Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Staatsidee und staatliche Wirklichkeit heute. Staat und Gesellschaft | APuZ 16/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 16/1964 Staatsidee und staatliche Wirklichkeit heute. Staat und Gesellschaft Recht und Politik

Staatsidee und staatliche Wirklichkeit heute. Staat und Gesellschaft

Kurt Sontheimer

Die Suche nach der Staatsidee im modernen demokratischen Staat wird, zumindest bei uns in Deutschland, in der Regel aus dem Bewußtsein eines Verlustes motiviert. Der traditionelle Staatsbegriff, demzufolge der Staat als eine über allen gesellschaftlichen Gruppen stehende, sie ordnende und gestaltende souveräne Willensmacht, als autonomes Herrschaftssubjekt, als Garant der Sittlichkeit verstanden wurde, wird von unserer politischen Wirklichkeit heute nicht mehr bestätigt. Solange wir aber diese Wirklichkeit an dem Staatsbegriff alter Prägung messen, werden die Klagelieder über den an -Verlust Staatlich keit und über den Schwund staatlicher Substanz nicht verstummen.

Die traditionelle deutsche Staatsidee war auf den Gedanken der Einheit bezogen. Staatsgewalt muß einheitlich, ungebrochen, ohne Zersplitterung gedacht und gehandhabt werden. Der Staatswille bildet sich im Rahmen einer autoritären Herrschaftsstruktur, deren Sinnbild die Pyramide ist. Zu seiner Gestaltung dürfen nur die Träger öffentlicher Gewalt, also die unmittelbar zum Staat gehörigen Organe beitragen. Diese Staatsidee setzt notwendig die begriffliche und wesensmäßige Unterscheidung von Staat und Gesellschaft voraus. Der so gedachte Staat steht jenseits der Gesellschaft, die er innerhalb gesetzmäßig gezogener Grenzen ihrem freien Wirken überläßt. Es war die historische Leistung des Bürgertums gewesen, dem absoluten Staat diesen freien Aktionsraum gesellschaftlicher Betätigung abgetrotzt zu haben.

Doch die im 19. Jahrhundert stückweise vorbereitete, bei der Gründung der Weimarer Republik endlich zum Verfassungsprinzip erhobene Demokratisierung des Staates hat die reinliche Trennung von Staat und Gesellschaft verwischt und sogar weitgehend zum Verschwinden gebracht. Die in Gruppen gegliederte Gesellschaft ist heute am staatlichen Handeln unmittelbar interessiert, nicht nur weil sich gezeigt hatte, daß das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte in der bürgerlichen und hochkapitalistischen Epoche zu schweren sozialen Störungen führte, die nur durch den Ein-und Zugriff der hoheitlichen Gewalt des Staates einigermaßen zu beheben waren, sondern auch weil der heutige Staat zu einem maßgeblichen Gestalter des gesamten öffentlichen Lebens geworden ist. Seine Entscheidungen affizieren jeweils bestimmte Gruppen in der Gesellschaft. Als Verteilerstaat wird er zum Einflußobjekt aller Gruppen, die, ob zu Recht oder Unrecht, Ansprüche an den Staat stellen, und das ist potentiell das ganze Staatsvolk.

Die Gesellschaft selbst, ihrer funktionalen Gliederung sich um bewußt werdend, stärker je mehr Chancen sie hat, in Teilgruppen Sonderinteressen zur Geltung zu bringen, organisiert sich in Form von Verbänden, deren Aufgabe es ist, die Interessen der Organisier-ten nicht nur im gesellschaftlichen Bereich, sondern gerade bei den Staatsorganen selbst zur Geltung zu bringen. In dem Maße, in dem sich die Pluralität dieser sozialen Organisationsgebilde strukturell verfestigt, entstehen Machtfaktoren, auf die das Staatshandeln nicht nur Rücksicht nehmen muß, sondern die die staatlichen Organe selbst unter ihren zumindest vorübergehenden Einfluß zu bringen trachten. Wenn aber der Prozeß der staatlichen Willensbildung nicht mehr allein den staatlichen Organen im engeren Sinne vorbehalten bleibt, sondern an ihm auch jene organisierten Herrschaftsgebilde aus dem Bereich der vielgegliederten Gesellschaft teilnehmen, dann kann man tatsächlich nicht mehr von einer souveränen Macht des Staates als Herrschaftssubjekt sprechen, dann ist die Einheit einer nur staatlichen Willensbildung nicht mehr gewährleistet, dann ist dieser Prozeß der Usurpation staatlich-politischer Macht durch gesellschaftliche Gebilde zugleich ein Transformationsprozeß des Staates selber. Seine Struktur wird unübersichtlicher, seine angenommene „staatliche Substanz* geht verloren, und man befürchtet, wenn man im Banne des traditionellen monistischen Staatsgedankens steht, den Zerfall des Staates in eine Pluralität von Herrschaftsgebilden, die durch keine souveräne Instanz mehr zu einem für das Gedeihen der Nation notwendigen Zusammenhalt koordiniert werden können. Das Endprodukt dieser angeblichen Auflösung des Staates in den Pluralismus sozialer Herrschaftsgebilde ist die Anarchie.

Die Konzeption vom Staat als souveränem Herrschaftssubjekt

Klaus Obermayer Recht und Politik (Seite 10)

Aus dieser Sicht ist die verfassungspolitische Situation der Bundesrepublik wiederholt kritisch beurteilt worden, im wesentlichen von Staatsrechtslehrern, die durch das verfassungstheoretische Werk Carl Schmitts befruchtet worden sind. So lesen wir beispielsweise bei Werner Weber, daß der Bundesrepublik alle Elemente traditioneller Staatlichkeit fehlten, die sich die Weimarer Republik noch in hohem Maße bewahrt gehabt hätte. Es sei den politisch-gesellschaftlichen Teilmächten gelungen, den Vordergrund des politischen Geschehens zu besetzen. „Dort sehen wir eine Reihe rivalisierender oligarchischer Herrschaftsprätendenten; an erster Stelle die Führerkorps der politischen Parteien, die Gewerkschaften, die Arbeitgeber-und Wirtschaftsverbände, eine nicht geringe Zahl sonstiger Interessenverbände und nicht zuletzt die Kirchen. Sie sind die beherrschenden politischen Kräfte unserer Zeit: sie stehen im Begriff, die Staatsgewalt, die Souveränität, oder wie man die letztinstanzliche irdische Entscheidungsgewalt benennen will, zu zerteilen und unter sich aufzuschlüsseln. Im Parlament finden sie sich allenfalls zu Kompromissen und zu einer gewissen Koordinierung zusammen, und auch der Regierung würde es allein schwer gelingen, einen einheitlichen Staatsorganismus aufrechtzuerhalten Ohne das Gerüst einer in sich ruhenden staatstragendenlnstitution kann ein Staat nicht bestehen; und das gegenwärtige System des Pluralismus von Oligarchien wird, wenn nicht im Bürgerkrieg, so jedenfalls in einer stände-staatlichen Auflösung enden, sofern dem Staat nicht genügend zusammenhaltende Elemente der Stabilität und Kontinuität gewonnen werden.“

Der Gegensatz zwischen dieser Art Staatsauffassung und dem liberaldemokratischen Staat einer pluralistisch gegliederten Gesellschaft ist in Deutschland erstmals in der Weimarer Republik deutlich herausgearbeitet worden. Noch mehr als heute hatte man damals in weiten

Kreisen des Bürgertums den Eindruck, daß der Weimarer Staat in Wirklichkeit gar kein „Staat" sei, daß entscheidende Züge, die einen Staat zu einem Staat machen, ihm fehlten. In vehementer Polemik gegen die westliche Staatsidee, die als ein Ubel und Unheil für Deutschland hingestellt wurde, beschwor man den deutschen Staatsgedanken, suchte ihn in romantischer Rückwendung bei den germanischen Stämmen und ihrer angeblichen Führerdemokratie oder in der Beschwörung der Idee des Reiches als dem durch die Geschichte den Deutschen gewiesenen Wege und mühte sich um Ansätze für die Wiedergewinnung echter Staatlichkeit.

Staatlichkeit war bezogen auf Souveränität, auf die Idee der Hoheit in Verbindung mit dem Gedanken der Herrschaft. Der Staat wurde (ganz im Gegensatz zur angelsächsischen Vertragstheorie) als eine ursprüngliche, nicht abgeleitete Hoheitsgewalt begritfen, als eine mit höchster Macht und Souveränität ausgestattete Instanz, die das Ganze der Gesellschaft so ordnen und lenken sollte, daß Sicherheit und Existenz des Staates wie auch die Wohlfahrt seiner Bürger garantiert wären

In der Situation der Weimarer Republik fanden sich Motive genug für eine Besinnung auf den Staatsgedanken. Denn der Weimarer Staat war schwach. Er schien — und das war für die Deutschen eine ganz neue Erfahrung — zur Beute der Parteien und Interessengruppen zu werden. Er verfügte nicht über genügend Autorität, um das Volk in seiner überwiegenden Mehrheit zum Respekt oder gar zur Liebe für dieses Staatsgebilde zu inspirieren. Man wähnte, daß in diesem Staat allein Parteien-cliquen herrschten, nicht aber der wahre Wille des Volkes Dieser würde von den Parteien durch ihre Bindung an das partikulare Interesse nur verfälscht.

Staatsfeindliche Mächte, so kritisierte im Jahre 1927 das Handbuch des „Stahlhelm“, herrsch-ten über den Staat. Anstatt der Herrschaft des Staates über die Massengesellschaft herrsche die Masse über den Staat. Der bekannte Publizist Edgar Jung bezeichnete das politische System Weimars kurzerhand als die „Herrschaft der Minderwertigen“. Jener Zeit verdanken wir darum eine Reihe von Staatsvorstellungen, die den in der Weimarer Verfassung angelegten liberal-demokratischen Staatsgedanken zu überwinden suchten: den Ständestaat, etwa nach dem Muster Othmar Spanns, den autoritären Staat, den totalen Staat, den Führerstaat, den Staat nach dem Muster der militärischen Ordnung, wie ihn viele Frontkämpfer predigten

Die Künder solcher Staatsvorstellungen hielten allesamt die westlich-demokratische Staats-idee, wie sie in der Verfassung der Weimarer Republik in Normen gefaßt worden war, für unzureichend, ja für eine Preisgabe des wahren Staatsgedankens. Für sie galt der Staat nur als Inbegriff der alles entscheidenden Instanz, die niemand mehr über sich hat, und die, unabhängig vom Kampf der Interessen und Parteien gegeneinander, die Autorität echter und unabhängiger Führung mit Erfolg für sich beansprucht. Der Wille des Staates durfte nach ihrer Meinung nicht die Resultante aus den miteinander konkurrierenden Kräften der Gesellschaft, nicht das Ergebnis eines Kompromisses zwischen verschiedenen Machtgruppen sein, sondern sollte den reinen, unabhängigen Machtwillen darstellen, verkörpert in der Staatsführung, die sich in ihrem Tun unterstützt und getragen wußte von einer staatsbewußten Elite „politischer Menschen". Der „wahre Staat" war in seiner nicht in Frage zu stellenden Autorität „bindendes Gesamtbewußtsein und konstanter Wille" (Freyer), kein bloßer neutraler Schlichter von Gegensätzen, sondern eine Macht und Kraft sui generis.

Carl Schmitts Diagnose des Weimarer Staates

Einen ihrer einflußreichsten Anwälte hatte diese Staatsidee in dem Staatsrechtslehrer Carl Schmitt. Carl Schmitt diagnostizierte und sezierte den pluralistischen Parteien-und Verbändestaat der Weimarer Republik in vielen Aufsätzen und Schriften

Die negative Beurteilung des Pluralismus bei Carl Schmitt entsprang seiner Überzeugung, daß die Koexistenz kompakter Machtgruppen und ihrer weltanschaulichen Systeme innerhalb des Staates unvereinbar sei mit dem Staat als Inbegriff der politischen Einheit des Volkes und darum der Staat als Autorität und Herrschaftsinstrument im Gegeneinander und Durcheinander dieser verschiedenen Gruppeninteressen zugrunde gehen müsse. Der Pluralismus sei der eigentliche Widersacher der politischen Einheit des Volkes. Anstatt seine Einheit in einem wahren Volksstaat zu realisieren, sei dieses in sich befehdende Gruppen und Weltanschauungen aufgespalten. In einem pluralistischen Parteienstaat, einem Mehrparteienstaat also, dessen Parteien sich ideologisch stark voneinander unterscheiden, könne das Parteienparlament gar keinen über parteilichen staatspolitischen Willen mehr bilden und formulieren. Das Parlament werde zur Beute egoistischer Parteiwillen, die von einem eigens dafür bestellten Verwaltungsstab artikuliert würden. Die Folge sei der labile Koalitionsparteienstaat, in dem nach den Worten Schmitts nur solche Regierungen zustandekommen, „die infolge ihrer fraktionellen Kompromißbildungen zu schwach und gehemmtsind, um selbst zu regieren, andererseits aber immer noch so viel Macht-und Besitztrieb haben, um zu verhindern, daß andere regieren“. Das Ergebnis sei nicht die Bildung eines staatlichen Willens, sondern „eine nach allen Seiten schielende Addierung von Augenblicks-und Sonderinteressen“

Eine verhängnisvolle Folge des Pluralismus der Parteien, sozialen Gruppen und Weltanschauungen für das Staatsbewußtsein erblickt Schmitt darin, daß der Staatsbürger seine Loyalität schließlich nicht mehr dem Staat als Einheit erweise, sondern sie durch ein Treueverhältnis zu den Einzelmächten des pluralistischen Systems ersetze. Parteigesinnung verdränge wahre Staatsgesinnung; aus dem Staatsbürger werde der Parteibürger oder Verbandsbürger. Nach der Auffassung Carl Schmitts zu Zeiten der Weimarer Republik wurde die notwendige politische Einheit des Staates außer durch den Pluralismus noch zusätzlich in Frage gestellt durch die sogenannte „Polykratie" 6) der öffentlichen Wirtschaft und den staatlichen Föderalismus. Beide Erscheinungen verstärken nach Schmitt den Trend zur Schwächung und Zerreißung der politischen Einheit, sie hemmen und zerteilen die souveräne staatliche Gewalt. Wenn aber alle diese Vorgänge als Folge des Eindringens der Gesellschaft in den Staat dem Staat keine unbeschränkte kraftvolle Machtausübung mehr gestatten, ihn in seiner Staatlichkeit bedrohen und schwächen, dann ist die Idee des Staates, an der man sich orientiert, offenbar nicht die der freiheitlichen Demokratie, sondern die des totalen oder autoritären Staates. Carl Schmitt war es auch, der als erster den Staat der verlöschenden Weimarer Republik als „totalen Staat'gekennzeichnet hat Doch er war total „aus Schwäche", weil er angeblich die Ansprüche aller Interessenten erfüllen mußte. Die Diagnose des aus Schwäche totalen Staates enthält aber bereits einen Hinweis darauf, daß in der durch die industrielle Massengesellschaft und ihre Antagonismen geprägten Welt des 20. Jahrhunderts ein totaler Staat aus Stärke möglich, ja geboten ist. Carl Schmitt hat diese Staatsidee dann Anfang 1933 so formuliert: „Ein solcher Staat läßt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden. In diesem Sinne ist jeder echte Staat ein totaler Staat; er ist es, als eine societas perfecta der diesseitigen Welt, zu allen Zelten gewesen." 8)

Falsche Differenzierung von Staat und Gesellschaft

Jeder echte Staat ist demnach ein totaler Staat und ist es immer gewesen. Das ist die Staatsidee, von der her Schmitt den Weimarer Staat kritisch diagnostiziert hat und die uns immer von neuem begegnet; auch in der Bundesrepublik. Wir haben uns zu fragen, ob nicht ein gut Teil der Kritik an unserem Staat als „Staat“ und, in Zusammenhang damit, am gegenwärtigen Staatsbewußtsein, durch eine Staatsvorstellung motiviert ist, die noch wesentliche Züge mit der Auffassung Carl Schmitts gemein hat, eine Auffassung, die wir als traditionelle Staatsidee bezeichnen wollen. Dieser Staatsbegriff kontrastiert auffällig mit der modernen Staatsentwicklung, die gekennzeichnet ist durch eine allen Staaten der Gegenwart eigentümliche expansive Tendenz, das quantitative Wachstum der staatlichen Tätigkeit und eine grandiose Machtausweitung nach innen. Wenn aber der Staat ständig an Macht gewinnt, wenn er in immer stärkerem Maße in den früher sich weitgehend selbst überlassenen Bereich der Gesellschaft gestaltend hineinwirkt, ist es dann nicht widersinnig, den Rückgang der Staatlichkeit, ja die Auflösung des Staates zu beklagen?

In Wahrheit lassen sich die erwähnten kritischen Beobachtungen über eine Auszehrung des Staates in dieser Schärfe nur machen, wenn man an der grundsätzlichen Unterschiedenheit von Staat und Gesellschaft festhält, wenn man unter Staat nur die traditionellen Elemente des gewaltenteilenden Rechtsstaates versteht, nämlich Exekutive, Legislative und Justiz. Alles, was nicht diesen legitimen Bereichen staatlicher Machtausübung institutionell verbunden ist, seien es die Parteien oder die Verbände in ihren mannigfachen Spielarten, gilt dieser Auffassung als außerstaatlich oder staatsfremd. Versuchen diese Organisationen auf den Prozeß der staatlichen Willensbildung Einfluß zu nehmen, so maßen sie sich Funktionen an, die ihnen nicht zustehen. Sie haben dazu kein Recht, weil sie als Exponenten gesellschaftlicher Gruppen nur einen partikularen Willen zum Ausdruck bringen können, dessen Berücksichtigung die Zielgerichtetheit des allgemeinen und einheitlichen Staatswillens schwächen muß. Staatliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, daß es auf die Realisierung des mit dem Staatsinteresse identifizierten Gemeinwohls gerichtet ist. Gesellschaftliche Kräfte, die das hierarchische Gefüge der staatlichen Organisation aufzusprengen und zu unterwandern bestrebt sind und den Prozeß der Bildung des allgemeinen Wil-lens durch Geltendmachung ihres Sonder-willens stören, werden als staatshemmend und letzten Endes staatsfeindlich empfunden. So wird nach dieser Konzeption die Gesellschaft, indem sie sich in partikularen Machtgruppen organisiert und auf diese Weise politisiert, zum Zerstörer des Staates.

Nicht durchgehend freilich bedingt die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft eine so negative Charakterisierung des Gemeinwesens. Ernst Forsthoff zum Beispiel hat in einer für ihn bemerkenswerten „Realanalyse der Bundesrepublik" (Merkur, September 1960) die Gesellschaft gegen den Staat ausgespielt und den Staat der Bundesrepublik als eine Funktion der westdeutschen Industriegesellschaft gedeutet. Die Entstehung des westdeutschen Staates aus dem Prozeß der Selbstordnung von Wirtschaft und Gesellschaft entziehe gängigen Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft den Boden. Forsthoff scheint den Prozeß der Selbstorganisation der Gesellschaft zu akzeptieren, der bewirkt hat, daß die dem Staat spezifischen Aufgaben allein auf die Komplexe beschränkt bleiben, welche die Gesellschaft nicht selbsttätig regeln kann; der heutige Staat sei auf seine spezifischen Aufgaben hin zweckrational ausgerichtet.

Auch in der Forsthoffschen Analyse der bestehenden Verfassungsordnung ist das Schema der Differenzierung von Staat und Gesellschaft transparent. Es ist aber meines Erachtens gerade dieses Schema, welches bei aller heuristischen Brauchbarkeit für die Interpretation bestimmter Verfassungsprobleme den Zugang zu einem wirklichkeitsadäquaten Verständnis des modernen demokratischen Staates verstellt.

Das Staatsbild der modernen Industriegesellschaft

Es ist falsch, vom Staat als Staat, losgelöst von seiner besonderen Regierungstorm, zu sprechen. Die Souveränitätslehre des Staates erfaßt nur einen spezifischen Aspekt des politischen Gemeinwesens der modernen Ära. Der Begriff des Staates bedarf heute der Konkretisierung durch ein jeweiliges Regierungssystem, durch die besondere Form des Staates. Die Abhebung des Staates vom Bereich der Gesellschaft entsprach einer historischen Entwicklungsstufe der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, die für unsere Gegenwart kaum mehr Bedeutung besitzt. Sie hat in der Weimarer Republik zweifellos dazu gedient, das Verfassungssystem der demokratischen Republik von falschen Prämissen her zu begreifen und jene Übersteigerung des Staatsgedankens ermöglicht, die schließlich den totalitären Staat als kraftvollen Zuchtmeister der Gesellschaft feierte, einer Gesellschaft, die durch ihren zerstörerischen Pluralismus die Substanz des Staates unterminiert und ihn zur Beute der Partikularinteressen erniedrigt habe.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sich der nationalsozialistische Führerstaat dieses Staats-gedankens bemächtigten konnte und durch konsequente Ausschaltung aller den Führerstaat in seiner Allmacht hemmenden und bedrohenden gesellschaftlichen Tendenzen die Idee der politischen Einheit realisierte, hätte Grund genug sein können, den gerade in Deutschland besonders kultivierten traditionellen Staatsbegriff zu verabschieden. Aber die Tradition dieses Denkens ist noch immer mächtig.

Eine freiheitliche Demokratie hingegen, also jene Staatsform, welche die Bundesrepublik nach ihrer Verfassung sein soll, kann mit dem angezeigten traditionellen deutschen Staatsbegriff nicht mehr zureichend begriffen werden. Sie hat ein anderes Staatsbild, und nur vor dem Hintergrund dieses Staatsbildes läßt sich der politische Prozeß unserer rechts-und sozialstaatlich orientierten parlamentarischen Demokratie richtig beschreiben.

Es ist bezeichnend, daß die angelsächsische Lehre der Demokratie die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zwar kennt, aber niemals zu ihren Angelpunkt gemacht hat. Sie denkt das Gemeinwesen nicht vom Staat, sondern vom Menschen her. Die Gesellschaft gibt sich eine politische Ordnung, in der der einzelne frei und tugendhaft leben und sein Glück verwirklichen kann. Zu diesem Zweck errichtet sie eine Regierung, ein government, das jedoch nicht der Willkür eines jeweiligen Herrschers anheimgestellt bleibt, sondern dank einer Herrschaft durch Gesetze dem Bürger Sicherheit, Wohlstand und freies Leben garantiert. Diese Herrschaft ist nichts Vorgegebenes, sie ist nicht eo ipso legitimiert, sondern legitimiert sich durch ihre Ausrichtung an Werten, die zu realisieren Aufgabe und Zweck des Regimes ist. Die Gesetze jedoch, die den Beamten als Richtschnur und Schranke des exekutiven Vollzuges dienen, werden von Menschen gemacht und müssen den Interessen der in einer Nation geeinten Bevölkerung im großen und gerecht ganzen werden.

Jede Gesellschaft und in besonderer Weise die moderne Industriegesellschaft zerfällt in Gruppen, die in einem arbeitsteiligen Zusammenhang bestimmte Funktionen erfüllen. In diesem Prozeß funktionaler Aufteilung der Gesellschaft, die durch das der Freiheit notwendig innewohnende Moment der Ungleichheit unterstützt wird, kristallisieren sich bestimmte soziale Gruppen heraus, die durch ihre gleichartige Interessenlage zusammengefügt und beieinandergehalten werden. Die Interessen dieser Gruppen sind Sonderinteressen, Teile eines Interessenspektrums, das sich aus vielen partikularen Gesichtspunkten ergibt.

In einer freien Gesellschaftsordnung müssen die Bürger in der Lage sein, diese ihre jeweiligen Interessen ungehindert zu vertreten, sie im politischen Raum legitim zur Geltung zu bringen und eine kontinuierliche Repräsentation der Gruppe zu erreichen. Das Parlament als politische Repräsentanz des Volkes ist zwar in vielen seiner Vertreter durch solche Teilinteressen bestimmt, aber seine Aufgabe liegt darin, Regelungen und Gesetze zu erwirken, die dem Interesse des Ganzen gerecht werden. Das Interesse des Ganzen ist gefaßt in der Idee des Gemeinwohls. Dieses Gemeinwohl ist in der Praxis vielfach eine Art Resultante aus dem Kräfteparallelogramm der gesellschaftlichen Sonderinteressen, aber es ist seiner Idee nach nicht identisch mit dem arithmetischen Mittel der Gruppeninteressen.

Ausgleich zwischen Gruppeninteressen und Gemeinwohl

Jede realistische Betrachtung des politischen Machtkampfes ergibt, daß es zwar eine den Staat verpflichtende Idee des Gemeinwohls als regulatives Prinzip gibt und geben muß, aber keine erweisbare Sicherheit über die Gültigkeit einer je konkreten Vorstellung vom Gesamtinteresse, die verbindlich für alle werden könnte. Interessenrepräsentation und Gemeinwohl sind im Zustand einer „dialektischen Spannung", die nicht aufhebbar ist, wenn nicht die freiheitliche Ordnung als solche aufgehoben werden soll

Die westliche Demokratie, jene Staatsform also, der man bei uns noch in den zwanziger Jahren voller Stolz und erfüllt vom Bewußtsein einer historischen Sondertradition den „deutschen Staatsgedanken“ entgegengesetzt hat, ist eine politische Ordnung, in der diese dialektische Spannung zwischen frei geäußertem Sonderinteresse und notwendigem Allgemeininteresse bewußt aufrechterhalten und in fortwährender politischer Auseinandersetzung zum Ausgleich gebracht wird. Die Demokratie, wie sie in dieser Gestalt auch von unserem Grundgesetz gefordert wird, will dem Gemeinwohl dienen, ohne die autonome Repräsentation der Interessen zu liquidieren. So wie die Interessen der Gruppen untereinander verschieden und über die Zeiten hin einschneidenden Veränderungen unterworfen sind, so ist auch das Gemeinwohl keine vorgegebene, fixe Größe, sondern eine Idee, deren Notwendigkeit begriffen und deren Respektierung garantiert sein muß, wenn das oft chaotisch erscheinende pluralistische System einigermaßen funktionieren soll. Insofern bedarf die demokratische Ordnung einer gewissen Homogenität sowohl der Sozialstruktur wie insbesondere der das gemeinsame Leben bestimmenden Wertmaßstäbe. Die demokratische Ordnung setzt zu ihrer Wirksamkeit die innere Anerkennung der demokratisch-freiheitlichen Ordnungsprinzipien voraus.

Die traditionelle Staatslehre bezweifelt, daß die freie Interessenvertretung der gesellschaftlichen Gruppen mit der Sicherung des Staats-wohles wirklich vereinbar sei. Sie sucht das Problem des Pluralismus entweder dadurch zu lösen, daß der starke Staat als totaler Staat den Interessenkonflikt in der Gesellschaft durch seine Dezision autoritativ entscheidet, oder sie vertraut auf die Möglichkeit einer staatlichen Institutionalisierung der Interessengruppen in einem Sozial-bzw. Wirtschaftsparlament. Doch weder die totalitäre noch die ständestaatliche Lösung sind unausweichliche Alternativen. Unsere eigene staatliche Existenz heute ist der Gegenbeweis. Nähme man die Beschreibungen, weche die Anhänger der anti pluralistischen Staatsidee von unserer Staats-wirklichkeit geben, völlig ernst, so müßten wir uns in einem fortlaufenden Prozeß staatlicher Desintegration befinden, den niemand mehr aufhalten könnte. Der Staat wäre im Besitz staatsfremder Oligarchien, die sich mit Behagen die fette Beute aufteilen; aber weder ist nach unseren relativ kurzen Erfahrungen mit der Bundesrepublik dieser Staat schon so gut wie zerfallen, noch ist es gegen den Staat gerichtet, wenn Teile des Staatsvolkes durch Interessennahme ihrer Gruppen in den Prozeß der politischen Willensbildung eingreifen, sind sie doch selber ein integrierender Bestandteil der Gesamtordnung, die wir heute Staat nennen. Das wahre Gesamtinteresse läßt sich um so sicherer treffen, je reichhaltiger die Möglichkeiten spezifischer Interessenvertretung sind und je differenzierter sie wahrgenommen werden. Es liegt freilich auf der Hand, daß die häufig ungleiche Effektivität der Vertretung relativ gleich zu bewertender Interessen den gerechten Ausgleich im Sinne des Gemeinwohls besonders schwierig gestalten kann.

Das heutige Staatsbewußtsein der Demokratie kann sich nicht mehr am Begriff des Staates als solchen orientieren. Es geht nicht um den Staat, sondern um die Normen und Werte, die der Staat als eine uns allen zur Verwirklichung aufgegebene Ordnung realisieren soll. Demokratisches Staatsbewußtsein ist nicht ein Bewußtsein vom Staat als Herrschaftsordnung. Beruht es allein auf dieser Vorstellung und auf der damit zusammenhängenden von der sittlichen Notwendigkeit der hoheitlichen Ordnungsfunktion, so ist es autoritär. Das dem Staat dienende Berufsbeamtentum zum Beispiel würde seine ihm zugewiesene Aufgabe zumindest teilweise verfehlen, wenn es sich allein zur Wahrung der staatlichen Herrschaftsfunktionen im Rahmen einer gesetzmäßigen Verwaltung bereitfände. Es dient nicht allein dem Staat in seiner spezifischen Ausprägung als Herrschaftssubjekt, sondern dem gesamten Gemeinwesen, also auch den in ihm lebendigen gesellschaftlichen Kräften. So unaufgebbar es bleibt, daß staatliche Organe im engeren Sinne Hoheitsfunktionen wahrnehmen müssen, um einen einheitlichen Staatswillen zu gewährleisten, so sehr der moderne Staat sich mit Max Weber dadurch definieren läßt, daß er das Monopol physischer Gewaltsamkeit mit Erfolg für sich beansprucht und die souveräne in Rechtsetzung und Instanz Fragen der Rechtanwendung bleibt, so notwendig ist es andererseits, daß wir den traditionellen Staats-begriff durch den in unserer Verfassung ausgesprochenen Gedanken der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ersetzen.

Einheit von Staat und Bürger

Voraussetzung für die Realisierung dieser Grundordnung ist die prinzipielle Möglichkeit aller Gruppen zur aktiven Teilnahme am politischen Prozeß. Politisches Handeln ist nicht eine Prärogative der Staatsorgane in engerem Sinne, sondern vollzieht sich im Raume der gesamten Gesellschaft. Seine wesentlichen Träger sind heute die politischen Parteien, die weder reine Staatsorgane noch bloße gesellschaftliche Verbände darstellen, sondern durch ihre Unentbehrlichkeit für den modernen Prozeß der Staatswillensbildung an sich selber die Uberholtheit des alten dualistisch angelegten Staatsbegriffes demonstrieren

Ein der freiheitlich-demokratischen Grundordnung angemessenes Staatsbewußtseinkann den privaten Bereich der Gesellschaft nicht mehr grundsätzlich vom staatlichen Bereich öffent-lieber Gewalt scheiden, sondern muß in der richtigen Zusammenfügung beider zu einer lebensfähigen Gesamtordnung, die der Freiheit und der Gerechtigkeit dient, den Kern heutiger Staatlichkeit erkennen. Die durch die Hereinnahme der gesellschaftlichen Gruppen in den Prozeß politischer Willensbildung bewirkte Dynamik wird durch statische Ordnungselemente ausbalanciert.

Die im Grundgesetz geforderte Rechtsstaatlichkeit der demokratischen Ordnung verlangt institutionelle Formen, welche den Wildwuchs des gesellschaftlich-politischen Machtkampfes beschneiden und dem Leben der Gemeinschaft die notwendige Stabilität zu geben vermögen. Hier müssen die festen Maßstäbe des Rechtes gelten, ohne die der Verlauf der Wirtschaftsund Sozialentwicklung unversehens ins Chaos führen würde. So gehört zum demokratischen Staat sowohl die in der Idee der Freiheit begründete Dynamik des Prozesses politischer

Fussnoten

Fußnoten

  1. Werner Weber. Das Berufsbeamtentum im demokratischen Rechtsstaat, Schriftenreihe des Deutschen Beamtenbundes, H. 2, 1952. S. 11

  2. Zahlreiche Belege hierfür in meinem Buch: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962

  3. Vgl. dazu meine Ausführungen in „Antidemokratisches Denken“, Kap. 8: Der antiliberale Staats-gedanke, S. 240 ff.

  4. Die politisch wirksamsten: Die geistesgeschicht-liche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923; Der Hüter der Verfassung, 1931; Legalität und Legitimität, 1932

  5. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 88.

  6. Zuerst in „Hüter der Verfassung“, sehr präzis dann in dem Beitrag von Anfang 1933: Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 361.

  7. Zu diesem und dem folgenden vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, in: Dokumente, Mai 1960.

  8. In diesem Sinne argumentiert überzeugend (auch gegen die Parteienstaatsthese von Leibholz) K: Hesse in: Veröff.der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H. 17.

Weitere Inhalte

Kurt Son t b e im er , Dr. phil., o. Professor für Politische Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Uni versität Berlin, geb. 31. Juli 1928 in Gernsbach/Baden Veröffentlichungen: Thomas Mann und die Deutschen, München 1961; Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962; Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, Freiburg 1963.