und 109, zum Ganzen die eingehenden Studien: Wilcox und Marcy, " Proposais for Changes in the United Nations", Washington D. C. 1955, und Egon Schwelb, " Charter Review and Charter Amendment — Developments in 1958 and 1959”, International ans Comparative Law Quarterly, London 1960, S. 237— 252.

  44. Eine zusammenfassende Besprechung solcher Vorstellungen und Pläne findet sich mit weiteren Hinweisen in: Wilcox-Marcy, a. a. O., S. 57 ff.

  45. Toynbee, Survey of international Affairs, 1947 bis 1948, zitiert nach Dahm, Völkerrecht, Stuttgart 1961, Bd. II, S. 156.

  46. Brierly, “ The Law of Nations", Oxford, 6. Ausl. 1963, S. 113.

  47. Zitiert nach Sir Leslie Munro, a. a. O., S. 37— 38.

  48. Cohen, a. a. O., S. 94.

  49. Sir Leslie Munro, a. a. O., S. 37— 38.

  50. „Die Welt" vom 12. Juni 1963.

  51. Hammarskjöld, " The Vital Role of the United Nations in a Diplomacy of Reconciliation", UN Review, IV (1958) S. 6— 10.

  52. Sir Leslie Munro, a. a. O., S. 172.

  53. Hammarskjöld, " The Vital Role a. a. O., S. 6— 10.

  54. Cohen, " The United Nations", Cambridge Mass. 1961, S. 95.

  55. Chase, " United Nations in Action", 1950, S. 390.

  56. Cohen, a. a. O., S. 96.

  57. U Thant in einer Pressekonferenz im Dezember 1960 in New York, zitiert nach Britannica — Book of the Year 1961, S. 514.

Weitere Inhalte

Hilmar Werner Schlüter, Journalist, geb. 25. Juli 1926 in Berlin. Veröffentlichung: „Die Wiedervereinigung Deutschlands. Ein zeitgeschichtlicher Leitfaden.", Bad Godesberg 19613.