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Die ungelöste Agrarfrage in der Sowjetunion | APuZ 15/1964 | bpb.de

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APuZ 15/1964 Die ungelöste Agrarfrage in der Sowjetunion Die Arbeitsweise des Geographen und ihre Bedeutung für die politische Bildung, dargestellt am Beispiel Kasachstans

Die ungelöste Agrarfrage in der Sowjetunion

Otto Schiller

Lenin hat sich schon vor der bolschewistischen Revolution, als er im Exil in der Schweiz lebte, sehr eingehend mit der „Agrarfrage" befaßt und galt damals unter den Vertretern der russischen Sozialdemokratie als der berufene Fachmann auf diesem Gebiet. Er schrieb im Jahre 1905 über den „ursprünglichen Entwurf der Thesen zur Agrarfrage" und hat sich dann später im Jahre 1912 in einer Arbeit über die „Agrarfrage und die Kritiker von Karl Marx" noch einmal zu diesem Thema geäußert. Auch über das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung, über „Stolypin und die Revolution" und über „die Agrarfrage in Ruß-land am Ende des 19. Jahrhunderts" (1908) hat Lenin geschrieben. Es geht Lenin bei dieser Beschäftigung mit der Agrarfrage darum, Mängel und Schwächen der damals in Rußland bestehenden Agrarverfassung zu kennzeichnen und die Wege aufzuzeigen, wie man zu befriedigenden Agrarzuständen, zu einer „Lösung der Agrarfrage" gelangen könnte. Es ist bezeichnend für die Leninsche Denkweise, daß er sich auch bei der Behandlung der Agrarfrage nur in den ihm geläufigen Kategorien des Klassenkampfes und des revolutionären Handelns bewegt, während er sich kaum zu der Frage äußert, wie nun nach einem geglückten Umsturz der alten Ordnung die Agrarverhältnisse nach marxistischem Muster gestaltet werden sollen.

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Auch in den Werken der anderen geistigen Väter des Marxismus-Leninismus, von Karl Marx und Friedrich Engels angefangen, findet man wohl Hinweise, wie die Lage des ländlichen Proletariats mit den Mitteln des Klassenkampfes verbessert werden könnte. Es fehlen jedoch konkrete Anweisungen, in welchem betriebswirtschaftlichen und organisatorischen Rahmen sich nach dem Umsturz der alten Ordnung die Neugestaltung der Landwirtschaft zu vollziehen hat, um dem marxistischen Muster zu entsprechen. Das ist insofern nicht verwunderlich, als man feststellen kann, daß es unter den führenden Männern der marxistischen Lehre wohl kaum einen gibt, der selbst einmal die Landwirtschaft betrieben und praktische Erfahrungen in diesem Berufe aufzuweisen hat.

Die Theoretiker des Marxismus gehen von der Vorstellung aus, daß auch in der landwirtschaftlichen Entwicklung ähnliche Gesetzmäßigkeiten gelten müßten, wie sie für die gewerbliche Wirtschaft angenommen werden. D. h., es würde auch in der landwirtschaftlichen Produktion zu einer fortschreitenden Konzentration der Produktionsmittel und zu einer verschärften Ausbeutung der arbeitenden Klassen kommen. Man ging ferner von der Vorstellung aus, daß auch in der Landwirtschaft der Großbetrieb dem Kleinbetrieb überlegen sei und daß der Unterschied zwischen Stadt und Land im Laufe der Zeit beseitigt werden müsse.

Aus taktischen Gründen haben es die marxistischen Führer seinerzeit vermieden, eindeutig gegen das Bauerntum Stellung zu nehmen. Das gleiche gilt bis auf den heutigen Tag für die Führer kommunistischer Parteien in nichtkommunistischen Ländern. Man muß darauf Rücksicht nehmen, daß in den meisten Ländern, in denen die Agrarfrage zur Diskussion steht, die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist, und daß man daher gut tut, sich deren Sympathien nicht durch allzu radikale Agrarparolen zu verscherzen. Man tritt für eine restlose und entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes ein, womit man sich bei den breiten Massen der Agrarbevölkerung sicher Sympathien verschaffen kann. Man läßt auch gelten, daß das enteignete Land unter die Angehörigen der untersten ländlichen Schichten der Kleinbauern und der Landarbeiter verteilt werden soll. Damit setzt man sich zwar in Gegensatz zu der — von der Doktrin vertretenen — These von der Überlegenheit des Großbetriebes. Man kann sich aber auch darauf verlassen, daß den breiten Massen ein solcher Gegensatz zwischen den doktrinären Endzielen und den taktischen Gegenwartsparolen nicht zum Bewußtsein kommt.

Im übrigen blieb auch den Führern der bolschewistischen Partei nach der Oktoberrevolution keine andere Wahl, als den revolutionären Kräften freien Lauf zu lassen, die im russischen Bauerntum schlummerten und schon einmal in der Revolution des Jahres 1905 sehr deutlich in Erscheinung getreten waren. Die von den Bolschewiki propagierte Liquidierung des Großgrundbesitzes erfolgte zum großen Teil nicht auf dem Wege administrativer Maßnahmen und genauer Richtlinien, sondern durch eine sogenannte schwarze Umteilung, die den Vorstellungen der Bauern entsprach. Mit dem dadurch geschaffenen Zustand, der keineswegs dem Muster einer kommunistischen Agrarordnung entsprach, mußte man sich auf längere Sicht zunächst wohl oder übel abfinden.

Man begnügte sich damit, mit kommunistischen landwirtschaftlichen Betriebsformen zu experimentieren, indem man in einigen der enteigneten Güter sogenannte landwirtschaftliche Kommunen einrichtete. Im übrigen ist aber diese erste Periode des kommunistischen Regimes in Rußland auf dem Agrarsektor nicht durch eine Konzentration der Produktionsmittel gekennzeichnet, sondern eher durch den entgegengesetzten Entwicklungsprozeß. Die Durchschnittsgröße der landwirtschaftlichen Betriebe ging zurück, während ihre Zahl beträchtlich zunahm. Sie stieg nämlich in den ersten zwölf Jahren des kommunistischen Regimes von 18 auf 27 Millionen Einzelbetriebe.

In dieser Zeitperiode bestand die sowjetische Landwirtschaft tast ausschließlich aus bäuerlichen Kleinbetrieben. Die verhältnismäßig kleine Zahl von Staatsgütern, den sogenannten Sowchosen, und von landwirtschaftlichen Kommunen spielte in der Agrarproduktion nur eine sehr unbedeutende Rolle und war an der gesamten Anbaufläche mit weniger als 5 Prozent beteiligt. Die bäuerlich strukturierte sowjetische Landwirtschaft der damaligen Zeit unterschied sich allerdings von derjenigen anderer Bauernländer auch dadurch, daß von vornherein kein Privateigentum an Grund und Boden bestand, nachdem dieses unmittelbar nach der bolschewistischen Revolution ganz allgemein und vorbehaltlos abgeschafft worden war. Man darf jedoch die praktische Bedeutung dieser Tatsache nicht überschätzen. Es ist zu berücksichtigen, daß im zaristischen Rußland in weiten Teilen des Landes das Gemeindeeigentum des Mir vorherrschte, mit dessen allmählicher Ablösung erst nach der Stolypinschen Agrarreform vom Jahre 1906 begonnen worden war. Daß der Boden wie eine Ware verkauft, belieben, vererbt oder verschenkt werden kann, war noch nicht sehr deutlich ins Bewußtsein der Bauern eingedrungen. Solange der Bauer seinen Boden mit eigenen Kräften nutzen und dessen Produkte selbst ernten und abliefern oder veräußern konnte, hatte er auch das Gefühl.den Boden zu besitzen, selbst wenn er kein formelles Eigentumsrecht hatte. Der erbitterte Widerstand, der von Seiten der Bauernschaft der Zwangskollektivierung entgegengesetzt wurde, war ein deutliches Zeichen dafür, daß das natürliche bäuerliche Gefühl der Bodenverbundenheit noch durchaus lebendig war.

Als man in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik, in der sogenannten NEP-Periode, der Entfaltung der bäuerlichen Wirtschaft etwas größeren Spielraum einräumte, kam es zu einem ganz bedeutenden Aufschwung der Landwirtschaft und zu einer beträchtlichen Zunahme der landwirtschaftlichen Produktion. Es ist wesentlich auf diese Tatsache hinzuweisen, die sich auch mit den Zahlen der amtlichen Sowjetstatistik belegen läßt, da von manchen westlichen Autoren der Standpunkt vertreten wird, daß die Kollektivierung die einzige Möglichkeit dargestellt habe, die sowjetische Landwirtschaft aus der Stagnation einer nur auf Selbstversorgung eingestellten bäuerlichen Wirtschaft herauszuführen. Es steht jedoch außer Frage, daß die bäuerliche Wirtschaft auf die Dauer nicht in den Rahmen einer kommunistischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung hineinpaßt und daher unter einem kommunistischen Regime früher oder später beseitigt werden mußte.

Es hat immerhin zwölf Jahre gedauert, ehe die kommunistischen Führer es unternehmen konnten, die Landwirtschaft nach ihren eigenen Vorstellungen vom fortschrittlichen Land-4 Wirtschaftsbetrieb umzugestalten. Allerdings mußten sie dabei bedeutende Konzessionen machen. Eine Radikallösung nach kommunistischem Muster wäre eine vollständige Sozialisierung der gesamten Landwirtschaft gewesen. Eine solche Maßnahme wäre jedoch organisatorisch gar nicht durchführbar gewesen und verbot sich auch wegen des erbitterten Widerstandes der Bauernschaft aus politischen und taktischen Gründen. Dadurch hat sich eine eigenartige Agrarverfassung herausgebildet, die eines der wesentlichsten Merkmale der sowjetischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung der gegenwärtigen Entwicklungsphase darstellt.

Man hat auf dem Wege der Zwangskollektivierung das Kolchossystem geschaffen, das später auch in anderen kommunistischen Ländern bei der Umgestaltung der Agrarverfassung als Vorbild diente. Man kann wohl feststellen, daß dieses eigenartige Agrarsystem das eigentliche Originale darstellt, was das Sowjetregime auf dem wirtschaftlichen Gebiet geschaffen hat. Staatliche Fabriken, die mit Lohnarbeitskräften arbeiten, gibt es vereinzelt auch in anderen Ländern, und dasselbe gilt für staatliche Landwirtschaftsbetriebe. Dagegen gibt es für diejenige Form der Kollektivbetriebe, wie sie in der Sowjetunion bestehen und für ihre Einordnung in eine staatliche Planwirtschaft außerhalb des kommunistischen Bereichs keine Parallele. Wenn sich daher die Frage erhebt, ob es dem Sowjet-regime gelingen könnte, im Laufe der Zeit für die Agrarfrage eine geeignete Lösung zu finden, so hängt die Beantwortung dieser Frage in erster Linie davon ab, wie man das Kelchossystem und die Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung und Wandlung beurteilt. Die Zwangskollektivierung hat in der Sowjetunion im Jahre 1929 begonnen und zwar im Jahre 1933 im wesentlichen abgeschlossen. Das Kolchossystem besteht demnach in der Sowjetunion seit mehr als 30 Jahren. Daß es nicht zu dem von seinen Urhebern erwarteten Erfolg geführt hat, ist nicht zu bezweifeln. Das geht eindeutig aus der scharfen Kritik hervor, die von den Sowjetführern selbst immer wieder an den Agrarzuständen ihres Landes geübt wird, vor allem von Chruschtschow persönlich, dessen Aufsätze und Reden zum Agrarthema vor kurzem, in einem siebenbändigen Werk zusammengefaßt, erschienen sind. Wenn man die Entwicklung der sowjetischen Landwirtschaft im Verlaufe der letzten 30 Jahre verfolgt und die schweren Störungen gebührend berücksichtigt, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, so läßt sich feststellen, daß zwar eine beträchtlicheAusdehnung derAnbauflächen erfolgt ist, daß aber das Leistungsniveau nur in ganz unbedeutendem Maße angehoben wurde. Die sowjetische Landwirtschaft hat sich unter dem Zeichen des Kolchossystems mehr in die Breite als in die Tiefe entwickelt. Dieses Faktum spiegelt sehr deutlich die Tatsache wider, daß dieses System wohl gewisse Möglichkeiten der Expansion durch verstärkten Maschineneinsatz bietet, dagegen dort versagt, wo es auf die Leistung und die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft ankommt. Das. heißt, es handelt sich im wesentlichen um ein Versagen im menschlichen Bereich. Im Anfangsstadium ergab sich die Vernachlässigung des Produktionsfaktors Mensch ganz zwangsläufig dadurch, daß die Einführung des Kolchossystems vor allem auch dem Zwecke zu dienen hatte, die sogenannte „ursprüngliche Kapitalakkumulation" zu bewirken, die eine wesentliche Voraussetzung für die gleichzeitig einsetzende Industrialisierung darstellte. Eine sofortige Vollsozialisierung der Landwirtschaft hätte bedeutet, daß man die gesamten Arbeitskräfte der damaligen bäuerlichen Wirtschaft ins Lohnverhältnis des Staates übernimmt, was zweifellos in ganz kurzer Zeit zu einem Bankrott der Staatsfinanzen geführt hätte. Mit der Einführung des Kolchossystems hatte sich dagegen das Sowjetregime die Möglichkeit verschafft, die Landwirtschaft vollständig unter staatliche Kontrolle zu bringen, ohne daß sich der Staat mit dem Betriebsrisiko und der Verpflichtung zur Zahlung eines angemessenen Arbeitslohnes belastete. Die Kolchosen unterscheiden sich gerade dadurch von den Staats-gütern, daß in ihnen kein fester Lohn gezahlt wird. Dem Kolchosbauern werden vielmehr nach einem sehr differenzierten Normensystem für die geleistete Arbeit Arbeitseinheiten gutgeschrieben, nach denen am Ende des Jahres die Beteiligung am Reinertrag erfolgt.

Theoretisch bietet ein solches System sowohl die Chance einer Arbeitsvergütung, die über dem Durchschnittsniveau des Arbeitslohnes eines Landarbeiters im Sowchos liegt, aber auch das Risiko einer starken Unterbewertung der ländlichen Arbeitskraft. In der Praxis hat sich jedoch — zumindest in den ersten 20 Jahren des Bestehens des Kolchossystems — die Tatsache ergeben, daß der Kolchosbauer im großen Durchschnitt für seine Arbeit im Kolchos nicht einmal so viel wie der schlechtbezahlte Landarbeiter im Sowchos verdiente. Die Kolchosbetriebe waren nämlich von Anfang an dazu verpflichtet, den größten Teil ihrer Überschüsse an den Staat abzuliefern, der durch die Spanne zwischen den sehr niedrig festgesetzten Erzeugerpreisen und hohen Verbraucherpreisen einen erheblichen Teil des öffentlichen Haushalts finanzierte.

Daß die Kolchosbauern in der langen Zeitspanne, in der ein äußerst niedriges Agrarpreisniveau bestand, überhaupt existieren konnten, war durch die zusätzlichen Einnahme-quellen zu erklären, die ihnen zur Verfügung stehen. Ein wesentliches Merkmal des Kolchossystems besteht nämlich darin, daß den Mitgliedern ein kleiner Nebenerwerbsbetrieb, die sogenannte Hoflandwirtschaft, belassen wird, die aus einem kleinen, nicht im Privateigentum besessenen Stückchen Land von einem viertel bis einem halben Hektar und aus einer sehr eng begrenzten privaten Viehhaltung besteht. Die Produkte dieser privaten Nebenerwerbswirtschaft können aber zu freien, das heißt zu normalen Preisen auf den sogenannten Kolchosmärkten oder im direkten Verkehr mit dem Verbraucher verkauft werden.

Das Nebeneinander zwischen dem Gemeinschaftsbetrieb der Kolchose und dem privaten Nebenerwerbsbetrieb der Kolchosbauern offenbart das Dilemma, vor das man sich in der Sowjetunion bei der Handhabung des Kolchossystems gestellt sieht. Solange die Einkommensverhältnisse in den Kolchosen ausgesprochen schlecht sind, muß der Kolchosbauer, um existieren zu können, sich darum bemühen, aus seiner kleinen Nebenerwerbswirtschaft möglichst viel herauszuholen Dadurch ist es naheliegend, daß er sich bei der Arbeit auf den Kolchosfeldern auf das Notwendigste beschränkt, um möglichst viel Arbeitskraft für sein Hofland verwenden zu können. Immer wieder sah sich die Sowjetregierung genötigt. durch gesetzliche Bestimmungen, wie u. a.

durch Einführung bestimmter Mindestnormen für die Arbeitsleistungen im Kolchosbetrieb, der Vernachlässigung der Kolchosarbeit entgegenzutreten.

Die Benachteiligung der Landwirtschaft durch äußerst niedrige Erzeugerpreise, die für die Vorkriegszeit, aber auch für die erste Nadikriegsperiode kennzeichnend war, hatte zur Folge, daß die Landwirtschaft zurückblieb und dadurch schließlich auch die Weiterentwicklung der anderen Zweige der Wirtschaft in Frage gestellt wurde. Als nach Stalins Tod der Weg für einen neuen Kurs der sowjetischen Agrarpolitik frei wurde, mußte man sich daher entschließen, die Benachteiligung der Landwirtschaft zwar nicht vollständig aufzuheben, aber doch durch ein Anheben der Agrarpreise und eine Herabsetzung der Ablieferungsverpfliditungen wesentlich zu vermindern. Man hatte eingesehen, daß bessere Leistungen der Landwirtschaft nur dann zu erreichen sind, wenn es gelingt, den in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen einen wirksamen materiellen Anreiz für Arbeitsleistungen zu bieten.

Es war aber bezeichnend für die Denkweise und das politische Handeln der Sowjetführer, daß man die Anstrengungen zunächst nicht auf eine Steigerung der Hektarbeträge in den alten Anbaugebieten konzentrierte, sondern die für landwirtschaftliche Zwecke verfügbaren Investitionsmittel in erster Linie dazu verwendete, um ein großzügiges Programm der Neulandgewinnung zu verwirklichen. Durch die persönliche Initiative Chruschtschows wurde eine gewaltige Neulandaktion in Gang gesetzt, durch die in den weiten Steppen Kasachstans und Südsibiriens im Verlaufe von wenigen Jahren über 30 Millionen Hektar neu in Kultur gebracht werden konnten.

Es mußte von vornherein zweifelhaft erscheinen, ob diese Aktion zu dem gewünschten Erfolge führen kann. Erfahrungsgemäß ist in den Steppengebieten der Trockenzone, die es auch in anderen Teilen der Erde gibt, ein ständiger Getreidebau auf die Dauer nicht durchführbar, sondern eher eine extensive Weidewirtschaft, bei der nur ein kleiner Teil der Flächen jeweils im Feldbau genutzt wird.

Ein permanenter Getreidebau führt unter den gegebenen klimatischen Bedingungen mit Sicherheit nach kurzer Zeit zu einer Zerstörung der natürlichen Bodenstruktur und zu starker Bodenerosion, so daß unter Umständen letzten Endes die landwirtschaftliche Nutzung solcher Böden vollständig aufgegeben werden muß. Ähnliche Erfahrungen hat man zum Beispiel auch in den anatolischen Steppengebieten der Türkei gemacht, wo man vor einigen Jahren durch einen fehlgesteuerten Maschineneinsatz ebenfalls bisher ungenutzte Steppenböden in großem Umfange in Kultur genommen hatte, was nach bedeutenden Anfangserfolgen sehr bald zu einer verhängnisvollen Bodenerosion führte.

Daß die Neulandaktion in der Sowjetunion sich nach nunmehr fast zehnjähriger Wirksamkeit als ein Fehlschlag erwiesen hat, dürfte kaum noch zu bezweifeln sein. Auch im vergangenen Jahr war in den Neulandgebieten eine ausgesprochene Mißernte zu verzeichnen, was entscheidend zu der kritischen Versorgungslage beitrug, die dann zu den sensationellen Weizenkäufen der Sowjetunion geführt hat Hinzu kommt allerdings, daß auch andere agronomische Maßnahmen bisher nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt haben, wie z. B.der forcierte Maisanbau, bei dem ebenfalls durch klimatische Faktoren das ursprüngliche Programm nur zu einem kleinen Teil verwirklicht werden konnte. Auch die neuerdings propagierte Umstellung bestimmter Gebiete von der früher geförderten Feldgraswirtschaft auf ein intensiveres Fruchtfolgesystem hat noch keine größeren Auswirkungen gezeitigt.

Es ist bezeichnend, daß Chruschtschow zwar nicht den Mißerfolg der bisher propagierten agrartechnischen Maßnahmen verkündet, wohl aber zu der Feststellung gelangt ist, «Saß man nicht fortfahren könne, die Landwirtschaft in die Breite zu entwickeln, sondern zu einer Intensivierung des Landbaues in den alten Anbaugebieten übergehen müsse. Dazu soll in erster Linie eine verstärkte Anwendung von Mineraldüngern verhelfen, deren steigernde Produktion bei der letzten Tagung des Zentral-komitees der Kommunistischen Partei das zentrale Thema bildete. Auch hier ist jedoch eine gewisse Skepsis am Platze, insofern nämlich, als in denjenigen Gebieten der Sowjetunion, in denen die Niederschläge unzureichend sind, der Anwendung von Mineraldüngern bestimmte Grenzen gezogen sind. Außerdem kann eine Steigerung des Mineraldüngerverbrauches erfahrungsgemäß nur in einem allmählich fortschreitenden Prozeß erreicht werden.

Wenn man jedoch von diesen äußeren Schwierigkeiten absieht, so bleibt die Frage bestehen, inwieweit das gegenwärtig besonders deutlich in Erscheinung getretene Versagen der sowjetischen Landwirtschaft auf systembedingte Mängel zurüdezuführen ist, die letzten Endes nur durch Änderungen grundsätzlicher Art behoben werden können. Es fragt sich, was unter diesen systembedingten Mängeln zu verstehen ist.

Das bestimmende Merkmal der sowjetischen Wirtschaft ist darin zu sehen, daß es kein Privateigentum, sondern nur Staatseigentum an den Produktionsmitteln gibt, wenn man vom Kolchossektor absieht, bei dem die Kolchosbauern noch ein Privateigentum an den unbedeutenden kleinen Produktionsmitteln der Hoflandwirtschaft und ein Gruppeneigentum an den Produktionsmitteln ihrer Gemeinschaftswirtschaft besitzen. Daher befindet sich die gesamte industrielle und gewerbliche Wirtschaft der Sowjetunion in staatlicher Regie. Daraus ergibt sich zwangsläufig das System der Zentralverwaltungswirtschaft oder Kommandowirtschaft, an dem sich so lange grundsätzlich nichts ändert, als man an dem für Kommunisten unverrückbaren Grundsatz der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln festhält. Ob zeitweilig zentralistische oder dezentralistische Tendenzen in der Wirtschaftsführung die Oberhand gewinnen, ändert nichts wesentliches an dem grundsätzlichen Charakter eines solchen Wirtschaftssystems. Bei der zentralen Planung des Wirtschaftsablaufs, die sich aus diesem System zwangsläufig ergibt, bereitet jedoch die Agrarproduktion deswegen besondere Schwierigkeiten, weil ihr Volumen vom Witterungsverlauf und anderen Faktoren mitbestimmt wird, die sich nicht im voraus einplanen lassen, wie etwa das Auftreten von Viehseuchen und Pflanzen-krankheiten. Das ist einer der Gründe, warum die Landwirtschaft sich in eine nach kommunistischen Grundsätzen bestimmte Wirtschaftsordnung nur schwer einfügen läßt. Hinzu kommt, daß in der landwirtschaftlichen Produktion das menschliche Element, zumindest im gegenwärtigen Stadium der technischen Ent-B Wicklung, eine wesentlich größere Rolle spielt als in der industriellen Fabrikation. Es ist zwar das Bestreben der kommunistischen Wirtschaftsplaner, den landwirtschaftlichen Produktionsprozeß nach Möglichkeit demjenigen des Fabrikbetriebs anzupassen und auch auf diese Weise den Unterschied zwischen Stadt und Land allmählich zum Verschwinden zu bringen. Von diesem Ziel ist man jedoch noch weit entfernt.

Im gegenwärtigen Stadium macht es sich daher sehr störend bemerkbar, daß im unpersönlichen Großbetrieb, der heute in der Sowjetunion der Träger der landwirtschaftlichen Produktion ist, diejenigen Faktoren nicht recht zum Tragen kommen, die für die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit von ausschlaggebender Bedeutung sind: die elastische Anpassung der Betriebsführung an die örtlichen Gegebenheiten, die wechselnden Erfordernisse im jahreszeitlichen Ablauf des Produktionsprozesses und die persönliche Interessiertheit des in der Landwirtschaft tätigen Menschen, die sich aus seiner Verbundenheit mit der Natur und seinem persönlichen Verhältnis zum Boden, zu Pflanze und Tier ergibt. Diese Faktoren lassen sich nicht künstlich schaffen, wenn ihnen erst einmal durch eine anderen Zielen zustrebende Planung der Boden entzogen ist. Auch das ist eine der ständigen Ursachen sowjetischer Mißerfolge auf dem Agrargebiet.

Zu diesen systembedingten Schwierigkeiten, die sowohl für die Sowchose als auch für die Kolchose Geltung haben, treten die besonderen Probleme, die durch die Einführung des Kolchossystems in der sowjetischen Landwirtschaft ausgetreten sind Die Arbeitsleistungen der Kolchosbauern werden zwar, wie erwähnt, nach einem im Laufe der Jahre in allen Einzelheiten durchgearbeiteten Normensystem bewertet, dem das Leistungsprinzip zugrunde liegt. Trotzdem hat sich der Leistungsgedanke deswegen nicht durchsetzen können, weil sich immer erst am Ende des Wirtschaftsjahres ergibt, wie hoch die Arbeitsleistung bewertet wird Der Umstand, daß die Kolchosen in das staatliche Plansystem einbezogen sind und ihre Verkaufserlöse durch staatlich festgesetzte Ablieferungsquoten und niedrige Erzeugerpreise bestimmt werden, hat jedoch eine so stark nivellierende Wirkung ausgeübt, daß kaum ein Leistungsanreiz gegeben war.

Mit dem Kurswechsel der sowjetischen Agrarpolitik, der nach Stalins Tode einsetzte, ist daher auch eine Reform des Lohnsystems der Kolchosbetriebe in die Wege geleitet worden.

Durch die Garantie eines Mindestlohnes wird nunmehr versucht, eine materielle Interessiertheit der Kolchosbauern am Betriebserfolg zu erreichen. Soweit der garantierte Mindestlohn etwa auf der Höhe der Landarbeiterlöhne liegt und als Vorschuß auf die endgültige Ertrags-verteilung alle 14 Tage oder alle Monate ausgezahlt wird, ist damit eine gewisse Annäherung an das Lohnsystem der Sowchosen gegeben. Nach wie vor unterscheiden sich jedoch die Kolchosen ganz wesentlich dadurch von den Sowchosen, daß die Kolchosbauern über ihre kleine Nebenerwerbswirtschaft verfügen, die trotz ihres geringen Umfanges eine bedeutende zusätzliche Einnahmequelle darstellt. Es ist kennzeichnend für den Zustand der sowjetischen Landwirtschaft, daß diese sogenannten Hoflandwirtschaften der Kolchosbauern und Schrebergärtner zwar nur mit etwa 3 °/o an der gesamten Anbaufläche beteiligt sind, infolge ihrer wesentlich höheren Erträge jedoch einen erstaunlich hohen Anteil an der Gesamtproduktion von Kartoffeln (70 °/o), Gemüse (42 °/o), Milch (45 °/o), Fleisch (44 °/o) und Eiern (76%) erbringen (1962).

Wenn auch bei der Erzeugung tierischer Produkte in den Hotlandwirtschaften die legale oder illegale Beschaffung von Futtermitteln aus dem Kolchosbetrieb eine erhebliche Rolle spielt, so spiegelt sich doch in diesen Zahlen die Tatsache wider, daß die Produktivität auf den individuell genutzten Flächen infolge des persönlichen Interesses der Kolchosbauern sehr viel großer ist als in den Kolchosfeldern. Auch hierüber werden von der Sowjetstatistik neuerdings genaue Angaben gemacht. Sie zeigen, daß auch in der Sowjetwirtschaft nach wie vor die privatwirtschaftlichen Impulse ihre produktionsfordernde Wirkung haben. Trotz ihrer großen produktiven Leistungen stellt aber die Hoflandwirtschaft im Rahmen des sowjetischen Agrarsystems deswegen ein besonders schwieriges Problem dar, weil sie zu einem Antagonismus zwischen den privat-wirtschaftlichen Interessen der Kolchosbauern und den Interessen der Kolchoswirtschaft geführt hat, die auf eine möglichst intensive Mitarbeit ihrer Mitglieder angewiesen ist. Man hat sich bisher vergeblich darum bemüht, für diese gegensätzlichen Interessen eine geeignete Synthese zu finden.

Der Umfang der Hoflandwirtschaft war von vornherein durch entsprechende Bestimmungen des Musterstatuts sehr begrenzt. Erst neuerdings hat man den Kolchosbauern das Recht zugebilligt, durch Beschluß der Mitgliederversammlung von diesen festgesetzten Normen im Bedarfsfälle abzuweichen. Die Durchschnitts-ziffern der Statistik zeigen jedoch, daß bisher von der Möglichkeit einer abweichenden Regelung noch kaum Gebrauch gemacht worden ist. Man hat ferner die Mitgliedschaft im Kolchosbetrieb davon abhängig gemacht, daß die Mitglieder für ihre Arbeitsleistungen im Kolchosbetrieb gewisse Mindestnormen erfüllen, die obligatorisch sind. Es hat sich aber herausgestellt, daß viele Kolchosbauern nicht bereit sind, mehr zu leisten, als diese Mindestnormen vorschreiben. Wie in anderen Bereichen der Wirtschaft zeigt sich auch hier, daß die nach Stalins Tode eingeleitete Lockerung des Arbeitszwanges sich zwar für die Stellung des arbeitenden Menschen günstig ausgewirkt hat, aber auch neue schwierige Probleme aufwirft. Die Leiter der Kolchosbetriebe haben nicht mehr die Möglichkeit, so rücksichtslos gegen mangelnde Arbeitsdisziplin und Arbeitsunlust vorzugehen, wie es noch zu Stalins Zeiten der Fall war. Es wird daher gerade in neuerer Zeit sehr viel über mangelnde Arbeitslust und mangelnde Arbeitsleistung in den Kolchosbetrieben geklagt.

Die andere Möglichkeit, den Antagonismus zwischen privatwirtschaftlichen und kollektiv-wirtschaftlichen Interessen zu beseitigen, würde darin bestehen, daß die Hoflandwirtschaft vollständig beseitigt wird. Daß dies eines Tages notwendigerweise erfolgen muß, wenn man der Zielsetzung des „Überganges zum Kommunismus" gerecht werden will, die auf dem XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verkündet wurde, steht außer Frage. Man ist sich aber auch bewußt, daß die Versorgung der Sowjetbevölkerung mit hochwertigen Nahrungsgütern in einer untragbaren Weise beeinträchtigt werden würde, wenn man bei der Abschaffung der Hoflandwirtschaft Zwang anwendet und zu rasch vorgeht. Im gegenwärtigen Stadium begnügt man sich daher damit, den Kolchosbauern den freiwilligen Verzicht auf die Hoflandwirtschaft nahezulegen, ohne daß diese sich bisher, von einigen Ausnahmen abgesehen, dazu bereitgefunden hätten.

Für die Probleme, die sich aus zwei wesentlichen Merkmalen der sowjetischen Landwirtschaft, nämlich aus dem eigenartigen Entlohnungssystems der Kolchose und ihrer Hoflandwirtschaft ergeben, hat man demnach bis heute noch keine befriedigende Lösung gefunden. Man kann daher mit Recht von der ungelösten Agrarfrage in der Sowjetunion sprechen. Bei diesen beiden Problemen handelt es sich jedoch um die spezifischen Probleme der Kolchoswirtschaft, die zwar das wichtigste, aber nicht das einzige strukturelle Merkmal der sowjetischen Landwirtschaft darstellt.

Wie bereits erwähnt, spielt im gegenwärtigen Stadium der private Sektor, nämlich die Hoflandwirtschaft der Kolchosbauern trotz ihrer ganz geringen flächenmäßigen Ausdehnung im Gesamtrahmen der Agrarproduktion des Landes noch eine ganz bedeutende Rolle. In diesem Sektor vollzieht sich aber die Produktion und auch der Verbrauch bzw.der Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse nach den üblichen Regeln der privaten Wirtschaft und wirft daher keine besonderen Probleme grundsätzlicher Art auf.

Anders liegen die Dinge bei dem dritten wichtigen Strukturelement der sowjetischen den Staatsgütern, den Landwirtschaft: bei sogenannten Sowchosen. Derartige Betriebe hat es von jeher in der sowjetischen Landwirtschaft gegeben, da man nach der bolschewistischen Revolution nicht alle enteigneten Landgüter aufgeteilt hat, sondern einen Teil von ihnen in staatliche Regie übernahm. Außerdem gab es auch schon zur zaristischen Zeit einige Staatsgüter, wie z. B. die staatlichen landwirtschaftlichen Versuchsstationen. Im Laufe der Zeit sind dann eine ganze Anzahl von Sowchosen neu begründet worden, und zwar vor allem als Spezialbetriebe für Getreidebau, Milchwirtschaft, Rindermast, Schweinemast, Geflügelzucht usw.

Nachdem die bäuerlichen Betriebe durch die Zwangskollektivierung ebenfalls zu großen Be-B triebseinheiten zusammengefaßt worden sind, bestehen in der Sowjetunion zwei Arten von landwirtschaftlichen Großbetrieben nebeneinander: die Staatsgüter und die Kollektiv-wirtschaften. Der Anteil der Sowchosen an der gesamten Anbaufläche und ungefähr auch der Anteil an der gesamten Agrarproduktion belief sich seit Beginn der Kollektivierung bis in die neuere Zeit hinein auf etwa 10 Prozent. Erst seit dem Jahre 1954 hat sich ein allmählicher Wandel angebahnt, der dazu geführt hat, daß der Anteil der Sowchosen an der gesamten Anbaufläche bis zum Jahre 1962 auf 44 Prozent, an der Getreideproduktion auf 40 Prozent, an der Fleischproduktion auf 26 Prozent und an der Milchproduktion auf 21 Prozent gestiegen ist. Die Ursachen für diesen raschen Strukturwandel sind nicht nur darin zu sehen, daß bei der großen Neulandaktion, auf die bei den Investitionen der letzten Jahre so großes Gewicht gelegt wurde, der Sowchosform der Betriebe gegenüber der Kolchosform der Vorzug gegeben wurde. Es ist vielmehr auch in anderen Gebieten der Sowjetunion zur Neugründung von Sowchosen teilweise oder zur Ausdehnung bestehender Sowchosen gekommen und außerdem in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß auch zu einer direkten Umwandlung von Kolchosen in Sowchosen.

Es erhebt sich daher die Frage, ob nicht bei einem weiteren Fortschreiten dieses Wandlungsprozesses eine Lösung der Agrarfrage dadurch gefunden werden könnte, daß die gesamte Landwirtschaft in staatliche Regie genommen wird. Diese Frage der sogenannten „Sowchosierung" der Landwirtschaft ist in der sowjetischen Fachpresse ernsthaft diskutiert worden. Man ist jedoch zu dem Ergebnis gelangt, daß die Abschaffung des Kolchossystems in absehbarer Zeit nicht zur offiziellen Zielsetzung der sowjetischen Agrarpolitik gemacht werden kann.

Als das neue Parteiprogramm festgelegt wurde und auf dem XXII. Parteikongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Oktober 1961 die Richtlinien für den „Übergang zum Kommunismus" gegeben wurden, hat man das sehr deutlich zu erkennen gegeben Es wird betont, daß sich das gegenwärtige Stadium der „sozialistischen" von der künftigen „kommunistischen" Wirtschaftsordnung u. a. auch darin unterscheidet, daß es noch das Gruppen-eigentum der Kolchosbauern gibt. Beim Über-gang zum Kommunismus müsse dieses Gruppeneigentum auf das höhere Niveau des Volks-eigentums angehoben werden. Konsequenterweise würde eine solche Maßnahme zwar eine allmähliche Umwandlung der Kolchose in Sowchose bedeuten. Man legt jedoch Wert auf die Feststellung, daß es sich nicht um einen derartigen einseitigen Umwandlungsprozeß handeln soll, sondern vielmehr um eine allmähliche Annäherung zwischen den beiden Betriebsformen. Es ist durchaus denkbar, daß auch die Betriebsform der Sowchosen im Laufe der Zeit eine Veränderung erfährt, die sie den Kolchosen annähert, indem z. B. in der Betriebsleitung den Betriebsangehörigen ein stärkeres Mitspracherecht gegeben wird, als es gegenwärtig der Fall ist. Man kann jedoch feststellen, daß bisher eher von einer Annäherung der Kolchosform an die Sowchosform gesprochen werden kann als von dem umgekehrten Vorgang.

Wenn man es demnach aus taktischen Gründen vermeidet, von einer künftigen Verstaatlichung der gesamten Landwirtschaft zu sprechen, die sich eigentlich — und sei es auch in einer abgewandelten Form — bei einem konsequenten Übergang zum Kommunismus zwangsläufig ergeben müßte, so muß doch damit gerechnet werden, daß der sogenannte Annäherungsprozeß zwischen den beiden Betriebsformen sich auch weiter in der bisherigen einseitigen Weise fortsetzt Das würde bedeuten, daß der Anteil des Sowchossektors an der gesamten Agrarpolitik noch weiter wächst. Die oben geschilderten spezifischen Probleme der Kolchoswirtschaft, die in erster Linie dazu führen, daß man von einer ungelösten Agrarfrage in der Sowjetunion sprechen kann, würden damit im Laufe der Zeit immer mehr in den Hintergrund treten. Es fragt sich daher, ob die Sowchosform eher die Gewähr dafür bietet, daß in der sowjetischen Landwirtschaft befriedigende Produktionsergebnisse erzielt werden, als es bei der Kolchosform gegenwärtig der Fall ist.

In der Sowjetstatistik finden sich neuerdings auch Angaben, die einen Vergleich der Produktionsleistungen beider Betriebsformen ermöglichen. Daraus könnte man schließen, daß das Ertragsniveau in den Sowchosen niedriger ist als in den Kolchosen. Die statistischen Durchschnittsziffern geben jedoch insofern kein einwandfreies Bild, als sie nicht hinreichend der unterschiedlichen geographischen Verteilung beider Betriebsformen Rechnung tragen. Die Getreidesowchosen sind z. B. vorwiegend in den Steppengebieten vertreten, wo für einen großflächigen extensiven Getreidebau günstige Voraussetzungen vorhanden sind, wo aber wegen der unzureichenden Niederschläge die Ernteerträge im Durchschnitt der Jahre niedriger liegen als in anderen Teilen der Sowjetunion. Um zu einem echten Leistungsvergleich zwischen beiden Betriebsformen zu gelangen, müßten regional aufgegliederte Ertragsziffern zur Verfügung stehen. Soweit man an Ort und Stelle Vergleiche zwischen unmittelbar benachbarten Betrieben beider Kategorien anstellen kann, fällt im allgemeinen der Vergleich zugunsten der Sowchosen aus. Ohne solche Feststellungen verallgemeinern zu wollen, gibt es doch Gründe, die dafür sprechen, daß das Leistungsniveau in den Sowchosen etwas höher sein dürfte als in den Kolchosen.

Es gibt zweifellos in beiden Sektoren der sowjetischen Landwirtschaft nicht nur schlechte, sondern auch einige gute Betriebe. Das hängt von den örtlichen Umständen und bis zu einem gewissen Grade auch von der Fähigkeit des Betriebsleiters ab, die selbst in dem unpersönlichen sowjetischen Wirtschaftsapparat doch noch eine Rolle spielt. Die Spitzenkräfte unter den Betriebsleitern sind aber bisher vorwiegend in den Sowchosen und erst in neuerer Zeit hier und da auch in den Kolchosen zum Einsatz gelangt.

Es kommt hinzu, daß ein tüchtiger Betrigbsleiter sich im Sowchosbetrieb besser durchsetzen kann als im Kolchos. Der Sowchosdirektor hat in seinem Betrieb ähnliche Machtbefugnisse wie der sowjetische Fabrikdirektor; er ist zwar durch die Anordnungen des Staats-und Parteiapparates und durch die Steuerung von oben in seinen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen sehr stark eingeengt, aber er hat auch die Möglichkeit, im Rahmen dieser Befugnisse die Führung des Betriebes fest in die Hand zu nehmen.

Der Kolchosleiter ist in einer wesentlich schwierigeren Situation. Daß er nicht ernannt, sondern gewählt wird, ist zwar in einer politischen Ordnung, in der bei jedem Wahlakt die Richtlinien oder Vorschläge der Partei zu berücksichtigen sind, nur eine Formsache. Die nach Stalins Tod eingetretene Lockerung des Sowjetregimes hat jedoch dazu geführt, daß der Kolchosleiter nicht mehr mit denselben rigorosen Mitteln für eine strenge Arbeitsdisziplin in seinem Betriebe sorgen kann wie zur Stalinzeit, wenn Kolchosmitglieder sich weigern, mehr Arbeitsleistungen für den Kolchosbetrieb aufzuwenden, als die Mindestnorm vorschreibt. Wenn die Kolchosmitglieder morgens zu spät zur Arbeit erscheinen oder während der Arbeitszeit bummeln, so ist es für den Kolchosleiter schwieriger, dagegen einzuschreiten als im analogen Falle für den Sowchosdirektor.

Schließlich sind im Sowchosbetrieb die oben erwähnten spezifischen Schwierigkeiten des Kolchossystems nicht gegeben, nämlich der Interessenkonflikt zwischen dem privaten Nebenerwerbsbetrieb und dem kollektiven Gemeinschaftsbetrieb und dem besonderen Entlohnungsmodus, bei dem zwar das Leistungsprinzip gilt, aber doch nicht recht wirksam wird.

Wenn demnach im Sowchossektor günstigere Voraussetzungen für befriedigende Produktionsleistungen gegeben sind als im Kolchossektor, so machen sich doch die sonstigen systembedingten Mängel bemerkbar, die ganz allgemein in der verstaatlichten sowjetischen Wirtschaft gegeben sind und voraussichtlich auch weiterhin bestehen werden. Das gilt z. B. für die Abhängigkeit des Betriebsleiters von Planziffern, die ohne Orientierung am Marktgeschehen festgelegt werden müssen, die weitere Abhängigkeit vom Funktionieren anderer Betriebe, die Lieferanten und Kunden sind, und für das Auftreten unwirtschaftlicher regionaler Autarkiebestrebungen bei jedem Versuch einer stärkeren Dezentralisierung der Wirtschaftsführung. Das weitere Anwachsen des Sowchossektors würde demnach zwar bedeuten, daß die spezifischen Probleme der Kolchoswirtschaft allmählich etwas mehr in den Hintergrund treten, daß aber infolge der allgemeinen Mängel der sowjetischen Wirtschaftsordnung das Leistungsniveau der Landwirtschaft auch weiterhin unbefriedigend bleibt.

Die unbestreitbaren Fortschritte der Industrieproduktion der Sowjetunion lassen jedoch er-B kennen, daß die allgemeinen systembedingten Mängel der Sowjetwirtschaft zwar unbefriedigende Einzelleistungen der Betriebe im Gefolge haben, daß es jedoch trotzdem zu einem allmählichen quantitativen Ansteigen der Produktion, ja sogar zu einer allmählichen Verbesserung des Leistungsniveaus kommen kann. Wenn demnach für den Sowchossektor ähnliche Voraussetzungen gelten wie für die sowjetische Industriewirtschaft, so muß auch hier mit der Möglichkeit allmählicher Fortschritte in den Produktionsleistungen gerechnet werden. Dabei ist allerdings die erwähnte Einschränkung zu machen, daß sich der landwirtschaftliche Betrieb schwerer in das System der staatlichen Planwirtschaft und einer von oben gesteuerten Wirtschaftsbürokratie einfügen läßt als der Fabrikbetrieb.

Es bleibt die Frage, in welchem Ausmaß die sowjetische Landwirtschaft tatsächlich versagt hat, und welche Maßstäbe zur Verfügung stehen, um den Grad des Versagens beurteilen zu können. Es kann festgestellt werden, daß bei der Behandlung dieser Frage häufig falsche Maßstäbe angewendet werden. Es ist z. B. nicht gerechtfertigt, wenn man, wie es vielfach geschieht, sowjetische Durchschnittserträge mit den Durchschnittserträgen der Bundesrepublik vergleicht. Dabei ergibt sich ein sehr großer Abstand, wie er z. B. im durchschnittlichen Weizenertrag gegeben ist, der in der Sowjetunion (Durchschnitt der Jahre 1960 bis 1962) bei 10, 7 dz je ha lag, in der Bundesrepublik jedoch im gleichen Zeitraum bei 32, 7 dz je ha. Man kann aber Hektarerträge nur zwischen solchen Gebieten vergleichen, die ähnliche klimatische Bedingungen aufzuweisen haben. Die wichtigsten Getreideanbaugebiete der Sowjetunion sind durch unzureichende durchschnittliche Niederschlagsmengen gekennzeichnet. Sie können daher nur mit ähnlichen Trockengebieten, beispielsweise in USA, Kanada oder Australien, verglichen werden. Ein solcher Versuch zeigt, daß die Sowjetunion zwar noch erheblich hinter dem Ertrags-niveau der USA (16, 1 dz/ha im gleichen Zeitraum) und Kanadas (11, 3 dz/ha) zurückgeblieben ist, daß der Abstand vom Normalniveau jedoch nicht so groß ist, wie man beim Vergleich mit deutschen Erträgen vermuten könnte.

Ein anderer, häufig angewendeter Maßstab ist der Produktivitätsvergleich. Man weist darauf hin, daß die Produktivität pro Arbeitskraft in der Landwirtschaft der USA um ein mehrfaches höher liegt als in der Sowjetunion. Auf diesen Umstand hat im übrigen auch Chruschtschow gelegentlich hingewiesen. Dieser Vergleichs-maßstab ist jedoch nur dann einwandfrei, wenn man ihn auf den Sowchossektor und nicht auf die gesamte sowjetische Landwirtschaft bezieht. In den Sowchosen werden nämlich, ebenso wie in anderen staatlichen Betrieben, nur so viele Arbeitskräfte beschäftigt, wie bei dem gegebenen Produktivitätsniveau tatsächlich gebraucht werden. Wenn demnach die Produktionsleistung pro Arbeitskraft in den sowjetischen Sowchosen nur etwa ein Drittel oder ein Viertel von dem erreicht, was in der amerikanischen Landwirtschaft heute geleistet wird, so zeigt sich, daß die sowjetische Landwirtschaft tatsächlich noch außerordentlich stark in ihrem Leistungsniveau zurückgeblieben ist. Es wäre jedoch nicht gerechtfertigt, wollte man denselben Maßstab auch für den Kolchossektor anwenden. Es ist richtig, daß in den USA weniger als 10 ’/o der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind und daß dieser geringe Anteil genügt, um nicht nur die Gesamtbevölkerung zu ernähren, sondern auch gewaltige Überschüsse zu produzieren. Dagegen sind in der Sowjetunion ungefähr 35 •/» der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, und im letzten Jahr konnte nicht einmal die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Nahrungsgütern sichergestellt werden. Dieser Anteil von 35 °/o Agrarbevölkerung bedeutet zwar im Vergleich mit den westlichen Industrienationen ein erhebliches Zurückbleiben der Sowjetunion. In ihm spiegelt sich aber gleichzeitig das Ergebnis eines demographischen Umformungsprozesses wider, der in seinem Ausmaß kaum irgendwo in der Welt eine Parallele findet.

Im Jahre 1928, ehe die Kollektivierung einsetzte, hatte die Sowjetunion als typisches Entwicklungsland noch einen Anteil von etwa 75 0/o Agrarbevölkerung aufzuweisen. Wenn dieser Anteil im Laufe von drei bis vier Jahrzehnten auf weniger als 40 0/o zurückgegangen ist, so bedeutet das einen Umschichtungsprozeß von gewaltigen Ausmaßen, durch den fast 100 Millionen Menschen betroffen wurden, die ohne diesen Vorgang heute noch in der Landwirtschaft tätig sein würden. Es muß damit gerechnet werden, daß dieser Wandlungsprozeß auch weiter fortschreitet und daß eines Tages auch in der Sowjetunion nur noch 20 oder 10% der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft tätig sein werden. Der gegenwärtige noch verhältnismäßig hohe Anteil der Agrarbevölkerung an der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion ist nicht nur auf eine geringe Produktivität der ländlichen Arbeitskräfte zurückzuführen, er ist vielmehr auch dadurch zu erklären, daß man im Zuge des großen demographischen Umformungsprozesses, der für alle Industrienationen kennzeichnend ist, gegenwärtig bei 35 % Agrarbevölkerung angelangt ist, was einen beachtlichen Erfolg der Bemühungen um eine allmähliche Umschichtung der Bevölkerung bedeutet.

Die Zahl der Arbeitskräfte in den Kolchosen wird nicht in erster Linie durch den Bedarf bestimmt, der sich wiederum nach der Produktivität richtet, sondern auch dadurch, daß die Kolchosen aus den früheren Bauernwirtschaften hervorgegangen sind. Diese neugeschaffenen Großbetriebe mußten daher zunächst das gesamte Arbeitspotential der früheren kleinbäuerlichen Betriebe übernehmen. Erst im Laufe der Zeit konnte eine allmählich Angleichung der Menschenzahl an den tatsächlichen Bedarf in die Wege geleitet werden. Es ist vor allem zu einem Wegzug männlicher Arbeitskräfte gekommen, so daß gegenwärtig die weiblichen Arbeitskräfte in den Kolchosen in einem erstaunlichen Maße überwiegen.

Wenn heute in vielen Kolchosen über einen Arbeitskräftemangel geklagt wird, so ist das jedoch nicht nur auf das Fehlen qualifizierter männlicher Arbeitskräfte zurückzuführen; es ist vielmehr auch ein Zeichen dafür, daß trotz aller Mechanisierung die Arbeitsproduktivität in diesen Betrieben noch sehr niedrig ist. Wenn man nach den üblichen betriebswirtschaftlichen Maßstäben errechnet, wieviel Arbeitskräfte in den 49 000 Großbetrieben, aus denen sich heute die sowjetische Landwirtschaft zusammensetzt, bei der vorhandenen Intensität der Wirtschaftsweise und bei dem gegenwärtigen Grad der Mechanisierung tatsächlich gebraucht werden würden, so kommt man zu einer erstaunlich niedrigen Zahl Sie besagt, daß mit einem weiteren Rückgang der Zahl der ländlichen Arbeitskräfte zu rechnen ist, der sich vielleicht schon stärker bemerkbar gemacht hätte, wenn es sich nicht zum großen Teil um weibliche Arbeitskräfte handeln würde, die weniger mobil sind.

Man kann demnach feststellen, daß die Arbeitsproduktivität in der sowjetischen Landwirtschaft tatsächlich noch sehr niedrig ist, daß aber der verhältnismäßig hohe Anteil der Agrarbevölkerung an der Gesamtbevölkerung keinen geeigneten Maßstab dafür bietet, zu beurteilen, in welchem Grade die sowjetische Landwirtschaft hinter den Leistungen anderer weiter fortgeschrittener Länder zurückbleibt.

Nachdem von der Sowjetstatistik seit einigen Jahren auch detaillierte Angaben über die Produktionsleistungen gemacht werden, sollte eigentlich eine genaue Analyse des statistischen Zahlenmaterials am ehesten ein Urteil über den Grad des Versagens der sowjetischen Landwirtschaft ermöglichen. Danach bewegen sich zwar die Leistungsziffern, wie etwa die durchschnittlichen Hektarerträge, die durchschnittlichen Milch-oder Mastleistungen usw. noch auf einem sehr niedrigen Niveau.

Obwohl in den letzten Jahren eine gewisse Stagnation eingetreten ist, so lag seit dem Jahre 1953, das eine Wende des agrarpolitisehen Kurses kennzeichnet, die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der Agrarproduktion in fast allen Produktionszweigen über dem Niveau dessen, was andere vergleichbare Länder, die sich ebenfalls um eine Steigerung der Agrarproduktion bemühen, im gleichen Zeitraum aufzuweisen haben. Auch wenn man nicht von den absoluten Produktionsziffern, sondern von der Pro-Kopf-Produktion ausgeht, ergibt sich bei allerdings geringeren Zuwachsraten kein ungünstiges Bild.

Manche westlichen Autoren suchen dieser erstaunlichen und schwer erklärbaren Tatsache dadurch aus dem Wege zu gehen, daß sie die sowjetischen Produktionsziffern mit den übertrieben hohen Planziffern des jeweiligen sowjetischen Wirtschaftsprogrammes in Vergleich setzen. Dabei ergibt sich dann allerdings durchweg ein negatives Bild, nämlich ein Zurückbleiben der landwirtschaftlichen Produktionsleistungen hinter fast allen hoch-gesteckten Planzielen. Mit einer solchen Erklärung ist es jedoch nicht getan. Das Versagen der sowjetischen Landwirtschaft steht außer Zweifel, da es durch Chruschtschows öffentB liehe Kritik, aber auch dadurch deutlich geworden ist, daß die höchsten Parteigremien der Sowjetunion in den letzten Jahren bei ihren Tagungen erstaunlich oft die Agrarfrage in den Mittelpunkt stellen mußten. Wenn die offizielle Agrarstatistik trotzdem ein verhältnismäßig günstiges Zahlenbild darbietet, das den Vergleich mit den entsprechenden Daten anderer Länder nicht zu scheuen braucht, so besteht hier ein unleugbarer Widerspruch, der nicht leicht zu erklären ist.

Eine gewisse Erklärung ist allerdings darin zu sehen, daß die Ziffern der Sowjetstatistik nicht einwandfrei sind, sondern einer gewissen Korrektur bedürfen. Von verschiedenen Sowjetautoren, vor allem aber auch von Chruschtschow persönlich, sind interessante Beispiele dafür angeführt worden, wie bei den Besonderheiten der sowjetischen Planwirtschaft falsche und übertrieben hohe Produktionsziffern zustandekommen. Das ist z. B. dann der Fall, wenn ein Sowchosdirektor, wie seinerzeit gemeldet wurde, in staatlichen Läden die zur Planerfüllung fehlenden Butter-mengen aufkauft, die dann von der Statistik zeimal erfaßt werden.

Wenn demnach bei den Angaben der Sowjet-statistik gewisse Abstriche zu machen sind, so bedeutet das jedoch nicht, daß die Sowjet-statistik überhaupt keine Orientierung ermöglicht. Es geht auch nicht an, ganz allgemein die sowjetischen Produktionsziffern um einen bestimmten Prozentsatz zu reduzieren. Es wird vielmehr von Fall zu Fall abzuwägen sein, wie man unter Auswertung aller verfügbaren Daten und Hinweise zu bereinigten Produktionsziffern gelangen kann. Auch wenn man mit bereinigten Ziffern operiert, wird man jedoch kaum zu der Schlußfolgerung gelangen, daß in der Sowjetunion eine Steigerung der Pro-Kopf-Produktion in den nächsten Jahren ausgeschlossen erscheint und daß die sowjetische Landwirtschaft sich in einer Sackgasse befindet, aus der nur ein radikaler Kurs-wechsel herausführen könnte.

Einen solchen radikalen Kurswechsel würde es bedeuten, wenn man sich in der Sowjetunion entschließen würde, denselben Weg zu beschreiten, den vor einigen Jahren zwei andere kommunistische Länder gegangen sind, nämlich Jugoslawien und Polen. Dort sah man sidi seinerzeit gezwungen, die bereits ziemlich weit vorgetriebene Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wieder aufzugeben und eine Auflösung bestehender Kolchosbetriebe zuzulassen. In beiden Ländern bildet seitdem die bäuerliche Wirtschaft die Grundlage der landwirtschaftlichen Produktion, während der Kolchossektor auf einen ganz unbedeutenden Umfang zusammengeschrumpft ist. Es entwikkeln sich allmählich genossenschaftliche Zwischenformen, die sich aber von dem sowjetischen Muster der Kollektivwirtschaft sehr wesentlich unterscheiden.

In der Sowjetunion sind jedoch keinerlei Voraussetzungen für eine derartige Rückkehr zu den privatwirtschaftlichen Formen der bäuerlichen Familienwirtschaft gegeben. Nachdem das Kolchossystem nunmehr seit mehr als 30 Jahren die Organisationsform für das gesamte, ehemals bäuerliche Element des Landes darstellt, sind im Sowjetdorf weder die Menschen vorhanden, die zur Führung eines selbständigen Bauernbetriebes bereit und befähigt wären, noch verfügt man über das notwendige Inventar, das den Bedürfnissen des bäuerlichen Betriebes angepaßt ist. Außerdem wäre eine solche Maßnahme eine völlige Bankrotterklärung der sowjetischen Wirtschaftspolitik, die man nach allen bisherigen Erfahrungen von überzeugten Kommunisten niemals erwarten kang.

Man muß daher damit rechnen, daß die Sowjetregierung auch in den Grundsätzen der Agrarpolitik an den Richtlinien festhält, die sie sich durch das neue Parteiprogramm selbst gesetzt hat. Man wird sich also auch weiterhin darum bemühen, die Unterschiede zwischen Stadt und Land allmählich zum Verschwinden zu bringen, indem man die Annäherung zwischen Kolchosen und Sowchosen weiter betreibt und auch die Lebensweise auf dem Lande durch allmähliche Verwirklichung der alten Chru-schtschowschen Idee der „Agrostädte“ dem städtischen Muster angleicht. Damit werden aber in absehbarer Zeit voraussichtlich auch die Schwierigkeiten und Probleme fortbestehen, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer ungelösten Agrarfrage der Sowjetunion zu sprechen.

Fussnoten

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Otto Schiller, Dr. phil., Dr. rer. pol., o. Professor für Agrarpolitik und Sozialökonomie des Landbaues, Direktor des Instituts für international vergleichende Agrarpolitik und Agrarsoziologie am Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Leiter der Forschungsstelle für Agrarprobleme der Entwicklungsländer. Geboren am 27. 9. 1901 in Krotoschin. Veröffentlichungen u. a.: Das Agrarsystem der Sowjetunion, Tübingen 1960; Agrarstruktur und Agrarreform in den Ländern Süd-und Südostasiens, 1964.