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Recht und Politik | APuZ 16/1964 | bpb.de

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APuZ 16/1964 Staatsidee und staatliche Wirklichkeit heute. Staat und Gesellschaft Recht und Politik

Recht und Politik

Klaus Obermayer

Willensbildung in der grundsätzlich offenen und damit pluralistischen Gesellschaft, wie andererseits die nach den Grundsätzen des Rechts arbeitenden, auf Dauer und Festigkeit angelegten Institutionen der Ordnung, wie sie in einer an feste Maßstäbe gebundenen staatlichen Verwaltung und einer unabhängigen Rechtspflege zum Ausdruck kommen

Die angelsächsischen Demokratien haben ihre modernen Staatenbildungen immer nur begreifen können als notwendige Ordnungen für die Gewährleistung der natürlichen Rechte des Menschen. Dieser Auflassung war der Staat nichts Vorgegebenes, sondern im besten Sinne die eigene Veranstaltung der Menschen, die in die Verantwortung aller gegeben war. Kein Staatswesen war denkbar, das die elementaren Freiheitsrechte des Menschen nicht garantiert und zu einer Säule seiner Verfassung erhoben hätte. Unsere geläufige Vorstellung von den Grundrechten, die in ihnen die verfassungsrechtliche Garantie eines sogenannten slaatstreien Raumes des Bürgers erblickt, ist fragwürdig, denn sie impliziert, daß der Staat hier dem Bürger etwas zugestehen müsse, was er schlimmerweise seiner Hoheitsgewalt entziehen muß und was somit seine Staatlichkeit beeinträchtigt. Solche Auffassungen verkehren den Sinn des demokratischen Staats-gedankens. Die demokratische Staatsidee muß die Freiheitsrechte der Staatsbürger zu ihrer inneren Voraussetzung machen, in ihnen den Motor erkennen, der die Demokratie in Gang hält, nicht aber dem Bürger vom Staat her denken.

Selbstverständlich gehört zu diesem Staats-begriff auch eine richtig verstandene und geübte Freiheit auf Seiten des Bürgers. Er muß bereit sein, Mitverantwortung zu übernehmen und darf sich ihr nicht in falsch verstandener Freiheit entziehen wollen. Er muß den demokratischen Staat als etwas ihm Aufgegebenes begreifen. Das politische Bewußtsein der Freiheit in der Demokratie enthält die Verpflichtung zum Dienst an einem Staat, der diese Freiheit hegen und pflegen soll.

In der richtig verstandenen freiheitlichen Demokratie hat der Bürger seine Mitwirkung an der notwendigen Integration des Staates gleichsam als seinen öffentlichen Beruf (Smend) zu ergreifen. In dieser Perspektive erhält die primitive Formel ihren Sinn, die wir als Demokraten oft leichtfertig in den Mund nehmen: Wir sind der Staat.

Es gibt Grundthemen des Lebens und der Wissenschaft, die die Jahrtausende durchziehen. Der denkende Mensch bemächtigt sich ihrer, weil sie den Kern seiner Existenz berühren. Im Wechsel der Zeit greift er sie stets neuem auf. Aber niemals er imstande, ist von den Umkreis ihrer Fragen ganz zu überschauen. Ein solches Grundthema bezieht sich auf das Verhältnis von Recht und Politik. Wenn wir ihm nähertreten, wird uns das Ringen um die beste Staats-und Herrschaftsform, um die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit ebenso gegenwärtig wie die Bedrängnis, in die Macht und Willkür menschliches Leben gebracht haben.

Die folgenden Erörterungen beschränken sich darauf, zu einem unerschöpflichen Thema einige — vorwiegend zeitbedingte — Anmerkungen zu machen. Sie befassen sich mit den Beziehungen von Recht und Politik in unserer durch das Bonner Grundgesetz geprägten Verfassungslage, um einige in ihnen beschlossene Tatsachen, Tendenzen, Gefahren und Verantwortungen aufzuzeigen. Nach einer begrifflichen Abgrenzung von Recht und Politik soll die Bedeutung der Politik für das Recht und die Bedeutung des Rechts für die Politik untersucht werden Eine abschließende Betrachtung gilt dann dem Telos, das im Recht und in der Politik wirksam ist.

Abgrenzung der Begriffe

Recht und Politik unterscheiden sich in ihrem Wesen, auch wenn sie in der Lebenswirklichkeit eine — wie es scheint — unlösbare Verbindung eingehen.

1. Das Recht ist der Inbegriff der Regelungen, die unter dem Schutz staatlicher Autorität menschliches Gemeinschaftsleben ordnen. In dem Stufenbau des für uns verbindlichen Rechtes stellt die Verfassung jene Normenschicht dar, an der alle innerstaatlichen Rechtsakte — die Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsakte, und Verträge — zu messen sind. So IJrteile umfaßt der innerstaatliche Rechtsbereich alle Vorgänge, die unter der Herrschaft des Bonner Grundgesetzes der Rechtssetzung und der Rechtsanwendung dienen. Sie ereignen sich in den gesetzgebenden Körperschaften, den Regierungs- und Verwaltungsbehörden und den Rechtsprechungsorganen, die der herrschende Sprachgebrauch als Legislative, Exekutive und Judikative bezeichnet.

2. Mit dem Bereich der Politik ist jener Lebens-sektor gemeint, in dem die Staatsziele konzipiert, propagiert, durchgesetzt und verteidigt werden. Politische Kräfte sind demnach jene Kräfte, die nach der öffentlichen Macht streben, um ihre Vorstellungen von Außen-und Innenpolitik, von Wirtschafts-, Sozial-und Kultur-politik zu verwirklichen. Die Politik unserer pluralistischen Parteiendemokratie wird vorwiegend von den politischen Parteien bestimmt.

In ihrem Gefolge befinden sich die verschiedenen Interessenverbände, deren faktischer Eintritt in die Politik nicht mehr bezweifelt werden kann. Parteien und Verbände lassen sich als die horizontalen politischen Faktoren qualifizieren, weil sie nebeneinander von der gleichen Ebene aus die Bundes-beziehungsweise Landespolitik steuern oder beeinflussen. Zu ihnen treten die vertikalen politischen Kräfte, die durch den föderalistischen Aufbau der Bundesrepublik und durch die Dezentralisierung der Verwaltung im Bund und in den Ländern bedingt sind. Auch der Bund, die Länder und die Selbstverwaltungskörperschaften treiben miteinander und gegeneinander Politik, indem sie ihren Anteil an der Macht im Staate zu behaupten und gegebenenfalls zu mehren trachten.

Die Bedeutung der Politik für das Recht

Die Bedeutung der Politik für das Recht ist unter einem positiven und einem negativen Aspekt zu würdigen. Einerseits hat die Politik gegenüber dem Recht eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Andererseits stellt die Eigengesetzlichkeit des Politischen die normative Ordnung stets von neuem in Frage.

1. Die Politik hat die Aufgabe, das Recht mit Substanz zu erfüllen.

Macht und Herrschaft sind Kategorien unseres Daseins, auf die auch das Recht nicht verzichten kann. So bedarf es politischer Kräfte, die es zum Leben erwecken, tragen und fortbilden. Und es benötigt politische Impulse, um selbst Impulse auszustrahlen. Eine Rechtsordnung, die ihre Existenz und Fortbildung nicht einem politischen Elan verdankte, wäre schemenhaft, blutleer und lebensfremd. Sie wäre unfähig, die mannigfachen Strömungen und Spannungen des sozialen Lebens aufzufangen und zu ordnen.

Die fundamentalen Verfassungsprinzipien waren politische Postulate, ehe sie als Leitbilder des Rechtes in Erscheinung traten. Klassische Beispiele für einen solchen Umformungsprozeß sind die staatsrechtlichen Veränderungen im England des 17. Jahrhunderts, die Geburt der amerikanischen Konstitution und die Entstehung der französischen Verfassungen während und nach der Französischen Revolution. Der Ruf nach liberty und property, egalite und liberti kam aus der politischen Arena, bevor er von einer Verfassungsordnung ausgenommen wurde. Auch die Strukturprinzipien unserer eigenen Verfassung — das demokratische Prinzip und das Rechtsstaatsprinzip, das Sozialstaatsprinzip und das föderalistische Prinzip — sind in langen politischen Kämpfen entstanden und gereift.

Die wichtigste Eingangspforte der Politik zum Recht ist das Parlament. Die von den Parteien präsentierten und gegebenenfalls von den Verbänden unterstützten Kandidaten haben nach ihrer Wahl durch das Volk den Rang einer staatsrechtlichen Repräsentanz, die für die Einsetzung der Regierung und für die Gesetzgebung verantwortlich ist. Indem sie — zu Fraktionen zusammengeschlossen — weiterhin Exponenten ihrer Parteien bleiben und mit den Verbänden offenen oder verdeckten Kontakt pflegen, behalten sie auch als Glieder einer verfassungsrechtlichen Einrichtung ihren politischen Charakter.

Der Bundesrat ist das Organ, in dem die Länder ihren politischen Forderungen gegenüber dem Bund und untereinander die rechtserhebliche Erscheinungsform geben.

Nach den gesetzgebenden Körperschaften ist die Exekutive ein nach rechtlichen Gesichtspunkten organisierter und funktionierender Bereich, in dem die Politik das Recht beeinflussen kann. Auch ist zu bedenken, daß die kommunalen Verwaltungskörper weitgehend unter politischen Gesichtspunkten gewählt werden. Natürlich ist die Verwaltung infolge ihrer Gesetzesgebundenheit dem politischen Geschehen nicht in gleicher Weise geöffnet wie die Gesetzgebung. Aber auch die gesetzes-gebundene Verwaltung hat gewisse — meist mit dem Fachausdruck „Ermessen" bezeichnete — Freiheiten des Handelns, bei denen politische Erwägungen mitbestimmend sein können. Die Entscheidung darüber, ob das öffentliche Wohl die Errichtung einer Universität verlangt, kann unter politischen Gesichtspunkten verschieden ausfallen. Das gleiche gilt für die Frage, welche Einrichtungen subventionswürdig und -bedürftig sind.

Zur Rechtsprechung ist der Politik ein unmittelbarer Zugang verwehrt. Die sachliche und persönliche Unabhängigkeit des Richters, der im Rahmen einer besonderen von Legislative und Judikative getrennten Gerichts-organisation urteilt, ist gemäß Artikel 20 Absatz 3 und Artikel 91 des Grundgesetzes ein Essentiale unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Der Richter ist lediglich dem Rechte unterworfen. Soweit die Politik bereits in das Recht eingedrungen ist, wird sie auch für die Rechtsprechung relevant. Dann allerdings kann es vorkommen, daß der Richter zur Auslegung eines Rechtsbegriffes dessen Entstehung und Verständnis im politischen Raume untersuchen muß.

2. Das Recht ist von Seiten der Politik mannigfachen Gefährdungen ausgesetzt.

Seine Geltungskraft steht bereits auf dem Spiel, wenn das politische Ringen um die Lösung einer bestimmten Frage zu einer gesetzlichen Regelung führt, der die erforderliche Eindeutigkeit fehlt. Zwar werden sich auch im Recht immer Auslegungsprobleme ergeben, weil alle durch menschliche Mitteilungszeichen ausgedrückten Sinngehalte auf eine Auslegung angewiesen sind. Rechtsvorschriften müssen aber so gefaßt sein, daß eine sinnvolle Auslegung überhaupt möglich ist. Das ist bei den sogenannten „dilatorischen Formelkompromissen"

nur bedingt der Fall. Sie beruhen darauf, daß in den gesetzgebenden Körperschaften mehrere Gesetzentwürfe präsentiert werden, von denen keiner die Billigung einer ausreichenden parlamentarischen Mehrheit findet.

Die gegensätzlichen Vorstellungen von der Verwirklichung des öffentlichen Wohls werden dann durch eine bloße Formel miteinander versöhnt, ohne daß sachlich eine neue Lösung geboten wird. So ist der Zwiespalt für den Augenblick an der Oberfläche überdeckt mit der Folge, daß er beim Rechts-vollzug im Verwaltungsalltag erneut aufbricht.

Ein typisches Beispiel für einen dilatorischen Formelkompromiß ist die Vorschrift des Artikels 3 des Bayerischen Lehrerbildungsgesetzes, die den Rechtsstatus der bayerischen Pädagogischen Hochschulen regelt. Nach ihr sind die pädagogischen Hochschulen institutionell selbständige Einrichtungen der Universität.

Auch die Diskussionen um den wahren Gehalt der verfassungsrechtlich und gesetzlich verankerten Schulsysteme sind zum Teil durch in sich widersprüchliche gesetzliche Regelungen bedingt.

Der Ordnungs-und Integrationscharakter des Rechtes ist nachhaltig bedroht, wenn es aus politischen Gründen überhaupt mißachtet wird.

Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsgerichte der Länder mußten eine Reihe von Gesetzen für nichtig erklären, weil sie politische Ziele gegen das geltende Recht durchzusetzen versuchten. Neben der Legislative ist auch die Exekutive rechtswidrigen politischen Einflüssen ausgesetzt. Ist die Politisierung der Verwaltung in gewissen Grenzen ein verfassungsmäßiges Faktum, so können politische Argumente doch niemals ungesetzliche Maßnahmen rechtfertigen, ob sie nun rechtswidrige Ausnahmegenehmigungen oder personalpolitische Manipulationen zum Gegenstand haben. Es ist ein offenes Geheimnis, daß den Verwaltungsorganen gelegentlich unter Berufung auf den Vorrang der Politik Handlungen abverlangt werden, die mit dem geltenden Recht nicht vereinbar sind. Die Weisungsgebundenheit innerhalb der Exekutive zeigt dann ihre besondere Problematik.

Sie ist unerläßlich, um Effektivität zu sichern. Aber sie ist — mit allen ihren psychologischen Begleiterscheinungen— gerade keine Garantie dafür, daß dem Verwaltungsapparat politische Anfechtungen erspart bleiben.

Die Autorität der Rechtsordnung wird auch dann beeinträchtigt, wenn Normen durch die Rechtsanwendung ihres ursprünglichen Sinnes derart beraubt werden, daß sie ihre institutionelle Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist die Handhabung des Notverordnungsrechts in der Weimarer Zeit auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung. Nach dieser Vorschrift konnte der Reichspräsident bei einer erheblichen Störung der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die zu deren Wiederherstellung nötigen Maßnahmen treffen. Auf Veranlassung der Reichsregierung hat er die ihm eingeräumten Ausnahmebefugnisse immer häufiger zur Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Ziele in Anspruch genommen, ohne daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung im eigentlichen Sinne bedroht gewesen wäre. Das parlamentarisch-demokratische Grundprinzip der Weimarer Verfassung wurde dadurch immer stärker untergraben mit der Folge, daß das gesamte Verfassungssystem mehr und mehr an normativer Substanz verlor. Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes sind die Länder eifrig darauf bedacht, den Bund an einer Aushöhlung der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung unter dem Gesichtspunkt der Natur der Sache oder des Sachzusammenhangs zu hindern.

Die Bedeutung des Rechts für die Politik

Die Bedeutung des Rechts für die Politik liegt in seiner Form-und Maß-Funktion.

1. Das Recht ist die Form der Politik, weil es dazu bestimmt ist, die im gesellschaftlichen Raum vorhandenen politischen Strömungen aufzunehmen, zu klären und in einem normativen Gefüge zu verfestigen. Es hat die verschiedenen politischen Willensrichtungen zu einem einheitlichen Willen zusammenzuführen, um ihm das Siegel staatlicher Sanktion aufzudrücken. Für jede Sozietät ist Formlosigkeit so viel wie Unordnung. Am Recht ist es gelegen, aus dem ungeformten oder nur unvollkommen vorgeformten politischen Geschehen jene Elemente herauszuholen, die geeignet und notwendig sind, der staatlichen Gemeinschaft eine Gestalt zu geben und zu sichern. So hat das Recht die politische Bewegung einer verfaßten Ordnung zuzuführen. Bei diesem Vorgang werden dann die politischen Leitbilder zu verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien, politische Begriffe zu Rechtsbegriffen. Die tragenden politischen Vorstellungen von Gerechtigkeit und öffentlichem Wohl gehen in unverbrüchliche Regeln ein, die nicht nur das Leben der einzelnen bestimmen, sondern auch die öffentliche Gewalt mit den in ihr wirksamen politischen Kräften binden. Der politische Gedanke verläßt den Raum seiner Erzeugung, um im Rechte Wirklichkeit zu werden.

Bei der Umsetzung der Politik in Verfassung und Gesetz ist darauf zu achten, daß eine praktikable Rechtsform gefunden wird. Das von der Politik beeinflußte Recht muß auch im Ver-

ohne Komplikationen vollzogen waltungsalltag werden können.

Vor allem aber kommt es darauf an, daß das politische Geschehen soweit dem Recht überantwortet wird, als dies im Interesse einer überschaubaren, gerechten und wertgebundenen Staatsordnung erforderlich ist.

Durchaus berechtigt ist die Frage, ob die unser Gemeinschaftsleben beherrschenden politischen Faktoren in ausreichender Weise eine Institutionalisierung erfahren haben. Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes garantiert zwar die Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes und gibt für ihre Gründung, Ordnung und Finanzgebarung verbindliche Richtlinien. Aber das nach Artikel 21 Absatz 3 des Grundgesetzes erforderliche Parteiengesetz steht noch aus. Die innere Struktur der Parteien und die Art und Weise innerparteilicher Meinungsbildung entspricht nicht immer demokratischen Grundsätzen. Und nach wie vor umstritten sind die öffentlichen Rechte und Pflichten der Interessenverbände, so daß die Gefahr ihrer unkontrollierbaren Einwirkung auf den Staat keineswegs gebannt ist.

Nun können und wollen wir uns nicht der politischen Aktionsformen entledigen, die dem industriellen Zeitalter entsprechen. Doch bedarf die pluralistische Gesellschaft auch einer rechtlichen Bewältigung. Die weitverbreitete These, daß das gegenseitige Ringen der einzelnen Gruppen zwangsläufig einen Kompromiß herbeiführe, ist gefährlich. Sie entspringt einem mechanistischen Konzept, das allzu leicht einen Krieg aller gegen alle auslöst, weil es das Gruppenhandeln nicht einem gemeinsamen öffentlichen Wohl unterordnet. So ist es an der Zeit, die Kompetenzen der Parteien und Verbände noch klarer zu bestimmen um sie als unentbehrliche Faktoren unseres VerB fassungslebens im politischen Bewußtsein des gesamten Volkes zu verankern, um ihre legitime Aufgabe zu sichern und sie gleichzeitig vor Grenzüberschreitungen zu bewahren. Vielleicht sollte auch den Kräften unseres kulturellen Lebens ein größerer Einfluß im staatsrechtlichen Raum gesichert werden. Sie könnten dann ihre politische Aktivität gezielter entfalten, um inmitten der wirtschaftlichen Interessenkämpfe dem Geist Gehör zu verschaffen. Müller-Armack bereits im Jahre 1949 hat in seinem Werk über die „Diagnose unserer Gegenwart" eine solche Forderung erhoben und auf die geistigen Repräsentationszentren der Kirchen, der Universitäten, der Akademien, des Schrifttums und der Kunst hingewiesen. Daß in dieser Richtung entscheidende Schritte unternommen werden, ist nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein staatspolitisches Ziel ersten Ranges.

2. Das Recht ist das Maß der Politik, weil die Verrechtlichung der Politik selbst immer unter einem normativen Gebot steht Werden die politischen Postulate in rechtliche Verfassung transformiert, so sind die vorstaatlichen Rechtsgrundsätze zu beachten, denen auch die verfassunggebende Gewalt unterworfen ist. Die personale Würde des einzelnen steht ebenso wenig zur Disposition irdischer Rechtsetzungsorgane wie das Minimum an Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, das jede Rechtsordnung zu verwirklichen hat.

Die Verrechtlichung der Politik durch das Parlament hat in den Schranken der Verfassung zu erfolgen, die freilich für politische Entscheidungen ein weites Feld abstecken. Politische Maßnahmen der Verwaltungsbehörden müssen den Gesetzen entsprechen. Soweit sie (wie zum Beispiel Versammlungsverbote) unmittelbar in den Rechtskreis von Personen eingreifen, bedürfen sie einer besonderen, das heißt rahmen-mäßig bestimmten, gesetzlichen Ermächtigung. So hat das Recht gegenüber der Politik eine begrenzende Funktion zu erfüllen. Es stellt die Maßstäbe auf, die die Rechtmäßigkeit aller politischen Handlungen bestimmen. Damit errichtet es einen Damm gegen jene Eigengesetzlichkeit des Politischen, die sich im Streben nach der Macht um der Macht willen manifestiert; die in der Loslösung politischer Interessen vom allgemeinen Wohl zum Ausdruck kommt; die politische Initiative mit blindem Herrschaftswillen identifiziert und in der Willkür ihre letzte Chance sieht. Das Recht mahnt zur Objektivität und zur Rücksicht auf die Rechte Dritter. Der Überspannung politischer Ambitionen stellt es die Forderung nach Selbstbeherrschung und Ausgleich entgegen.

Die Garantie dafür, daß das Recht wirklich das Maß der Politik abgibt, liegt zunächst bei der Gerichtsbarkeit. Auf Grund der verfassungsrechtlichen Generalklausel des Artikels 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel des § 40 der Verwaltungsgerichtsordnung sowie der (nach Artikel 93 und 100 des Grundgesetzes und §§ 90 ff.des Bundesverfassungsgerichts-gesetzes)

dem Bundesverfassungsgericht zugewiesenen Kompetenzen können heute praktisch alle politischen Rechtsakte Verwaltungsund verfassungsrechtlicher Art gerichtlich nachgeprüft werden. Damit wird die Politik nicht an die Rechtsprechung als einen sachfremden Bereich ausgeliefert. Es ist keine Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, wenn es darüber entscheiden soll, ob ein innerstaatliches Gesetz, die Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrag oder ein sonstiger Hoheitsakt mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Wer das behauptet, relativiert den Wert der Verfassung und der Rechtsordnung insgesamt. Wenn alle Hoheitsakte einschließlich der politischen an das Recht gebunden sind, dann besteht auch die Möglichkeit, daß sie das Recht verletzen. Dann muß es aber auch einen Weg geben, um ihre Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit festzustellen. Bei der verfassungsgerichtlichen Justitiabilität politischer Maßnahmen geht es nicht darum, daß das Gericht an Stelle der obersten Staatsorgane selbst Politik treiben, das heißt eine zweckmäßige politische Entscheidung treffen soll. Es hat lediglich zu prüfen, ob eine hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit umstrittene Maßnahme verfassungskonform ist. Verstößt sie gegen die Verfassung, so ist sie rechtswidrig.

Vor diesem Makel kann sie auch nicht ihr politischer Charakter bewahren.

Nun mögen freilich bei der Anwendung der Verfassung Friktionen entstehen, weil sich über die Bedeutung gewisser Institutionen und Kompetenzregelungen noch keine communis opinio innerhalb von Staatspraxis, Rechtsprechung und Rechtslehre gebildet hat. Das Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts hat diesen Tatbestand sehr deutlich werden lassen. Mit freimütigem Verantwortungsbewußtsein auf der einen Seite und dem gebotenen Respekt vor dem obersten Verfassungsgericht als dem Hüter der Verfassung auf der anderen Seite müssen die Beteiligten dann versuchen, die Friktionen zu beseitigen und eine sachgemäße Lösung zu finden. Im übrigen ist noch immer eine Korrektur der Verfassung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber möglich, wenn eine Verfassungsnorm politisch unzweckmäßig erscheint. Keinesfalls aber darf die alte Theorie von den rechtsfreien Regierungsakten wieder zum Leben erweckt werden. Aus dem Gebäude unseres Rechtsstaates würde damit ein Eckstein heraus-gebrochen werden.

Die Maß-Funktion des Rechtes wird durch die Judikative als die dritte Gewalt im Staate institutionell gesichert. Darüber hinaus ist aber auch jeder Jurist vor die Aufgabe gestellt, sich gegenüber der Dynamik des Politischen das Unterscheidungsvermögen zwischen Recht und Unrecht zu bewahren. Es gibt keinen Dispens von der Rechtsordnung, ohne daß diese in ihrem Fundament erschüttert würde. Weist sie Lücken und Schwächen auf, so darf sie nur relormiert aber nicht in Frage gestellt werden. Der Opportunismus, der sich wider besseres Wissen und Gewissen dem Druck politischer Mächte beugt, ist ein gefährliches Symptom rechtlicher und moralischer Dekadenz, mag er sich in Gutachten, in Wahl-beziehungsweise Abstimmungsentscheidungen oder in publizistischen Stellungnahmen äußern. Das Recht verliert seine Autorität, wenn es — den Sophisten ausgeliefert — zum Spielball der Politik degradiert und mit konstruktiven Kniffen für den Einzelfall zurechtgebogen wird. Und eine Politik wird unglaubwürdig, wenn sie die Institutionen mißachtet, von denen sie getragen wird.

So muß der Jurist wissen, wann für ihn der Status confessionis gegeben ist, der ihn verpflichtet, ohne Rücksicht auf mögliche Konflikte gegen eine politische Entscheidung Stellung zu nehmen. Freilich darf Zivilcourage nicht mit Überheblichkeit verwechselt werden. Der Kotau vor der Macht ist ebenso bedenklich wie die Hybris des Juristen gegenüber der Politik. Es ist ein schwerwiegender Irrtum anzunehmen, die Politik könne in vollem Umfange im Rechte aufgehen oder durch das Recht ersetzt werden. Juristischer Perfektionismus lähmt die Politik, weil er ohne Sinn für den schöpferischen Elan politischen Handelns eine rechtliche Regelung auch dort anstrebt, wo sie überflüssig und schädlich ist. Wer schließlich politische Entscheidungen nur unter den Aspekten der Rechtmäßigkeit und der Rechtswidrigkeit würdigen will, verkennt gründlich das Wesen der Politik. Politische Maßnahmen können auch dann zum Untergang eines Gemeinwesens führen, wenn sie mit der Verfassung und den Gesetzen vereinbar, aber unzweckmäßig und damit politisch falsch sind. Ein Staat ohne Recht verleugnet die Freiheit und Würde seiner Bürger. Ein Staat ohne Politik aber gerät in einen Zustand der Lethargie. Es gibt politische Qualitäten, die keine Rechtsordnung zu entwickeln vermag. Zu ihnen gehören: der geniale Blick für die Entwicklung der Dinge, die richtige Beurteilung der Lage, der richtige Entschluß zur rechten Zeit, Zivilcourage und Selbstkritik, die Fähigkeit der Menschenführung, Durchschlags-und Überzeugungskraft, Wendigkeit, Beharrlichkeit und Opferbereitschaft. Die Herausbildung einer politischen Elite kann rechtlich vielleicht begünstigt, aber niemals garantiert werden. So gibt es innerhalb der Grenzen des Rechtes einen weiten Raum, in dem sich politische Aktivität nicht nur entfalten darf, sondern entfalten muß. In ihm werden die Richtlinien der Politik festgelegt; in ihm werden die großen und kleinen politischen Entscheidungen vorbereitet und gefällt; in ihm ereignet sich jene leitende und vollziehende Tätigkeit, die Wert oder Unwert, Kraft oder Ohnmacht des Staates bestimmt. Fühlt sich der Jurist berufen, selbst politisch in Aktion zu treten, so wird er erst recht bemüht sein, das ihm auferlegte rechtliche Ethos im politischen Gedränge zu bewähren. Mit aller Entschiedenheit wird er jener Bewußtseinsspaltung entgegentreten, die sich darin zeigt, daß die rechtliche Würdigung eines Sachverhaltes nicht nach adäquaten objektiven Kriterien erfolgt, sondern dem jeweiligen politischen Standort des Beurteilenden angepaßt wird. Wenn jemand als Jurist eine politische Entscheidung für rechtswidrig hält, so kann er sie nicht im Gewände des Politikers billigen. Er wird das Maß des Rechtes für die Politik erkennen, gerade weil er selbst politische Verantwortung zu tragen hat.

Das gemeinsame Telos von Recht und Politik

Die bisherigen Erörterungen haben die Spannung gezeigt, die zwischen Recht und Politik besteht. Sie wird sich nur dann lösen lassen, wenn das gemeinsame Telos erkannt wird, das beide Bereiche beherrscht.

Recht und Politik zielen gleichermaßen darauf ab, das Leben des Menschen in der Sozialität mit seinesgleichen zu ermöglichen. Der Mensch in seinen Beziehungen zu anderen Menschen ist der Gegenstand des Rechtes. Und im Mittel-punkt der Politik steht gleichfalls der Mensch in seiner Verknüpfung mit dem Leben und den Interessen anderer Menschen, die zueinander und auseinander streben; der Mensch innerhalb von Gruppen und Verbänden, deren Existenz eine auf Macht gestützte Herrschaft verlangt. So bestimmen Recht und Politik gemeinsam die Weise menschlichen Seins und Wirkens in der staatlichen Gemeinschaft. Entscheidend für ihr richtiges Verständnis ist daher das Bild des Menschen, dem sie zugeordnet sind. Es ist von einer nur dem Begriff und der Legalität verschriebenen Jurisprudenz ebenso oft mißachtet worden wie von einer Politik, die sich ausschließlich mit der Methode der Machtgewinnung und -erhaltung befaßte.

Was aber ist der Mensch? Und welche Maximen ergeben sich aus seinem Wesen für Recht und Politik? Wer diese Fragen stellt, beschwört das Naturrecht mit der ganzen Last seiner ungelösten Problematik. Der Verdacht liegt nahe, daß der Ruf nach einer vom Menschen her bestimmten materialen Grundlegung von Recht und Politik ein Griff in die Sterne Ist, der sich über die harten und zuchtvollen Kategorien wissenschaftlichen Denkens hinwegsetzt; der die wissenschaftlichen Prinzipien — wie zum Beispiel die Gesetze der Logik und der Kausalität — ignoriert; der eine Auflösung der Systeme von ihrem Scheitelpunkt her einleitet und an die Stelle solider Erkenntnisse das unverbindliche Bekenntnis setzt. Doch dürfen wir nicht vergessen, daß auch im Recht und in der Politik jedes System an Prämissen gebunden ist, die einen meta-juristischen und meta-politischen Ursprung haben. Und diese Prämissen sind die Quellen, aus denen die Systeme ihre Legitimität, ihr Leben und ihre Substanz empfangen. Sie sind uns freilich nicht in der gleichen Evidenz vorgegeben wie die Fülle des geschriebenen Rechtes in einer Zeit der Massenproduktion von Gesetzen und Verordnungen. Aber sie sind uns aufgegeben. Sie müssen immer erneut in Frage gestellt und gesucht werden. Sie sind eine Wahrheit, die — wie Karl Jaspers einmal gesagt hat — „nur wirklich“ ist „im Kampf der geistigen Mächte"; die nur die einzelnen im Wege der Reflexion ergreifen können, um sie dem Bewußtsein der Rechtsgemeinschaft zu vermitteln.

Es mag uns noch so schwer fallen, in den Gegebenheiten unserer Existenz jene Prämissen festzustellen. Aber trotz der unabweisbaren Aporien dürfen wir doch eine Aussage über den Menschen machen, die ein tragfähiges Fundament allen Rechtes und aller Politik ist, mag sie auch in der jeweiligen konkreten historischen Situation noch einer besonderen Ausformung bedürfen. Wenn wir, von eigenen Wert-und Lebenserfahrungen ausgehend, das Ringen des Menschen um die Erkenntnis seines Wesens, um die Deutung von Sinn und Inhalt seines Lebens überschauen, so können wir den Menschen in der Weise bestimmen, daß wir sagen: Es ist der Mensch, dessen Herkunft durch Geschöpflichkeit gekennzeichnet ist und dessen Weg in eine Ferne weist, die im Geheimnis letzter Dinge steht; es ist der Mensch, der aus der Transzendenz Sinn und Auftrag seines stets gemeinschaftsgebundenen Lebens bezieht, damit er es im Bewußtsein sittlicher Freiheit und Verantwortung mit allem Ernst und mit aller Hingabe erfülle. Heute gilt es mehr denn je, dieses Bild als Mittel-und Richtpunkt von Recht und Politik im Auge zu behalten. Während die Apparaturen wachsen und den Kern der Person zu überwuchern drohen, muß der Mensch den Kampf um Macht und Recht gewinnen. Dann wird das Recht nicht in der Technik der Rechtsetzung und Rechtsanwendung erstarren und sich jeder Politik als willfähriges Werkzeug zur Verfügung stellen. Und dann wird die Politik die ihr gesetzten normativen Maßstäbe nicht verletzen, um in die Seelenlosigkeit und Anonymität der Machtfunktionen abzugleiten. In einer Zeit, da das Leben des Menschen durch eine einmalige globale Verkettung, durch eine äußerste Verdichtung und Intensität gekennzeichnet ist, da sich der Mensch anschickt, neue Dimensionen seiner Herrschaft einzufügen, da nach einem bekannten Worte Heisenbergs „Verschiebungen in den Fundamenten unseres Daseins" eintreten — in dieser Zeit wachsen die Verantwortungen ins Ungemessene. Das mag uns veranlassen, alle Energien zusammenzuraffen und zu entfalten, um jenem taedium rerum publicarum — dem Ekel vor der Beschäftigung mit den öffentlichen Dingen — entgegenzutreten, der am Markt unseres Gemeinschaftslebens zehrt. Der Wissenschaft aber obliegt die besondere Aufgabe, Recht und Politik in ihren metaphysischen Bezügen zu erhellen und damit beide Bereiche unter die Verantwortung des Geistes zu stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl Konrad Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, Festgabe für Smend, Tübingen 1962.

Weitere Inhalte

Klaus Obermayer, Dr. jur., o. Professor für Staats-, Verwaltungs-und Kirchenrecht an der Universität Erlangen—Nürnberg, geb. 5. Mai 1916 in Wiesbaden.