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Die Arbeitsweise des Geographen und ihre Bedeutung für die politische Bildung, dargestellt am Beispiel Kasachstans | APuZ 15/1964 | bpb.de

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APuZ 15/1964 Die ungelöste Agrarfrage in der Sowjetunion Die Arbeitsweise des Geographen und ihre Bedeutung für die politische Bildung, dargestellt am Beispiel Kasachstans

Die Arbeitsweise des Geographen und ihre Bedeutung für die politische Bildung, dargestellt am Beispiel Kasachstans

Robert Geipel

Einführung Die Rahmenvereinbarungen der Kultusministerkonferenz haben jenen Fächern, die zur Erhellung der Situation unserer Zeit besondere Beiträge zu leisten imstande sind, den Auftrag gegeben, dies in gemeinsamer, gleichberechtigter Arbeit zu tun. In einigen Bundesländern wurde gegen diesen klar ausgesprochenen Auftrag insofern verstoßen, als einzelnen Fächern ein besonderes Gewicht bei dieser gemeinsamen Aufgabe zugemessen wurde, anderen hingegen — unverhältnismäßig zu ihren bildenden Möglichkeiten — der Wirkungsraum beschnitten wurde. Von der Seite der Geographie ist daher wiederholt der Anspruch auf gleiche Beteiligung an der politischen Bildungsarbeit erhoben worden.

9 Städte über 1 MIII. Einwohner Y Völker der Sowjetunion Kasachen Andere Völker

Der Berechtigungsnadiweis für diesen Anspruch wurde jedoch in der Diskussion nur allzuoft mit der bloß deklamatorischen Behauptung begründet, was alles die Erdkunde für die allgemeine und politische Bildung zu leisten vermöge. Herbert Louis hat dazu (GR’) 1962/3, S. 102) treffend gesagt: „ . . . nicht was der Erdkundeunterricht bei guter Durchführung an Schönem ermöglicht oder gestattet, schafft ihm seine Daseinsberechtigung auf der Höheren Schule, sondern auf jenen Anteil an der Grundunterweisung kommt es an, den einerseits nur er allein zu bieten vermag, und der andererseits wirklich unentbehrliche Voraussetzung von Bildung ist.“ Solche, als Themenkataloge vorgetragene, aufzählende Hinweise auf Wirkmöglichkeiten pflegen der Erfahrung nach weder den Bildungstheoretiker noch den konkurrierenden Kollegen aus den Nachbarfächern zu überzeugen. Das vermag allenfalls eine gründliche Methodenbesinnung, eine Untersuchung über die spezifische Arbeitsweise des Geographen zu leisten. Es ist daher ein Versuch nötig, das auf die Initiationen Flitners hinzielende Wesen der geographischen Kategorie herauszuarbeiten, jene spezifischen Methoden zu zeigen, durch die der Geograph die Wirklichkeit zu fassen versucht, und zu zeigen, was er damit erreicht, wenn er sie erfaßt. Das geschieht am besten, wenn man zunächst den Gegenstand benennt, um den geographisches Denken kreist. Dieser Gegenstand ist die konkrete Landschaft.

• Landwirtschaft

Daran haben wir als Geographen immer wieder festzuhalten, und wir können nicht oft genug darauf hinweisen, aber nicht etwa aus engstirnigem Fachegoismus, sondern aus einer höchst pädagogischen Einsicht heraus: jener Einsicht nämlich, daß Bildung ohne Anschauung steril bleibt.

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Anschauung aber bietet uns in reichstem Maße die uns umgebende Landschaft, die Landschaft ferner Zonen, ferner Denk-und Kulturkreise, ferner ideologischer Systeme.

Tscheika? Aralsk /*Orda karaganda Mit freundlicher Genehmigung des Westermann-Verlages dem Aufsatz des Verfassers in der Geographischen Rundschau, Heft 4, 1964, entnommen.

Wenn der Geograph im Kreise von Historikern und Politikwissenschaftlern oder bei Unterrichtsveranstaltungen das Wort ergreift, dann pflegt sich der Stil der Darbietung und des Zuhörens zu ändern. Die Lichter gehen aus, Karten und Bilder erscheinen an der Tafel.

Was bisher nur als Wort, manchmal als leerer Verbalismus vom Podium her ertönte, erhält plötzlich Farbe und Anschauung, wird konkret, plastisch und greifbar. Das geschieht durch das Medium der Landschaft, die das legitime, bisher noch von keiner Nachbar-disziplin bestrittene Arbeitsfeld des Geographen ist und bleiben muß, wobei uns allerdings Martin Schwind durch seine Definition der Kulturlandschaft als „objektivierter Geist"

und Wolfgang Hartke durch seinen Hinweis, Landschaft sei „Form gewordener Teilniederschlag aller geglückten und mißglückten Spekulationen des Menschen auf der Erde" darauf verpflichtet haben, mehr in ihr zu sehen, als so häufig in der erdkundlichen Betrachtung eines Raumes gesehen wird.

Von der Landschaft also gehen wir aus. Ihr physiognomisches Erscheinungsbild ist das Ergebnis eines Zusammenwirkens einer großen Zahl von Faktoren, aufsteigend von der Natur bis zur Tätigkeit der menschlichen Gruppen in ihr. Wir können uns diese Auswirkung der verschiedenen Faktoren in der konkreten Landschaft an einem pädagogisch besonders einleuchtenden Vergleich vergegenwärtigen, bei dem der technische Vorgang des Karten-drucks gewissermaßen als Zeitraffer für die komplizierten landschaftsgestaltenden Vorgänge dienen kann. Man muß dabei den drucktechnischen Prozeß ein wenig vereinfachen, da er ja sozusagen als Sinnbild der Landschaftsentstehung, aber auch gleichzeitig ihrer Analyse, betrachtet werden soll.

Die Schichtenstruktur des Geographischen Wenn der Kartograph an die Gestaltung einer Landkarte geht, zerlegt sich für ihn die bunte Vielfalt einer später anzustrebenden Kartendarstellung in viele einzelne Schichten. Die Karte als Abbild der Wirklichkeit wird zunächst in eine Abfolge einzelner Druck-platten aufgelöst, die jeweils nur einen Farbton (sprich Sachverhalt) zur Darstellung bringen, bis nach dem Durchgang eines Karten-blattes durch sämtliche Einzeldruckvorgänge schließlich die gesamte Karte vor uns steht. Beispielsweise bringt eine Reihe abgestufter Farbplatten in Brauntönen die Höhen über dem Meeresspiegel und Gebirgsformen zur Darstellung, erschafft sozusagen vor unseren Augen die rein physisch-morphologische Struktur einer Landschaft. Aber schon liegt immanent in diesem Kartenbild die nächste Schicht angelegt: die Blauplatte nämlich, welche das Gewässernetz zur Darstellung bringt, das in die — niedrigeres Land andeutenden — Farbstufen, die Täler also, eingebettet ist.

Schon wenn wir diese beiden Farbplatten (zum ersten Druckvorgang gehören eigentlich mehrere) miteinander zur Deckung bringen, haben wir mehr getan als bloß addiert, haben nicht nur etwa der Morphologie der Bergformen die Hydrographie hinzugefügt. Es besteht ja ein kompliziertes wechselweises Kausalverhältnis zwischen beiden Faktorenschichten, denn die Berge sind nur das. was die Flüsse übriggelassen, noch nicht abgetragen haben, während wiederum jene dem Wasser die Reliefunterschiede anboten, aus denen es seine abtragende Kraft nimmt. Ein Teil der Geographen begnügt sich bereits mit dem Ergeb16 nis der ersten beiden „DruckVorgänge“. Die Naturlandschaft steht als Anschauungsobjekt vor ihren Augen, ihr Interesse erschöpft sich in deren Beschreibung und Strukturanalyse.

Schon an dieser Stelle müssen wir unser sinnbildliches Modellbeispiel kurz verlassen und darauf hinweisen, daß der Standpunkt, in der Vereinigung der ersten beiden „Druckplatten* erschöpfe sich der Beitrag der Erdkunde zur Bildung und namentlich zur Politischen Welt-kunde, von manchen Bildungstheoretikern und auch von vielen Historikern vertreten wird. Das ist zum Teil ein Generationsproblem, denn viele der heute im Bildungswesen Entscheidenden haben in ihrer Jugend vorwiegend Physische Geographie als Erdkunde kennengelernt. Sie fühlen sich daher durchaus im Recht, wenn sie den großen „Rest" zur Erklärung der Welt anderen Fächern, vor allem ihrem eigenen Fach vorbehalten wollen. Verhängnisvoll für die Erdkunde wird es, wenn diese älteren, einflußreichen Bildungstheoretiker und Bildungspolitiker, welche die Geographie in ihrem Bildungswert so unterschätzen — weil sie ihre eigene frühe Begegnung mit einer längst fossilen Erdkunde pauschal auch auf die heutige Geographie übertragen —, dabei noch Eideshelfer unter den Geographen selber finden. Das geschieht durchaus unfreiwillig überall dort, wo „geographische Systembedenken" (W. Czajka) ein „Kerngebiet" abgrenzen wollen, demgegenüber alles andere „Randgebiet" zu sein habe. Beim Gang des wissenschaftsgeschichtlichen Fortschritts kann es aber durchaus zu „Kernspaltungen" kommen. Kein Ordinarius für Physik, der in seiner Fakultät die Mechanik vertritt, würde es wagen, die machtvoll aufkommende Atomphysik als Scharlatanerie und „Randgebiet" zu bezeichnen. In der Geographie geschieht Vergleichbares überall dort, wo aus Selbstgenügsamkeit behauptet wird, ein bestimmtes Problem sei......... nicht mehr Geographie". Wir wollen uns nach diesem Exkurs vergegenwärtigen, wie karg unser Kartenbild nach dem Durchgang durch „Braun-" und „Blauplatte'eben noch aussah. Es enthielt nur Höhen-stufen und das Gewässernetz. Inzwischen hat der Drucker die nächste Platte bereitgestellt: schwarze Punkte zeigen die Siedlungs-formen auf, Städte und Dörfer erscheinen im Kartenbild. Gleichzeitig beginnt die bisher „stumme Karte" zu sprechen. Schriftzüge der Schwarzplatte fügen der Braun-und Blau-platte die Namen der bereits dargestellten Berge und Flüsse ein, die unbenannten Dinge der Natur erhalten ihre Bezeichnung und Bewertung, der Mensch hat Einzug in unsere Landschaftsdarstellung genommen. Aber wiederum hat diese neue Druckplatte für den, der Karten lesen kann, nicht bloß neue Fakten addiert (einer der Hauptvorwürfe gegen die Erdkunde besagt, sie lehre nur „Fakten"). Es besteht ja eine Bezogenheit der Siedlungen auf die natürlichen Verhältnisse. Die Siedlungsgeographie, die stark historisch bestimmt ist, versucht die Motivationen und Kausalitäten zu entschlüsseln, darauf hinzuweisen, wie Flußübergang oder Paß, Küsten-oder Vor-gebirgslage die Gründungen der Menschen an diesem und keinem anderen Raum bewirkt, wenn auch nicht gerade erzwungen haben. Auch für die Größe der Siedlungen hält sie einige, längst noch nicht alle Erklärungsfaktoren bereit. Und auch an der so entstandenen Karte scheiden sich wieder die Geister. Einige begnügen sich mit dem Dargestellten, einige warten darauf, daß der Drucker neue Platten hinzufügt, beispielsweise eine Rot-platte. Auf ihr werden meist die Staats-und Landesgrenzen zur Darstellung gebracht. Wie verlaufen sie, wer hat sie so verlaufen lassen? Man könnte eine ganze Geographie der Grenzen entwickeln, die keineswegs bloß politisch-historische Geographie zu bleiben brauchte. Denn wiederum hat diese neue Druckplatte nicht bloß neue Fakten hinzugefügt, wiederum wird eine Fülle von Wechselbeziehungen — jetzt schon recht problemgeladenen — spürbar. Zum Beispiel folgt unsere rote Linie auf längerer Strecke der blauen Linie eines Flusses oder der Wasserscheide eines Kammgebirges. Wir haben also eine angeblich „natürliche Grenze“ vor uns und wissen, welche fast fetischhafte Bindung für einzelne, namentlich romanische Völker, in diesen, zur Ideologie gewordenen „natürlichen" Grenzen liegt, für den Franzosen etwa in der Rheingrenze, für den Italiener in der Brennerlinie. Sind „natürliche" Grenzen überhaupt natürlich, fragen wir uns sogleich. Von welcher Größe an trennt ein Fluß Landschaften voneinander, bis zu welcher verbindet er hingegen die Ufer zur „Talschaft“? Läßt sich dieser Schwellen-wert überhaupt in Metern messen? Warum betont man in Ländern mit reicher historischer

Vergangenheit gerade die doch recht primitiven Linien der geistlosen Natur, während man in manchen geschichtsärmeren Räumen gerade die Natur gänzlich außer acht läßt und einfach der Willkür 'des Gradnetzes folgt, wie in den USA und in Kanada? Und was ergibt sich, wenn man aus Gedankenlosigkeit oder barbarischem Regressionstrieb die lapidare Eindeutigkeit des Gradnetzes oder der geschichtslosen Natur als Maßstab nimmt für affektbetonte Grenzziehungen oder Demarkationslinien wie die des 38. Breitengrades in Korea oder der Oder-Neiße-Linie? Wo politische, historisierende oder ideologische Residuen das geographische Denken überspielen, entstehen häufig Grenzen der Unvernunft als künftige Krisenherde. Da hat man nicht gedacht und analysiert, sondern irgendwo am Schreibtisch eine Linie gezogen. Der Engländer Sir Thomas Holdich hat das mit dem Hinweis kommentiert: „Unendlich groß sind die Kosten geographischer Unwissenheit."

Mit solchen Überlegungen ist aber die Bedeutung der grenzentragenden Rotplatte unseres Druckvorgangs noch längst nicht erschöpft. Auch jenseits der politisch-historischen Funktion von Grenzen ist ihre geographische wichtig. Die Lage der Siedlungen in Beziehung zur wie auch immer gezogenen Grenze ist bedeutsam. Randlage oder Mittelpunktslage von Städten, namentlich von Hauptstädten, zum zugehörigen Gebiet ist von größtem Einfluß. Es genügt vielleicht unter Aussparung alles Wirtschaftsgeographischen der einfache Hinweis, daß die beiden deutschsprachigen Hauptstädte Berlin und Wien, die einst zentralgelegene Mittelpunkte dynastisch zusammengehaltener Mehrvölkerstaaten waren, heute auf der äußersten Peripherie ihrer nachfolgenden Nationalstaaten liegen Daß Mittelpunktslage einer Hauptstadt innerhalb der Grenzen eines Landes ebenfalls einer ideologischen Fetischisierung unterliegen kann, zeigt der Wechsel Moskau — Petersburg — Moskau, Konstantinopel — Ankara, Kioto — Tokio — oder Rio de Janeiro — Brasilia, wobei diese Schwerpunktverlagerungen häufig gleichzeitig einen Exodus aus den Fesseln einer Tradition und Aufbruch ins Neuland bedeuten und symbolhaft Veränderungen im gesamten Staatsgefüge und Gesellschaftsaufbau signalisieren.

Unsere Karte hat inzwischen in vier „Druckprozessen" eine gewisse Aussagekraft erreicht. Physische Geographie, Siedlungsgeographie und Politische Geographie haben ihr Wort gesprochen und ihre Arbeitsergebnisse zur Darstellung gebracht. Nicht dargestellte geologischbodenkundlich-klimatische Faktoren haben das Substrat für landwirtschaftliche Nutzungstechniken — Bodenschätze, Energiequellen und Verkehrsträger das Substrat für industriellen Landesausbau geschaffen. Zwar hat schon die Schwarzplatte der Siedlungsstruktur die Reflexe dieser Faktorenketten widergespiegelt, aber erst die nächste, bereits recht komplizierte Druckplatte der bunten wirtschaftsgeographischen Signaturen vermag die Fülle des jetzt zur Darstellung Gelangenden aufzunehmen. Wir sind jetzt schon am Rande des graphisch noch auf einer Karte Darstellbaren angelangt und müssen auf die Sonder-und Spezialkarten ausweichen. Sie zeigen uns das Verbreitungsgebiet klimatischer Faktoren, aber auch von Sprachen und Konfessionen, von bäuerlichen Erbsitten und Nutzungssystemen, von Haus-, Siedlungs-und Flurformen, von Verkehrslinienführung, Vegetation und Bodengüte, von soziologischem Status und Steueraufkommen, von Wohndichte und Pendelwanderung. Wir können eine Kartierung derWahlergebnisse vornehmen oder sogar „cleverness" -Gebiete ausscheiden, in denen sich die anbefohlene Preisbindung für Markenartikel deshalb nicht halten läßt, weil der geschäftstüchtige, „clevere" Kunde enorme Rabatte verlangt (solche Gebiete sollen z. B. im Ruhrgebiet, um Hamburg und im Rhein-Mainischen Raum vorliegen, dagegen angeblich nicht um Stuttgart oder im Bayerischen Wald).

Alle so kartierbaren Tatbestände, die irgendwelche wahrnehmbaren Veränderungen und Einflüsse auf das Landschaftsbild zur Folge haben, müssen Forschungsgegenstand der Geographie sein.

An dieser Stelle müssen wir die Analogie vom Kartendruck abbrechen und in Frage stellen. Denn zweifellos wird sich der Protest erhoben haben, die Darstellung der Verbreitung von Baustilen, Erbsitten, Konfessionen, Wahlergebnissen, Zeitungen, Krankheiten, Steueraufkommen oder Mentalitäten wie der eben zitierten „Cleverness“ sei nicht mehr Aufgabe des Geographen, sondern legitimes Arbeitsgebiet des Architekten, Juristen, Theologen, Historikers, Arztes, Politologen, Soziologen oder Volkswirts, die das alles viel besser verstünden. Wir können diesem Protest völlig zustimmen und gerade das letzte Argument unterstrei-chen. Der Geograph wird also nicht das religiöse System des Hinduismus behandeln können. Das wäre „geographischer Imperialismus“, wie ihn W. Kampmann mit Recht gegeißelt hat Er wird lediglich zeigen können, welche Elemente von Landesnatur, Klima Vegetation oder Ernährungssystem den Hinduismus beeinflußt haben könnten (und zwar niemals kurzschlüssig deterministisch und monokausal) und wie das religiöse System im Bereich seiner Verbreitung nun seinerseits in der Landschaftkonkreten Ausdruck findet. Ersetzen kann der Geograph die genannten Fachwissenschaftler also nicht. Es läßt sich aber dann die weiterführende Frage stellen, ob die eben genannten Fachwissenschaftler trotz oder gerade wegen ihrerAutorität auf ihrem Fachgebiet imstande sind, über dessen Grenzen hinauszublicken und die sich im Räumlichen anbahnenden Korrelationen zu anderen Sachbereichen herzustellen. Man müßte deshalb das erste Denkmodell vom Kartendruckverfahren ergänzen und erweitern durch ein zweites, nämlich den Hinweis auf eine andere geographische Darstellungstechnik, die des Deckblattverfahrens.

Die Transparenz der Einzelfaktoren Sind zur graphischen Fixierung eines Problems nur wenige Kartenelemente erforderlich, dann faßt sie der Kartograph in einer — aus dem Buch herausnehmbaren — transparenten Deckpause zusammen, die je nach Erfordernis beim entsprechenden Hinweis im Text auf die Grundkarte aufgelegt werden kann und dann durch dieses Einzelproblem die eminent wichtige Grundtatsache der Lage im Raum gewissermaßen durchschimmern läßt. Man könnte für jede Landschaft je nach Problemfülle eine fast beliebige Zahl solcher Einzeldarstellungen erarbeiten. Einige wurden bereits erwähnt. Jeder Deckpause entspricht gewissermaßen eine Einzelwissenschaft. Der Geologe hat die Verbreitung von Gesteinen, der Bodenkundler von Böden, der Archäologe von Funden, der Volkskundler von Trachten, der Architekt von Hausformen, der Germanist von Dialekten, der Agronom von Feldsystemen, der Historiker von mittelalterlichen Territorien festgestellt, der Politologe Wahlergebnisse, der Soziologe Berufsgruppen, der Ökonom Einkommensverhältnisse ermittelt. Jeder von ihnen legt seine Deckpause, wenn er überhaupt ein Gefühl für die räumliche Dimension hat und kartiert und sich nicht nur, wie es meist geschieht, mit einer Tabelle oder der bloßen Erwähnung des Tatbestandes begnügt, allenfalls auf die topographische Grundkarte der banalen Briefträgergeographie, von der ebenfalls einige Bildungstheoretiker meinen, daß sich die Erdkunde in ihr erschöpfe.

Was die bloße Umsetzung einer Tabelle in die Zweidimensionalität einer Karte bewirken kann, läßt sich an einer kleinen Anekdote verdeutlichen, die vor einigen Jahren durch die Presse ging. Ein Heimatvertriebener aus dem Sudetenland, so las man damals, habe ein Ortsnamenverzeichnis von 1938 gerettet. Er vergleicht es mit dem zuletzt publizierten der deutigen CSSR. Dabei fällt ihm auf, daß einige Ortsnamen weder in der deutschen Fassung noch in einer tschechischen Neubenennung zu sind. Er begnügt sich nun finden nicht mit dem Hinweis, daß, angenommen, 6, 5Prozent der Orte „fehlen". Er sucht vielmehr die nicht mehr genannten Orte auf einer Karte und kreuzt sie an. Zu seiner Verwunderung verbinden sich die angekreuzten Gemeinden zu geschlossenen Gebieten, sie sind keineswegs etwa als „ausgelaufene Ortschaften“

dispers über die ursprünglich deutschen Siedlungsräume verteilt. Auch die Ortsgrößen spielen keine Rolle. Vier konzentrierte Gebiete, in denen sich die Fehlanzeigen zur Fläche verbinden, schälen sich allmählich aus der Karte heraus, von denen sich annehmen läßt, daß sie militärische Raketen-und Flug-stützpunkte beherbergen und „off-limits"“ sind. Die bloße Umsetzung einer statistisch-tabellarischen Datensammlung ins Räumliche hat ein Problem und gleichzeitig seine wahrscheinliche Lösung bewirkt. Diese räumliche Sichtweite ist ein Prinzip des Denkens, das der politischen Erziehungsarbeit nicht verlorengehen darf, selbst wenn die Erdkunde als Fach je aus der Oberstufe der Höheren Schule verschwinden sollte.

Die räumliche Kategorie seines Denkens verpflichtet den Geographen, auch Arbeitsergebnisse scheinbar weit entfernt arbeitender Fächer zur Kenntnis zu nehmen, soweit deren Probleme an der Erfülltheit eines Raumes beteiligt sind, kurz: an der Landschaft mitgestalten. Die Interdependenzen räumlicher Art aufzuzeigen, die innerhalb seines Fachproblems kausalgenetisch nach rückwärts weisen, sozusagen in die Vergangenheit hinein, wird sich der vorhin erwähnte Einzelwissenschaftler allenfalls noch bemüßigt fühlen, so vielleicht jene von Territorialeinheit und Konfessionsverbreitung, von Baumaterial und Baustil, von frühgeschichtlicher Fundstelle und Bodenart. Dann aber erlischt sein Interesse.

Er projiziert, um in unserem Denkmodell zu bleiben, sein transparentes Deckblatt kaum in die Zukunft und meist auch nicht auf die anderen Deckblätter. Halten wir aber in einer sozusagen permanenten Korrelation alle Deckblätter in immer neuen Kombinationen gegen das Licht, so werden wir eine verblüffende Vielfalt von sich deckenden, überschneidenden oder ausschließenden Phänomenen feststellen, z. B. von Gewässernetz und Krankheitsverbreitung (Geomedizin), Konfession und Gewerbesteueraufkommen (worauf bereits Max Weber hinwies), historischer Territorial-einheit und Zeitungsverbreitung, Einkommens-verhältnissen und Wahlergebnissen, um nur die plausibelsten zu nennen, die wir wie beim Hollerithverfahren auch anders kombinieren können. Legen wir sämtliche möglichen transparenten Deckpausen gleichzeitig übereinander — so scheint das Licht nicht mehr hindurch.

(So geht es uns immer mit der Wirklichkeit, der Wahrheit, von der wir immer nur einen Zipfel erhaschen!) Hier endet die Analyse, überhaupt die Wissenschaft. Vielleicht daß ein Künstler diese Totalität bewältigen kann. Legen wir aber in immer neuer Variation einige Deckpausen übereinander, so werden wir zunächst wahrscheinlich eine Menge von Fehlleistungen und kurzschlüssigen Aussagen in die Diskussion bringen, dann aber allmählich vorsichtiger und selbstkritischer werden. Die Dogmen zerrinnen uns unter den Händen, die Tabus werden greifbar. Der „Raumzwang“ der Geopolitiker, das Rassenvorurteil der Vitalisten, der Persönlichkeitsfetischismus mancher Historiker, der Fatalismus mancher Politiker werden fadenscheinig. Eine Korrelation, die für die eine Landschaft gilt, braucht sich in der Nachbarlandschaft nicht zu bewähren, und schon ist wieder ein scheinbares „Gesetz“ als Konvention, als Stereotyp erkannt. Wer alle möglichen Korrelationen in immer neuer Variation durchprüfen könnte, würde als bildendes Erlebnis einen heilsamen Schreck vor der Monokausalität erfahren haben, mit der so viele Einzelwissenschaften (auch Geographen, die es besser wissen sollten) ans Werk gehen. Es wird darin etwas von der Einheit der Welt spürbar, davon, daß die Wirklichkeit ungefächert ist, obwohl sie nur mit den wissenschaftlichen Methoden der Einzelfächer angegangen werden kann, daß sie dem Edelstein aus der Parabel gleicht, von dem jeder nur eine bestimmte Schliftfläche funkeln sieht, sie für die einzige hält, obwohl sie alle zusammen erst den Stein ergeben. Im Augenblicksbild einer konkreten Landschaft konvergieren tiefgestaffelt die von den Einzel-wissenschaften aufgedeckten Faktenzusammenhänge. Die Geographie wird nicht allen von ihnen nachgehen können, auch dann nicht, wenn sie ihr Fach in noch so viele „Spezialgeographien" aufspaltet, von der Morphologie, Klimatologie, Ökologie, Vegetations-, Siedlungs-bis hin zur Wirtschafts-, Verkehrs-, Religions-, Agrar-, Sozialgeographie und wie sie alle heißen mögen.

Sie hat aber die Aufgabe der Synopsis, der Korrelation, der kombinatorischen Zusammen-schau. Das legitime Objekt ihrer Forschung, die Landschaft, zwingt sie dazu, denn in ihr ist alles enthalten. Das ist das Verhängnis der Geographie, weil ihr Stoff uferlos wird, selbst wenn sie sich „nur" an diese Landschaft bindet. Das ist aber auch ihre große pädagogische Chance, sozusagen im dinglichen Bereich der unmittelbaren Konkretisierung als eine „umfassende Erfahrungswissenschaft" 8), wie sie Hettner genannt hat, etwas Ähnliches zu leisten, wie die Philosophie am anderen Ende unseres Denkvermögens. Der Franzose Henri Baulig hat diese Art des Geographen, in korrelativer Synopsis zu sehen, als seine eigentliche Leistung, als «maniere d'envisager les choses», als «mode de pensde» und «categorie nouvelle de 1‘Intelligence» bezeichnet. Sie ist als Erkenntnisprozeß und Methode, mehr als es je ein „Fach" könnte, konstitutiv für die Politische Weltkunde oder „Gemeinschaftskunde" für die Oberstufe. Themenkataloge, in denen im dinglichen Bereich die Arbeitsmöglichkeiten der Erdkunde nachgewiesen werden, sind sicher sehr wichtig und wertvoll. Es kommt aber auch darauf an, die spezifischen Erkenntnismethoden der Erdkunde und deren Bedeutung für die Politische Bildung aufzuzeigen und fruchtbar zu machen. Die eben geschilderte Art des Geographen, die Dinge zu sehen und die Interdependenzen aufzuweisen, kommt dem neuen Bildungsprinzip einer überfachlichen Politischen Weltkunde besonders entgegen und ist zur Erklärung einer großen Zahl von Erscheinungen die gemäße Methode. Die Stellung der Geographie zwischen Natur-und Geisteswissenschaften, für viele Geographengenerationen ein echtes Dilemma, könnte sich dabei als ihre größte Chance herausstellen, wenn sie von den für das Bildungswesen Verantwortlichen erkannt und genutzt wird.

Das Beispiel Kasachstan Diese Ausführungen über die Arbeitsweise des Geographen, wie sie zuerst bei der von der Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Ständigen Konferenz der Kultusminister vom 13. bis 18. August 1962 in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing veranstalteten Arbeitstagung vorgetragen und im Heft 12 der „Geographischen Rundschau" 1962 veröffentlicht wurden, sollen nun an einem Beispiel belegt werden: dem der Neulandgewinnung in Kasachstan, einer der größten Unternehmungen der Chruschtschow-Ära. Die Schwierigkeiten bei dieser Aktion waren einer der Gründe für die sensationsumwitterten Getreideimporte der Sowjetunion und einer zeitweisen Milderung des „Kalten Krieges" im Herbst 1963. Doch wollen sich unsere Ausführungen nicht am bloß Aktuellen orientieren, sondern — vom Klimatologisch-Bodenkundlichen über das Ackerbautechnische bis zum Historischen, Völkerkundlichen, Ideologischen und Anthropologischen aufsteigend — Zusammenhänge aufzeigen, die hinter dem vielschichtigen Thema „Kasachstan" zu suchen sind. Die Ausführungen folgen dabei dem Referat, wie es auf der Arbeitstagung der Bundeszentrale für politische Bildung vom 14. bis Oktober 1963 in Freudenstadt als Fortsetzung der Gespräche von Tutzing 1959, Bad Nenndorf 1961 und der schon erwähnten Tagung in Tutzing 1962 gehalten wurde. Die Bundeszentrale hatte die Freundlichkeit, die beim Referat verwendeten 6 Karten aus ihren „Informationen zur politischen Bildung", Folgen 54/55 und 78/79, in vereinfachter Form nochmals zum Abdruck zu bringen, um eine Interpretation im Sinne der Ausführungen des ersten Teils zu ermöglichen. Es sind dies die Karten über die Böden, die Bevölkerungsverteilung, die Verkehrs-linienführung, die Nationalitäten der Sowjetvölker, die Landnutzungssysteme und Anbau-früchte und schließlich die territoriale Expansion Rußlands im 16. Jahrhundert, alles Faktoren, die auf den ersten Blick nicht unbedingt miteinander zu tun zu haben scheinen, die aber — gleichzeitig übereinander projiziert — einen Einblick in einen kulturgeographischen Prozeß gewähren und — sich gegenseitig beleuchtend — ihre Begründung und Sinngebung erfahren. Der Verfasser beschränkt sich darauf, seinen Ausführungen nur diese allgemein verfügbaren Karten zugrundezulegen. Der Landwirtschaftsatlas der Sowjetunion bringt bessere, so z. B. eine Karte über die Landwirtschaft Kasachstans mit den Ergebnissen der Neuland-aktion. Die sechs abgedruckten Karten sollen überdies nur eine erste Orientierung ermöglichen. Sie sollen vor allem keine Kausalitäten nahelegen, die dann nur allzuleicht auf vordergründige, d. h. geopolitisch-kurzschlüssige Weise gesehen würden. Sie sollen lediglich zeigen, daß sich eine vergleichbare Raumorganisation in den ersten vier angesprochenen Sachbereichen ergibt.

Bei Bevölkerungsdichte, Völkern und Verkehr zeigt sich eine starke Füllung des westlich des Urals gelegenen Raumes mit Signaturen. Hier ist die Bevölkerungsdichte am größten, die Verkehrslinienführung am engsten, die flächenmäßige Verbreitung der slawischen Völker am weitesten nach dem Norden und dem Süden ausgedehnt, wo sie am Meer und im Hochgebirge des Kaukasus Grenzen finden, östlich der mehr oder weniger scharf ausgeprägten Zäsur des Uralraumes wird dies anders. Die Gebiete größerer Bevölkerungsdichte und konzentrierten Russentums gleichen einem Keil, der sich zwischen den dünner besiedelten Gebieten nördlich des 60. und südlich des 50. Breitenkreises erstreckt. Er trennt bereits westlich des Urals die Wohngebiete der finnischen und mongolischen Völker mit früher meist schweifender Lebensweise und einfachen, schamanistischen Naturreligionen im Norden von denen der turktatarisch-mongolischen Steppen-und Oasenvölker im Süden, die vom Kulturkreis des Islam erfaßt wurden und schon früh Hochkulturen geschaffen hatten, wie jene der Oasen von Buchara, Chiwa und Samarkand, wo die orientalische Märchenwelt von 1001 Nacht angesiedelt ist. Schon früh haben die Russen den Widerstreit dieser Kultur-und Lebensformen, wie er 1564 im Kampf des sibirischen Heidenzaren des Waldes Etiger gegen denmohammedanischen SteppenkhanKutschum zum Ausdruck kommt, für ihre Zwecke genutzt. (Hier öffnet sich unser Thema in Rich-tung der Völkerkunde als einer der Geographie verwandten Wissenschaft.)

Somit erscheint im europäischen Rußland der Raum zwischen 50. und 60. Breitengrad als das eigentliche Kerngebiet des russischen Volkes, in dem nördlich des Völkerkorridors der Steppe das „Sammeln der russischen Erde“ vor sich geht. Sein Wachsen zur heutigen Größe und aus dem Waldland in die Steppe läßt sich aus den geschichtlichen Kartendarstellungen der „Informationen" der Bundeszentrale sehr schön entnehmen. Sein fast genauer geometrischer Mittelpunkt ist Moskau, das sich — bedingt durch die Landgewinne im Gefolge des zweiten Weltkriegs — neuerdings auch fast in der genauen Mitte zwischen dem 20. und 60. Längengrad befindet, welcher auf dem Ural verläuft, östlich des Urals aber wird der Siedlungskeil immer schmäler, er verläuft sich auf der Karte der Bevölkerungsverteilung als schmales Siedlungsband nach Osten hin. Leitlinie dieses Bandes ist die mehr als 8000 km lange Transsibirische Eisenbahn, Herkunftsgebiet der Siedler ist der europäische Teil Rußlands und die hier angestaute Not und Kolonisationsbereitschaft des russischen Volkes, das schon seit alters her auf den Spuren pelzjagender Abenteurer und Kosaken, der Enge der Leibeigenschaft entfliehend und auf der Suche nach anbauwürdigem und freiem Ackerland, sich rund 8000 km von seiner Ausgangsbasis entfernte Juri Semjonow hat das Abenteuer dieser Raumüberwindung meisterhaft geschildert. Dieser Landnahmeprozeß zeigte die Kosaken nicht als Steppenreiter, wie sie die landläufige Vorstellung schildert, sondern als floß-und bootfahrende Süßwasser-wikinger, die den russischen und später den sibirischen Stromsystemen mit ihren meist niedrigen und die Oberläufe nahe zusammenführenden Wasserscheiden folgten, diese an Schleppstellen (woloki) überwindend. Den Kosaken folgten landhungrige, Freiheit suchende Bauern, den Bauern die drückende, Leibeigene sammelnde Obrigkeit, vor der sich nur jener retten konnte, der wiederum ins Unbekannte aufbrach.

Wieviel Erde braucht der Mensch?

Man könnte sich damit begnügen, den Prozeß des Vertreibens der Pioniergrenze und der Neulandgewinnung als einen bloßen, statistisch überprüfbaren raum-zeitlichen Akt zielgerich-teter Kraftentfaltung zu werten. Wer dahinter einen literarischen „Mythos" aufspüren, wer auch die Sprache des russischen Volkes vernehmen und seinen Regungen angesichts dieses ins schier Unendliche vorgetragenen Abenteuers nachgehen möchte, muß sich von der tiefen und reichen russischen Literatur helfen lassen. „Wieviel Erde braucht der Mensch?", hat Leo Tolstoj in seiner um 1885 entstandenen Erzählung vom landhungrigen Bauern Pachom gefragt (Assoziation zu pachatj = ackern, pflügen). Er läßt ihn — ähnlich wie die amerikanischen Squatter in die Prärien der Indianer — in die Steppen der mohammedanischen Baschkiren im Vorland des südlichen Ural aufbrechen. Noch geht es also, zu zaristischer Zeit, um ein bloßes Vorgeplänkel im Lande der Nachbarn der Kasachen, denen wir uns später zuwenden wollen. Ein Kaufmann — mephistophelischer Verführer — berät Pachom bei seinem Vorhaben

.... Das Land dort kannst Du nicht in einem Jahr umfahren. Und dumm ist das Volk wie Hammel. Fast umsonst kann man es haben . . . Am siebenten Tag erreichten sie ein Baschkirenlager. Alles war so, wie der Kaufmann gesagt. Sie lebten in der Steppe, an einem Flüßchen, in Filzzelten. Sie selber pflügten nicht und aßen kein Brot. In der Steppe aber weidete ihr Vieh und die Pferdeherden. Hinter den Zelten waren die Fohlen angehalfert, und zweimal am Tag trieb man die Muttertiere zu ihnen; sie melkten die Stutenmilch und bereiteten Kumyß daraus. Die Weiber rührten den Kumyß und machten Käse, während die Männer nichts weiter kannten wie Kumyß und Tee trinken, Hammelfleisch essen und auf ihren Flöten spielen. Gut genährt und vergnügt waren sie alle, und den ganzen Sommer brachten sie müßig zu. Es war ein vollkommen ungebildetes Volk, das nicht Russisch verstand, aber gar freundliche Menschen ..."

„Sowie die Baschkiren Pachom erblickten, kamen sie aus den Zelten hervor und umringten den Gast. Es fand sich auch ein Dolmetsch. Pachom sagte ihm, daß er wegen Land gekommen sei. Die Baschkiren freuten sich, nahmen Pachom mit, führten ihn in ein schönes Zelt, ließen ihn auf den Teppichen Platz nehmen, legten ihm weiche Kissen unter, setzten sich ringsum und bewirteten ihn dann mit Tee und Kumyß. Sie schlachteten einen Hammel und gaben ihm zu essen. Darauf holte Pachom die Ge tenke aus seinem Wagen und verteilte sie an die Baschkiren. Er beschenkte sie mit all den Sachen und überreichte ihnen den Tee. Die Baschkiren freuten sich. Sie schwatzten in einem fort schnell durcheinander, dann hießen sie den Dolmetsch reden: „Sie lassen dir sagen", begann der Dolmetsch, „daß sie dich liebgewonnen haben und daß es bei uns Brauch ist, dem Gaste jedwede Freude zu machen und Geschenke mit Gegengaben zu erwidern. Du hast uns beschenkt, sage uns nun, was dir von unserem Gut gefällt, damit wir dir auch etwas schenken können."

„Am meisten", sprach Pachom, „hat mir bei euch das Land gefallen. Bei uns ist das Land knapp, und der Boden ist auch erschöpft, ihr aber habt soviel Land, und euer Boden ist gut. Noch nie hab'ich solchen gesehen." . . . „Ich habe gehört, bei euch sei neulich ein Kaufmann gewesen. Ihr habt ihm ebenfalls Land abgegeben und ihm einen Kaufbrief ausgestellt; macht's doch mit mir genauso“ . . . „Und welchen Preis wollt ihr nehmen? *, fragte Pachom.

„Wir haben nur einen Preis: tausend Rubel für den Tag.“ Pachom verstand nicht: „Was ist denn das für ein Maß — ein Tag? Wieviel Deßjatinen gehen darauf?“ „Das wissen wir nicht", meinte er. „Denn wir verkaufen nach Tagen; wieviel du an einem Tage umgehen kannst, so viel ist dein, und der Preis für einen Tag ist tausend Rubel.“ ... „Nur eine Bedingung gilt: wenn du nicht bei Tag zu jener Stelle zurückkehrst, von der du ausgegangen bist, so ist dein Geld verloren ... Wir begeben uns an eine Stelle, die dir recht ist; wir bleiben stehen, während du losgehst und einen Kreis läufst; du nimmst eine Hacke mit und bringst, wo es nötig ist, Zeichen an; bei den Ecken machst du kleine Gruben, setzt Rasen-stücke aufeinander, und später pflügen wir dann von einer Grube zur anderen eine Furche ..."

Nun umkreist Pachom, von Gier getrieben, ein großes Stück Land, läßt sich immer weiter in die Steppe hinauslocken: „Der Fleck hier ist besonders schön, es wär'jammerschade, ihn liegen zu lassen.“ Spät erst, kurz vor Sonnenuntergang, kommt der Schichan, jener Hügel wieder in seinen Blick, auf dem die Baschkiren lagern und von dem er bei Sonnenaufgang losgegangen ist. Sie rufen ihm aufmunternd zu, der sich kaum mehr weiter-schleppen kann.

„Pachom blickte nach der Sonne. Sie hatte die Erde erreicht, schon war sie mit einem Stück hinabgetaucht und stand als Bogen am Horizont. Pachom setzte seine letzten Kräfte ein, stürzte mit dem ganzen Körper vorwärts, kaum vermochten seine Beine noch nadizukommen, daß er nicht fiel. So lief Pachom dem Schidian zu, als es plötzlich dunkel wurde. Er schaute sich um — die Sonne war untergegangen.

Pachom ächzte. . Umsonst", schoß es ihm durch den Kopf, , war alle meine Mühe." Schon wollte er Stehenbleiben, aber er hörte, wie die Baschkiren immer noch weiterschrien, und ihm fiel ein, daß es von hier unten ja nur so schien, als wäre sie untergegangen, während sie auf dem Schichan noch nicht verschwunden war. Pachom schöpfte tief Luft und lief den Schidian hinan. Auf dem Hügel war es noch hell...

„Ach, du wackrer Mann", rief der Alteste aus.

„Viel Land hast du dir erworben." Pachoms Knecht lief herbei und wollte ihm aufhelfen, aber aus seinem Munde floß Blut, und er lag tot hingestreckt. Die Baschkiren schnalzten mit der Zunge: er tat ihnen leid. Der Knecht aber nahm die Hacke, hob Pachom ein Grab aus, grad so lang, wie er vom Kopf bis zu den Füßen maß — drei Arschin — und er begrub ihn."

In der Erzählung „Wieviel Erde braucht der Mensch?" liegt mehr Landschaftskunde, Völkerkunde und Sozialgeographie beschlossen, als in manchen wissenschaftlichen Abhandlungen, selbst wenn sie nur als Rankenwerk des tiefen und weisen Berichts vom Hunger der Menschen erscheinen. Die Weite der Steppe, das Erlebnis des erhöhten Standorts in einer unendlichen Ebene oder am Meer wird sinnen-stark vorgeführt. Aber auch die Sozialstruktur der mohammedanischen Baschkiren, deren Zahl von 1, 5 Millionen nach dem Ersten Weltkrieg auf etwa 800 000 in der Gegenwart sank und deren autonome Republik mit der Hauptstadt Ufa im Vorland des südlichen Ural nur noch zu 23, 5 Prozent von den Baschkiren selber, sonst aber von Russen und Tataren bewohnt wird, ersteht vor unseren Augen in ihrer urtümlichen Form der Imkerei und Weidewirtschaft.

An ihnen vollzieht sich das gleiche, wie an den Indianern der nordamerikanischen Prärien. Ihre Wirtschaftsweise ist der russisch-europäischen unterlegen. Sie verstehen in ihrer unendlichen Weite den Eindringling und seinen Landhunger so wenig wie die Inkas den Goldhunger der Spanier. Als mythische Figur steht hinter dem Geschehen der Erzählung die Gestalt des Kaufmanns, des Westlers, der zu planen und zu rechnen versteht, der ein Gefühl für Zeit und Wert hat, des westlichen Rationalisten also, der den Slawophilen so verdächtig war, wie ihre hybride Hauptstadt Petersburg gegenüber dem „Heiligen Moskau". Es ist also nichts eigentlich Neues, sondern nur etwas quantitativ unerhört Größeres, wenn heute der Sowjet-staat die Landreserven des sibirischen Neu-landes ähnlich rechnerisch einplant.

Die Bedeutung der Böden Vergleichen wir nach diesem Blick auf die literarische Darstellung des Mythos vom Land-hunger in der Tolstojschen Erzählung die Bodenkarte mit den bisher betrachteten über Bevölkerungsdichte, Verkehr und Nationalitäten. Deutlich zeigt sich dabei, daß es den Russen bei ihrer Auseinandersetzung mit den eingeborenen Völkerschaften zunächst um die erst schwach ausgelaugten Tschernosjome der Waldsteppe und die typischen Tschernosjome der Steppenzone ging, während die kastanien-farbigen Böden der Trockensteppe noch für lange Zeit den turksprachigen Kasachen überlassen blieben. Der Vergleich mit der Völker-karte zeigt sogar, daß im südlicheren Streifen des typischen Tschernosjoms der Steppenzone die Großrussen mit dem südlichen Brudervolk der Ukrainer zusammen die Kolonisation vorangetrieben haben, deren Hauptsiedlungsgebiet ebenfalls in der Steppenzone liegt, während der nördlichere, regenreichere und daher ausgewaschenere Streifen des stärker degradierten Tschernosjoms von den Ukrainern eher gemieden wurde und ganz den Großrussen überlassen blieb. Was hat es mit diesem Bodentyp auf sich, daß er zur Leitfläche für die Eroberung Nordasiens werden konnte? Schon der russische Bodenkundler Dokutschajew hat darauf hingewiesen, daß die Schwarzerden weniger ans Ausgangsgestein gebunden sind, sondern vielmehr klimatischen und vegetationsmäßigen Voraussetzungen folgen , Sie „ .., verdanken ihre Entstehung einer durch die Steppenvegetation bedingten alljährlichen Bildung großer Mengen von organischen Stoffen, einem Mangel an Bodenfeuchtigkeit und einer Hemmung der Zersetzungsprozesse, und schließlich einem hohen Calciumoder Magnesium-Gehalt der bodenbildenden Gesteine, der zur Erhaltung und Ansammlung von Humusstoffen im Boden beiträgt. Bei jungfräulichen Böden schuf das Vorhandensein des Schwarzerdehumus in inniger Vermengung mit dem mineralischen Bodenanteil eine lockere Krümelstruktur, welche sehr günstige physikalische Bodeneigenschaften bedingt“ Rund* 190 Millionen Hektar = 9 Prozent der Gesamtfläche der Sowjetunion, werden von diesem Bodentyp eingenommen, das ist etwa die Hälfte aller auf der Erdoberfläche vorhandenen Schwarzerde. Ihr sich nach Osten zu einem schmalen Keil verjüngendes Verbreitungsareal ist die Kornkammer der Sowjetunion. „Der russische Mensch ist Getreide-bauer', läßt Pjotr Pawlenko in seinem, dem Personenkult dienenden Roman „Das Glück" Stalin sagen. Die Russen sind die größten Brotesser der Welt. Wie früher in Deutschland liegt daher das Schwergewicht der Landwirtschaft beim Anbau von Brotgetreide, und dem dafür geeignetsten Boden folgten die Russen um die halbe Welt. Doch ist in der Chruschtschow-Ära zum Weizen der Mais hinzugekommen. Verlieren sich unsere Erörterungen jetzt in den Banalitäten einer bloßen Produktenkunde? Nein — der Mais ist eine hochpolitische Angelegenheit. Chruschtschow ist in der westlichen Presse oft wegen seines Enthusiasmus für den Mais-Anbau ironisiert worden. Man berichtete Anekdoten über seinen Aufenthalt in den USA, und daß ihn die Wolkenkratzer weniger beeindruckt hätten als die Maiskolben amerikanischer Farmer. Der Mais ist eines der universellsten Anbauprodukte, das die Landwirtschaft uns bietet. Er vereinigt in sich die Qualitäten und Möglichkeiten des Getreidebaus mit jenen der Hackfrucht: große Massenerträge und Schonung des Bodens vor Naturschäden. Im Frühjahr, wenn die noch nicht aufgelaufene Hackfrucht Erosionsschäden begünstigt, gibt sich der Mais als Getreide und hält den Boden zusammen. Im Hochsommer, wenn die Sonne den Getreideboden ausdörrt, zur Rissebildung führt und die Ausblasung fördert, spenden die breiten Blätter des Maises ähnlich jenen der Hackfrucht Schatten. Den Mais kann man zudem in fast jedem Wachstumsabschnitt ernten: als Grünfuttermais, als Körnermais — und es lassen sich mehrere Ernten auf der gleichen Fläche erzielen, indem man nach einer Voll-ernte der Hauptfrucht den Mais nochmals als Zwischenfrucht anbaut und als Grünfutter halb-reif erntet. Er kann deshalb auch in Gebieten mit kurzer Vegetationsperiode Nutzen bringen. Der Mais ist in seinen hochgezüchteten Hybridenformen in den USA, wo man ihn „auf die Beine stellt", d. h. verfüttert, Basis einer ausgedehnten Fleischproduktion geworden, und Chruschtschows Ehrgeiz, die USA im Konsumgüter-Wettstreit einzuholen und zu überholen, zielt zunächst in die Richtung einer erhöhten Fleischproduktion und dient damit der Befriedigung noch nicht allzuhoch qualifizierter Konsumwünsche der Sowjetbürger. In Mitteleuropa ist jene Erhöhung der Erträge durch Einführung der Hackfrüchte auf dem Brachfeld ermöglicht worden, verbunden mit einer rationellen Düngerwirtschaft, natürlich früher, chemisch heute. Eine erhöhte Maisproduktion ist somit Voraussetzung für den vielzitierten „Wohlstandskommunismus". Boris Meissner wies auf die erregte politische Diskussion im Präsidium des Zentralkomitees der KPdSU hin die sich hieraus ergab und fast zum Sturz Chruschtschows im Juni 1957 (vergleichbar dem Sturz Malenkows 1955) geführt hätte. Dem Mais, als dem Motor dieses Strukturwandels, mußten große Flächen vor allem in der Ukraine, Chruschtschows Lieblingsrepublik, zur Verfügung gestellt werden (Anstieg von 5 Prozent der Ackerfläche 1953 auf 21, 4 Prozent 1961 — Gesamt-SU: 1, 9 auf 11, 6), da ihm die dortigen Niederschlagsmengen gute Wachstumsbedingungen gewähren. Die Anbauflächen sollten von 3, 5 Mill, ha auf 28 Mill, ha steigen Der „anspruchslosere" Sommerweizen sollte sich hingegen in den Steppengebieten am Südfuß des Ural, in Westsibirien und namentlich in Kasachstan neue Areale suchen, sozusagen in seine Steppenheimat zurückkehren, aus der er — hochgezüchtetes Steppengras und große Kulturleistung des Menschen — dereinst gekommen war. Die enorme Vermehrung der Weizenbodenfläche im Neuland ging also mit einer gewissen Verminderung in den traditionellen Anbaugebieten zugunsten des Maises Hand in Hand: In der gesamten Sowjetunion Anstieg der Weizenfläche von 25, 9 (1953) auf 28, 5 Prozent (1961), in der Ukraine Abnahme von 27, 3 Prozent (1953) auf 2 Prozent (1961).

Die Neulandaktion in Kasachstan Bei der Neulandaktion in Kasachstan konvergieren die verschiedenen Strömungen, denen wir bisher nachgegangen sind. Das von Tolstoj geschilderte Vorhutgefecht im Nachbarland der Baschkiren, mit dem wir den Mythos des Landhungers illustrieren wollten, wird hier im Zeichen eines großen Planungsprogramms zur „Schlacht an der Getreidefront". Klaus Mehnert bringt die Neulandaktion auf die Formel 23): „Kasachstan — russifiziert, industrialisiert, entnomadisiert, agrarisiert, neuer Schwerpunkt der Sowjetwirtschaft."

Gehen wir diesen einzelnen Charakterisierungen nach. Vom Kaspischen Meer bis zum Altaigebirge erstreckt sich auf rund 2 500 km Länge und rund 500 km Breite die Kirgisensteppe, wie Kasachstan zur Zarenzeit noch hieß. Extreme Kontinentalität und nach Süden zunehmende Trockenheit (die Niederschläge nehmen von ca. 400 mm auf 100 mm und weniger ab), lassen die Wiesensteppe schnell in Pfriemgrasund Wermutwüstensteppe übergehen. Weil es im nördlich angrenzenden Westsibirien noch weit bessere Böden gibt, beschränkte sich die erste Welle der russischen Kolonisierung lediglich auf die Errichtung eines Militärgrenzstreifens zum Schutz der offenen Steppenflanke des europäischen Rußland Die Weidegebiete der kasachischen Schafzuchtnomaden mit ihren Wanderungen (Transhumance) von den Winterweideplätzen am Kaspischen Meer zur Sommerweide auf den Matten des Tienschan und Altai oder zu den nördlichen Steppen an den Oberläufen der Ob-Nebenflüsse (Tobol, Ischim, Irtysch) bleiben zunächst noch unberührt. Deutlich zeichnet sich die Militärgrenze noch heute in der „Regelentfernung" ihrer Festungen als ein großer Halbkreis in der Nähe der kasachischen Republikgrenze und der dortigen Siedlungsverdichtung ab (Uralsk-Orenburg als westlicher Riegel, Petropawlowsk — Omsk — Pawlodar — Semipalatinsk — Ust — Kamenogorsk als östlicher Riegel). Dieser Militärgrenzgürtel füllte sich allmählich im Sommerweidegebiet der Kasachen mit Kolonistenwellen, die jeder Mißernte, Revolution oder Reform im europäischen Rußland folgten. Die transsibirische Bahn zog ab 1891 im Norden vorbei und brachte eine Siedlungsverdichtung mit sich. Die Transhumance der Kasachen brach zusammen. Auch ihre Außenhandelsverbindungen wurden „umgepolt". Hatten sie bisher zu den mittelasiatischen Oasen und nach China, also nach Südosten, bestanden, so gingen sie nunmehr nach Nordwesten, nach Rußland. Aber die erste russische Kolonisationswelle verlief sich rasch in den Nöten des Ersten Weltkriegs, des Bürgerkriegs und einer zunächst auf Selbstbestimmung und vorläufige Schonung der kleinen Nationen angelegten Nationalitätenpolitik, die noch vom großen Atem und Pathos der Revolution getragen wurde

Dies wurde erst anders, als der ersten zaristischen Agrarkolonisation, welche nur die Möglichkeiten am Grenzsaum abtastete, die zweite Kolonisation als Industrialisierung folgte. Die Verbindung von Uralerz und Kusnezkohle über 2 200 km zum Ural-Kusnezker-Kombinat im ersten Fünfjahresplan (1928 bis 1933) berührte Kasachstan nur am Nord-rand. Die Umorientierung des Kombinats auf die 1 000 km nähere Kohle von Karaganda traf Kasachstan jedoch ins Herz. Der Bau der Turksib-Bahn vom Kusbas nach Alma-Ata, der Nord-Süd-Verbindung Petropawlowsk — Karaganda — Balchaschsee — Alma-Ata mit ihrer Abzweigung zum Kupfer Dscheskasgans, der Westtangente Orenburg — Taschkent, der Südsib Magnitogorsk — Akmolinsk (Zelinograd) — Pawlodar — Barnaul und einer weiteren Parallelstrecke zwischen Transsib und Südsib erschloß den Norden Kasachstans durch ein Maschennetz von Bahnen, welchen (wie bei der Transsib) Siedlungsverdichtung folgte 28). Im Zweiten Weltkrieg verstärkte sich die Industrialisierung durch die Verlagerung kriegs-bedrohter Betriebe aus dem Westen und damit der Zuzug von Russen, Ukrainern und zwangsumgesiedelten Rußlanddeutschen So werden die Berechnungen verständlich, die allerorts zum Nachweis der Russifizierung Kasachstans angestellt werden. Während nach der Volkszählung von 1926 3 968 000 Kasachen registriert wurden, waren es 1939 3, 1 Millionen, obwohl parallel zur Gesamtentwicklung der Bevölkerungszahlen in der Sowjetunion 4, 6 Millionen zu erwarten gewesen wären Cole und German weisen laut Prawdameldüng vom 4. 2. 1960 gar nur noch 2 755 000 Kasachen innerhalb der Kasachischen Republik nach, deren Einwohnerzahl bis zu diesem Datum auf 9 310 000 geklettert war. Somit sind nur noch 30 °/o der Einwohner der Kasachischen SSR Kasachen Insgesamt gab es in der ganzen Sowjetunion 1959 3, 622 Mill.

Kasachen. Das gleiche hatten wir bei der Erörterung der Tolstojschen Erzählung in der Baschkirischen ASSR gesehen.

Zur ersten zaristischen Agrarkolonisation und der eben umrissenen zweiten, jetzt industriellen Kolonisation, trat als dritte Kolonisten-welle im Gefolge der Rede Chruschtschows vor dem Zentralkomitee der KPdSU Ende Februar 1954 die Zelinabewegung (zelyj = unversehrt), das große Neulandprogramm.

Es ist in keiner Weise mit sonst üblichen Kolonisationsvorgängen zu vergleichen, Mehnert findet allenfalls das Beispiel einer großen militärischen Aktion zur Verdeutlichung angebracht: „Die ganze Aktion jenes Jahres (1954) läßt sich hinsichtlich des Einsatzes von Menschen und des Transportes dieser Massen und der für sie notwendigen Maschinen nur mit einer Kriegshandlung großen Stils vergleichen, etwa der Normandie-Invasion der Alliierten zehn Jahre zuvor. Es war eine der umfangreichsten Aktionen, welche die Sowjetregierung je unternommen hat, die größte nach Stalins Tod." 33)

Solche Vergleiche könnten pädagogisch fruchtbar sein, wenn sie dem Vorstellungsvermögen mehr sagen als bloße Zahlen. Leimbach schildert noch eindrucksvoller einen Vorläufer solch einer Massenmobilmachung beim Bau des Großen Fergana-Kanals: „Am 1. August 1939 stürzten

Solche Vergleiche könnten pädagogisch fruchtbar sein, wenn sie dem Vorstellungsvermögen mehr sagen als bloße Zahlen. Leimbach schildert noch eindrucksvoller einen Vorläufer solch einer Massenmobilmachung beim Bau des Großen Fergana-Kanals: „Am 1. August 1939 stürzten sich 160 000 Kolchosniks auf die Kanaltrasse, und in 45 Tagen wurden 16 Millionen m 3 Erdarbeiten ausgeführt, d. h. ein Sechstel der Erdarbeiten des Suezkanals."

Aber selbst der Bau des Fergana-Kanals, der mit Methoden erfolgte, die K. A. Wittfogel als typisch für den Agrardespotismus einer „hydraulischen Gesellschaft" darstellt, ist nur ein Zwerg gegenüber der Zelinabewegung. Vor die Alternative gestellt, entweder die traditionellen Agrargebiete der Sowjetunion zu intensivieren — (was O. Schiller für risikoloser 32 hält — oder Neuland zu kolonisieren, hat man sich für den zweiten Weg entschieden, der den dringend nötigen Sofort-Erfolg verbürgte und mit dem gleichzeitig gesellschaftliche, politische, ja anthropologische Ziele erreicht werden können, die später noch zu erörtern sein werden. Zwar griff die Neulandbewegung auch in anderen Teilen der Sowjetunion um sich’ so in der Ukraine, im Nordkaukasus, im östlichen Teil des Wolgagebietes, in Südsibirien bis zum Altaigebiet und im Fernen Osten. Doch lag der Schwerpunkt in Kasachstan, weil hier auch im Zwischenland zwischen den Bevölkerungsagglomerationen des Ural und des Kusbas (vgl. die Karte der Bevölkerungsverteilung) besondere Versorgungsprobleme auftraten, die nur ein nahegelegener Produzent meistern konnte. Die Transportspanne für Massen-güter ist in der Sowjetunion unverhältnismäßig hoch (im Durchschnitt 766 Eisenbahn-kilometer). Karger weist auf diese Sonderstellung Kasachstans mit eindrucksvollen Zahlen hin 38):

„Während der Umfang des Ackerlandes in der SU von 1953 bis 1960 um 42 Mill, ha auf 203 Mill, ha, d. h. um 26 Prozent wuchs, stieg er allein in Kasachstan von 9, 7 auf 28, 6 Mill, ha, also auf das Dreifache. Die Neulandgebiete Kasachstans sind vor allem die Steppengebiete, die an den südlichen Ural, das südliche Westsibirien und den Altai grenzen, d. h. die vorwiegend slawisch besiedelten Ackerbaugebiete mit einer zwar absolut geringen (5, 2 Einw. /qkm) aber doch überdurchschnittlichen Siedlungsdichte: die Verwaltungsbezirke von Kustanaj, Nordkasachstan (Petropawlowsk), Koktschetaw, Zelinograd („Neulandstadt", bis 1961 Akmolinsk) und Pawlodar. Allein in diesen Gebieten sind in den Jahren zwischen 1954 und 1960 17 Mill, ha Neuland unter den Pflug genommen und etwa ein Zehntel der gesamten sowjetischen Getreideernte — vorwiegend Sommerweizen — eingebracht worden . . . Für die Zeit von 1954 bis 1960 wird für die ganze SU eine Steigerung der Getreideerzeugnisse durch die Neulandaktion um 40 Prozent angegeben." Der Rückschlag wurde auf diesen Grenzböden am Rand der Ökumene als Risiko wohl einkalkuliert, aber vielleicht zu niedrig angesetzt. Die Neulandgebiete in den Steppen Kasachstans erhalten zwischen 200 und 300 mm Niederschlag im Jahr, doch gerade nicht während der Hauptvegetationsperiode. Tiefe Temperaturen und eine nur geringe Schneedeckenmächtigkeit lassen nur den Anbau von Sommerweizen zu, da Winter-37 weizen zu große Auswinterungsschäden erleiden würde. Deshalb ist die Bodenfeuchtigkeit im jäh hereinbrechenden Frühjahr vonnöten, wenn in einer hektischen Arbeitsanstrengung die „Schlacht der Frühjahrsbestellung" geschlagen, d. h. die Aussaat vorgenommen wird. Das Auflaufen der Saaten muß gewährleistet sein, bevor die trockene Hitze des Sommers, der Staubsturm (Suchowej), die Halme verbrennt Der rapide Umschlag des Wetters vom Winter zum Frühjahr („Tauwetter") und vom Herbst zum Winter („Väterchen Frost") ist ein Charakteristikum des kontinentalen Klimagangs, bewirkt Arbeitsengpässe in der Landwirtschaft der SU und erklärt die militante Hektik ihres Ablaufs. Dem Hinüberretten der Feuchtigkeit aus der vegetationslosen Periode in die Wachstumszeit gelten zahlreiche, z. T.fragwürdige ackerbautechnische Maßnahmen: Anpflanzen von Hecken, in deren Windschatten der leicht verwehbare Schnee sich ansammeln soll, um langsamer abzutauen und die Durchfeuchtungszeit zu verlängern, Zusammenschieben des Schnees zu Wällen, wo die Hecken noch fehlen usw. Auch scheint der als rückständig verspottete einfache Hakenpflug aus der vorrevolutionären Epoche, der den Boden nur zur Aussaat aufritzte und ihm die Bodenfeuchtigkeit erhielt, gerade wegen seiner Primitivität besser für diese Böden geeignet zu sein, als der zunächst propagierte Wendepflug, der die Scholle zu tief umbricht und sie den austrocknenden Winden öffnet. Die in der Ukraine bewährten Methoden versagen im klimatisch anders strukturierten Neuland Kasachstans. Das zeigen die von Galina Pospelowa angeführten Bruttoertragszahlen der Getreidekulturen in der Ukraine gegenüber Kasachstan sehr deutlich, wobei bemerkenswert ist, daß Kasachstan heute in der Getreideanbaufläche die „Kornkammer" der Ukraine bereits übertrifft

1913 1940 1953 1956 1957 1958 1959 Ukraine:

9, 3 8, 0 10, 8 12, 1 14, 8 17, 1 15, 8 dz/ha Kasachstan:

5, 5 4, 3 7, 7 10, 6 4, 6 9, 4 8, 7 (I)

Während also die Ernteergebnisse in der Ukraine relativ konstant ansteigen, wirken sich in Kasachstan die Dürrejähre viel katastrophaler aus. Den guten Jahren 1958 und 1959, die Chruschtschow Auftrieb gaben, stehen spektakuläre Rückschläge 1955, 1957 und 1963 gegenüber, die ihn seinen Gegenspielern in den Partei-und Wirtschaftsgremien gegenüber ins Unrecht setzen.

Interessant ist ein Blick auf Vergleichszahlen anderer Anbauländer. So erntet man mit ähnlich extensiven Methoden wie in der SU in den USA bei an sich großen Unterschieden in den einzelnen Landschaften im Durchschnitt 11, 6, in Kanada 16, 2 — jedoch in Ländern mit intensiverem Getreidebau wie Frankreich 21, 3 in der Bundesrepublik 26, 1 und in Dänemark gar 39, 8 dz/ha.

Die Betriebsform, in der die Neulandkolonisation vorangetrieben wurde, ist etwa je zur Hälfte die des Kolchos und des Sowchos, nur sind die Dimensionen gegenüber dem Altsiedelland sehr gewachsen. Es stehen ihnen durchschnittlich je 11 000 ha Aussaatfläche statt des sowjetischen Durchschnittes von 2 750 ha Aussaatfläche zur Verfügung. Im Zusammenhang unserer Darlegungen läßt sich keine Diskussion über Berechtigung oder politisch-ideologischen Zwangscharakter der sowjetischen landwirtschaftlichen Betriebssysteme führen. Doch scheinen gerade in den Trockengebieten der Steppenregionen die Großbetriebe jenseits aller ideologischen Fixierung die sinnvollste Antwort des Menschen auf die Herausforderung der Natur, auf Raumweite und Menschen-armut zu sein. Die Spekulationen der menschlichen Gruppen zur Existenzsicherung führen auch in den USA, in Kanada oder in den Pampas Südamerikas zu vergleichbaren hochtechnisierten Nutzungsformen, so daß sich das Bild der Agrarlandschaft oft zum Verwechseln ähnelt, ob nun sowjetische Traktoristen und Mechanisatoren oder nordamerikanische tarmhands die scheinwerferbestückten Mähdrescher auf den Riesenfeldern lenken. Wenn die geschilderten Räume bestimmte Betriebssysteme, wie u. a. auch das der Großkolchosen oder -Sowchosen, zur sinnvollen Nutzung voraussetzen, so sollte man diese wenigstens innerhalb der charakterisierten Räume nicht so sehr als rein ideologisch bedingten Ausfluß politischen Willens der Machthaber werten, wie dies in der Diskussion so oft geschieht. Die Kollektivierung geschah ja von Anfang an auch der Bereitstellung von Arbeitermassen für den Industrialisierungsprozeß wegen, der effektiveren Einplanung menschlicher Arbeitskraft in eine volkswirtschaftliche Gesamtrech-nung, um einer Kapitalakkumulation willen, wie sie Hans Raupach mehrfach geschildert hat. , . . . Zweckrationales Verhalten bei der Herstellung eines ökonomischen Optimums. . ., die Sowjetwirtschaft als ein Gesamtoikos, der . . . die als raumadäquat bezeichneten vorhandenen Betriebsformen zum allgemeinen verbindlichen Leittyp erklärte. Dies geschah um der politischen Systemeinheit willen auch dort, wo der dekretierte Großbetrieb den Bedingungen des Milieus widersprach."

Erst aus dieser schablonenhaften Übertragung des für die asiatischen Weiten raumadäquaten Betriebssystems in ganz anders strukturierte Räume sogar Mitteleuropas läßt sich berechtigte Kritik ableiten, nicht aus der Entwicklung des Betriebssystems am Ort seiner optimalen Wirksamkeit: auf „Grenzböden" weit entfernt von den „Wohlstandsmetropolen" (Raupach). Scheint der technisierte Großbetrieb in diesen Gegenden wie in den USA westlich des 90. Längengrads auch der „raumadäquateste“ zu sein, so ist doch hier wie dort die Bodenzerstörung eine seiner Folgen. Die Großflächigkeit der Felder, die Einseitigkeit der Getreide-Monokultur (mehrere Jahre hindurch Weizen auf Weizen als Fruchtfolge), das Fehlen von Zwischenfrüchten (Leguminosen, Hackfrüchten) oder Brache, hat daran einen gewichtigen Anteil. Die Erzeugung in den „Getreidefabriken“ ist nicht flexibel genug, die Zelinniki kommen aus anderen Berufen und sind zu wenig Bauern, um ohne Anleitung den Sinn einer geregelten Fruchtfolge zu erkennen. Die Landwirtschaft des in so überaus kurzer Zeit neu umgebrochenen Steppenstreifens kann auch in ihren Ergänzungs-und Ausgleichsfunktionen nicht so schnell durchorganisiert werden, daß für alle bodenpflegerisch nötigen Zwischenkulturen bereits Verwendung und Weiterverarbeitung gesichert wäre. Gegen eine fünf bis siebenjährige Brache, wie sie früher auf drei bis vier Jahre Getreidebau folgte, um das biologische Gleichgewicht des Bodens wieder herzustellen, wirken auferlegte oder in allzu optimistischer „Selbstverpflichtung" eingegangene Abgabe-soll-Quoten, hinter denen zuviel Fortschritts-gläubigkeit stand, die man sich aber herabzusetzen scheut. Der Zelinnik als Getreidebau-Industriearbeiter auf dem Lande (die ideolo-gischen und anthropologischen Seiten des Problems werden noch zu erörtern sein) ist mit dem Boden seines Großbetriebes längst nicht so vertraut wie der Kolchosnik der Ukraine oder gar der Individualbauer in der Bundesrepublik, der auf seinem Besitz jeden kleinsten Lageunterschied in ökologischer Hinsicht kennt und in Rechnung stellt. Dazu wäre er schon allein durch die Größe der . Betriebe gar nicht imstande, nennt doch Raupach Betriebsgrößen der Staatsgüter bis zu 50 000 ha und eine Lkw-Transport-Entfernung vom Mähdrescher zum Getreidesammelpunkt von durchschnittlich 110 km (Frankfurt — Würzburg!). Nun sind ausgedehnte Erosionsschäden auch auf seit langem unter Kultur befindlichem Land in Ruß-land nicht selten. Breburda nennt eindrucksvolle Beispiele:

„Im südlichen Teil des europäischen Rußland wurden im Jahr 1928 durch einen schwerer. Staubsturm auf einer Fläche von 40 Millionen Hektar sehr erhebliche Schäden verursacht, wobei nach russischer Schätzung 19 Millionen m 1 Flugstaub ausgeweht und in Gebieten Rumäniens und Polens abgelagert wurden. Im Jahr 1936 wurden im nördlichen Vorkaukasusgebiet 186 000 Hektar Ackerland durch Bodenverwehungen geschädigt. . . Im Frühjahr 1960 haben diese Schäden durch Staubstürme in weiten Gebieten der Südukraine eine erhebliche Zunahme erfahren. Russischen Berichten zufolge sind durch diese seit Jahrzehnten heftigsten Staubstürme im Frühjahr 1960 auf großen Flächen 5— 6 cm der für den Ackerbau wertvollen humosen Ackerkrume abgetragen worden. Die Verluste an humoser Bodensubstanz betrugen durchschnittlich 500— 600 m 3 pro Hektar, zuweilen wurde die gesamte, durch Bearbeitung aufgelockerte oberste Bodenschicht ab-geweht. . . “

Zur Gefährdung durch die sommerlichen Trokkenwinde kommt in Kasachstan die Störung des Wasserhaushalts nach dem Umbruch der dichten Steppengrasdecke: „Von einigen früheren Bächen und Flüssen sind nur noch zusammenhanglose Tümpel übriggeblieben. Der Wasserspiegel des Kaspi-Sees hat sich seit 1931 um 2 bis 2, 5 m gesenkt . . . Bodenanalysen haben ergeben, daß sich die Humusschicht des Bodens um 8 cm verringert hat . .. Der Karbonat-Anreicherungshorizont, der sich früher in einer Tiefe von 30 cm befand, ist heute bereits in 12 cm Bodentiefe anzutreffen.“

Das beste Heilmittel gegen die Versteppungsgefahr scheint in den großen Bewässerungs-Projekten gefunden zu sein, durch welche Wasser umgeleiteter Flüsse und artesischer Herkunft den Neulandböden zugeführt werden soll. Hier aber erhebt sich nach den drei Gefahren von Wind-Erosion, Abtrag der ungeschützten Bodenkrume durch gelegentliche Starkregen und allgemeiner Austrocknung die vierte der Bodenversalzung, da durch Bewässerung und stärkere Verdunstung die in den Einwaschungshorizonten konzentrierten Salzanreicherungen reaktiviert werden. Welche Bedeutung die Bodenkunde als ein Zweig angewandter Geographie für die Beurteilung wichtiger „politökonomischer" Vorgänge hat, dürfte inzwischen aus dem Angeführten zu erkennen gewesen sein. Nicht um der Vollständigkeit eines Systems Allgemeiner Geographie willen gehören ihre Ergebnisse (nicht ihre detaillierten Forschungsmethoden!) deshalb in das Bildungsfeld der „Politischen Weltkunde", sondern weil hier ein zentrales, politisch sehr bedeutsames Phänomen nicht ohne die Hilfe der Bodenkunde geklärt werden kann. Nicht ein „Fach” begehrt aus bildungspolitischen Überlegungen seine Hereinnahme in einen Themenkanon, sondern ein Thema, an dessen Bildungsrelevanz niemand zweifelt, erzwingt bei gewissenhafter Behandlung die Hereinnahme des bodenkundlichen Aspekts.

Der ideologische Aspekt Wir haben bisher, um die Arbeitsweise des Geographen und ihre Bedeutung für die Politische Bildung am Beispiel Kasachstans aufzuzeigen, die sieben „transparenten Deckpausen" von Bodenart, Klima, raumzeitlichem Erschließungsprozeß, der Bevölkerungsverteilung, Verkehrslinienführung, Nationalitäten-verbreitung und agrarischen Betriebssystemen übereinandergelegt. Der literarische „Mythos" vom Landhunger — bereits an früher Stelle in unseren Gedankengang eingefügt — sollte uns vor dem Irrtum bewahren, das Phänomen Kasachstan ausschließlich aus rationalen Faktoren des „Ökonomischen Unterbaus" erklären zu wollen. Wir müssen den „ideologischen überbau" genauso ernst nehmen und nach politischen, soziologischen, psychologischen und anthropologischen Leitideen fragen, die hinter dem raum-und systemspezifischen Kolonisationsprozeß in Kasachstan zu suchen sind.

Woher kommt das Pathos der Zelinabewegung, was sind die Zelinniki für Menschen? Ihre Altersgenossen bei uns im Westen sind unsere Primaner, Jungarbeiter und Studenten. Können wir diesen die Möglichkeit geben, sich in einen Zelinnik hineinzuversetzen, ihn als Menschen zu verstehen? Literarische Quellen können uns dabei helfen, denn selbstverständlich befaßt sich ein Teil der kommandierten Erbauungsliteratur des sozialistischen Realismus mit diesen Zelinniki. Dabei kommen auch die Gründe zur Sprache, weshalb sie in die Zelina aufgebrochen sind. Die offizielle Parole dürfte dabei lauten: „Wir folgten dem Appell der Partei und des Komsomol", dessen Aufbau-idealismus z. B. auch die Stadt Komsomolsk im Fernen Osten schuf. Es wäre sicher billig, das Moment der Freiwilligkeit in diesen permanenten, überdimensionalen „Pfadfinderlagern" (um es in den Worten unserer Jugend zu sagen) pauschal zu bagatellisieren. Doch schildern von Klaus Mehnert zitierte Schauspiele in der literarischen „Tauwetterperiode“ auch noch andere, viel persönlichere, für den „Westler" sogar begreiflichere Gründe für die Teilnahme einzelner an der Zelinabewegung:

„ ...der eine meldet sich, um einer gerichtlichen Anklage zu entgehen, der zweite aus Wut, weil seine Freundin nicht zum versprochenen Rendezvous gekommen ist, und der dritte .. . aus allgemeiner Unzufriedenheit mit sich und der Welt." Aber es erscheint Mehnert falsch, die Frage lediglich nach den Motiven für den „Aufbruch ins Neuland" zu stellen, zu rätseln, ob die Gerüchte zutreffen, „. . . die von der Abkommandierung ganzer Abschlußklassen gewisser Schulen wissen wollen". Freiwillige Selbstverpflichtung ist uns aus eigener Vergangenheit nichts Unbekanntes. Auch nach Amerika gingen die Armen, die Waisen, die Verbrecher, die Abenteurer und Landsknechte, die in Europa Chancenlosen — darunter aber auch solche, die ihre Chance erzwingen wollten, Mutige und Lebenstüchtige.

Hätten manche Zelinniki gewußt, was sie erwartete, so wären viele sicher nicht gegangen.

Volkswirtschaftlich war die Spekulation am Rande der Nutzungsmöglichkeiten ohnedies ein großes Wagnis. Die gleichen Investitionen in Europa vollbracht, hätten manche Engpässe der Ernährung beseitigen können. Aber dort waren sie nicht möglich. Also schickte man die jungen Leute in die Zelina, vielleicht nur auf Zeit, bis die neue Kulturgrenze sich aus Erfolgen und Rückschlägen eingependelt haben würde, vielleicht für immer. Mehnert hält es für wichtiger, statt nach den Gründen nach der Leistung zu fragen, die diese wie auch immer rekrutierten Jugendlichen auf den Feldern der Zelina vollbracht haben und zwar schon allein im bloßen Ertragen des Klimas. „Am 14. März 1954 kamen . . (von ihm befragte junge Russen) „mit der ersten Gruppe von Arbeitskräften für den neu vorgesehenen Sowchos an. Auf freiem Felde wurden sie aus der Bahn ausgeladen. Auf Schlitten, die von Traktoren geschleppt wurden, schaffte man sie durch tiefen Schnee nach Pawlowsk, in den Ort, welcher dem geplanten Sowchos am nächsten lag. Dort wurden sie notdürftig untergebracht. ... Als der Schnee geschmolzen war, errichtete man Zelte. Die meisten kamen aus Moskau und aus dem Ural. Alle waren sie Stadtbevölkerung, die große Mehrzahl Fabrikarbeiter, die noch nie auf dem Lande gearbeitet hatten .. . * Typisch ist in den folgenden Wendungen das große Vertrauen in die Macht des Intellekts, der Schulung, der Theorie, des Fortschritts-optimismus und die Faszination durch die Technik:

„Die Zelinniki begannen mit theoretischem Unterricht über die ihnen bevorstehende Arbeit. Acht Stunden am Tag. Dann wurden die ersten Maschinen geliefert. Für die Fabrikarbeiter waren Maschinen nichts Neues; während sie sie montierten, lernten sie mehr über sie und ihre Bedienung. , Der hohe Grad der Mechanisierung unserer Arbeit', sagte der Direktor, . erleichterte uns den Einsatz von jungen Leuten aus der Stadt für die Landwirtschaft.'In den letzten Apriltagen 1954 begann die Feldbestellung; dem Sowchos waren zwanzigtausend Hektar zugemessen worden, die noch nie ein Pflug berührt hatte." Zwanzigtausend Hektar: diese Fläche entspräche ungefähr der Gesamtfläche (also nicht nur dem Ackerland) von rund 20 süddeutschen Dörfern mit einer, wenn auch nicht rein agrarischen Bevölkerung von 10 000— 15 000 Menschen. Diese Arbeit wurde aber auf dem Sowchos von nur siebenhundertsechzig Arbeits34 kräften geleistet, von denen hundertfünfzig zudem mit Bauarbeiten beschäftigt waren. Sie konnte nur durch umfassende Mechanisierung aller Arbeitsvorgänge bewirkt werden, was einen großen Maschinen-und damit Kapitalstrom in die Neulandgebiete lenkte. Weil diese Maschinen z. T.den klimatisch-bodenkundlichen Voraussetzungen nicht entsprechen, wird ein nochmaliger Kapitalstrom in die Neulandgebiete nötig sein, welcher Produktionskapazitäten bindet, die ursprünglich bereits dem Aufbau des „Wohlstandskommunismus" und dem Wettstreit mit den USA dienen sollten.

Wir sind bei unseren Darlegungen an einer Stelle angelangt, an der die Problematik sowjetischer Lebensformen in ihrer unauflöslichen Mischung geographischer, historischer, psychologischer, politischer und ideologischer Momente wie in einem Brennglas vereinigt erscheint und an der deutlich wird, daß zureichende Aussagen darüber nur von jenem gemacht werden können, der für die Inwert-Setzung von Grenzböden nicht nur seine Bodenkunde studiert, sondern auch seinen Marx gelesen haben muß. Wie sagte der Direktor in dem kasachstanischen Sowchos auf der Zelina? „Der hohe Grad der Mechanisierung unserer Arbeit erleichterte den Einsatz junger Leute aus der Stadt für die Landwirtschaft." Interpretieren wir diese harmlos klingende Textstelle und greifen wir dabei die Wörter „Mechanisierung", „junge Leuteaus der Stadt" und „Landwirtschaft" heraus. Zur Erläuterung benötigen wir eine Stelle aus den Früh-schrillen von Karl Marx, wo es in der „Deutschen Ideologie" heißt:

„Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten, ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will — während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe. Dieses Sich-Festsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unseres eigenen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt, unsere Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptelemente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung."

Legen wir diese tiefen Gedanken des jungen Marx über die Einheit und Würde der Person und die Entfremdung des Menschen als Maßstab an das Leitbild des Zelinnik. Äußerlich und scheinbar haben jene jungen Menschen, welche — die Theorie des Ackerbaus studierend — qualifizierte Techniker sind, an einer Drehbank stehen, einen Mähdrescher bedienen, einen Raupenschlepper (und damit einen diesem nahe verwandten Panzer) fahren können, eine „Annäherung" an das Marxsche Leitbild vollzogen. Die Einheit von Theorie und Praxis, geistiger und handwerklicher Tätigkeit, die Überwindung des Unterschiedes von Stadt und Land, von industrieller und bäuerlicher Arbeit (ein ideologisches Hauptproblem der Kollektivierung der Landwirtschaft, bei der wir Geographen häufig nur die wirtschaftsgeographische und betriebstechnische Seite sehen), schließlich die Schaffung eines Proletariats im ehemals agrarfeudalen, revolutionsuntüchtigen Rußland, scheint in dem jungen sowjetischen Traktoristen erreicht zu sein. Er ist Industriearbeiter auf dem Felde, dazu noch einer mit besonders hohem Sozialprestige.

Das ist übrigens ein Prozeß, der auch zum Selbstverständnis unserer eigenen, aus dem Bauernstand kommenden Jugend beitragen kann. Auch in der Bundesrepublik kann mancher Bauer den Hoferben nur dadurch vom Berufswechsel und der Abwanderung vom Dorfe in die Industrie abhalten, wenn er ihm den Traktor, die Technisierung des Betriebes verspricht, oft über dessen finanzielle Tragfähigkeit hinaus, wenn es sich um Grenzbetriebe handelt. Auch in der Bundesrepublik bekommt der Forstmeister erst wieder dann Waldarbeiter, wenn er ihnen ein faszinierendes technisches Werkzeug in die Hand gibt, das die menschliche Kraft vervielfacht und das Selbstwertgefühl steigert. Die Begegnung mit der Technik ist hier wie dort ein anthropologisches Problem.

Aber: die vom jungen Marx um der Vielseitigkeit und Erfülltheit der menschlichen Person willen geforderte Überwindung der Isolierung der menschlichen Fähigkeiten ist beim Zelinnik wahrscheinlich weniger um des Menschen willen und aus einem humanen Antrieb heraus erfolgt, sondern um der allseitigen Verfügbarkeit und Einplanbarkeit des Menschen willen. Hierbei erscheint die „Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit" allenfalls als ein Beiprodukt. Ähnliche Zweideutigkeit ist sicher auch hinter einigen Erscheinungsformen der „Polytechnischen Bildung" zu suchen.

So entsteht aus der Korrelation unserer transparenten Deckpausen von Bodentyp, Klima, Bevölkerungsdichte, Nationalitätenverbreitung, Verkehrslinienführung, Siedlungsformen und Betriebstypen mit den Auswirkungen ideologischer Formungsprozesse, technologischer Erziehungsmaßnahmen und sozialpsychologischer Prägungen das Bild eines eigentümlichen raum-und systemspezifischen Kolonisationsprozesses von großer dynamischer Kraft und landschaftsprägender Geschlossenheit. Endergebnis dieses Prozesses ist ein „Raum gleichen sozialgeographischen Verhaltens“ (Hartke). Aber auch hier dürfen wir unsere Überlegungen noch nicht abbrechen.

Der anthropologische Aspekt Am Anfang unserer Betrachtungen hatte der Tolstojsche literarische „Mythos" vom Land-hunger gestanden, der in der Enge des zaristischen Rußland als Antriebsmotor für den Landnahmeprozeß ausgereicht haben mag. Missionarische Motive des orthodoxen Moskowiter-reiches mögen gegenüber den Heiden des sibirischen Waldlandes und den Mohammedanern der mittelasiatischen Steppen hinzugekommen sein. Inzwischen haben sich die Stilelemente des Kolonisierungsprozesses um weitere vermehrt: die technische Interessiertheit der Jugend strahlt hierbei Impulse aus, die enge Verzahnung zwischen moderner sowjetischer Naturwissenschaft und Dialektischem Materialismus läßt die „Großplanungen zur Umgestaltung der Natur“ als philosophisch induzierte Riesenexperimente mit prometheischer Zielsetzung erscheinen. Hier sei noch einmal Klaus Mehnert zitiert: „ . . . bei den jungen Leuten in der Sowjetunion ist es nicht nur das technische Interesse, das dem Besucher auffällt, es ist: technisches Interesse plus etwas, plus eine gewisse Dynamik, plus einen besonderen Schwung. ... die Dynamik der russischen Jugend von heute, die sich von der in der Zeit des ersten Fünfjahrsplans oder gar der der Revolutionszeit von 1917 beträchtlich unterscheidet, ... (stammt) ... nicht aus der Politik ..., nicht aus der Ideologie, ... es handelt sich vielmehr um eine Form von Aufbau-Dynamik ..., wie sie bei manchen Völkern in Jahren (oder Jahrzehnten) einer starken Wirtschaftsexpansion, eines rapiden wirtschaftlichen Aufbaus festzustellen ist, bei den Amerikanern zum Beispiel in den Tagen, da sie ergriffen waren von dem unbezähmbaren Drang, den Westen ihres Landes, den wilden Westen, wie sie ihn nannten, zu bewältigen und zu erschließen. Die Dynamik jenes , Go West, young man'war in Amerika darum so stark, so unaufhaltsam, weil zwei Dinge zusammenkamen: die objektive Aufgabe der Erschließung eines riesigen, mit Bodenschätzen gesegneten Kontinents und der subjektive Drang des einzelnen (der ja eben erst als armer Immigrant aus der Enge Europas und aus der Not seiner eigenen sozialen Lage in die Neue Welt gekommen war), vorwärtszukommen und aufzusteigen." 48)

Erinnern wir uns daran, wie die amerikanische Nation noch heute aus dieser Geschichtsepoche ihre „Mythen", Bilder und Fetische bezieht und daß die Versteinerung und kommerzielle Handhabbarkeit dieses Mythos im „Wildwestfilm" andeutet, daß jene dynamischen Kräfte heute nicht mehr so ganz virulent sind, nicht mehr naiv im einzelnen wirksam werden, sondern daß man sie sentimentalisch im Zelluloid heraufbeschwören muß.

Der Expansionsprozeß des Vorschiebens der „frontier", der Zivilisationsgrenze gegen den Westen, erfüllte den Amerikaner jener Epoche mit dem Gefühl der „unbegrenzten Möglichkeiten", gab ihm den Glauben an seine Chance, flößte der jungen Demokratie Selbstbewußtsein gegenüber den alteuropäischen Mächten ein, in deren Konzert sie eine immer lauter werdende Stimme zu übernehmen begann. Kennedys „New Frontier" war eine Renaissance dieses Gefühls. Ähnlich fühlt und denkt auch die heutige junge Generation in der Sowjetunion. Der Terror des Stalinismus hat sich gelegt, die Weltraumfahrt-Erfolge berauschen und erhöhen das Selbstbewußtsein des Volkes, dessen offizielle Expansion unter zaristischer Flagge erfolgt war. Die Erschließung Sibiriens stellt sich einer unbeschwerte-ren Generation als große Aufgabe. Sibirien war den deportierten Revolutionären gut bekannt, Lenin und Stalin hatten dort geweilt, die Möglichkeiten dieser größten zusammenhängenden Landmasse der Welt erkannt. Sibirien war, besonders bei Bakunin, das „Land der Hoffnung“. Wenn spanische Könige nach der Entdeckung Amerikas von sich behaupten konnten, daß die Sonne nicht in ihrem Reiche unterginge, so mußten sie dafür immerhin mehrere Kontinente bemühen. Die Sowjetunion erfüllt die gleichen Bedingungen innerhalb zusammenhängender Staatsgrenzen, deren Extrempunkte 170 Längengrade, d. h. elfeinhalb Zeitstunden, voneinander entfernt sind. Der Sprung über den Atlantik bringt demgegenüber nur 51/2 Stunden Zeitunterschied ein.

Sich in solchen Dimensionen einrichten zu müssen — und zu können, wird sicher nicht ohne Wirkungen auf das Lebensgefühl der sowjetischen Jugend bleiben, der sportliche Erfolge bei allen Wettkämpfen und technische bei der Erschließung des Weltraums Auftrieb geben. In Sibirien hatte man schon zur Zarenzeit größere Entfaltungsmöglichkeiten und stärkeres Selbstvertrauen, selbst wenn die Natur dem Sibirjak nur barbarische Lebensbedingungen anbot. An der Schwelle des atomaren und planetarischen Zeitalters befindet sich der junge Sowjetbürger trotz seiner totalitären Hypothek in einer ähnlichen objektiven Ausgangslage, wie der amerikanische Pionier ein Jahrhundert früher. Mit einer Einschränkung: „Der Schwung ist heute in der Sowjetunion in erster Linie bei denen festzustellen, die sich als Hausherrn im Sowjetstaat fühlen, nämlich bei den Großrussen, sehr viel weniger bei den zahlreichen nicht-russischen Völkerschaften, welche die Sowjetunion bewohnen; und noch weniger in den von Moskau beherrschten osteuropäischen Staaten, bei denen das Gefühl des großen zu bewältigenden Raumes nicht besteht, weil sie diesen Raum nicht besitzen, weil sie eben nur Satelliten sind. Kein Volk kann die Dynamik eines anderen borgen." (Mehnert)

Diese Formulierung liest sich einleuchtend und zündend. Doch müssen wir sie wohl ein wenig genauer spezifizieren, denn auch in Polen, in Jugoslawien spürt der Besucher „Dynamik", vielleicht von einer anderen Art. Geht sie vom Gefühl für den „Raum" oder von den ihn bewohnenden und bewertenden Menschengruppen aus? Mehnert meint sicher nicht einen „Raumzwang" im Sinne einer Organismus-theorie deterministisch und geomaterialistisch argumentierender Geopolitik. Die Weite des Raumes wird vielmehr wirksam, wenn und wo und soweit sie in die Überlegungen, Hoffnungen und „Spekulationen zur Existenzsicherung der menschlichen Gruppen" (Hartke) einbezogen wird. Geofaktoren, wie Raumlage und -weite, sind keine fixen Faktoren (ebenso-wenig wie die Ausstattung eines Raumes mit physischen „Gegebenheiten"). Ihre Bedeutung wandelt sich (z. B. schon mit jedem neuen Verkehrsmittel, mit jedem neuen Fernraketen-typ!). Sie werden in jeder historischen Situation von den gesellschaftlichen Gruppen mit ihrem zeitweiligen objektiven, oder auch nur mit einem vorgestellten Kurswert neu in die Rechnung eingesetzt. Diese Rechnung geht in Kasachstan anders auf als in Polen, Ungarn oder der anderen Hälfte Deutschlands.

Hier kommt endlich das zentralste Problem der modernen Geographie und die Stellung des Faches in der Politischen Weltkunde zur Sprache. Wir müssen deshalb das Beispiel Kasachstan, an dem die Arbeitsweise des Geographen und ihre Bedeutung für die politische Bildung aufgezeigt werden sollte, wieder verlassen, um eine Antwort der Geographie auf eine dringende Frage der Bildungstheoretiker zu suchen.

Die Geographie: Wissens-oder Bildungsfach? Bei jeder Diskussion von Geographen mit Bildungstheoretikern oder Historikerkollegen wird die Frage nach dem Bildungswert der Geographie gestellt und häufig von den Nicht-geographen dahingehend abschlägig beschieden daß in der Geographie unveränderliche Naturfaktoren die größte Rolle spielten, die man einmal in seinem Leben zur Kenntnis nehmen müsse (Informationswissen, Sache der Mittelstufe), die aber damit auch erledigt seien und nicht zum Bildungswissen gehörten

Eine solche Argumentation — und mag sie von den integersten Persönlichkeiten unseres Geisteslebens kommen — führt unvermeidlich in gefährliche Nähe der Geopolitik, fast immer, ohne daß dies die so Argumentierenden wissen, geschweige denn wollen. Es wird uns Geographen angst vor einem „Gemeinschaftskundeunterricht“, in dem „die geographischen Aspekte" nur durch dieses (vorgestrige) Fakten-und Informationswissen über die „unveränderlichen Naturfaktoren" vertreten sind, mitgeteilt durch einen Nichtfachmann, der selbst beim besten Willen nur die „Ergebnisse", nie aber die Methoden vermitteln kann, durch die man zu diesen Ergebnissen gekommen ist und durch welche man vor allem an diesen „gesicherten Ergebnissen" zu zweifeln beginnt. Wie groß dieser Zweifel ist, soll zum Abschluß ein ausführliches Zitat aus berufenerem Munde zum Ausdruck bringen „Die Landschaft als Bezugsfläche aller geographischen Wissenschaften ist in ihren sich verändernden Teilen genetisch weitgehend das Nebenergebnis menschlichen Lebens und Handelns auf der Erde. Sie ist zwar nicht Selbstzweck oder gar Ziel des menschlichen Lebens. Sie ist auch nicht einfach nur Grundlage der Existenz des Menschen. Sie ist aber nicht ohne den Menschen als Gestalter und Betrachter denkbar. Sie ist in jedem Fall, auch in ihren Grenzen, Ergebnis menschlicher Wertung.

Zu diesem Leben der Menschen auf der Erde gehört das Hineingeborenwerden an eine bestimmte Stelle der Erde mit bestimmten physisch-geographischen Eigenschaften, aber auch in eine bestimmte Sozialgruppe. Damit gehört dazu auch das aus Gruppenzwang bestimmte Handeln aus bestimmten Erwägungen heraus. Das bewußt oder unbewußt motivierte Handeln kann den Spekulationen entsprechen oder nicht entsprechen. Es kann geglückt oder miß-glückt sein. Die Wurzeln dieser Prozesse sind nur sozialpsychologisch, gruppenpsychologisch zu fassen. Unsere Kenntnis dieser Wurzeln ist in vielem noch sehr lückenhaft. Die ursprünglich einseitig auf den Primitiven ausgerichtete Völkerkunde und die späte Entwicklung der Sozialwissenschaften, insbesondere auch der empirischen Sozialwissenschaften in dieser Richtung, erklären die Lücken.

Ein Teil dieser Arbeitsprozesse der Menschen auf der Erde schlägt sich in dem, was wir Landschaft oder auch enger Kulturlandschaft nennen, nieder. In diese Prozesse, in denen sich die menschliche Existenz auf der Erde abspielt, gehen schon im Stadium der Spekulation und der Motivation alle verfügbaren oder bekannten Geofaktoren mit ihren Eigenschaften ein. Sie nehmen aber in der Spekulation und Motivation nicht einfach irgendeinen Platz ein, der von irgendwelchen absoluten Eigenschaften bestimmt wird, wie sie etwa bei vielen physisch-geographischen Geotaktoren exakt naturwissenschaftlich nachweisbar sind. Die Rolle der Geofaktoren bei der Motivation wird vielmehr bestimmt von der jeweils gültigen Wertordnung der betreffenden sozialen Gruppen. Der Platz der Geotaktoren in dieser Wertordnung, ihre Eignung, kann daher bei objektiv unveränderten Eigenschaften praktisch u. U.sehr verschieden sein. Die zeitlich wie regional jeweils verschieden in die Spekulation der Sozialgruppen eingesetzten Eigenschaften können die „wirklichen", etwa naturwissenschaftlich nachgewiesenen sein, sie können aber ebenso, ganz oder teilweise, nur vorgestellte Eigenschaften sein. Sie büßen dadurch nichts an Realität für die die Landschaft prägenden Prozesse ein. Selbst die heute schon in ihren Eigenschaften eindeutig voll erfaßten Geofaktoren erhalten in den Lebensprozessen der sozialen Gruppen auf der Erde auf diese Weise ein sehr relatives Wertgewicht. Das erklärt, warum es nicht genügt, absolute Eigenschaften etwa exakt faßbarer Faktoren als

Strukturmerkmale mit ihrer Verbreitung erkannt zu haben, um auch ihre geographische Bedeutung zu verstehen.

Jeder durch eine derartige Spekulation ausgelöste Arbeits-und damit landschaftliche Prägeprozeß — mag die Spekulation nun glücken oder mißglücken — ist durch die Bindung an eine bestimmte Sozialgruppe auch regional begrenzt. Die Grenzen der Reichweite dieser sozialgruppenmäßig bestimmten Wertungsbereiche und die innerhalb dieser Bereiche einheitlich gesteuerten Arbeitsprozesse sind geographisch viel wesentlicher als die einfachen Verbreitungsgebiete von Strukturelementen. Nur ganz wenige Grenzen dürfte es auf der Erde geben, die für alle sozialen Gruppen gleichzeitig in gleicher Weise verbindlich sind."

Welche vermeintlich so leicht vermittelbaren „unveränderlichen Geofaktoren" ließen sich nach diesen Feststellungen Hartkes noch als „Informationswissen" einer „Kunde" harmlos weiterreichen? Ein letztes Mal zurück zu unserem Beispiel Kasachstan: Wer sich nur einseitig am historisch-politologischen und ideologisch-soziologischen „überbau" interessiert zeigt und den geographisch-materiellen „Unterbau" in seinem Wertwandel außer acht läßt, verfehlt eine Dimension jeder, vor allem aber der sowjetischen Wirklichkeit und wird aus der pauschalen Übertragung der uns am nächsten liegenden und am besten bekannten Zustände auf die Sowjetunion notgedrungen zu einer Fehleinschätzung kommen müssen. So beweist sich auch hieran die unbedingte Notwendigkeit einer Einbeziehung geographischen Wissens und Denkens in den Horizont des politisch Gebildeten. Diese jetzt so problematisch gewordene Dimension des Räumlichen verdient gerade am Testfall der Sowjetunion besondere Beachtung, darf aber auch bei keinem anderen Problem vernachlässigt werden. „Unendlich groß sind die Kosten geographischer Unwissenheit.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. M. Schwind, Kulturlandschaft als objektivierter Geist, Dt. Geogr. Blätter, Bd. 46/H. 1 1951, Bremen.

  2. W Hartke, Die Sozialbrache als Phänomen der geographischen Differenzierung der Landschaft, Erdkunde X, Bonn 1956, S. 268.

  3. R. Völkel, „Erdkunde heute", Frankfurt 1961 untersucht unter der Überschrift „Die Erdkunde als Testfall" die Haltung namhafter Bildungstheoretiker zu unserem Fach.

  4. W Czajka, Die Wissenschaftlichkeit der Politischen Geographie, Geogr. Taschenbuch 1960 61, S. 477

  5. Vgl. Geipel, Erdkunde, Sozialgeographie, Sozial-kunde, Frankfurt 1960, S 92 f.

  6. Nach Angabe der Zeitschrift DM.

  7. Wanda Kampmann, Was ist gemeint? Überlegungen zur Oberstufenreform, GWU Heft 6/19621 S. 361.

  8. La qeographie est-elle une science? Ann. d. Geographie 1948, S. 1 — 11

  9. Jahrhundert, Geogr. Zs.. 1898

  10. Vgl. Hans Findeisen, Völker und Kulturen Nordasiens, und Willy Schulz-Weidner, Der Schamanismus in Sibirien, beide Geogr. Rs. 1957/4.

  11. Vgl. G. Stökl, Entstehung und Entwicklung des Sowjetimperiums, in: Sowjetstudien Nr. 8, Feb 1960, S. 5— 18.

  12. Sibirien, Eroberung und Erschließung der wirtschaftlichen Schatzkammer des Ostens, Berlin 1954.

  13. Zitiert nach der Ausgabe Klassische Erzählungen Rußlands, Leipzig.

  14. Werner Leimbach, Die Sowjetunion, Stuttgart 1950, S. 142.

  15. Vgl. Herbert Wilhelmy, Das Alter der Schwarz-erde und der Steppen Mittel-und Osteuropas, Erdkunde Bd IV, 1950, S. 5 f.

  16. Josef Breburda in Ludat, Sowjetunion, Gießen 1962, S. 211.

  17. Die Sowjetliteratur, Leseproben, Berlin (Ost)

  18. Rußland unter Chruschtschow, München 1960, S. 33.

  19. Galina Pospelowa in: Ludat, Sowjetunion, Gießen 1962, S. 253.

  20. Adolf Karger, Neulanderschließung in der Sowjetunion, Geogr. Rs. 1958/1, S. 9 f.

  21. Adolf Karger, Neulanderschließung in der Sowjetunion, Geogr. Rs. 1958/1, S. 9 f.

  22. Herbert Schlenger, Geographische Schranken im Wirtschaftsaufbau der Sowjetunion, Erdkunde 1951.

  23. Kazachskaja SSSR, Ekonomiko-Geograficeskaja Charakteristika, Moskau 1957.

  24. Kazachskaja SSSR, Ekonomiko-Geograficeskaja Charakteristika, Moskau 1957.

  25. Vgl A Kargers Darstellung in seinem Artikel „Sowjetunion" in der „Großen illustrierten Länderkunde", Gütersloh 1963, S 686.

  26. Vgl N N Baranski, Die ökonomische Geographie der UdSSR, Berlin (Ost) 1957, Abb. 177, S. 386.

  27. Vgl dazu Isaac Deutscher, Stalin, Stuttgart 1962, S. 200 ff.

  28. Walter Kolarz, Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion, Frankfurt 1956 Rußland und seine asiatischen Völker, Frankfurt 1956

  29. Vgl. dazu Wolfgang Leonhard, Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln-Berlin 1955, S. 135 ff.

  30. Vgl Mehnert a. a. O., S 177.

  31. “ A Geography of the USSR", London 1961, S. 57.

  32. “ A Geography of the USSR", London 1961, S. 57.

  33. Ergebnisse der amtlichen Volkszählung vom 15. 1 1959: Kasachische SSSR 9, 310 Mill. Einwohner, davon 2, 795 Mill. Kasachen (30, 0 °/o), 3, 794 Mill. Russen (42, 7 °/o), 0, 762 Mill. Ukrainer (8, 2 %), 192000 Tataren (2, 1 °/o), 137000 Usbeken (1, 5%) usw.

  34. A. a. O., S. 177 f.

  35. A. a. O., S. 252.

  36. Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie, Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Köln-Berlin 1962.

  37. Otto Schiller, Das Agrarsystem der Sowjetunion, Tübingen 1960.

  38. Galina Pospelowa a. a. O., S. 249. 38) Adolf Karger a. a. O., S. 690.

  39. Herbert Schlenger, a. a. O., S. 209, verweist auf me kritische Schranke von 30 °/o rel. Feuchte für den Pflanzenwuchs.

  40. A. a. O., S. 252, Tabelle.

  41. Wolfgang Hartke, Die Sozialbrache als Phänomen der geographischen Differenzierung der Landschaft, Erdkunde X, Bonn 1956, S. 268.

  42. Hans Raupach, Die Sowjetwirtschaft als historisches Phänomen, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1962/1, S. 14. Ders Die Agrarsysteme in Ost und West als Grundlage der sozialökonomischen Verhältnisse, Gegenwartskunde Heft 1/1963, S. 11 ff

  43. Adolf Karger, Die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Ostblockstaaten, Geogr. Rs. 1960/6

  44. Hans Raupach (2) a. a. O., S. 12.

  45. Josef Breburda in Ludat, a. a. O., S. 213 f., 219

  46. Hier und im folgenden vgl. Mehnert a. a. O., S. 180 ff.

  47. Kar) Marx, Frühschriften, S. 361 f.

  48. Vgl. Vers., Erdkunde, Sozialgeographie, Sozial-kunde, Frankfurt 1960.

  49. Rudolf Völkel, Erdkunde heute, Frankfurt 1961.

  50. Wolfgang Hartke, Gedanken über die Bestimmung von Räumen gleichen sozialgeographischen Verhaltens, Erdkunde, Band XIII, Bonn 1959, S. 426 f.

Weitere Inhalte

Robert Geipel, Dr. phil., a. o. Professor für Didaktik der Geographie, Direktor des Seminars für Didaktik der Geographie, Hochschule für Erziehung an der Universität Frankfurt. Geboren am 1. 2. 1929 in Karlsbad. Veröffentlichungen u. a. in „Geogr. Rundschau“, „Gesellschaft — Staat — Erziehung", Forsch, z. dt. Landeskunde, Rhein-Mainische Forschungen, zuletzt „Erdkunde, Sozialgeographie, Sozialkunde", Frankfurt 1960.