Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Sowjetunion vier Monate nach Chruschtschows Fall | APuZ 9/1965 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 9/1965 Die Sowjetunion vier Monate nach Chruschtschows Fall Zur kommunistischen Konzeption des „neuen Menschen" .

Die Sowjetunion vier Monate nach Chruschtschows Fall

Borys Lewytzkyj

Schon bald nach Chruschtschows Sturz im Oktober vorigen Jahres kam allgemein das Schlagwort vom „Chruschtschowismus ohne Chruschtschow" auf, und die Überzeugung, daß vor allem die von ihm vertretene Außenpolitik, aber auch alle anderen von ihm eingeleiteten Maßnahmen von der Sowjetunion weiter verfolgt würden, wurde besonders genährt von den Warnrufern aus dem prochinesischen Lager. Gleich in den ersten Tagen nach Chruschtschows Sturz wurden die neuen Führer in Moskau von dieser Seite her beschworen, den alten Kurs nicht fortzusetzen. Die chinesische Zeitschrift Hongqui, Nr. 21/22, 1964, schrieb, daß „die amerikanischen Imperialisten, die Reaktionäre aller Länder und die modernen Revisionisten ganz offen die Hoffnung aussprechen, daß ein sogenannter Chruschtschowismus ohne Chruschtschow möglich wäre. Daraus wird nichts, das kann man kategorisch voraussagen".

Gebietssekretäre Gesamtzahl d. Gebiets-parteisekr. RSFSR *) Ukraine Belorußland Usbekistan **) Kasachstan Kirgisien 37 HO 31 12 75 5 Industrie 9 24, 30/0 55 5O, On/o 1 1 35, 40/0 3 24, 9% 11 14, 6% 2 40, 0% Landwirtschaft 27 72, 9% 48 43, 6% 18 57, 9% 7 58, 3% 34 45, 20/0 3 60, 00/0 andere 1 7 2 2 30 — 270 91 33, 6% 137 50, 6% 42 15, 5% *) nur 1. Gebietssekretäre **) Gebietskomitee der KPU Taschkent wurde noch nicht gewählt

Wenige Monate sind seither vergangen. Doch trotz dieser kurzen Zeitspanne bestätigt die Entwicklung in der Sowjetunion eindeutig, daß wir es bei der Formel „Chruschtschowismus ohne Chruschtschow" wirklich nur mit einem kurzlebigen Schlagwort zu tun hatten und daß in Wirklichkeit ein neuer historischer Zyklus in der Geschichte dieses Systems und der sowjetischen Gesellschaft seinen Anfang genommen hat. Was jetzt geschieht, kann man schwerlich als Fortsetzung des Chruschtschowismus bezeichnen, weil das markanteste Merkmal der neuen Politik gerade die Demontage des Chruschtschowschen Erbes ist und verschiedene wichtige Maßnahmen, die Lieblingskinder seines rastlosen Geistes waren, einfach aufgehoben worden sind. Schon wenige Wochen nach Chruschtschows Abtretung wurde die Parteireform vom November 1962 annulliert. Dieser schwerwiegende Eingriff war mit einer Reform der administrativen Gliederung der Sowjetunion auf Rayonsebene verbunden. Die neuen Führer scheinen auch weit davon entfernt, die Chruschtschowsche Landwirtschaftspolitik fortzusetzen; die neugefaßten Beschlüsse werden auch auf diesem Gebiet tiefgreifende Änderungen hervorrufen. Augenblicklich steht die Chruschtschowsche Schulreform im Kreuzfeuer der Kritik. Das alles kennzeichnet die „Demontage des Chruschtschowschen Erbes". Sie erfaßt noch eine Reihe weiterer jetzt umstrittener Fragen, die alle Chruschtschowsche Reformen betreffen.

Aber nicht genug damit. So kurz die seit Chruschtschows Fall abgelaufene Zeit auch sein mag, schon tauchen auf den verschiedensten Gebieten des sowjetischen Lebens neue Fragen auf, die sich entweder bisher nicht stellten oder von den Chruschtschowisten künstlich in den Hintergrund gedrängt wurden. Nachstehend wollen wir versuchen, einen Überblick über diese jüngste Entwicklung zu geben. Aus verständlichen Gründen können hier jedoch nur die Kernfragen behandelt werden, wobei wir uns auf die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion beschränken wollen. Einzige Ausnahme wird die Frage der Beziehungen zwischen sowjetischen und chinesischen Kommunisten bilden, die im Endkapitel dieser Arbeit besprochen wird.

Parteireform und administrative Neugliederung Das Novemberplenum des ZK der KPdSU von 1964 faßte einen Beschluß „Uber die Vereinigung der industriellen und landwirtschaftlichen Gebiets-bzw. Landesparteiorganisationen" Die neuen Führer beschlossen zum territorialen Organisationsprinzip der Partei zurückzukehren, wie es vor dem Novemberbeschluß von 1962 bestand. Durch die damaligen Chruschtschowschen Reformen wurden die Rayonsparteikomitees (Bezirksparteikomitees) aufgelöst, statt dessen entstanden die Parteikomitees der Produktionsverwaltungen für Kolchosen bzw. Sowchosen und andere Leitungsorgane. Da die Auflösung der Rayonsparteikomitees mit einer Zusammenlegung der Rayons in großem Ausmaß verbunden war, bedeutete das, daß sich die jetzige Annullierung der Chruschtschowschen Reform automatisch auf die administrative Gliederung der Sowjetunion auswirken müßte. Diese ganze Umstellung ist erst im Januar dieses Jahres zu einem gewissen Abschluß gekommen. Es handelt sich dabei nicht um Vorgänge an der Oberfläche — im Gegenteil, die getroffenen Maßnahmen werden tief in das Gefüge des Staates eingreifen.

In der sowjetischen Presse erschienen mehrere Berichte, in denen die Gründe für die Annullierung der Chruschtschowschen Reform dargelegt wurden. Die negativen Folgen dieser Reform lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Chruschtschowsche Parteireform schwächte die Rayonsparteiorganisation empfindlich. Während früher die Rayonsparteikomitees eine sehr wichtige Stütze der Partei und des Staates waren, verloren die Parteiorganisationen jetzt in den zerstückelten Rayons ihre Kampfkraft.

Eines der Ziele der Chruschtschowschen Reform von 1962 war die Vereinfachung des Parteiapparates und seine Entbürokratisierung. In Wirklichkeit war es jedoch umgekehrt. Der Parteiapparat in den Gebieten wurde noch mehr aufgebläht.

Die bürokratischen Auswüchse nahmen überhand, die Unterhaltskosten für den Apparat nahmen ständig zu.

Das eingeführte Produktionsprinzip ließ die Zustände in der Wirtschaft noch chaotischer werden, weil es den Parallelismus verstärkte. Die Parteiapparate begannen sich mit den gleichen Problemen zu beschäftigen wie die Wirtschaftsapparate.

Die Chruschtschowsche Reform verstärkte den schon vorhandenen Drang der Partei-bürokratie, die Tätigkeit der Wirtschaftsapparate und der Verwaltung zu ersetzen.

Damit ist die Liste der negativen Ergebnisse der Chruschtschowschen Parteireform jedoch noch nicht erschöpft. Auch die Ausbildung der Kader wurde durch diese Reform ungünstig beeinflußt. Das Hin und Her bei der Um-und Neubesetzung der Parteistellen beschleunigte die sowieso schon vorhandene Fluktuation der Kader, und gar manchen führenden Funktionär verließ nachgerade der Mut, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen, worunter natürlich die ganze Parteiarbeit zu leiden hatte. Die Parteireform schwächte auch die Bindungen zwischen den Industriezentren und der Landwirtschaft. Das hatte nicht nur fatale Folgen wirtschaftlicher Natur, sondern wirkte sich auch auf die kulturelle Entwicklung nachteilig aus

Nach Beschluß des Novemberplenums des ZK der KPdSU von 1964 sollte die Vereinigung der geteilten Gebietsparteikomitees und die Wiederherstellung der Rayonsparteikomitees bis Ende 1964 abgeschlossen werden. Wie kompliziert es war, die ineinander verschachtelten Parteiorganisationen wieder voneinander zu lösen und neu zusammenzusetzen, davon zeichnet eine kürzlich erschienene Dokumentation ein anschauliches Bild.

Aus allen möglichen uns vorliegenden Dokumenten geht hervor, daß vor allem die Wirtschaftsmanager und ein Teil der gehobe-nen Parteifunktionäre von den bisherigen Industrieparteiorganisationen mit der Chruschtschowschen Reform unzufrieden waren und daher mit der teilweisen Wiederherstellung des früheren Zustandes ganz einverstanden sind. Anders verhält es sich offenbar mit den Parteifunktionären aus den landwirtschaftlichen Organisationen, die mit der neuerlichen

Umkrempelung gar nicht zufrieden sind. Im Dezember fanden in allen Unionsrepubliken Gebietsparteikonferenzen statt, die sich mit der Vereinigung der geteilten Gebietsparteikomitees beschäftigten. Erstaunlich war dabei, daß aus den Berichten über diese Veranstaltungen hervorgeht, daß die bisherigen Landwirtschaftsparteifunktionäre die Chruschtschowsche Parteireform überhaupt nicht oder nur sehr wenig kritisierten, überraschend sind auch einige Berichte, in denen bisher für die Landwirtschaft verantwortliche Gebiets-funktionäre über verschiedene nach der Reform von 1962 erzielte Erfolge berichteten. Das war besonders für die Sowjetukraine typisch. Auf den dort stattfindenden Gebietsparteikonferenzen hoben die Landwirtschaftsparteifunktionäre rühmend hervor, wie weit die Rückstände einiger Kolchosen doch inzwischen aufgeholt worden seien, mit welchem Nutzeffekt die Landwirtschaft inzwischen arbeite usw. Einige gehobene Funktionäre aus den Landwirtschaftsparteiorganisationen versuchten auch in Zeitschriftenartikeln die Chruschtschowsche Reform öffentlich zu verteidigen, indem sie nachwiesen, wie erfolgreich sie die Intensivierung und Spezialisierung der Landwirtschaft vorangetrieben hat

Die Aufhebung der Chruschtschowschen Parteireform von 1962 hat offenbar bei den in den landwirtschaftlichen Organisationen eingesetzten Funktionären eine Welle des Mißtrauens ausgelöst. Sie sehen in diesem Beschluß sehr wahrscheinlich eine gegen sie gerichtete Maßnahme. Das zwang den Parteiapparat, bei der Zusammenlegung der Gebietsparteiorganisationen (und auch der Landesparteiorganisationen) die Empfindlichkeit der Landwirtschaftsparteifunktionäre zu schonen und sie äußerst rücksichtsvoll zu behandeln. Wie rücksichtsvoll, dafür gibt es einige ganz interessante Hinweise. Im Dezember waren z. B. die Wahlen der neuen Gebietsparteikomitees abgeschlossen. Während in der RSFSR nur Angaben über die Ersten Gebietsparteisekretäre gemacht wurden, wurden in den anderen fünf Republiken mit Gebietsgliederung alle neugewählten Gebietsparteisekretäre genannt. Gestützt auf unser eigenes Archiv ist es möglich, die Frage genau zu beantworten, wieviele der neugewählten Sekretäre aus den bisherigen industriellen bzw. landwirtschaftlichen Gebietsparteiorganisationen stammen. Die nachstehende Tabelle zeigt diese Aufgliederung.

Ganz offensichtlich wurden also mit Ausnahme der Ukraine die Funktionäre aus den Landwirtschaftsgebietsparteikomitees bei der Ernennung der neuen Gebietsparteisekretäre deutlich bevorzugt. Sie konnten auf diese Weise ihre durch die Chruschtschowsche Reform privilegierten Positionen behalten. Ein Sonderfall liegt in Kasachstan vor. Hier wurde nicht nur ein beträchtlicher Teil von bisherigen gehobenen Landwirtschaftsfunktionären in die neuen Gebietsparteikomitees gewählt, sondern auch eine auffallend große Zahl neuer Parteifunktionäre. Es ist daher auszurechnen, daß die Zusammenlegung der Gebietsparteiorganisationen in Kasachstan entweder mit einer Erneuerung der Kader oder einfach mit einer Säuberung gekoppelt war.

Um die Tragweite der Umstellungen in der Partei besser zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, was alles aut Rayonsebene verändert worden ist. Schon in den ersten Verlautbarungen nach dem Novemberplenum der KPdSU 1964 erklärte die neue Führung, daß die Wiederherstellung der Rayonsparteiorganisationen äußerst vorsichtig vorgenommen werden müsse. Die Erfahrung hatte nämlich gezeigt, daß sich in vielen Fällen die von Chruschtschow vorgenommene Zusammenlegung der Rayons positiv ausgewirkt hatte. Keinesfalls sollte daher die Aufhebung der Parteireform zur Wiederherstellung der Zahl der Rayons von vor 1962 führen. Nur in einigen Ausnahmefällen sollte eine Verkleinerung der Rayons erfolgen. Die neuen Führer kritisierten an der Chruschtschowschen Reform, daß sie zu hastig und wenig durchdacht durchgeführt wurde. Doch bei einiger Überlegung wird selbst dem mit der Materie nicht vertrauten Leser klar, daß auch die von den neuen Führern so kurze Zeit nach der Aufhebung der Chruschtschowschen Reform durchgeführten Maßnahmen durchaus nicht in ruhiger Atmosphäre und wohl durchdacht ausgeführt worden sein konnten. In den Republiken kam es zu einem Streit zwischen den verschiedenen Schichten der lokalen Bürokratie. In einigen Fällen zum Beispiel verteidigten die Vertreter der Wirtschaftskreise die zusammengelegten Rayons, dagegen konnte die Parteibürokratie von einer größeren Zahl der Rayons nur profitieren. Sehr oft mußte die Sachlichkeit dem sozialpolitischen Aspekt der lokalen Bürokratie den Platz räumen. Aus den Angaben, die im Januar in der Tagespresse veröffentlicht wurden, geht hervor, daß von einer mechanischen Rückkehr zur alten Rayonsaufgliederung keine Rede sein kann. Der Parteiapparat versuchte einen Mittelweg zu finden. In der größten Republik, der RSFSR, gab es vor 1962 z. B. 1 946 Rayons, im Januar 1965 bestanden dagegen nur 1 551. Welche gewaltige und komplizierte Arbeit dabei bewältigt werden mußte, zeigen folgende Angaben aus der RSFSR. Durch verschiedene jetzt getroffene Maßnahmen wurden 108 Industrie-und 6 Dorfrayons aufgelöst, 1 030 Dorfrayons in einheitliche Rayons verwandelt und 521 Rayons neu gebildet

Aus den anderen Republiken ist folgendes bekannt: In der Ukraine gab es vor der Reform von 1962 604 Rayons. Seit Januar 1965 bestehen dort 334 einheitliche Rayons. In Belorußland bestehen anstatt 131 Rayons vor der Reform 100 einheitliche Rayons. In Kasachstan anstatt 189 Rayons 151.

Der Mittelweg des Parteiapparates — die Gründung einer etwas geringeren Zahl der Rayons — muß in erster Linie als politische Maßnahme betrachtet werden. Ähnlich wie bei der Besetzung des neuen Gebietsparteikomitees mußte der Parteiapparat auch hier viele Zugeständnisse an die lokale Parteibürokratie machen. Zur Zeit ist eine neue Welle der Fluktuation der Parteikader festzustellen. Im Zuge der Chruschtschowschen Reformen wurde das Parteipersonal auf Rayonsebene beträchtlich vermindert und dafür der Parteiapparat in den Gebieten vergrößert. Im Augenblick besteht umgekehrt ein großer Bedarf an Parteifunktionären auf Rayonsebene. Alles das endete mit einer Schwächung der Position des Parteiapparates innerhalb der Struktur des Systems. Entscheidend aber ist, daß der Traum Chruschtschows, die Partei durch die ständige Auslese der Parteikader in eine Eliteorganisation zu verwandeln, zerronnen ist. Haupt-nutznießer der Aufhebung der Chruschtschow-sehen Reformen ist die Parteibürokratie der untersten Stufe, also gerade jene Elemente, die von der modernen aufgeklärten Bürokratie stets als Ballast betrachtet werden und die in den letzten zwei Jahren im wirtschaftlichen und politischen Leben auf dem Lande keine nennenswerte Rolle spielen konnten.

Der ewige Widerstreit des sowjetischen Systems: die Beziehungen zwischen Partei und Staat Bekanntlich wurden die Machtbefugnisse nach dem Sturz Chruschtschows geteilt. An der Spitze des Parteiapparates steht Leonid Breschnew; Regierungschef wurde Alexej Kossygin.

Aus verständlichen Gründen ist die Frage, ob es sich hierbei nur um eine vorübergehende taktische Maßnahme handelt oder um den Ausdruck bestimmter Transformationsprozesse innerhalb des sowjetischen Systems, von prinzipieller Bedeutung. Unter den westlichen Beobachtern herrscht diesbezüglich keine einheitliche Meinung. Ein Teil vertritt die Ansicht, daß es im Wesen der totalitären Herrschaftsmethoden der Partei liege, eine ähnliche Personalunion der höchsten Partei-und Staats-apparate anzustreben, wie sie bei Stalin und später auch bei Chruschtschow gegeben war.

Beide waren bekanntlich nicht nur Partei-, sondern auch Regierungschefs. Die andere Gruppe neigt zu der Auffassung, daß die erwähnte Trennung kein taktisches Manöver, sondern die Folge der zunehmenden Modernisierung des sowjetischen Systems sei und aus der Notwendigkeit entspringt, den Wirtschaftsmanagern und dem Staatsapparat einen größeren Spielraum und größere Selbständigkeit einzuräumen.

Verfolgt man die Äußerungen der sowjetischen Presse genauer, so zeigt sich, daß das Problem in Wirklichkeit noch viel tiefer geht, als die zuletzt erwähnte Expertengruppe es vermutet.

In dem Aufsatz, der als Unterlage für die Ausbildung von Parteifunktionären und von Lehrpersonal an Parteischulen dient, werden die Beschlüsse des Oktober-und des November-plenums der KPdSU wie folgt kommentiert:

„Das Lehrpersonal soll sich besonders mit den Beschlüssen des ZK der KPdSU vom Oktober und November 1964 beschäftigen. Diese Plenen sind ein neuer Beweis dafür, wie sehr das Zentralkomitee um eine erfolgreiche Verwirklichung der Generallinie der Partei besorgt ist. Den Forderungen des Programms und den Statuten der Partei entsprechend hat die Partei eine zusätzliche Garantie geschaffen, um eine übermäßige Konzentration der Macht in den Händen einzelner Funktionäre unmöglich zu machen und zu verhindern, daß sie sich der Kontrolle durch das Kollektiv entziehen."

Nach dem Tode Stalins stand lediglich die Rückkehr zum Kollegialitätsprinzip zur Debatte. Chruschschow war selbst Vertreter dieses „Leninschen Prinzips". In der Ära Chruschtschow wurden die sowjetischen Führer aber darüber belehrt, welche Gefahren sich aus der übermäßigen Konzentration der Macht für das Kollegialitätsprinzip ergeben. Da Chruschtschow nicht nur Partei-, sondern auch Regierungschef war, hatte er automatisch alle Machtmittel in Händen, um allen seinen Mitarbeitern seinen Standpunkt aufzuzwingen.

Das war viel wichtiger als die Tatsache, daß er sich in dieser oder jener Angelegenheit nicht mit seinen nächsten Mitarbeitern beraten hatte. Zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren können wir in der sowjetischen Partei-literatur die Frage aufgeworfen finden, welche Garantie es wohl gebe, die Machtkonzentration in den Händen einzelner Parteifunktionäre zu unterbinden.

Nach dem Sturz Chruschtschows kam es zu einer interessanten Diskussion über die künftigen Beziehungen zwischen Partei-, Staats-und Wirtschaftsapparat, die noch immer andauert. Der Vorsitzende des Ministerrates der Belorussischen SSR, T. Kiselew, setzte sich öffentlich als erster Diskussionsteilnehmer für eine größere Unabhängigkeit der sowjetischen Staatsfunktionäre ein. In einem Artikel, der in der Iswestija vom 27. November 1964 erschien, spielte er auf die Zeiten des Personen-kults an und erwähnte dessen negative Folgen für das sowjetische System. Er ging auch auf die Chruschtschowsche Reform vom November 1962 ein und kam zu dem Schluß, daß diese verschiedene Einrichtungen, die auf wirtschaftlichem Gebiet durchaus ihre Aufgabe hatten, in ihrer Bedeutung gemindert habe. Er empfahl, den Funktionären die Entscheidungsfreiheit nicht weiter zu beschneiden und formulierte diesen Gedanken wie folgt: „Die Kommunistische Partei appelliert an alle Funktionäre . . . Initiative und Selbständigkeit in der Arbeit zu entwickeln, und sie unterstreicht, wie wichtig die persönliche Verantwortung für die Durchführung der gefaßten Beschlüsse ist." Kiselew protestierte dagegen, daß Funktionäre, Betriebe und Institutionen bei jeder Kleinigkeit durch die Partei gegängelt werden. Es ist unmöglich, hier genauer auf die mehr oder weniger interessanten Streitigkeiten und Reibereien zwischen den Partei-und den Staats-und Wirtschaftsapparaten, speziell in den Republiken, einzugehen. Ihre Bedeutung darf man aber auch nicht überschätzen, waren sie doch weitgehend von den recht chaotischen Zuständen hervorgerufen, die sich ihrerseits wieder aus der Annullierung der Parteireform ergeben hatten. Weit wichtiger wäre dagegen, die Frage zu beantworten, welche Stellung die Parteiführung zum Problem der Beziehungen zwischen den Staats-und Wirtschaftsapparaten einnimmt. In der Prawda vom 6. Dezember 1964 erschien ein Artikel unter dem Titel „Ein Staat des gesamten Volkes", dem große Bedeutung beigemessen wurde. Fast die gesamte sowjetische Presse druckte ihn nach. Die Partei zeigt in diesem Artikel eine sehr kompromißbereiteHaltung. Ein Teil des Schlußabsatzes soll hier wörtlich wiedergegeben werden:

„Die Festigung der führenden Rolle der Kommunistischen Partei ist unabdingbarer Bestandteil des gesamten Lebens und der Tätigkeit des Volksstaates. Sie resultiert daraus, daß die Partei, die ihre gesamte Tätigkeit auf der marxistisch-leninistischen Theorie und dem intensiven Studium der ökonomischen, sozialpolitischen und ideologischen Prozesse des gesellschaftlichen Lebens aufbaut, der konsequente Träger der wissenschaftlichen Ideen bei der Lenkung der Gesellschaft ist. Das Wesen des Leninschen Stils der Parteileitung besteht darin, daß es sich um keine administrative Leitung, sondern um eine Leitung höchsten politischen Typus handelt. Die Partei übt die politische Leitung aller staatlichen und gesellschaftlichen Organisation aus. Sie übernimmt jedoch nicht deren Funktionen, das heißt, die Funktionen der unmittelbaren Lenkung." Der Artikel erwähnt, wie sich Lenin einmal bildlich über die komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Partei-, Staats-und Wirtschaftsapparaten geäußert hat. Er verglich die Arbeit eines erfahrenen politischen Leiters sehr treffend mit der eines Dirigenten. „Der Dirigent ist Leiter eines Orchesters. Würde es nicht seltsam anmuten, wollte er, statt zu dirigieren, gleichzeitig selbst auf allen Instrumenten spielen? Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn ein Parteileiter versucht, alle konkreten Fragen selbst zu lösen, sich in alles einzuschalten. Dadurch wird nicht nur die „Musik’ verdorben und Fehlern bzw. einseitigen Entscheidungen Tür und Tor geöffnet, sondern die Aktivität jener Funktionäre gelähmt, die bevollmächtigt und kompetent sind, diese oder jene konkreten Fragen zu lösen. Außerdem hindert ein derartiger Arbeitsstil den politischen Leiter, sich mit seiner eigentlichen Aufgabe zu befassen, nämlich mit der Lösung großer, politisch bedeutungsvoller und in seinen Kompetenzbereich fallender Probleme."

Der Begriff der Parteileitung wird hier also eher so aufgefaßt, daß die Partei als integrierende Kraft der Gesellschaft dafür sorgen sollte, alle Institutionen, Apparate und Prozesse als Ganzes auf ein zukünftiges Ziel auszurichten, sie im einzelnen aber nicht zu bevormunden. Es wurden in den Parteiorganen aber auch Artikel veröffentlicht, in denen die Akzente ganz anders gesetzt sind und eher an die traditionelle Form der kommunistischen Diktatur erinnern. Einen solchen Artikel kann man in der Dezembernummer des Parteiorgans Kommunist, Nr. 18/1964, unter dem Titel „Die schöpferische Entwicklung der marxistischleninistischen Lehre von der Partei im Programm der KP der Sowjetunion" finden. Auch er ist als Ausbildungsmaterial für Funktionäre gedacht. Besonders wird das „exklusive Recht" der Partei auf totale Herrschaft darin betont.

Natürlich nur für die Zeit, in der der „Kommunismus" noch nicht erbaut ist. Diese These wird mit verschiedenen Argumenten untermauert. Bei einigen schaut der Pferdefuß, das traditionelle Mißtrauen der Funktionäre stalinistischer Schule gegenüber dem eigenen Volk und den verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen usw. gar zu deutlich heraus.

Es wird einfach behauptet, daß einzelne gesellschaftliche Organisationen sehr oft egoistische Ziele verfolgen und daß nur die Kommunistische Partei frei von jeglichem Vorurteil ist. Deswegen kann „nur die Partei richtig die gesamte Arbeit für den Aufbau des Kommunismus leiten und ihr einen organisierten, planmäßigen und wissenschaftlich begründeten Charakter verleihen"

Vieles spricht dafür, daß es keine einheitliche Front innerhalb der kommunistischen Partei-bürokratie in einer so wichtigen Frage wie der der Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gibt. Gleich nach Stalins Tod lagen diese Probleme viel einfacher als heute. Damals kristallisierten sich innerhalb der Parteibürokratie zwei Flügel — ein konservativer und ein aufgeklärter — heraus. Ein Verdienst Chruschtschows ist es, den konservativen Flügel zerschlagen zu haben, hauptsächlich im Bereich der Machtorgane. Die aufgeklärte Bürokratie war sich in dieser bestimmten, sehr kurzen Periode einig. Die immer neuen und immer komplizierter werdenden Probleme der sich ständig modernisierenden Gesellschaft begünstigen aber bestimmte Differenzierungsprozesse. Während ein Teil der Parteibürokratie die privilegierten Positionen des Parteiapparates mit allen Mitteln verteidigt, versucht der andere Teil — hauptsächlich technisch und akademisch gebil-dete junge Funktionäre — elastischere Formen der Zusammenarbeit zwischen Partei und Gesellschaft zu finden. Nicht die Monopolstellung der Partei soll begrenzt, vielmehr soll die Herrschaftstechnik in der Weise verändert werden, wie es der modernen Zeit entspricht. Dieses Problem bestand schon in der Ära Chruschtschow. Aber die bestehende Trennung der Machtbefugnisse auf höchster Ebene und die neue Qualität des Kollegialitätsprinzips bestätigen eindeutig, daß dieser Problemkreis in eine höhere Stufe eingetreten ist.

Die Modernisierung des Wirtschaftsmanagements Jede Etappe der sowjetischen Geschichte ist durch irgendeine dominierende Aufgabe gekennzeichnet. In der Stalin-Ära war es — allgemein gesagt — die Umwandlung der rückständigen Sowjetunion in einen Industriestaat. Dringlichste Aufgabe der Ara Chruschtschow scheint es gewesen zu sein, die Auswüchse des Stalinismus zu beseitigen. Nach Chruschtschows Fall und noch mehr seit dem Oktoberplenum von 1964 sind die Versuche, das sowjetische Management zu modernisieren, in den Mittelpunkt der gesamten Entwicklung gerückt und werden sich dort voraussichtlich auf Jahre hinaus halten.

Seit dem Oktoberplenum von 1964, als Chruschtschow gestürzt wurde, konnte man bei allen Schichten eine gewisse Unruhe beobachten. Einzige Ausnahme bildeten Wissenschaftler und Manager, die ganz offen ihre Zufriedenheit mit der neuen Wendung zeigten.

Im Oktober gab es nur eine Zeitung, die laufend optimistische und offensive Artikel veröffentlichte, nämlich die Ekonomitscheskaja Gaseta, das Organ der verschiedenen Gruppen des sowjetischen Wirtschaftsmanagements. Mannigfaltig sind die Probleme, die sich nach dem Abtreten Chruschtschows für die Wirtschaftspolitik ergaben. Zuerst mußten die unterschiedlichsten Folgen der Chruschtschow-sehen Reformen beseitigt werden. Für die Bevölkerung hatte die Reform der Lokalindustrie — das ist die den Ortssowjets unterstehende Industrie — besonders unangenehme Folgen. Die Abwertung der Rayons im Rahmen der Reform vom November 1962 lief parallel mit einer argen Beschneidung der Zuständigkeit der Ortssowjets. Die Lokalindustrie wurde den Volkswirtschaftsräten untergeordnet. Chruschtschow schwebte dabei vor, die Funktionen der Rayonssowjets im öffentlichen Dienst und in der Verwaltung zu erweitern, auch sollten die Volkswirtschaftsräte gleichzeitig Maßnahmen zur Modernisierung und Verbesserung der Tätigkeit der Lokalindustrie treffen. Doch liefen die Dinge ganz anders.

Niemand fühlte sich mehr so recht für die Kommunalbetriebe zuständig, und das hatte natürlich schwerwiegende Folgen. Hatten diese Betriebe früher die Bevölkerung mit allen Haushaltsgeräten — vom Teeglas bis zum Teigroller — versorgt, so verschwanden diese wichtigen Waren nach der Chruschtschowschen Reform plötzlich aus den Läden der Handelsorganisationen. Hatte man vorher sogar eine gewisse Auswahl, so waren nun, im Jahre des Chruschtschowschen Heils 1963, alle Haushaltsartikel von den Theken verschwunden und nur noch mit großer Mühe und oft zum dreifachen Preis aufzutreiben

Skandalös waren die Zustände bei den soge-nannten „Kulturwaren", womit verschiedene Musikinstrumente, Nationaltrachten usw. gemeint sind. Was die Chruschtschowsche Reform da für Blüten trieb, das müßte eigentlich in das „goldene Buch" der sowjetischen Bürokratenidiotie eingetragen werden. So wurden z. B. die Betriebe für Musikinstrumentenbau der Abteilung holzbearbeitende Industrie der Volkswirtschaftsräte unterstellt. Die Kommunalbetriebe, die Kehrbesen machten, gehörten in den Kompetenzbereich der Abteilung für Eisenbeton. Man kann sich vorstellen, welche Folgen das für die Tätigkeit dieser Betriebe hatte. Ihre Produktionskapazität wurde dadurch auf ein Minimum reduziert, und die Bevölkerung war der Leidtragende. Da jedoch die Nachfrage sehr groß war, versuchten die Handelsorganisationen ohne Rücksicht auf die Kosten aus den entlegensten Ecken der Sowjetunion wenigstens etwas aufzutreiben. Die Überwachung der Kommunalbetriebe durch die Volkswirtschaftsräte ist bis heute noch nicht rückgängig gemacht worden. Seit Chruschtschow nicht mehr da ist, fordert die Bevölkerung, besonders aber die Frauen, immer eindringlicher, daß mit diesem Unsinn Schluß gemacht und die Kommunalbetriebe wieder den Ortssowjets unterstellt würden. Das Beispiel der Kommunalbetriebe wurde hier erwähnt, um zu zeigen, wie groß die Verbitterung und der Ärger über diese Methoden war. Das waren keine theoretischen Beschuldigungen im luftleeren Raum, sondern handfeste Vorwürfe, wenn da über das unüberlegte Hin und Her in der Zuständigkeit, die dauernden Veränderungen im verantwortlichen Personal und die Irreleitung von Rohmaterial geklagt wurde. Die Sowjetführung steht also vor einem Problem, das sie bis heute noch nicht zu lösen vermochte, nämlich all das, was in der vorausgehenden Ära auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik geschehen ist, unter die Lupe zu nehmen und alles Störende und Unsinnige von dem Positiven zu trennen. Aber auch ein Unbeteiligter wird einsehen, daß eine solche Operation viel schwieriger ist als eine neue grundlegende Reform.

Die Lage für die neue Führung verschlechterte sich noch aus einem besonderen Anlaß. 1965 ist nämlich das letzte Jahr des Siebenjahrplanes. Da sich die nachchruschtschowistische Führung voll und ganz zu den Beschlüssen des XX., XXL und XXII. Parteitages bekennt, bedeutet das auch, daß sie die Verantwortung für den Siebenjahrplan übernimmt. In einigen Monaten läuft dieser aber aus, und in so kurzer Zeit können natürlich keine Wunder mehr geschehen. Der Landwirtschaft wird es z. B. nicht mehr möglich sein, auch nur annähernd das Soll des Planes zu erreichen. In der Industrie werden zwar die festgelegten Produktionsaufgaben erreicht werden, aber das wichtigste Ziel des Planes — eine qualitative Veränderung im Sinne des technischen Fortschritts und der Automation — wird unerfüllt bleiben. Nach Chruschtschows Sturz war die Diskussion über die Qualität der Erzeugnisse Frage Nummer eins der sowjetischen Fachpresse. Viele sowjetische Wissenschaftler und Wirtschaftsexperten erklärten sich mit Professor Liberman solidarisch, der vor kurzem äußerte, nicht das Entwicklungstempo, sondern die Verbesserung der Qualität der Produktion sei die dringlichste Aufgabe des Sowjetsystems. Er machte darauf aufmerksam, daß die mindere Qualität der Erzeugnisse schon in den vergangenen Jahren zu einer bedeutenden Abwertung des Entwicklungstempos führte

Es müsse jedem klar sein, daß zum Beispiel für die Gewinnung einer Tonne Koks mehr Kohle verbraucht wird, wenn diese minderwertig ist. Das ist eine Schraube ohne Ende, denn auch für die Gewinnung einer Tonne Metall werden größere Mengen Koks verbraucht, wenn dieser von schlechter Qualität ist. Und schließlich entscheidet die geringere Qualität des Koks wiederum über die Metall-qualität. Aus diesem Grunde werden die aus solchem Metall erzeugten Maschinen und auch Ausrüstungen frühzeitig reparaturbedürftig.

Das ist eine der Ursachen, warum sich in der Sowjetunion die größten Bemühungen in der Maschinenbauindustrie nicht so sehr auf die Intensivierung der Produktion der modernen Arbeitsmittel, sondern auf die Deckung des ständigen Bedarfs an Ersatzteilen konzentrieren. Die Qualität der Produktion ist ein Kernproblem der Effektivität der Produktion — das ist eine These, die bereits in der Ara Chruschtschow theoretisch anerkannt wurde. Die Tatsache aber, daß die sowjetischen Ökonomen und Betriebswirtschaftler sechs Jahre nach Ankündigung des Siebenjahrplanes alarmierende Artikel zu dieser Frage schrieben und die Qualität der Erzeugnisse in den Vordergrund der Diskussion stellten, zeigt, daß alle zahlenmäßige Planerfüllung nur Augenwischerei ist und sich hier einer der größten Mißerfolge des Siebenjahrplans und damit der Chruschtschowschen Epoche ankündigt. So gesehen, verstehen wir die gegenwärtige Stimmung in der sowjetischen Parteielite besser. Da ist keine Spur von Triumph bezüglich des Siebenjahrplans zu spüren. Alle jüngsten Diskussionen und Vorschläge beschäftigen sich gar nicht mehr mit dem Siebenjahrplan. Sie zielen schon in eine weitere Zukunft und erwecken den Eindruck, daß für die neuen Führer der Plan nicht mehr so verpfllichtend ist. Für sie begann vielmehr mit Chruschtschows Sturz eine neue Etappe, in der vieles anders, ohne Hast, mit Überlegung, auf „wissenschaftlicher Grundlage" usw. gemacht werden soll. Das sind zwar schöne, aber doch sehr allgemein gehaltene Worte, denn die sowjetische Führung hat bis heute noch nicht konkret gesagt, wie die Pläne für die nächste Zukunft aussehen sollen. Zwar erkennt die Parteiführung die Notwendigkeit einer raschen Modernisierung des sowjetischen Wirtschaftsmanagements an, aber es wäre vergeblich, eine Antwort von ihr zu erwarten, wie sich das alles verwirklichen läßt.

Die Gründe für diese Konzeptionslosigkeit verdienen ernsthaft untersucht zu werden. Augenblicklich ist die noch in der Endphase der Zeit Chruschtschows entstandene ökonomische Diskussion in eine neue Etappe eingetreten.

Offenbar hält es die Parteiführung für zweckmäßig, diese an sich spontane und nicht gelenkte Diskussion in Zukunft zu fördern und auch als meinungsbildenden Faktor zu betrachten. Deswegen ist es notwendig, einen kurzen Einblick in diese etwas außerhalb der Parteisphäre liegenden, jedoch für die Zukunft des sowjetischen Systems ausschlaggebenden Vorgänge zu geben.

Es ist keine allzu große Vereinfachung, wenn festgestellt wird, daß sich in der großen Diskussion über die Zukunft des sowjetischen Planungssystems und über die Wege der Modernisierung des Managements in der letzten Zeit zwei ziemlich klare Fronten gebildet haben. Ein Teil der Wirtschaftstheoretiker, Mathematiker, Kybernetiker und Wirtschaftsmanager vertritt den Standpunkt, daß das „ky-bernetische Zeitalter" in der Sowjetunion die zentrale Planung ungewöhnlich lördern wird.

Sie meinen, daß das moderne kybernetische Instrumentarium mit seinen neuesten Mitteln der Automatik, der Rechenanlagen, Buchungsmechanismen usw. alles zu bewältigen vermag, was der Bürokratie bis jetzt noch nicht gelungen ist, nämlich die gesamte Tätigkeit der Industrie-und Landwirtschaftsbetriebe in allen Details zu erfassen. Demgegenüber steht der andere Teil, der in der Erweiterung der Betriebsbelugnisse und in der Anpassung der Grundzelle der Volkswirtschaft — des Betriebes — an die moderne Entwicklung in Wissenschaft und Technik den einzigen Weg zur Modernisierung des sowjetischen Systems sieht.

Das Ringen zwischen den Anhängern der kybernetischen Utopia und den Anhängern der „Unternehmenswirtschait“ ist zur Zeit das Kernproblem der großen Auseinandersetzung über die Zukunit des sowjetischen Systems.

In der westlichen Presse wird dieses Dilemma sehr oft hauptsächlich deswegen übersehen, weil wir gewöhnt sind, die sowjetischen Probleme durch die traditionelle Brille und immer unter dem Blickwinkel des Konfliktes zwischen Parteiapparat mit „fortschrittlichen Kräften" zu betrachten. Die jüngste Entwicklung paßt jedoch nicht in dieses Konzept. Die Prediger des Superzentralismus sind diesmal nicht machthungrige Parteifunktionäre, sondern eine zahlenmäßig starke Gruppe von Wissenschaftlern, Mathematikern und Kybernetikern, von denen das Rezept zur Genesung des sowjetischen Systems mit Hilfe der Kybernetik stammt.

Kybernetik und Wirtschaftsmathematik haben in den letzten Jahren sehr große Fortschritte gemacht. Entscheidend sind dabei nicht so sehr die beachtlichen wissenschaftlichen Erfolge, als vielmehr die Tatsache, daß es den Kybernetikern und Mathematikern gelang, sich innerhalb verschiedener Apparate als autoritativer Faktor zu verankern. Heute bestehen fast in allen Republiken mehr oder weniger starke kybernetische Zentren. Für unser Thema sind folgende wissenschaftliche Zentralinstitutionen von Wichtigkeit: das Zentrale Ökonomisch-Mathematische Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, das Hauptrechenzentrum bei der Staatlichen Plan-kommission der UdSSR, das Forschungsinstitut zur Projektierung von Rechenzentren und System für ökonomische Informationen bei der Zentralen Statistischen Hauptverwaltung. Im staatlichen Komitee zur Koordinierung der wissenschaftlichen Forschungsarbeiten der UdSSR entstand eine Hauptverwaltung für die Einführung der Rechentechnik in der Volkswirtschaft. Ferner wurde im gleichen Staatskomitee ein überbehördlicher wissenschaftlicher Rat zur Einführung von mathematischen Methoden und Rechentechniken in der Volkswirtschaft gegründet. Alle diese Institutionen entfalteten noch in der ChruschtschowÄra eine ungewöhnlich lebhafte Tätigkeit. Für die Entwicklung waren besonders ihre Appelle an die öffentliche Meinung wichtig.

Wahrscheinlich ist in keiner Gesellschaft und nirgendwo in der Welt das Interesse der technischen Intelligenz, der Studenten und überhaupt der ganzen Jugend für die Revolution in Wissenschaft und Technik so groß wie in der Sowjetunion. Dieses wichtige psychologische Moment muß man sich stets vor Augen halten. Es war eine günstige Chance, die den Kybernetikern und Mathematikern in der Diskussion darüber, wie man die Lage möglichst schnell verbessern könne, zu einem ziemlich raschen Sieg verhalf.

Im vergangenen Jahr arbeitete eine Gruppe von Kybernetikern sogar einen konkreten Plan für die Schaffung eines neuen Systems der Planung und Wirtschaftsleitung aus. Sie schlug vor, vorerst ein einheitliches staatliches Netz von Rechenzentren zu schaffen, das eine dreistufige Struktur haben und durch die höchste Stufe — dem Hauptzentrum — unmittelbar den Regierungsorganen zur Verfügung stehen sollte

Es wäre jedoch ein Irrtum zu vermuten, daß die Anhänger der kybernetischen Utopia an die bürokratischen Traditionen der sowjetischen Planung und Wirtschaftsleitung anknüpfen wollten. Sie sind für eine Kontinuität des zentralistischen Planungssystems, betonen jedoch ausdrücklich, daß sich „gegenwärtig neue ökonomische Bedingungen herausgebildet haben, die neue wirtschaftliche Lösungen erfordern" Diese Gruppe akzeptiert die These, daß die Beziehungen zwischen den Konsumenten und den Produzenten der Erzeugnisse verändert werden müssen. Die Betriebe sollen in Zukunft keiner übertriebenen Aufsicht und Bevormundung unterworfen werden. Ihre Grundforderung aber lautet: „Bei aller weitgehenden und zweckmäßigen Anwendung der ökonomischen Hebel und des Hebelmechanismus dürfen wir niemals vergessen, daß die zentralisierte einheitliche Volkswirtschaftsplanung eine der größten Errungenschaften der sozialistischen Ordnung ist ... Die zentralisierte Planung darf nicht geschwächt, sondern muß verbessert werden." Die zweite Gruppe bilden die „Dezentralisten". Der stellvertretende Direktor der Zentralen Statistischen Hauptverwaltung, J. Malyschew, einer der beschlagensten Köpfe der sowjetischen Wirtschaft, äußerte sich im vergangenen Jahr in einem Round-Table-Gespräch folgendermaßen über die Anhänger der kybernetischen Utopia: „Ist es nicht seltsam, daß es Menschen gibt, die von einem zentralen Hauptrechenzentrum aus alles über unser weites Land — von den kühlen finnischen Felsen bis zum weißglühenden Kolchida, von Brest bis Wladiwostok — erfahren wollen, wie alle technologischen Arbeiten vor sich gehen, wie gesät wird, wie wer sich kleidet, wie alle Werkzeugmaschinen und Apparate arbeiten usw." Malyschew machte sich über jene lustig, die meinen, daß sie mit Hilfe der Eektronenrechenmaschinen endlich in der Lage seien, alle Details zu erfassen, von einem Zentrum aus alles zu kontrollieren, ja noch mehr, mit einem Druck auf den Knopf alle Fehler zu korrigieren. „Alles das ist Utopie", rief Malyschew sarkastisch aus, „weil die Gesellschaft keine Summe von Nullen und mathematischen Einheiten ist ... Die Zentral-planung muß ein allgemeines Ziel, ein allgemeingültiges Leitbild festlegen und der Bevölkerung ermöglichen, selbst die besten Mittel zur Lösung der gestellten Aufgabe ausfindig zu machen und anzuwenden."

Der bekannte Volkswirtschaftler Professor Liberman veröffentlichte Ende 1964 einen bedeutenden Artikel, in dem er ganz offen auf den Konflikt zwischen den Zentralisten und den Anhängern einer Planungsreform im Sinne der Emanzipation der Betriebe eingeht.

Wörtlich schreibt er folgendes: „In den Diskussionen ... hat sich erwiesen, daß einige Volkswirtschaftler nicht ganz richtige Vorstellungen von der Rolle des Systems einer kybernetischen Leitung haben. Sie meinen, daß es durch den Einsatz einer großen Zahl von Elektronenrechenmaschinen von unten nach oben möglich sein wird, die Planung grundsätzlich zu vervollkommnen, auch dann, wenn die heutigen Methoden beibehalten werden." Liberman machte darauf aufmerksam, daß sich kein kybernetisches System nur mit der Zentralisierung der gesamten Informationen und der Leitung aller Produktionsprozesse von einem Zentrum aus begnügen kann. „Das ist nicht möglich, egal wie schnell die Elektronenrechenmaschinen arbeiten." Er versuchte den Anhängern des „kybernetischen Superzentralismus" auch klarzumachen, daß ihre Einstellung dem Wesen des kybernetischen Systems widerspricht. „Die zentralisierte Regulierung sollte unbedingt konform gehen mit der Selbststeuerung der regulierten Objekte, um bei bestimmten, im voraus gestellten Bedingungen ein Optimum zu erreichen." Liberman meinte, daß die kybernetischen Maschinen nicht mehr geben könnten als das, was in ihnen an Primärinformationen, Exaktheit und Gründlichkeit gespeichert sei. Würden die Betriebe in der Sowjetunion weiter wie bis jetzt arbeiten, so werden die Resultate der durch die Maschinen verarbeiteten Informationen unrichtig sein. „Der Wunsch, alles zu planen, führt zu einer Erschütterung des Planes, nicht zu seiner Stärkung."

Die Position der Anhänger der erweiterten Betriebsbefugnisse ist insoweit besser, weil noch zu Zeiten Chruschtschows einige erfolgreiche Experimente eingeleitet wurden. Es handelte sich dabei um zwei Textilbetriebe — „Bolschewitschka" in Moskau und „Majak" in Gorki —, die die Aufgabe erhielten, neue Formen der Beziehungen zwischen Betrieben und Handelsorganisationen auszuprobieren. Sie bekamen keinen Produktionsplan, sondern richteten sich nur nach den Bestellungen der Handelsorganisationen, die die einzige Grundlage ihrer Tätigkeit bilden sollten. Auf diese Weise wurden die Rechte der beiden Firmen erweitert; der Vermittler — die Großhandelsorganisationen — wurde ausgeschaltet usw.

Nach dem Gelingen dieses Experiments wurde beschlossen, daß in nächster Zeit einige Konfektions-und Schuhfabriken in Moskau, Leningrad, Minsk, Taschkent und Kiew zur gleichen Arbeitsmethode übergehen sollten. Um eine strenge Einhaltung der Liefertermine zu erreichen, wurden sehr harte Bedingungen ausgehandelt. Für jeden Tag Verspätung bei der Lieferung von Rohstoffen, Materialien und Fertigerzeugnissen muß die schuldige Firma eine Strafe in der Höhe von 0, 3 °/o des Gesamt-wertes zahlen. Ab 20 Tagen erhöht sich die Strafe auf 5 Prozent. Die Handelsorganisationen sind berechtigt, zwei Monate vor Beginn eines jeden Quartals, und die Schuh-und Konfektionsbetriebe 45 Tage vorher ihre Bestellungen zu ändern bzw. zu korrigieren. Durch diese Maßnahmen will man das Assortiment der Produktion auf das von den Konsumenten gewünschte Niveau bringen.

Dieses Experiment ist auch durch zahlreiche Berichte in der westlichen Presse bekannt geworden. Es wird jedoch im Zusammenhang damit sehr oft ein übertriebener Optimismus geschürt. Die erwähnten Betriebe sind nämlich nicht in der Lage, den Bedarf der ganzen Bevölkerung zu decken, auch wenn sie davon informiert sind. In der Sowjetunion sind einige Textilien und Rohstoffe Mangelware, d. h. die Betriebe können nur bei den durch den Plan festgestellten Mengen eine bestimmte Verbesserung der Erzeugnisse erzielen. Außerdem ergab das Experiment, daß diese Firmen vorläufig nur mit größeren Handelsorganisationen direkt zusammenarbeiten dürfen. Die Verbindung mit kleineren Handelsorganisationen, die nur an geringeren Lieferungen interessiert sind, mußte als Verlustgeschäft abgelehnt werden.

Wenn sich die sowjetische Regierung trotzdem entschlossen hat, das Experiment auszuweiten, so bestätigt das nur, wie dringend notwendig Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität sind. 1965 mußte die sowjetische Regierung im Staatsbudget eine Summe in Höhe von 1, 3 Milliarden Rubel für die Preissenkung einiger Produktionserzeugnisse, wie Textilien, Schuhe und andere Waren, zur Verfügung stellen. 1964 gab es in den Lagern der sowjetischen Handelsgeschäfte für 2, 1 Milliarden Rubel schwer abzusetzende Warenvorräte, davon für 1, 6 Milliarden Rubel Textilien, Konfektionserzeugnisse und Schuhe. Der Sowjetbürger wird anspruchsvoller, er will nicht mehr alles kaufen, sondern nur das, was er braucht und was ihm gefällt. Wollte die Sowjetregierung dies weiterhin ignorieren, so müßte sie dafür tief in den Staatssäckel greifen.

Auch die Betriebsdirektoren rühren sich und geben so den „Dezentralisten" Oberwasser. Sicher nicht zufällig meldeten diese Kräfte schon in den letzten Monaten der Ara Chruschtschow ihre Ansprüche an und sie protestieren lauthalts gegen die ständige Bevormundung der Betriebe durch uneinsichtige Planbehörden und bürokratische Staatsapparate. Man braucht nur eine Zeitung aufzuschlagen, um den Artikel eines Betriebsdirektors zu finden, der die unhaltbaren Zustände bis in alle Einzelheiten enthüllt.

Die Diskussion über die Zukunft des sowjetischen Wirtschaftssystems erfaßt immer neue Schichten der sowjetischen Gesellschaft, die das Für und Wider der beiden gegensätzlichen Standpunkte, des der Zentralisten und des der Dezentralisten, abwägen. Auch der Standpunkt der Partei scheint nicht einheitlich zu sein. Vieles spricht dafür, daß ein Teil der gehobenen Parteifunktionäre in der kybernetischen superzentralistischen Utopia das ideale Zukunftsmodell der sowjetischen Gesellschaft sieht. Eine „kybernetische Verwaltung" des ganzen Landes, die Möglichkeit, wiederum alles „perfekt" zu manipulieren, imponiert manchen Apparatschiks aus verständlichen Gründen. Es wäre naiv zu vermuten, daß die Gegner der Zentralisten für eine Abschaffung der Planwirtschaft seien und daß sie die Entwicklung in Richtung einer „Marktwirtschaft" lenken wollten. Sie verlangen nur eine radikale Anpassung des sowjetischen Planungssystems an die Erfordernisse des technischen Fortschritts und der Automation. Manche Autoren sprechen sogar von der Notwendigkeit, das Leninsche Prinzip des „demokratischen Zentralismus" den modernen Zeiten anzupassen. Das Planungssystem sollte effektiver werden, indem es nur eine Richtlinie darstellt, um den Betrieben und der Bevölkerung die Möglichkeit für eine maximale Entfaltung ihrer Initiative zu geben. Diesen Standpunkt vertraten verschiedene Kräfte der sowjetischen Gesellschaft, in erster Linie jedoch die Betriebsdirektoren und auch ein überwiegender Teil der technischen Intelligenz. Aber auch ein Teil der Parteibürokratie unterstützt die „Dezentralisten", besonders die lokalen Parteibürokraten. Für sie sind die wirtschaftlichen Aspekte natürlich zweitrangig. Aus Chruschtschows Experimenten haben sie gelernt, daß jede Dezentralisierung für die Festigung ihrer gesellschaftlichen Position nur von Vorteil ist. Chruschtschow kam aus verschiedenen Gründen zu Fall. Ausschlaggebend war jedoch zweifellos die Tatsache, daß die Probleme der Wirtschaftsleitung und Planung in der letzten Zeit so kompliziert geworden waren, daß sie mit Improvisationen und ständigem Experimentieren nicht mehr gelöst werden konnten. Als das Zentralkomitee der KPdSU Chruschtschow im Oktober des vergangenen Jahres stürzte, war sich die sowjetische Parteielite wahrscheinlich nicht klar darüber, daß sie dadurch eine nicht unbedeutende These Lenins revidierte. Er meinte nämlich seinerzeit, daß sich die Probleme eines modernen Staates immer mehr vereinfachen würden, daß in Zukunft sogar eine Köchin — so drückte er sich bildlich aus — Präsident werden könne. Chruschtschow war eine Leninsche Köchin. Er war den Aufgaben der modernen Zeit nicht gewachsen. Seine Nachfolger haben das bestätigt, indem sie eine Kampagne gegen die Chruschtschowschen Improvisationen einleiteten und eine Politik auf „wissenschaftlicher Grundlage" ankündigten. Aber bis heute warten wir noch auf eine konstruktive Konzeption zur Lösung der hier angeschnittenen Probleme. Eine neue Rolle der Wissenschaft?

Der Sturz Chruschtschows war Wasser auf die Mühlen der sowjetischen Wissenschaftler, die mehr Autonomie zu erreichen hoffen. Einige Tage nach dem Oktoberereignis schrieb der stellvertretende Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, W. Kirillin: „Eine erfolgreiche Entwicklung der Wissenschaft verlangt einen breiteren und freien Austausch der Meinungen unter den Wissenschaftlern, der weder durch den Einfluß höherer wissenschaftlicher Autoritäten noch durch inzwischen entstandene und Tradition gewordene Standpunkte eingeschränkt sein sollte."

Besonders zu beachten sind auch die jüngsten Vorgänge auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Gleich nach Chruschtschows Sturz setzten die sowjetischen Wissenschaftler alles daran, um den bekannten Agrobiologen Lyssenkow aus seiner angemaßten Stellung zu vertreiben. Den ersten Stoß führte die Literaturzeitschrift Literaturnaja Gaseta, die ein Round-Table-Gespräch organisierte, das vom Direktor des Instituts für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Professor B. M. Kedrow, mit folgenden Worten eröffnet wurde: „Wir. haben uns hier versammelt, um über den Stand der gegenwärtigen biologischen Wissenschaft zu diskutieren, über die Lage, in der sie sich befindet, über das, was wir, Menschen verschiedener Berufe, berechtigt sind, von der Biologie in Zukunft zu verlangen. Jahrelang wurde die freie Meinungsäusserung in der Biologie durch Methoden ersetzt, die mit wissenschaftlichem Leben, wissenschaftlichem Schaffen und freier Diskussion unvereinbar sind. Der Standpunkt einiger dogmatisch eingestellter Persönlichkeiten wurde als die Wahrheit ausgegeben und durfte weder diskutiert noch kritisiert, noch auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft werden. Zwar hat sich nach dem XX. Parteitag die Lage etwas zum Besseren gewendet, aber auch bis in die jüngste Zeit hinein wurden nicht alle Dummheiten ausgemerzt."

Dieses Gespräch bestätigte eindeutig, daß der Schützling Stalins und später Günstling Chruschtschows einfach ein Betrüger und Hochstapler war. Der Doktor der biologischen Wissenschaft W. P. Jewroimson erinnerte daran, daß die in den zwanziger Jahren als höchste Errungenschaft der Agrobiologie gefeierte „Jarowisation" (die Beschleunigung der Entwicklung der Pflanzen durch entsprechende Temperatureinwirkung zu Beginn der Samenteilung) nur Bluff und daß alle Ziffern, die Lyssenko seinerzeit veröffentlicht hatte, Fälschungen waren.

Kurze Zeit darauf veröffentlichte eine landwirtschaftliche Tageszeitung einen Bericht über die Zuchtstiere der Experimentierfarm Lyssenkos „Gorki Leninski". Chruschtschow hatte dieses Experiment in vielen Reden gepriesen. Die Milch der weiblichen Nachkommen dieser Stiere wies angeblich mehr Fettgehalt auf. Auf dem Januar-Plenum des ZK der KPdSU von 1961 hatte Chruschtschow voller Begeisterung ausgerufen: „Doch was bedeutet es, den Fettgehalt der Milch auch nur um 0, 1 Prozent zu erhöhen? 1959 wurden in den Kolchosen und Sowchosen 30 Millionen Tonnen Milch produziert. Nimmt man von dieser 0, 1 Prozent Fett, so ergibt das zusätzlich 30 000 Tonnen Sahne oder 36 000 Tonnen Butter, d. h. eine Menge Fett, die 300 000 Kühe bei einem durchschnittlichen Milchertrag von 2 600 kg Milch geben. Das ist eine wirkliche, mit dem Leben und der Praxis verbundene Wissenschaft."

Die Abhalfterung Lyssenkos war ein wichtiger Präzedenzfall, der nicht allein für die Agrowissenschaft Bedeutung hat. Sicherlich hat Chruschtschow nicht bewußt einen gewöhnlichen Schwindler unterstützt. Dieser Fall wirft aber ein bezeichnendes Licht auf die Einstellung der Partei und ihres Apparats zu Wissenschaft und Gelehrten, auf die doch so großer Wert gelegt wird. Die Lyssenkoschen Stiere werden für die Parteifunktionäre noch lange ein abschreckendes Beispiel bleiben. Sie können daraus lernen, wie gefährlich es für ihre eigene Karriere ist, einen aus ideologischen Gründen angenehmen Wissenschaftler besonders zu protegieren. Und umgekehrt wird es in Zukunft keine wissenschaftliche Autorität wagen, von irgendeinem Apparatschik Hilfe zu erbitten, um einer wissenschaftlichen These Ansehen zu verschaffen.

Der Drang der Wissenschaftler nach größerer Freiheit und Selbständigkeit hält unvermindert an. Unter Chruschtschow hatte die Wissenschaft innerhalb des Systems außerordentlich an Bedeutung gewonnen, aber dadurch wurden die Gelehrten häufiger als bis dahin gezwungen, sich auch mit praktischen Problemen zu befassen. Außerdem wurden sie so sehr mit dem Parteikram der bürokratischen Apparate belastet, daß ihnen für eigene Forschungsarbeiten wenig Zeit blieb. Diese Frage erörterte vor kurzem der bekannte medizinische Wissenschaftler W. W. Parin. „Seit vielen Jahren schon kämpfen wir vergeblich gegen das gewissermaßen neben der Wissenschaft grassierende Sitzungsfieber, das mit all diesen zahllosen Kommissionen und Komitees zusammenhängt, deren Arbeit häufig nichts anderes als Gereiztheit und Bedauern über die verlorene Zeit hinterläßt." Die administrative Einmischung in die Wissenschaft hat aufgehört, stellte er fest, und die modernen Zwei-ge der Wissenschaft wie Kybernetik und Bionik machten sehr rasche Fortschritte.

Nur am Rande können hier die neuesten Ereignisse auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften erwähnt werden. Hierher gehört der Vorschlag von F. Burlazkij, einen für sowjetische Verhältnisse neuen wissenschaftlichen Zweig, die Politologie, aufzubauen. Diese Wissenschaft beschäftigt sich bekanntlich mit Problemen, die unter den Begriff der Herrschaftstechnik fallen. Verschiedene dieser Fragen wurden bisher durch die Gesellschaftswissenschaften erörtert. Burlatzkij meint aber, daß es durch die Einführung der „politischen Wissenschaft" in der Sowjetunion möglich sein wird, verschiedene Fragen tiefgehender als bisher zu erforschen und zu behandeln. Welches sind nach ihm die Aufgaben der Politologie? „Diese Wissenschaft ist dazu berufen, die grundlegenden Fragen zu beantworten, die sich aus der Vervollkommnung der Formen und Methoden zur Leitung der Gesellschaft, der genauen Aufteilung von Funktionen, Rechten und Pflichten auf sämtliche Glieder des Verwaltungsapparats und aus den Problemen der Kaderförderung und -ausbildüng ergeben." Dieser Vorschlag liegt also auf der von Kossygin angekündigten Linie, wonach die gesamte Politik der Partei auf eine „wissenschaftliche Grundlage" zu stellen ist. Natürlich steht auf einem anderen Blatt, wie sich die Politologie unter den sowjetischen Bedingungen entwickeln wird; das können nur Zeit und Erfahrung erweisen. Vorläufig sind nur die Bestrebungen interessant, bei der Lösung der laufenden Probleme über die Grenze des bisherigen Ideengutes hinaus-zugehen. Auf gleicher Linie liegen die jüngsten Versuche kommunistischer Theoretiker, die Entwicklung in der Soziologie zu beherrschen und in den Dienst des „kommunistischen Aufbaus" zu stellen. Einerseits wird die Soziologie eindeutig als spezifische Wissenschaft anerkannt, andererseits will man aber alles unternehmen, damit sie sich nicht als streng empirische Wissenschaft entwickelt. Die Gründe dafür sind recht verständlich, da die Ergebnisse einer solchen Entwicklung in der Soziologie von großer Tragweite und ein überzeugender Impuls für notwendige ideologische Korrekturen sein könnten. Deswegen verlangen einige Theoretiker im Namen der Partei, daß sich die Soziologie auf die Erforschung solcher Erscheinungen konzentrieren soll, die ihr im Rahmen der gesamten Gesellschaftswissenschaft zugewiesen werden. Dabei will die Partei nicht etwa auf die sozialkritische Forschung verzichten, sie ist im Gegen-teil für „soziale Experimente", die im „Prozeß des kommunistischen Aufbaus" erfolgen und sich auf verschiedene Gebiete des sowjetischen Lebens erstrecken sollen. Die sowjetischen Soziologen konnten seit zwei, drei Jahren ihre Tätigkeit sehr stark intensivieren, aber die kommunistische Bürokratie wird sich noch lange und oft den Kopf darüber zerbrechen, welchen Standort dieser Zweig im Rahmen der gesellschaftlichen Wissenschaften einnehmen soll

Die Landwirtschaftspolitik Schon wenige Tage nach dem Sturz Chruschtschows deuteten die sowjetischen Führer einen neuen Kurs der Landwirtschaftspolitik an. In seiner Rede auf dem Roten Platz erklärte Breschnew: „Man sollte den Kolchosen und Sowchosen bei der Organisation und Planung ihrer gesellschaftlichen Produktion nicht nur mit Worten, sondern auch in der Tat mehr Rechte einräumen." Diese Worte waren noch am Ende des vergangenen Jahres letzter Schrei der politischen Mode. Die gesamte Presse, besonders die der Provinz, wiederholte sie in den verschiedensten Varianten. Vielleicht war das teilweise künstlich manipulierte Propaganda. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß die Ankündigung eines neuen Kurses auf dem Lande von der landwirtschaftlichen Technokratie, den Kolchosvorsitzenden und Sowchosdirektoren wirklich begrüßt wurde. Die Erklärung Breschnews — vier Monate nach Chruschtschows Sturz — blieben jedoch nur „Worte". Taten ließen die neuen Herren vorläufig nicht sehen.

Der einzige landwirtschaftliche Beschluß, der gewisse Chruschtschowsche Maßnahmen aufhob, bezog sich auf eine Erweiterung der Rechte der sogenannten Nebenwirtschaften.

Zuerst wurden solche Maßnahmen in der Sowjetukraine getroffen. Auf Grund eines gemeinsamen Beschlusses des ZK der KP und des Ministerrates der Ukraine wurden alle Vorschriften aufgehoben, die nach 1955 die Rechte der Kolchosbauern und -angestellten in bezug auf ihre Nebenwirtschaften eingeschränkt hatten. Es wurde beschlossen, daß die in der Ära Chruschtschow stark verkleinerten Nebenwirtschaften wieder auf den Stand von vor 1955 gebracht werden sollten. Ferner wurden die staatlichen und genossen-schaftlichen Organisationen verpflichtet, die Nebenwirtschaften zu unterstützen, was besonders für die Viehhaltung von Wichtigkeit ist. Auch verschiedene Verbote und Einschränkungen aus jener Zeit — soweit sie den Besitz von Kühen betrafen — wurden aufgehoben Zwei Tage später erklärte Breschnew in der schon erwähnten Rede, daß die Partei dem Privatbesitz auf dem Lande nicht länger Hindernisse in den Weg legen werde. Stürmischen Beifall bekam er, als er erklärte: „In den letzten Jahren wurden auf'diesem Gebiet verschiedene unbegründete Einschränkungen durchgeführt, obwohl die ökonomischen Bedingungen für einen solchen Schritt noch nicht reif waren. Alle diese Einschränkungen werden jetzt außer Kraft gesetzt." Grundfalsch wäre es aber, wollte man daraus schließen, daß die KPdSU nach dem Abtreten Chruschtschows die Besitzformen in der Landwirtschaft ändern wollte. Davon kann keine Rede sein. Nur spielen die Einkünfte aus den Nebenwirtschaften im Budget der Kolchosbauern und der auf dem Lande bzw. in kleineren Städten wohnenden Intelligenz und der dort ansässigen Arbeiter eine lebenswichtige Rolle. Auch für die Lebensmittelversorgung der Großstadtbevölkerung liefern sie einen nicht zu verachtenden Beitrag. Daher entschlossen sich die neuen Führer aus rein taktischen Gründen zu den erwähnten Maßnahmen, die sie offensichtlich nur als zeitlich bedingt ansehen. Inzwischen haben die offiziellen Parteiorgane diesen Kurs genau erläutert; nüchtern geben sie zu, daß jede Politik, die sich heute gegen die Nebenwirtschaften richtet, die Lebensmittelversorgung automatisch verschlechtern und der städtischen Bevölkerung und den Kolchosbauern materiellen Schaden zufügen würde. Andererseits aber müsse alles unternommen werden, daß dieser neue Kurs nicht zur Stärkung „privatbesitzerischer Tendenzen" führe. „Es darf nicht zugelassen werden, daß die Privatwirtschaft zu sehr aufgebläht wird und daß sich bei einzelnen Kolchosbauern privatbesitzerische und spekulative Tendenzen zeigen."

Sehen wir also zu, was auf dem „sozialistischen Sektor" der Landwirtschaft wirklich vor sich geht. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich eine erstaunliche Parallele zu augenblicklichen Prozessen in der Industrie. Dort rebellieren die Betriebsdirektoren, Ingenieure und ein Teil der Ökonomen gegen die Bevormundung durch die Planbehörde und bürokratischen Apparate. Auf dem Lande haben wir es mit einer Fronde der landwirtschaltlichen Technokratie, der Kolchosvorsitzenden und Sowchosdirektoren zu tun. Was diese führenden Landwirte kritisch äußern, klingt aber ganz anders als alles, was von den neuen Herren bezüglich der Chruschtschowschen Landwirtschaftspolitik bisher zu hören war. Deren offizielle Kritik läßt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: Das organisatorische Versagen führte zu einem Chaos in der Landwirtschaft; erwies sich irgendwie etwas als richtig, wurde es gleich schablonenhaft auf ganz anders geartete Fälle übertragen; ein allgemeiner Hang, alles auf dem Verwaltungsweg zu erledigen; Verletzung des Prinzips, wonach die Kolchosbauern an ihrer Arbeit materiell interessiert werden sollten. Auch die Kritik an den Planungspraktiken kann dazu gerechnet werden. Bereits 1955 war beschlossen worden, den übergeordneten Instanzen zu untersagen, den Kolchosen und Sowchosen vorgefaßte Pläne aufzuzwingen. Dieser Beschluß blieb jedoch auf dem Papier. Es muß aber festgestellt werden, daß gerade Chruschtschow mit verschiedenen Mitteln versuchte, diesem Beschluß Leben einzuhauchen. Heute ist es leicht, Chruschtschow die Schuld für alle möglichen Verletzungen der Planungsordnung auf dem Lande in die Schuhe zu schieben;

diese Vorwürfe sind aber nur teilweise berechtigt. Zwar ist es wahr, daß diese Kritik an der Chruschtschowschen Landwirtschaftspolitik sehr wichtige Fragen betrifft, sie ist jedoch so allgemein gehalten, daß sie unter keinen Umständen als etwas prinzipiell Neues betrachtet werden kann. Nichts läßt auf eine wirkliche Wandlung in der Landwirtschaftspolitik schließen.

Ganz anders steht es dagegen mit dem einigermaßen konkreten und im Grunde genommen weitsichtigen Programm der rebellierenden landwirtschaftlichen Technokraten. In verschiedenen sowjetischen Zeitungen wie auch im Zentralorgan der Landwirtschaft Selskaja Shisnj erschienen nach Chruschtschows Abgang zahlreiche Artikel — sehr oft von mehreren Verfassern unterschrieben —, die eine wirklichkeitsnahe und dabei positive Kritik am sowjetischen Landwirtschaftssystem übten. In vielen dieser Artikel werden weitgehende Vorschläge zur Verbesserung der Landwirtschaftspolitik gemacht. Aus verständlichen Gründen ist eine genaue Analyse hier nicht möglich. Einige markante Punkte sollen aber herausgestellt werden.

So verlangen die Vertreter der Landwirtschaft die Beseitigung der unangenehmsten Form der Ausbeutung der Kolchosen, nämlich des erzwungenen Verkaufs der Überplanproduktion an den Staat. Bis heute müssen die Kolchosen die über den Plan erzielten Kontingente nämlich ebenfalls an den Staat verkaufen. Dabei wird der eigene Bedarf der Kolchose an Getreide für Futterzwecke nicht im geringsten berücksichtigt. Das hat fatale Folgen für die Vieh-und Geflügelzucht, und außerdem wirkt es demoralisierend auf die Kolchosbauern. Sie haben kein Interesse daran, den Plan überzuerfüllen. „Wir haben davon sowieso keinen Nutzen." Verschiedene Artikel verlangten eine Änderung dieser Verhältnisse. Für die Kolchosen sollten feste Erfassungspläne festgelegt werden, die unter keinen Umständen verletzt werden dürften. Die Kolchosleitung müsse aus eigener Initiative zu der Überzeugung kommen, daß sie einen Teil der über-planmäßigen Produktion ohne Schaden für ihre eigene Wirtschaft an den Staat verkaufen könne

Sprechen wir nun über die Preise der landwirtschaftlichen Produkte — das ist auch so ein heikler Punkt. Aus Presseberichten ist bekannt, daß schon zu Chruschtschows Zeiten wichtige Maßnahmen ergriffen wurden, um die staatlichen Einkaufspreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse anzuheben. Jetzt melden sich kritische Stimmen zu Wort, die vorschlagen, die Einkaufspreise noch weiter zu verbessern, um damit die Voraussetzungen für eine wirklich gewinnbringende Wirtschaft der Kolchosen zu schaffen. Die Mehrzahl der Kolchosen und Sowchosen liefern an den Staat sieben bis acht und manche sogar mehr als zehn verschiedene Arten an landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Darunter fallen auch Produkte, die zwar für den Staat äußerst wichtig sind, den Kolchosen aber nur rote Zahlen einbringen. Klar, daß nun die Forderung erhoben wird, der Staat möge, wenn er an solchen Produkten interessiert ist, die staatlichen Einkaufspreise dafür heraufsetzen, um den Kolchosen unverschuldete Verluste zu ersparen

Ein anderes erwähnenswertes Problem geht die Sowchosen (Staatsgüter) an. Schon in den vergangenen Jahren berichtete die Sowjet-presse laufend über die ständig wachsende Zahl der mit Defizit arbeitenden Sowchosen. Auf den ersten Blick ist diese Erscheinung unverständlich, weil bekannt ist, daß die Sowchosen bevorzugt mit Investitionen, technischer Ausrüstung und Chemikalien versorgt wurden. Dazu kommt noch das ideologische Moment, daß die Kommunisten die Staatsgüter als „höchste sozialistische Eigentumsform" auf dem Lande betrachten. Was stellte sich aber heraus? 1963 waren 70 Prozent aller Sowcho-21 sen Defizitbetriebe! Die Zeitungen schlugen Lärm. Sie beschuldigten die Leitung der Staatsgüter, daß sich auch bei ihnen die Tendenz zur „Selbständigkeit" bemerkbar mache 2S).

Der Beispiele gäbe es noch genug. Im Grunde genommen stellen alle diese Artikel, Leserbriefe und andere Dokumente einen Versuch dar, die Landwirtschaft von der primitiven Diktatur der bürokratischen Apparate zu befreien und für Kolchosen und Sowchosen mehr Entscheidungsfreiheit zu erzwingen. Ferner will man die Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und Staat neu gestalten, wobei die noch aus der Stalinzeit stammende rücksichtslose Ausbeutung durch ein rationelles System ersetzt werden soll, das beiden Seiten gerecht wird und die Landwirtschaft wirklich weiter bringt. Die Vertreter der Landwirtschaft nehmen also die Erklärungen der neuen Parteiführer über die größeren Rechte der in der Landwirtschaft Tätigen ernst und formulieren darüber hinaus ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche.

Im Januar veröffentlichte die Prawda wieder eine Erklärung der neuen Führer bezüglich der Landwirtschaftspolitik. Sie wurde von der gesamten sowjetischen Tagespresse nachgedruckt. In dem Artikel wird betont, daß auch 1965 beträchtliche Zuschüsse für die Landwirtschaft aus Staatsmitteln zur Verfügung stehen werden. Sie betragen einschließlich der Eigenmittel insgesamt 12, 4 Milliarden Rubel, davon stammen 7 Milliarden Rubel aus dem Staats-budget. Die Partei will auch die Mechanisierung der Landwirtschaft noch großzügiger unterstützen. Die Erklärung appelliert an die „schöpferische Einstellung" bei der Lösung verschiedener Landwirtschaftsfragen. Nach ihr sollen Kolchosbauern und Sowchosarbeiter mehr als bisher materiell an ihrer Arbeit interessiert werden. „Jeder Arbeitnehmer auf dem Lande soll davon überzeugt werden, daß, wenn er beser arbeitet, sich mehr Mühe gibt, mehr schafft, der Lohn für seine Arbeit desto höher wird." Einen Abschnitt über die Praktiken der vorangehenden Ara wollen wir dem Leser nicht vorenthalten, mangelt es doch darin auch nicht an guten Vorsätzen für die Zukunft. „In den letzten Jahren wurden oftmals unüberlegte schablonenhafte Empfehlungen und verantwortungslose Hinweise über Fragen der Agrotechnik, die Struktur der Anbaufläche, über Viehhaltung usw. gegeben. Entschlossen beseitigte die Partei diese Mängel in der Leitung der Landwirtschaft und unterstützte die schöpferische Initiative der Werktätigen auf dem Lande. Sie stellte sich die Aufgabe, den Kolchosen und Sowchosen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten bei der Organisierung und Planung ihrer gesellschaftlichen Produktion beizustehen. Nicht Kommandieren, nicht Administrieren, sondern die Initiative mit allen Mitteln entwickeln und fördern, den Bauern und Viehzüchtern die richtigen Wege für die Lösung der großen Aufgaben, die die Kommunistische Partei und die Regierung der Landwirtschaft gestellt haben, aufzeigen, das ist die Garantie für Erfolge."

Diese Botschaft wird sicher sehr gern von der sowjetischen Landbevölkerung gehört. Es wäre aber vergebliche Liebesmüh, einen einzigen konkreten Hinweis darauf zu suchen, wie die neue Linie — nicht Administrieren, nicht Kommandieren usw. — verwirklicht werden soll. Vielleicht haben wir es auch hier mit einer ähnlichen Situation wie in der Industrie zu tun, nämlich, daß die Partei erst einmal die Diskussion über bestimmte Fragen entfachen will, um dann auf dieser Basis die Probleme zu konkreter formulieren.

Die Rechenschaftsberichte in den Wahlversammlungen der Kolchosen vom Januar lassen aber wenig Gutes erhoffen. Zwar findet sich in den Zeitungen nur wenig Material darüber, aber es reicht völlig aus, um die Frage zu beantworten: „Ist in diesen Versammlungen irgendein neuer Gedanke aufgetaucht, eine Vorstellung, wie es nun besser gemacht werden soll?" Dabei sei daran erinnert, daß die Kolchosen laut Statuten eine Art Genossenschaften sind, bei welchen die Mitgliederversammlung das höchste Organ ist. In Wirklichkeit kann aber von einer „Kolchosdemokratie"

keine Rede sein. Daß sich der sowjetische Bauer in den Kolchosen als ein Fremder fühlt, ist nicht nur eine Folge der geringem materiellen Vorteile, sondern auch der politischen Situation, wie sie auf dem Lande besteht. Der Kolchosbauer hat in den Kolchosen absolut nichts zu sagen. Ein Parteiorgan bestätigte es selbst: „Es wurden Tatsachen bekannt, wonach in den Rechenschaftswahlversammlungen die Vertreter der Rayonsorganisationen die Kolchosdemokratie verletzten, indem sie den Mitgliedern der Versammlung einige Vorschläge von oben aufzwangen oder versuchten, eine Person für den Posten des Vorsitzenden der Kolchose vorzuschlagen, die keine Autorität besitzt und sich bereits auf anderen Posten kompromittiert hat."

Kulturelle Fragen Nach Chruschtschows Sturz haben sich die Beziehungen zwischen Partei und Schriftstellern und Künstlern nicht geändert. Es erschienen einige Artikel, in denen die Partei sich weiterhin zum „sozialistischen Realismus" bekennt und für die „Parteilichkeit" von Literatur und Kunst eintritt. Neues gibt es nicht in der Parteipolitik, sondern nur bei den Schriftstellern selbst. In der letzten Zeit erschienen in Literaturzeitschriften wieder Novellen, Gedichte und Romane jener jungen Schriftsteller, die von Chruschtschow seinerzeit stark angegriffen wurden. Es scheint also, daß die Redaktionen der Literaturzeitschriften zur Zeit wieder etwas selbstsicherer sind. Erwähnenswert ist der Roman des russischen Schriftstellers W. Solouchin, der in der November/Dezembernummer 1964 der Zeitschrift Molodaja Gwardia unter dem Titel „Matj — matschocha" („Mutter — eine Stiefmutter“) veröffentlicht wurde. Dieser Roman behandelt die Unterdrückungsmaßnahmen nach 1945 und spielt hauptsächlich in Studentenkreisen. Erstmals taucht hier in der sowjetischen Schönen Literatur eine Kritik an der „Shdanowschtschina“ auf, d. h. jener „Kulturpolitik", die Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg auf allen Gebieten der Kultur und Wissenschaft forcierte und der ihr Vollstrecker, Andrej Shdanow, den Namen gab. Solouchin schildert das Leben von Studenten, die 1946 kurz nach den Beschlüssen der Partei über die Zeitschriften „Swesda" und „Leningrad" und nach der Kritik an der bekannten Schriftstellerin Achmatowa, an dem Satiriker Soschtschenko und anderen verhaftet wurden.

Bemerkenswert auf kulturellem Gebiet sind auch die weiteren Rehabilitierungen. Die Veröffentlichung der Biographien der Stalin-Opfer wurde kurz nach dem Sturz Chruschtschows gestoppt; aber schon im November erschienen mehr solche Lebensbeschreibungen denn je.

Ihre Zahl geht bereits in die Hunderte. Auffallenderweise wurde jedoch eine Reihe besondes interessanter Lebensläufe erst nach Chruschtschows Abtreten veröffentlicht. Meist handelt es sich um politische Führer; aber in vielen Fällen sind es auch von Stalin liquidierte Schriftsteller, hauptsächlich aus der Ukraine, aus Transkaukasien und Mittelasien.

Hier sei auch noch auf die Versuche hingewiesen, die Chruschtschowsche Schulreform (1958) zu revidieren. Schon die Vorbereitungen zur Demontage des Chruschtschowschen Erbes im Schulwesen werden offenbar sorgfältig überlegt. In den letzten vier Monaten konnte man dabei eine zweigleisige Entwicklung feststellen. Zunächst handelt es sich um die von Par-B tei und Regierung beschlossenen vorbereitenden Maßnahmen. Die Akademie der Wissenschaften der UdSSR und die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der RSFSR bildeten gemeinsam eine Kommission, die sich mit der Reform der Lehrpläne für die Mittel-schulen befaßt. Diese Kommission besteht aus 15 Abteilungen. Es ist vorgesehen, bis zum Mai 1965 die erste Etappe der Arbeiten zu beenden. Die Tätigkeit dieser Sonderkommission ist sehr vielseitig. Im Vordergrund steht die Notwendigkeit, die Schulprogramme dem heutigen Stand der Wissenschaft und Technik anzugleichen, verschiedene didaktische Fragen zu lösen, veraltetes Material aus den Programmen zu entfernen usw. Aber auch die Frage der Beziehungen zwischen Allgemeinbildung und dem sogenannten Produktionsunterricht wird behandelt. Die neue Führungsspitze will sichtlich das weitere Schicksal der Chruschtschowschen Schulreform erst einmal in die kompetenten Hände der Pädagogen und Wissenschaftler legen. Von dieser Seite erwartet sie entsprechende Reformvorschläge. Vieles spricht dafür, daß schon mit Beginn des Schuljahres 1965/66 verschiedene Veränderungen des sowjetischen Schulsystems zu erwarten sind

Viel interessanter ist jedoch die Kritik an der Chruschtschowschen Schulreform, die zur Zeit auf gesellschaftlicher Ebene im Gange ist. Auffallend ist besonders der Beitrag eines Prawda-Mitarbeiters aus Kaluga, der im Januar erschien. Der Prawda-Korrespondent führte mehrere Gespräche mit Kindern und Eltern. Die Kinder, die ihre Produktionspraxis als Schlosser oder Dreher ableisteten, erklärten, daß sie keine andere Wahl hätten. Auf die Frage, ob jemand diesen Beruf nach Beendigung der Schule weiter beibehalten wolle, fiel die Antwort: „Fast niemand". Auch andere Beispiele zeigen, daß die Chruschtschowsche Schulreform wenig Sinn hatte. Der Korrespondent der Prawda schloß mit folgender Feststellung: „Das unbegründete Hin und Her in der Organisation, das in letzter Zeit die verschiedenen Wirtschaftszweige des Landes erfaßt hat, hat nun auch auf die Schule übergegriffen. Selbstverständlich muß man die Fehler ohne Hast, ohne voreilige Beschlüsse und wohl durchdacht mit Hilfe einer soliden Analyse und unter Berücksichtigung alles dessen, was die Erfahrung gelehrt hat, beseitigen."

Auch die Universitäten und Hochschulen beginnen immer lauter über die Chruschtschow-seheSchulreform zu klagen. Im Leitartikel des Organs des Ministeriums für hoch-und mittlere Fachschulbildung der UdSSR, Westnik wyschej schkoly, vom Dezember 1964 wird eine bedeutende Einschränkung der Produktionsarbeit der Studenten verlangt. Prinzipiell ist man nicht für die Abschaffung der Produktionsarbeit, es werden aber Vorschläge für eine „optimale Vereinigung der theoretischen Ausbildung mit der Produktionsarbeit" gemacht.

Der Konflikt mit China Wie bereits erwähnt, warnten die chinesischen Kommunisten Moskau vor einer Fortsetzung des „ Chruschtschowismus ohne Chruschtschow". Dieses Schlagwort paßt nicht für die jüngste Entwicklung. Diese stand, wenigstens innenpolitisch, tatsächlich im Zeichen der Abschaffung verschiedener Reformen und Institutionen aus der Zeit Chruschtschows, und auch der Arbeitsstil hat sich seither geändert. Doch alle diese Bemühungen fanden nicht den Beifall der chinesischen Kommunisten, die sich eher darüber ärgerten. In der vorliegenden Arbeit kann nicht auf die Veränderungen in der sowjetischen Außenpolitik nach Chruschtschows Fall eingegangen werden und ebensowenig auf die Veränderungen in der internationalen kommunistischen Bewegung. Notwendig erscheint es uns jedoch, wenigstens einige Grundprobleme der sowjetisch-chinesischen Auseinandersetzung nach Chruschtschows Sturz aufzuzeigen.

Immer mehr bestätigt sich, daß die wichtigste Ursache der Verschärfung des sowjetisch-chinesischen Konfliktes, nach dem heutigen Stand der Dinge, im unterschiedlichen Entwicklungsgrad der sowjetischen und chinesischen Gesellschaft zu suchen ist. Die chinesischen Kommunisten haben zum Beispiel im IX. Kommentar zum Offenen Brief des ZK der KPdSU „Uber den Pseudokommunismus Chruschtschows und die historischen Lehren für die Welt" die Maßnahmen zur Erhöhung des materiellen Interesses als Rückkehr zur bürgerlichen Ideologie bezeichnet.

Der Vorwurf, den man Chruschtschow macht, ist folgender: „Mit seiner eifrigen Propaganda für das materielle Interesse machte er alle Beziehungen zwischen den Menschen zu Geld-beziehungen, förderte Individualismus und Egoismus." Nach Chruschtschows Sturz wurde die Einführung eines Systems des materiellen Interesses der Arbeiter, Angestellten und Bauern zum dringendsten Problem, das in der nächsten Zeit gelöst werden muß. Die Parteiführung betonte inzwischen mehrmals, daß sie die Erhöhung des materiellen Interesses als wichtigen ökonomischen Hebel zur Verbesserung der Lage in der Industrie und den landwirtschaftlichen Betrieben betrachtet.

In dem chinesischen Dokument heißt es, daß Chruschtschow „die sozialistische Planwirtschaft sabotierte, das kapitalistische Profit-gesetz anwendete, die freie kapitalistische Konkurrenz förderte und das sozialistische Volkseigentum unterminierte". Man kann sich vorstellen, wie die chinesischen Parteitheoretiker schäumen werden, wenn sie von der Einführung des Profitmechanismus in dem Betriebe, der Kommerzialisierung der Kolchosen und Sowchosen und den Zugeständnissen an die Nebenwirtschaften usw. lesen.

Im Mittelpunkt des ideologischen Disputes zwischen Moskau und Peking steht die Frage der sogenannten „Aufhebung der Diktatur des Proletariats" in der Sowjetunion. Wie bekannt, wurde auf dem XXII. Parteitag erklärt, daß der Sowjetstaat ein „Staat des ganzen Volkes" und die These über die Diktatur des Proletariats für die Sowjetunion heute überholt sei. In dem aufgeführten chinesischen Kommentar befindet sich ein ganzes Kapitel unter dem Titel „Widerlegung der Behauptung vom so-genannten Staat des ganzen Volkes". Dort heißt es unter anderem: „Wenn Chruschtschow die Aufhebung der Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion proklamiert und den so-genannten , Staat des ganzen Volkes'verkündet, so zeigt das gerade, daß er die marxistischleninistische Lehre vom Staat durch bürgerliche Lügen ersetzt hat."

In der Sowjetunion sind seither mehrere politische Artikel erschienen, die sich mit den chinesischen Kommunisten auseinandersetzen.

Sie beziehen sich auf die Kritik des „Linksradikalismus", auf die Taktik in den Entwicklungsländern, auf die Außenpolitik, die Rolle des COMECON und verschiedene Fragen der internationalen kommunistischen Bewegung.

Für die Position der sowjetischen Kommunisten gegenüber den chinesischen von besonderer Bedeutung ist der Artikel „Ein Staat des gesamten Volkes", der in der Prawda vom 6. Dezember veröffentlicht wurde. Die neuen sowjetischen Führer bekennen sich voll und ganz zur These der „Erschöpfung der Diktatur des Proletariats" in der Sowjetunion. Die Gegner des Volksstaates werden als „Dogmatiker" bezeichnet, „die nicht gewillt sind, auf ihre gewohnten Formeln zu verzichten".

Es wird behauptet, daß der Übergang zum Volksstaat keine typisch sowjetische Erscheinung ist, sondern jede „sozialistische" Gesellschaft müsse in einer bestimmten Entwicklungsphase einen ähnlichen Weg beschreiten.

Der Prawda-Artikel machte den Chinesen folgenden schweren Vorwurf: „Unsere Partei weiß aus eigener Erfahrung, wer — und aus welchem Grund — daran interessiert war, jede Leitung mit Diktatur gleichzusetzen und auf der These zu beharren, der Klassenkampf werde nach Beseitigung der Ausbeuterklassen fortgesetzt (und verschärfe sich sogar). Dies sind typische Methoden, um Voluntarismus, Willkür und Gesetzlosigkeit zu rechtfertigen, die der Ideologie und Praxis des Personen-kults eigen sind."

Dynamik und Richtung der innerpolitischen Entwicklung in der Sowjetunion vertiefen automatisch die Kluft zwischen Moskau und Peking. Das hat mit der Person Chruschtschows nichts zu tun. Sein Person war vielleicht für einige nicht notwendige demagogische Auswüchse verantwortlich zu machen, nicht aber für das Wesen der großen Auseinandersetzung im kommunistischen Lager.

Zusammenfassung Chruschtschows Sturz hat die in der Sowjetunion schon seit Stalins Tod bestehende „schöpferische Unruhe“ noch auffallend verstärkt. Eine Belebung des sozialkritischen Denkens, eine Ermunterung zur Initiative — das alles sind Bestandteile dieser wachsenden „schöpferischen Unruhe". Die neue Führung der KPdSU hat in diesen vier Monaten noch keinen konstruktiven Plan entwickelt, aus dem konkret zu ersehen wäre, auf welche Weise sie die Durchführung ihrer Versprechungen in der Praxis verwirklichen will. Einerseits ist die Zeitspanne noch zu kurz, andererseits ist die neue Führung mit der Beseitigung verschiedener Chruschtschowscher Reformen vorerst vollauf beschäftigt. Alles, was in Zusammenhang mit der Aufhebung der Parteireform vom November 1962 im Dezember 1964 und im Januar dieses Jahres geschehen ist, war keinesfalls eine leichte Aufgabe. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, daß die Zahl der positiven Beschlüsse so gering war und sich hauptsächlich auf sekundäre Probleme bezog.

Die Schwierigkeiten für die neue Spitze wurden noch dadurch verstärkt, daß die sowjetische Gesellschaft in den letzten Jahren immer deutlichere Merkmale einer bis zu einem gewissen Grade „pluralistischen" Gesellschaft aufwies. Dieser Differenzierungsprozeß begann noch unter Chruschtschow. Er erschöpft sich natürlich nicht in einer naiven mechanischen Aufteilung der Parteibürokratie in Wirtschaftsfunktionäre und Apparatschiks, sondern ist das Produkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die mit jedem Schritt der Modernisierung immer deutlicher in Erscheinung tritt. Auf diesem Hintergrund entstanden im Rahmen der Gesellschaft gewisse Gemeinschaften, die unter dem Blickwinkel ihrer Interessen zu einer entsprechenden Neuorientierung der Politik der KPdSU drängten. Diese große gesellschaftliche Umstrukturierung zwingt die KPdSU zu einer ständigen Überprüfung ihrer Herrschaftsmethoden. Chruschtschows Sturz hat die Aktivität dieser Gruppen beflügelt. Auf die Fronde der Betriebsdirektoren, Kolchosvorsitzenden und Sowchosleiter wurde bereits hingewiesen. Ihre verschiedenen und oft weitgehenden Vorschläge streben Veränderungen und Korrekturen des sowjetischen Systems an. Die Entwicklung hat. einen äußerst komplizierten Stand erreicht und deswegen müssen die ständigen Erklärungen der sowjetischen Führer, daß sie in Zukunft ruhig, ohne Hast und auf die Wissenschaft gestützt handeln wollen, ernst genommen werden. Mit Chruschtschows Fall ging eine widerspruchsvolle, von einem Zickzack-Kurs beherrschte Etappe zu Ende und wurde abgelöst von einer solchen des nüchternen Realismus. Die chaotischen Zustände in Industrie und Landwirtschaft, die hauptsächlich im Zusammenhang mit der Aufhebung einiger Chruschtschowscher Reformen aufgetreten sind, werden sich wieder beruhigen, weil sie — davon sind wir überzeugt — nur eine vorübergehende Erscheinung sind. Chruschtschow war eine merkwürdige Erscheinung. Einerseits bekundete er mehrmals, daß er ein Gegner aller Schönfärberei sei, aber gleichzeitig liebte er es sehr, in seinen zahlreichen und langen Reden ein „Bei uns stehen die Dinge prächtig" anzubringen. Diese Phrase kehrte immer wieder. Vielleicht ist der jetzt in Mode kommende nüchterne Realismus nur die Kehrseite dieser Schönfärberei Nikitas. Ganz offensichtlich soll die Modernisierung des sowjetischen Managements das Rückgrat der zukünftigen Entwicklung der Sowjetunion bilden. Auf die großen Diskussionen über die Wege dieser Modernisierung wurde bereits hingewiesen. Zum Schluß stellt man sich berechtigterweise die Frage: „Und wie steht es um die Demokratisierung des sowjetischen Systems?" Die Antwort kann nur subjektiver Natur sein. Alles spricht aber dafür, daß dieses Problem nicht in den Augen der heutigen sowjetischen Elite als zweitrangig erscheint, sondern auch vom einfachen Bürger so betrachtet wird. Zweckoptimismus ist also nicht angebracht. Nichts ist notwendiger, als die Entwicklung in der Sowjetunion noch sachlicher als bisher und so vorurteilslos wie möglich zu beobachten, denn die Aussichten für eine Vergrößerung der Macht des Sowjetstaates sind heute viel realer als es in der Ara Chruschtschow der Fall war.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Prawda, 17. 11. 1964.

  2. Aufschluß darüber gab der Leitartikel im theoretischen Parteiorgan Kommunist, Nr. 16, November 1964.

  3. Radjanska Ukraina, 8. u. 16. 12. 1964.

  4. Siehe z. B.den Artikel L. Wandenkos in Ekonomika Selskogo Chosajstwa, Nr. 11, 1964

  5. Iswestija, 16. 1. 1965.

  6. Woprossy istorii KPSS, Nr. 1, 1965, S. 93.

  7. Kommunist, Nr. 18, 1964, S. 60.

  8. Robitnytscha Gaseta, 22. 12. 1964.

  9. Radianska Ukraina, 30. 12. 1964.

  10. Siehe darüber die Artikel zweier Kybernetiker, W. Luschkow und N. Fedorenko, in: Woprossy Ekonomiki, Nr. 7, 1964.

  11. N. Fedorenko, Ein wichtiges ökonomisches Problem, in: Prawda, 17. 1. 1965.

  12. Ebenda.

  13. Ekonomitscheskaja Gaseta, Nr. 25, 20. 6. 1964.

  14. Radianska Ukraina, 30. 12. 1964.

  15. Iswestija, 6. 11. 1964.

  16. Prawda, 2. 1. 1965.

  17. Prawda, 10. 1. 1965.

  18. Auf zwei besonders wichtige Artikel wird hingewiesen: F. Konstantinow und W. Kelle, Historischer Materialismus — eine marxistische Soziologie: in: Kommunist, Nr. 1, 1965, und D. Tchesnokow, Angewandte soziale Forschungen und gesellschaftliche Wissenschaften, in: Polititcheskoje Samoobrasowanie, 1, 1965.

  19. Radjanska Ukraina, 5. 11. 1964.

  20. Kommunist, Nr. 1, 1965, S. 117 ff.

  21. Besonders wichtig für dieses Problem ist der Artikel in „Selskaja Shisnj" vom 26. November 1964. Er ist von zwei Kolchosvorsitzenden und einem Parteisekretär unterzeichnet.

  22. Selskaja Shisnj, 15. 12. 1964.

  23. Siehe z. B. Iswestija, 25. 11. 1964.

  24. Prawda, 4. 1. 1965.

  25. Partijnaja Shisnj, Nr. 1, Januar 1965.

  26. Aus einer Information über die Tätigkeit dieser Kommission in Radianska Oswita vom 9. Januar 1965.

  27. Prawda, 6. 1. 1965.

Weitere Inhalte

Borys Lewytzkyj, geb. 1915 in Wien. Magister der Philosophie der Universität Lemberg; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung; Autor verschiedener Einzelartikel in Fachzeitschriften, ferner der Bücher: Vom Roten Terror zur Sozialistischen Gesetzlichkeit, München 1961; Sowjetukraine 1944— 1963, Köln 1964.