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Zur kommunistischen Konzeption des „neuen Menschen" . | APuZ 9/1965 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 9/1965 Die Sowjetunion vier Monate nach Chruschtschows Fall Zur kommunistischen Konzeption des „neuen Menschen" .

Zur kommunistischen Konzeption des „neuen Menschen" .

Günther Bartsch

Der folgenden Studie ging der Aufsatz „Der . neue Mensch'des Kommunismus" (Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24/63, vom 12. 6. 1963) voraus. Der Autor ist der Meinung, daß ihm dort insofern ein Fehler unterlief, als er auf Seite 13 - wenn auch nur in Klammern - schrieb: „Ohnehin gilt ja der kommunistische Parteifunktionär als das Urbild des neuen Menschen." Diese Bemerkung habe eine von Chruschtschow in die Politik des Sowjetkommunismus eingeführte Neuerung von großer Bedeutung verdeckt. Die nachstehende Arbeit beginnt daher mit ihrer Korrektur und führt dann die Überlegungen der ersten fort. Wir veröffentlichen diesen Aufsatz als interessanten Diskussionsbeitrag, wenngleich nicht alle seine Gedankengänge oder Schlußfolgerungen - wie oftmals bei den an dieser Stelle abgedruckten Arbeiten - sich mit der Meinung des Herausgebers decken.

Wo bleibt das Modell?

Man sollte annehmen, daß überall da, wo der Kommunismus einen „neuen Menschen" zu formen versucht, der kommunistische Funktionär als Ur-und Vorbild dient. Seltsamerweise ist das nicht der Fall. Der Verfasser hat die kommunistischen Veröffentlichungen seit Stalins Tod vergebens nach Hinweisen in dieser Richtung durchsucht. Das Fehlen des Funktionärstyps als Vorbild — nicht mit dem Fehlen eines Vorbilds für den Funktionär zu verwechseln — gehört zu den bemerkenswertesten Widersprüchen in der Konzeption des „neuen Menschen". Wenn nämlich die kommunistischen Führer selber außerstande sind, das Modell des „neuen Menschen" abzugeben, so bewegt sich diese Konzeption in einem leeren Raum. Eine Erziehung, die auf Umformung zielt, ist im allgemeinen nur an Vorbildern möglich — die nicht erst im gleichen Moment, da diese Erziehung beginnt, hervorgezaubert werden können. In diesem Fall bleibt nur die Zuflucht zu Ersatz-Idolen übrig. Und in der Tat: sie werden in Gestalt der sowjetischen Astronauten, um die ein neuer Heldenkult begonnen hat, bereits auf die Denkmalssockel gesetzt, die einst Stalin vorbehalten waren.

Der Astronautenkult Der Zusammenhang ist schwer übersehbar. Das Idol eines einzigen Menschen, der unfehlbar wäre, wurde mit Stalins posthumen Sturz und der ständigen Anklage des Persönlichkeitskultes suspekt. Deshalb wird der Stalin-kult durch den Astronautenkult ersetzt, also auf eine Mehrzahl von Personen und darüber hinaus auf eine wachsende Personenzahl verteilt, wodurch die Mängel des einen Helden durch die Vorzüge des anderen verdeckt oder ausgeglichen werden können. Als Gesamtidol sind die Astronauten untereinander austauschbar, wie sie auch nach außen hin als stellvertretende Idole fungieren, indem einmal dieser, einmal jener in den Vordergrund tritt und die Phantasie beflügelt.

Chruschtschows Nachfolger haben den Astronautenkult — jedenfalls bisher — im großen und ganzen nur jener Affekte entkleidet, die auf die gleichzeitige Glorifizierung des Parteiführers zielten. Chruschtschow hatte den Astronautenkult bei den Empfängen für zurückgekehrte Piloten von Weltraumschiffen mit einem neuen Persönlichkeitskult um sich selber verknüpft, indem er ihn zur Hervorhebung und Zurschaustellung seiner eigenen Person benutzte. Beispielsweise war er, wenn die jeweiligen Kosmonauten dem Diplomatischen Korps vorgestellt wurden, der Kosmonautengruppe stets allein gefolgt (nun schließt sich das gesamte Parteipräsidium an) und bei der obligatorischen Stadtfahrt war er den Kosmonauten in seinem Wagen stets voran-gefahren (während nun das Parteipräsidium nach den Kosmonauten durch die Straßen Moskaus fährt).

Durch das Zurücktreten des Parteiführers ist aber der Astronautenkult fast automatisch noch mehr in den Vordergrund gerückt, und zwar ungeachtet dessen, daß der bombastische Aufwand gedämpft worden ist. Nach wie vor nimmt er in den sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften breiten Raum ein. Chruschtschows Sturz hat seine Funktion für die KPdSU nicht gemindert. Der neue Persönlichkeitskult um Chruschtschow stand seiner Entfaltung als Stimulans für die Erziehung des „neuen Menschen" sogar im Wege. Daß Chruschtschows Nachfolger nicht daran denken, den Versuch zur Formung eines „neuen Menschen" aufzugeben, hat Breschnew schon in seiner Rede vom 6. 11. 64 betont. Er bezeichnete ihn sogar als „Mittelpunkt" der Arbeit zum „Aufbau einer neuen Gesellschaft"

Die Betonung des Kollektiven Der Übergang vom Einzel-zum Kollektividol entspricht dem formalenWechsel von der Diktatur eines einzelnen zur „kollektiven Führung". Er hat aber auch insofern aktuellen Sinn, als er das Wesen des „neuen Menschen" unterstreicht, der statt eines Mitglieds der Gesellschaft — also eines selbstverantwortlichen und mitbestimmenden Individuums — nur noch eines ihrer zahllosen Glieder sein und damit auf eine Funktion reduziert werden soll, die jegliche Eigenbestimmung ausschließen würde. Glied und Mitglied sind zweierlei und durch alles, was das spezifisch Menschliche ausmacht, voneinander getrennt.

In diesem Sinne war es — obwohl für westliche Leser befremdend, wenn nicht absurd — nur logisch, als die sowjetische Zeitung „Iswestija" im Rahmen einer Diskussion über moderne Menschen von den sowjetischen Astronauten im Hinblick auf die Jugend schrieb:

„Titows und Gagarins Heldentaten sind ihrer Natur nach eine Massentat (Hervorhebung vom Vers.). Jeder unserer Jungen kann ein Titow, ein Gagarin werden.

Unserer Jugend ist das Streben nach Heldentum, nach hohen Taten eigen."

Als dies veröffentlicht und in der Ostberliner Wochenzeitung „Sonntag" vom 7. 1. 1962 nachgedruckt wurde, gab es in der Sowjetunion noch keine weibliche Raumfahrerin. Jetzt hat auch jedes sowjetische Mädchen ein Ideal aus Fleisch und Blut, das sich, indem sein Abbild auf einen Sockel gestellt wird, unverzüglich in ein Idol verwandelt. Jedes sowjetische Mädchen kann nun, wenigstens in der Phantasie, eine Valentina Tereschkowa werden. Für die Sowjetführer ist allerdings die lebendige Valentina Tereschkowa sehr viel weniger als ihr Götzenbild wert. Denn alle Menschen haben Fehler, während der „neue Mensch" schon insofern unmenschlich sein würde, als er ein makelloses Wesen sein soll.

Der diskreditierte Funktionär Ein Kollektividol hätte allerdings auch der Parteifunktionär sein oder werden können. Aber erstens gibt es zuviel Exemplare davon und zweitens ist er samt seinen Mängeln dem Volk allzu bekannt. Den Ausschlag dürften aber zwei andere Erwägungen gegeben haben.

Zum einen, daß die in der Sowjetunion — und anderen kommunistischen Ländern — herrschende Funktionärsschicht zu einem großen Teil schon unter Stalin in verantwortliche Ämter aufgerückt ist, also vom Stalinismus — was die Postenverteilung betrifft — profitierte, zum anderen, daß sie dem Stalinschen Massenterror, obwohl er auch in die Kommunistische Partei große Lücken riß, keinen erwähnenswerten Widerstand geleistet hat.

Dieselben Männer, welche die Jugend wie die Arbeiterschaft der nichtkommunistischen Welt seit Jahrzehnten zu „heroischen Taten" aufrufen und selbst die Hingabe des Lebens für den Kommunismus verlangen, „wenn die Sache es erfordert", waren zu feige, sich gegen Stalin, ihren eigenen Tyrannen, zu erheben. Oder waren sie korrumpiert, korrumpiert von der Macht und den Privilegien, die sie genossen? Wahrscheinlich beides.

Angeblich konnte man gegen Stalin „nichts tun". Man kann gegen totalitäre Tyrannen sehr wohl etwas tun, wenn auch nur unter Einsatz des Lebens, wie deutsche Offiziere am 20. Juli 1944 bewiesen und wie es die mitteldeutsche Arbeiterschaft am 17. Juni 1953 erneut demonstrierte, vom ungarischen Volksaufstand und anderen Ereignissen ganz zu schweigen. Sicherlich hat es auch in der Sowjetunion namenlose Helden gegeben; unter den Parteifunktionären waren sie jedoch kaum zu finden. Eine kommunistische Widerstandsbewegung gegen Stalin hat nur zu Lebzeiten Trotzkis existiert, der im August 1940 in Mexiko ermordert wurde. Aber Trotzki gilt noch immer als Parteifeind Nr. 1, und seine Anhänger sanken ins Grab.

Wenn also der Parteifunktionär als Modell des „neuen Menschen" fehlt, so drückt sich darin eine strukturelle Schwäche des kommunistischen Systems und die Diskreditierung der Funktionärsschicht aus, vor allem, soweit sie der älteren Generation angehört. Nichts hat die Sowjets an der Erkenntnis vorbei-geführt, daß der Parteifunktionär untauglich geworden ist, die Idee des „neuen Menschen"

zu repräsentieren. Der sich auf diese Weise manifestierende Widerspruch im Rahmen eines politischen Systems, das von Berufsfunktionären monopolistisch gelenkt wird, tritt um so schärfer hervor, als Chruschtschow auf dem 22. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 verkündete, die Kommunistische Partei müsse das „Modell" der künftigen „gesellschaftlichen Selbstverwaltung sein, in die die Sowjetunion auf dem Wege zum „Vollkommunismus" hinüberwachse. Der Partei-kern oder „Apparat" setzt sich jedoch aus Funktionären zusammen. Wie soll die Partei ein Modell sein, wenn es die Funktionäre nicht sind? Obwohl Chruschtschow im Oktober 1961 die Formung des „neuen Menschen" zu einer unmittelbar anstehenden Frage der Praxis erklärte, hat er dieses Rätsel bis zu seinem Sturz nicht gelöst; auch seine Nachfolger bleiben uns die Antwort schuldig.

Eben deshalb, weil diese „Frage der Praxis" auf den Nägeln brennt, während der Parteifunktionär als Modell nicht zur Verfügung steht, war man gezwungen, nach einem Surrogat-Idol zu suchen. Die Astronauten erscheinen hierfür als das geeignetste Objekt. Des enthusiastischen Interesses wegen, das die Raumfahrt findet; weil sie zu der vom Stalinismus unbelasteten jüngeren Generation gehören; weil sie einem strengen Ausleseverfahren unterliegen und — weil sie keine Berufsfunktionäre sind, die dem Volk von vornherein verdächtig wären; vor allem aber, weil speziell die Jugend angesprochen werden soll, an deren Formung und Umformung in erster Linie gedacht wird, wenn vom „neuen Menschen" die Rede ist. Die Möglichkeit nämlich, auch aus der mittleren und älteren Generation im kommunistischen Herrschaftsbereich einen neuen Menschentypus zu kneten, wird von den kommunistischen Parteiführern bereits als sehr gering bewertet oder ganz verneint.

Am bezeichnendsten hierfür war eine Rede des sowjetischen Chefideologen Iljitschew, die er am 19. 10. 1962 vor Wissenschaftlern hielt:

„N. S. Chruschtschow stellt ... häufig folgende Frage, welches Problem praktisch und theoretisch vorrangig sei: das der Umerziehung oder das der Erziehung?

Welches Problem sollte man in den Vordergrund stellen? Die Umerziehung, die eine Zeitlang als eine der Hauptaufgaben galt, ist keine Heldentat, sondern das objektive Eingeständnis von Versäumnissen in der ideologischen Erziehungsarbeit und die Aufforderung, diese Versäumnisse wiedergutzumachen. Ist es nicht besser und richtiger, den Akzent vom Kindesalter an (!) auf die Erziehung zu legen, damit nach Beendigung der Oberschule oder gar der Hochschule nicht moralische Mißgeburten (!) zum Vorschein kommen, die man umerziehen muß .. .?"

Aus diesem Aspekt wurde die allgemeine Internatserziehung der sowjetischen Jugend beschlossen und in Angriff genommen, damit die Formung des „neuen Menschen" unter direkter Partei-und Staatsaufsicht bei gleichzeitiger Ausschaltung der elterlichen Erziehungsrechte erfolgen könne. Die Jugend soll „erzogen" werden, während man sich bei den älteren Generationen einschließlich der Lehrer, welche die Jugend erziehen sollen, auf „Umerziehung" beschränkt.

Das Zukunftsziel sieht, wie Iljitschew in derselben Rede sagte, so aus, „daß jeder Sowjetmensch den kommunistischen Ideen mit Hirn und Herz ergeben sei, den Sinn seines Lebens im Kampf um ihre Verwirklichung sehe und dem Kampf für den Kommunismus alle (!)

seine Kräfte, seine Energie und seinen Verstand widme."

Man ist sich offensichtlich mehr oder weniger darüber im klaren, daß dies, wenn überhaupt, erst nach dem Aussterben des „alten Menschen" erreicht werden könnte.

Ein Rest des Ungeklärten

Wir werden weiter unten prüfen, ob nicht tatsächlich für den Kommunismus eine Chance bestünde, die Konzeption des „neuen Menschen" zu verwirklichen, wozu wir gerade jenes Modell nehmen wollen, das der zeitgenössische Kommunismus vermied: das Modell des Parteifunktionärs. Der Verfasser kann hierbei von seinen persönlichen Erfahrungen eines siebenjährigen, täglichen Umgangs mit kommunistischen Funktionären und seinen Erlebnissen nach dem Bruch mit dem Kommunismus ausgehen.

Wir wählen das Modell des kommunistischen Parteifunktionärs um so lieber und bewußter, als es von den kommunistischen Führern aus den skizzierten und womöglich noch anderen Gründen beiseite geschoben worden ist, wodurch in der Planung des „neuen Menschen" eine Lücke entstand. Denn noch immer bleibt ein Rest des Ungeklärten, der sich um den Schleichweg zum „neuen Menschen" rankt, wie er über den Astronautenkult eingeschlagen worden ist.

Hätten die kommunistischen Führer nicht gut daran getan, trotz aller theoretischen Einwände und praktischen Schwierigkeiten den Parteifunktionär als Typus des „neuen Menschen" zu wählen? Gewiß, als Idealtyp fällt er aus, aber fällt er auch als Typ schlechthin aus, der sich vermehren und ausbreiten könnte? Wir glauben: nein! Die kommunistischen Parteien haben die ungewöhnliche Fähigkeit entwickelt, einen bestimmten Menschentypus zu formen. Nur über diesen Typus könnte unseres Erachtens — wenn überhaupt — die Herausbildung eines „neuen Menschen" er-folgen. Deshalb ist es im Zusammenhang unseres Themas so überaus wichtig, die gestellten Fragen zu erörtern. Ihre Lösung käme einem Schlüssel gleich.

Zunächst wollen wir jedoch den Rest des Ungeklärten zu klären versuchen. Zu diesem Zweck weisen wir auf Sinkos „Moskauer Tagebuch" hin, das unter dem Obertitel „Roman eines Romans" erschienen ist. Aus diesem Tagebuch ergibt sich nämlich unzweideutig, daß unter Stalin der Parteifunktionär das Modell des „neuen Menschen" war und Stalin selbst als sein genialer Prototyp galt. Das ist der eigentliche Inhalt des Persönlichkeitskultes gewesen, der wiederum nur ein Aspekt des Stalinismus als Gesamtsystem war. Chruschtschow forcierte eine neue Version des Personenkultes im Mantel des Kollektividols, und Breschnew scheint ihm auf diesem Wege zu folgen. Die Konzeption des „neuen Menschen" muß, wenn sie folgerichtig, also Schritt für Schritt, in die Praxis übersetzt werden soll, zur Herausstellung und Glorifizierung von Einzelpersonen führen, die sich dem Ideal des „neuen Menschen“ nach Meinung der Parteiführer am weitesten angenähert haben. Für alle jene aber, die hinter diesem Ideal mehr, als ihnen zugestanden wird, zurückbleiben, hebt eine neue Periode des Drucks und der Gängelung an. Der Plan, einen „neuen Menschen" zu formen, kann sogar zu einem neuen Instrument des Terrors werden, denn mit ihm werden an den lebenden Menschen über-und außermenschliche Kriterien angelegt, denen die große Mehrheit der Zeitgenossen nicht gewachsen sein dürfte.

Die Neuerung im Verhältnis zu Stalin, welche Chruschtschow in die kontinuierliche Linie des „neuen Menschen" einführte, hat darin bestanden, daß er den Blick vom Funktionär auf die Jugend verlegte.

Am furchtbarsten und bedrohlichsten an der sowjetischen Entwicklung zu Lebzeiten Stalins war, daß sich unter dem Bleigewicht des physischen, psychologischen und ideologischen Terrors tatsächlich ein neuer Menschentypus abzuzeichnen begann, wie Sinkö an einer ganzen Reihe von Beispielen nachweist. Allerdings trifft dies im großen und ganzen nur für den inneren Kreis der Partei zu. Der einfache Sowjetbürger scheint von dieser Typus-bildung so gut wie unberührt geblieben zu sein.

Mit diesem Stand der Dinge konnte sich die Parteiführung jedoch nicht begnügen; denn das Konzept des „neuen Menschen" zielt auf die Konformität mit dem politischen System, die bei den Parteimitgliedern im allgemeinen ohnehin vorauszusetzen war. Das Konzept ist unter anderem darauf gerichtet, die parteilose Bevölkerung auf das „Niveau" — also auf das politische Bewußtsein oder vielmehr den kommunistischen Geist — der Partei „anzuheben", um das gefährliche Gefälle zwischen beiden einzuebnen. Aber nach den schlechten Erfahrungen mit der älteren Generation der parteilosen Bevölkerung scheint ein solches Ziel nur bei der Jugend erreichbar. Hier dürfte das im Hintergrund wirkende Hauptmotiv für die Verlagerung des Schwergewichts von der Partei auf die Jugend zu suchen sein. Streng genommen hat der Stalinismus selbst die Abdankung des Parteifunktionärs als Idealtypus des „neuen Menschen" erzwungen, und die Entstalinisierung konnte nur noch ihre Bestätigung sein. Allein die aus der Jugend heranwachsenden Funktionäre können vielleicht eines Tages diese Rolle wieder übernehmen.

Faszination und Tragik des Berufsrevolutionärs

Der Ablösung des Parteifunktionärs als Erziehungsmuster lag jedoch auch eine weitgehend spontane Entwicklung zugrunde. Daß der Parteifunktionär zeitweilig überhaupt Modell des „neuen Menschen" sein konnte, scheint ein Verdienst des Berufsrevolutionärs gewesen zu sein.

Die Berufsrevolutionäre, zu denen auch Stalin gehörte, waren von Legenden umwoben, die eine mächtige Faszination ausübten — ganz besonders auf die Phantasie der Jugend. Sie galten als die Stählernen schlechthin, im ähnlichen Sinne, wie Robespierre als „der Unbestechliche" bezeichnet wurde. Vielleicht wäre oder wird die kommunistische Ideologie ohne Berufsrevolutionäre zu einer Frucht ohne Kern, die sich nicht mehr fortpflanzen kann. (Der Verfasser hat die Faszination des Berufsrevolutionärs an sich selber erlebt, was allerdings durch einen romantischen Zug in seinem Wesen begünstigt worden ist. Welcher junge Mensch wäre aber frei von Romantik, die zu den Triebfedern der jugendlichen Energie gehört?)

Der Berufsrevolutionär gedeiht jedoch nur auf dem Boden der Revolution oder einer vor-revolutionären Zeit, in der das Volk von einer quälenden Unruhe gepackt wird und spontan in Bewegung gerät. Wenn die Revolution ausbricht, ist die große Stunde des Berufsrevolutionärs gekommen. Ihr hat er sein Leben geweiht und über Jahre oder gar Jahrzehnte entgegengefiebert. Auf sie hin hat er alle Kräfte angespannt und den Schatz seiner Fähigkeiten gespeichert. Er stürzt sich wie jemand, der sich für unverletzbar hält, in die Flammen der Revolution, um sie mit seiner Energie und notfalls mit seinem Körper zu nähren. Aber er ist nicht unverletzbar. Die Revolution verzehrt ihn fast, so daß er nach ihr wie ausgebrannt wirkt und oft nur noch seinem eigenen Schatten gleicht.

Solche Berufsrevolutionäre waren Lenin und Trotzki — in der Französischen Revolution scheint nur Saint Just von gleicher Art gewesen zu sein; bei Robespierre brach schon ein bürokratischer und zeremonieller Einschlag durch, von seinem unrevolutionären Pedantismus gar nicht zu reden.

Sowohl Lenin als auch Trotzki waren nach der Oktoberrevolution nicht mehr dieselben wie vorher. Trotzki sank noch mehr als Lenin, der bezeichnenderweise schon im Jahre 1924 starb, in sich zusammen. Seine Zeit war vorbei. Im Grunde trifft das auch auf Lenin zu. Bereits auf dem 10. Parteitag der Kommunistischen Partei Rußlands im März 1921 erklärte er, daß er das Gefühl eines Chauffeurs habe, dem das Steuer seines Wagens entglitten sei. Dies war das resignierende Wort eines Mannes, der während des revolutionären Oktobersturmes gleich Trotzki wie eine Fackel zu brennen begonnen und damit — wiederum wie Trotzki — Hunderttausende von Menschen seinen dämonischen Bann in gezogen hatte. Vielleicht hätte Lenin unter Stalin, wäre er zwanzig Jahre älter geworden, ein ähnliches Schicksal wie Trotzki erlitten. Vielleicht wäre er als „Parteifeind" oder „konterrevolutionäres Element" erschossen worden. So deutete schon Lenins Witwe an. Stalin war zwar auch ein Berufsrevolutionär, aber von anderer Art als Lenin und Trotzki, die sich trotz vierzehnjähriger Kontroversen unseres Erachtens nicht zufällig während der Oktoberrevolution und in den ersten Jahren danach so ungewöhnlich eng verbanden, daß man ihre Namen gleichzeitig zu nennen pflegte. Stalin war mehr aus dem Holz Robespierres als aus dem von Saint Just geschnitzt — obwohl es gerade Trotzki liebte, sich mit Robespierre zu vergleichen. Stalin war auch mehr ein Mann, der Blut mit Blut zu rächen wünschte — und zwar, wie er selbst sagte, das in Jahrhunderten vergossene Blut (bis zur Hinrichtung Stjenka Rasins zurück) — als in der Revolution ein Ethos zu sehen. Gerade dies ist jedoch das grundlegende Kennzeichen des echten oder „reinen" Revolutionärs.

Insofern fand sich in Stalins Berufsrevolutionärstum von Anbeginn ein falscher, beklemmender Zug, der in den Vordergrund treten sollte, nachdem der georgische Bolschewik Generalsekretär der Partei geworden und die einzige von ihm respektierte Autorität — nämlich Lenin — gestorben war. Der revolutionäre Aspekt seines Wesens trat hinter den kleinbürgerlichen Ressentiments zurück, und er holte zu fürchterlichen Schlägen aus, die auch ungezählte Kommunisten — darunter Trotzki — zermalmten. Es gibt also zweierlei Berufsrevolutionäre, und ihr Antipodentum zeichnet eine blutige Spur durch die Geschichte.

Womöglich hätte sich zwischen Robespierre und Saint Just eine ähnliche Rivalität wie zwischen Stalin und Trotzki angebahnt, wären ihre Potenzen nicht durch die gleichzeitige Hinrichtung beider verströmt. Auch sie stellten, wie Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses bemerkten, revolutionäre Antipoden dar.

Welch ein verräterisches Zeichen, daß Robespierre als einziger unter den maßgebenden Revolutionären eine Perücke — das Symbol der feudalistischen Vergangenheit — trug. Wahrscheinlich wäre die Schreckensherrschaft Robespierres, hätte er die Thermidorianer niedergeschlagen, nur ein Anfang gewesen, wie der rote Terror nach dem Attentat auf Lenin und während des russischen Bürgerkrieges nur ein Vorspiel für noch weit fürchterliche Exzesse unter Stalin war, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Und vielleicht hätte Saint Just versucht, Robespierre in den Arm zu fallen. Dann wäre er in eine ähnlich verlorene Situation wie Trotzki gegenüber Stalin geraten.

Denn wenn wir es nun genauer formulieren, so geht nur die Zeit der „reinen" Berufsrevolutionäre — nicht aber der Bürokraten unter ihnen — mit der Revolution vorüber. Bis zu einem gewissen Grade mag das allerdings auch eine Frage der Anpassungsfähigkeit an die neuen Umweltbedingungen und der Geschmeidigkeit sein. Trotzki fehlte es an beidem. Er war der geborene Revolutionär und blieb es auch in der nachrevolutionären Zeit, womit er in einer postrevolutionären Gesellschaft zu einem Atavismus wurde, der — wie ein Riese in einem Reich von Zwergen — an allen Ecken anzustoßen begann. Infolgedessen legte sich ein immer dichter werdender Ring der Einsamkeit um ihn, den er — außer durch das Mittel der Feder — nur selten und überdies zögernd durchbrach. Nur ab und zu erhob er sich zu seiner ehemaligen Größe, aber er wuchs nun nicht mehr über sich hinaus. Es blieben allein die Theoreme, die er wie Brieftauben in alle Länder der Welt fliegen ließ. Darunter fällt uns — in Berücksichtigung seiner persönlichen Situation — besonders seine Theorie der „permanenten Revolution" ins Auge, die nach seiner Meinung im internationalen Maßstab gültig war. Könnte seine fana-tische Predigt der permanenten Revolution außer dem Versuch, die Isolierung der Sowjetunion zu sprengen, nicht auch mit dem Nebenziel verbunden gewesen sein, seine individuelle Isolierung aufzuheben, um erneut in sein Element der revolutionären Flut wie ein Fisch ins Wasser springen zu können?

Die Abgehängten

Das Schicksal der „reinen" Berufsrevolutionäre übertrug sich vielfach auf das der im revolutionären Ethos verwurzelten Revolutionäre überhaupt. Denn besonders die Angehörigen der „Alten Garde", die vielfach schon seit 1905 der bolschewistischen Partei angehörten und in der Revolution des gleichen Jahres ihre erste Feuerprobe bestanden hatten, konnte man nicht mehr oder nur noch sehr schwer in Konformisten verwandeln. Männer und Frauen, denen das Rebellieren gegen die Staatsmacht zur Gewohnheit geworden und gleichsam ins Blut übergegangen war, sollten von heute auf morgen zu konservativen Hütern der — wenn auch neuen — Staatsmacht werden können? Eine solche, für Revolutionäre beinahe widernatürliche Metamorphose kam nur in Einzelfällen zustande. Und wer nicht zu diesen Fällen gehörte, blieb meist früher oder später wie ein müde gewordener Teilnehmer einer Marschkolonne zurück, falls er nicht von der bewaffneten Begleitmannschaft niedergeschossen wurde. Denn in gewissem Sinne handelte es sich nun um einen Gefangenenzug. Die Revolutionäre von einst wurden zu Gefangenen des mit ihrer Hilfe errichteten politischen Systems, weil sie sich geistig noch in der Revolutionszeit befanden und daher in den Netzen des neuen Alltags verstrickten. Sie waren vielfach außerstande, den neuen Anforderungen und Ansinnen zu entsprechen, da sie zu ihren Denkkategorien im Widerspruch standen.

Stalin verfügte daher die Auflösung des Bundes der alten Bolschewik! sowie die Beschlagnahme ihrer Klubs, und nur wenige Angehörige der „alten Garde" überlebten ihn. Die meisten wurden als „Parteifeinde" hingerichtet, geächtet oder in Zwangsarbeitslager verschickt — wo ihren kümmerlichen Rest Jahrzehnte danach die Rehabilitierung erreichte, bis auf jene, wie es scheint, die seinerzeit als Anhänger Trotzkis verdächtigt worden waren. Wohl niemand hat dieses Drama der abgehängten Revolutionäre mit dichterischen Mitteln exakter eingefangen und erschütternder dargestellt als der junge Pole Marek Hlasko in einer Erzählung und dem aus ihr entstandenen Hörspiel „Friedhöfe", das auch im deutschen Fernsehen gesendet worden ist. „Wir wollten das gelobte Land, aber wir sind auf Friedhöfen gelandet!", sagt ein ehemaliger Partisanenheld mit dem Spitznamen „Bär", von dem er nichts mehr hören will. Denn „unsere Zeit ist vorbei!" Die alten kommunistischen Kämpfer müßten zurücktreten und um sich Schweigen auszubreiten suchen. Das Vakuum des Schweigens als letzte Waffe, als Waffe gegen die neuen Herren aus der eigenen Partei! Ein Vakuum des Schweigens, um die „neue Klasse" zu ersticken. „Man müßte den Kommunismus retten!", sagt ein anderer ehemaliger Partisan.

Retten vor wem? Vor der kommunistischen Bürokratie, die sich wie ein dichtes Netz über die Gesellschaft legt.

An die Stelle der Berufsrevolutionäre sind die Berufsfunktionäre getreten. Ihre Wurzel ist nicht das Ethos der Revolution, sondern das behäbige Pathos der Macht. Ihre „Universitäten" waren nicht die Gefängnisse und Verbannungsorte der Zaren, sondern die Doktrinschulen der Partei oder einfach der Hörsaal.

Die Ablösung der Berufsrevolutionäre durch die Berufsfunktionäre war eigentlich nur eine Frage der Zeit und des biologischen Alterns.

Sie wurde aber auch gewaltsam beschleunigt, weil Stalin die „alte Garde" zerschlug, obwohl sie anfangs eher Trotzki — der erst 1917 zu den Bolschewik! stieß — als ihm mißtraute.

Andererseits war die „alte Garde" das psychologische Rückgrat der Kommunistischen Partei und die lebendige Verkörperung ihres Legendenschatzes, mit dem man vorübergehend zu wuchern verstand. Ihre weitgehende Vernichtung kam dem Ausriß einer Wurzel gleich, die die Partei bis dahin mit dem Volk verband. Als nach und nach fast alle Berufsrevolutionäre und Angehörigen der „alten Garde" als „Agenten", „Spione" und „Abtrünnige" geächtet wurden, zerstörte die Partei ihre eigene Tradition und damit ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit.

Wenn selbst diese im Feuer gehärteten Männer dem Feinde erlegen und in seine Dienste getreten waren, wem konnte man dann überhaupt noch trauen? Nur Stalin blieb, und es schien, als sei er ein Fels. Als Ersatz für die durch die Kugel gestorbenen innerparteilichen „Feinde", die einst seine Kampfgefährten gewesen waren, ließ er seine eigene Legende zu künstlichem Wachstum treiben, so daß sie schließlich das gesamte Land umschlang und sich darüber hinaus wie eine Schlingpflanze um die internationale kommunistische Bewegung wand. Stalin scheute, wie Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU enthüllte, nicht einmal davor zurück, eine Schrift über sein Leben eigenhändig umzuformulieren, um sich noch stärker herauszustreichen, als dies ohnehin geschehen war. So erschienen letzten Endes die Sowjetunion und alle Erfolge der Partei als das gewaltige Werk eines einzigen, allmächtigen und unfehlbaren Mannes, dem daher das Tribut der Göttlichkeit gebührte. Dieser Potemkinsche Persönlichkeitskult klang um so hohler, als sich Stalin samt seinen Mitarbeitern, wie etwa Molotow, längst aus Berufsrevolutionären in Berufsfunktionäre verwandelt hatten — nicht mehr mit der Eroberung, sondern mit der Verwaltung der Macht beschäftigt. Was sie taten, modelte sie selbst, denn auch vor ihnen stand die Zeit nicht still. Mit dieser Mauserung verschwanden aus der Sowjetunion auch die letzten Berufsrevolutionäre. Jener bürokratische Keim, der Molotow schon in der vorrevolutionären Zeit im Gesicht geschrieben stand — so daß Lenin einmal gefragt wurde, ob er die Revolution mit Kleinbürgern machen wolle —, überwucherte das revolutionäre Element in der postrevolutionären Gesellschaft. Stalin war zu jener Zeit, als er den „neuen Menschen" zu formen unternahm, bereits der Prototyp des Berufsfunktionärs, der unter dem Begriff des „Apparatschik“ in die Weltgeschichte eingehen sollte.

Revolutionäre Erziehung — aber konservative Haltung gewünscht

Damit sind wir beim Grundwiderspruch in der Erziehung des „neuen Menschen". In der nachrevolutionären Gesellschaft werden Revolutionäre nicht mehr gebraucht. Gleichwohl wird die Jugend der kommunistischen Länder im revolutionären Sinne erzogen — beinahe so, als stünde die Revolution noch bevor.

Denn die geistige Grundlage des Kommunismus ist nun einmal eine revolutionäre Theorie. Nur, wollte man versuchen, sie innerhalb des kommunistischen Herrschaftsbereichs anzuwenden, so müßten die Kommunisten selber die kommunistische Herrschaft vernichten.

Lediglich nach der westlichen und neutralen Welt hin darf der junge Kommunist ein Revolutionär sein. Im eigenen Lande soll er den Konformisten spielen, der dem Ideal des Kleinbürgers nachjagt, nirgendwo aufzufallen und sich stets im Einklang mit dem Staat sowie der herrschenden Partei zu befinden. Ja, er soll oder müßte sogar noch weiter als dieser Spießbürger ohne Zivilcourage gehen, indem er von vornherein jeden Beschluß der Partei und jede Verordnung des Staates gutheißt und Zweifel unterdrückt, sei es bei sich oder anderen. Allein in der nichtkommunistischen Welt stünde oder steht ihm die Möglichkeit offen, die revolutionäre Theorie in revolutionäre Praxis umzusetzen. Dies ist das Dilemma des Jungkommunismus und Avantgardismus der kommunistischen Länder.

Die Konsequenzen sind auch für die Demokratie nicht immer erfreulich. Wenn sich nämlich die revolutionäre Energie der jungen Kommunisten nur den westlichen und neutralen Ländern gegenüber entladen kann, so werden damit die Potenzen der Weltrevolution als einer spezifischen Form imperialistischer Expansion gespeist, innermenschliche Aggressivitäten gespeichert und militante Abenteuer verlockend gemacht. Wir haben es mit einem Vulkan zu tun, der jederzeit und immer wieder ausbrechen könnte, um seine Lava über den Eisernen Vorhang und bis in ferne Kontinente zu verströmen.

Sind solche Ausbrüche über die kommunistischen Grenzen weder möglich noch erlaubt, so kann es zur Suche nach Anlässen oder Auslösern für Surrogat-Revolutionen kommen. Diese Rolle spielt, so will es uns scheinen, für viele mitteldeutsche Kommunisten, insbesondere aus der jüngeren Generation, die Mauer quer durch Berlin — bis zu einem gewissen Grade aber auch der Todesstreifen an der Zonengrenze. Der Fanatismus und die Schießwut so mancher Volksarmisten wären schwer zu verstehen, wüßte man nicht einzuschätzen, daß sie das revolutionäre Feuer in sich spüren. Hier liegt mehr als ein Schießbefehl vor. Wahrscheinlich entlädt sich im Haß dieser Volksarmisten auch ihr Unbehagen am Ulbricht-Regime, das sie im eigenen Machtgebiet zu Duckmäusern und Ja-Sagem macht; nur an Mauer und Zonengrenze gewährt es ihnen Spielraum für den revolutionären Instinkt. Ihre Kugeln gehen nach vorn los, obwohl sie vielfach auch nach hinten — nämlich in beide Richtungen — gezielt zu sein scheinen.

In diesem Sinne könnte es nützlich sein, gewisse Vorkommnisse an Mauer und Zonengrenze zu überdenken, um Folgerungen für unser Verhalten den kommunistischen Grenzwächtern gegenüber zu ziehen, die vielleicht anders als bisher angesprochen werden müßten, wenn das Blutvergießen eingeschränkt oder gar beendet werden soll.

Die kommunistische Erziehung — vor allem zur Formung eines „neuen Menschen" — krankt an schizophrener Gebrochenheit, die auch bei den so Erzogenen leicht in eine Bewußtseinsspaltung mündet. Man kann nicht Revolutionär und Konservativer zugleich sein. Trotzdem werden die jungen Leute in den kommunistischen Ländern nach dem Westen gerichtet zu Revolutionären, nach innen — im Verhältnis zum eigenen System — aber zu Konservativen erzogen. Auf die Dauer gesehen verträgt es sich indessen nicht miteinander, wenn von jungen Menschen gefordert wird, daß sie alle politischen Maßnahmen der eigenen Machthaber begeistert begrüßen, die Politik der demokratischen Länder aber ebenso bedingungslos verwerfen sollen. Denn die marxistisch-leninistische Doktrin enthält einen kritischen Aspekt. Die Schulung in kommunistischer Theorie ist bis zu einem bestimmten Grade mit der Erziehung zu kritischem Denken verbunden.

Um in ideologischer Hinsicht zu einem Voll-kommunisten zu werden, muß man zunächst einmal die Fähigkeit erwerben, mit allen Geistesströmungen der Vergangenheit — denen man bewußt oder unbewußt verhaftet war — zu brechen, was keineswegs leicht oder ein einmaliger Akt, sondern ein langwieriger Prozeß ist.

Außerdem lehrt die Dialektik als Erkenntnis-methode, daß sich alles in stetiger Veränderung befinde, daß es keine ewigen Institutionen und Grundsätze gebe und daß die Grundlage der geschichtlichen Entwicklung der Kampf von Widersprüchen sei, die in allen Dingen, Erscheinungen und Gesellschaftsordnungen enthalten seien. Also, so kann der Zögling der kommunistischen Partei-schule folgern, wird auch das kommunistische System nur dann seiner Aufgabe gerecht, wenn es sich ständig weiterentwickelt, statt nur die Macht zu verwalten. Da es keine ewigen Institutionen und Grundsätze gibt, dürfen auch die Kommunistische Partei und der Marxismus-Leninismus nicht ewig bestehen, ganz abgesehen davon, daß es eigentlich undialektisch ist, wenn sie den Anspruch auf Unfehlbarkeit erheben. Wenn schließlich alles von Widersprüchen gekennzeichnet ist, wo sind dann die Widersprüche innerhalb des kommunistischen Systems und welche neue, nachkommunistische Gesellschaftsordnung wird sich aus dem Kampf ihrer inneren Widersprüche ergeben? Gebiert die kommunistische Ordnung etwa gleich den ihr vorausgegangenen Sozialsystemen ebenfalls ihre Totengräber selbst? Wer könnten diese sein?

Solche Folgerungen sind weniger spekulativ, als es scheinen könnte. Handelt es sich doch um dieselben, welche der Verfasser und andere junge Kommunisten während ihres dreimonatigen Studiums auf einer SED-Partei-schule zogen und die zu einem Ansatz ihres späteren Abfalls vom Kommunismus wurden. Nicht nur das kommunistische System, sondern auch die kommunistische Ideologie — soweit man das eine vom anderen trennen kann — treibt über sich hinaus. Sowohl System als auch seine Ideologie enthalten ihre eigene Negation.

Es kommt jedoch noch eine Folgerung hinzu.

Lenin sagte, daß es „ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung" gäbe.

Dieser Satz ist — da revolutionäre Theorie und revolutionäre Bewegung in Wechselwirkung stehen — auch in der Umkehrung richtig: ohne revolutionäre Bewegung stirbt auch die revolutionäre Theorie. Da der Kommunismus überall da, wo er den Staat erobert hat, unverzüglich aus einer revolutionären einer konservativen Bewegung wird, hauptsächlich nur noch darauf bedacht die Macht zu behaupten, auszudehnen und absolut zu machen, muß früher oder später auch die revolutionäre Theorie in konservative Erstarrung verfallen. Das ist ein Prozeß, der durch Ereignisse wie Stalins Tod und den Konflikt Moskau—Peking unterbrochen, aber kaum aufgehalten oder gar rückgängig gemacht werden kann — wenngleich er vor allem in der Sowjetunion sehr viel weiter als etwa in China vorangeschritten ist, schon wegen der sehr unterschiedlichen Dauer des kommunistischen Systems. Der die Macht ausübende Kommunismus befindet sich in allen Ostblockländern in diesem Prozeß, so daß nicht nur die Faszination der Berufs-revolutionäre, sondern auch die der Ideologie zu erlahmen beginnt. Auch dieser Umstand muß die Formung eines „neuen Menschen"

erschweren. Die kommunistischen Führer fassen ihn anscheinend schon ins Auge. Darauf deutet die Schaffung der kommunistischen Moralkodexe hin. Die Verankerung der Ideologie in den Köpfen, soweit sie überhaupt erreicht werden konnte, wird als unzureichend angesehen. Nun wird der Anker in die Seelen gesenkt. Das könnte allerdings nicht nur eine Umwandlung, sondern sogar die Ablösung der Ideologie bewirken. Moral statt Ideologie? In welcher Moral werden denn die Kommunisten erzogen, die Mitglieder der Kommunistischen Parteien in allen Ländern der Welt?

Typusbildung am eigenen Fall Bevor ich im April 1947 Kommunist wurde, galt ich als Individualist. Schon zwei Jahre später hatte ich einige kollektivistische Züge angenommen: einen bestimmten Jargon — das „Parteichinesisch"; eine spezielle, in kommunistischen Kreisen übliche Art, rhythmisch Beifall zu klatschen; eine vorgezeichnete Form, meine Referate aufzubauen und sie mit Hoch-rufen abzuschließen, die den jeweiligen Losungen der Partei entsprachen. Aber das war noch nicht alles. Auch eine neue Weise der Lebensführung bahnte sich an, die das Private in den Hintergrund treten und statt dessen die Partei in das Zentrum meines Daseins rücken ließ. Beispielsweise verlebte ich kaum noch ein Wochenende zu Hause, sondern in der Regel auf irgendeiner Konferenz, die keine Möglichkeit zum Ausgehen bot.

Oder ich war beauftragt worden, in irgendeinen Ort zu fahren und dort über dieses oder jenes zu sprechen. Es wäre mir niemals eingefallen, einen solchen Auftrag nicht auszuführen. Der Wille der Partei verschmolz mit meinem eigenen Willen. Ihre Ziele wurden die meinen. Aber auch ihre Befürchtungen steckten mich an. Ich begann nicht mehr für mich, sondern für die Partei zu leben.

Eines von vielen Zeichen hierfür war, daß ich mich nicht oder immer weniger für das Gehalt interessierte, das mir die Partei als einem ihrer hauptamtlichen Funktionäre zu zahlen beliebte. Sie zahlte sehr schlecht.

Selbst jenes Geld, das uns bewilligt worden war, erhielten wir meist nur zum Teil, überdies wurde auch jener Teil nur brockenweise ausgezahlt — jeweils gerade so viel, daß man davon noch leben konnte. Wenn es mir gelegentlich besonders schlecht ging, bat ich um 20, 30 oder 50 Mark, und irgendwie trieb sie der Kassierer dann in der Regel auch auf. Erst Anfang 1949 setzte eine regelmäßige Gehalts-zahlung ein. Aber die Höhe des Gehalts galt noch immer als ein Tabu. Wer sich als Funktionär für Geld interessierte, disqualifizierte sich selbst. Ich war von einer Erziehung zur Selbstlosigkeit, die in Selbstverleugnung überging, ergriffen, die ich für positiv hielt, bis mir aufging, daß sie die Verödung des Privaten im Menschen und speziell im Funktionär erstrebte.

Als geeignetstes Mittel zur Annäherung an dieses Ziel erwies sich die Ideologie, die mich aus allem riß, worin bis dahin meine Wurzeln steckten: aus der Nation, aus der Familie und aus dem Freundeskreis. Ich verlor das Nationalgefühl, das Familienbewußtsein und alle Freunde, da ich mich mit ihnen dem Kommunismus zuliebe zerstritt. So wurde ich einerseits einsam, andererseits aber vom Kollektiv der Partei aufgesogen, der ich nun noch aktiver als bisher diente, weil mir außer ihr nichts mehr geblieben war. Gerade einen solchen Menschen konnte die Partei gebrauchen. Es gab für mich nicht Parteien, sondern nur noch „die Partei". Der Teil erhob sich in meinem Bewußtsein zum Ganzen, um den politischen Raum restlos zu füllen.

Bevor ich Kommunist wurde, hatte ich eine Periode des heftigen Antikommunismus durchschritten, in der ich sogar zu Tätlichkeiten gegenüber Kommunisten fähig gewesen wäre. Als Begründung dafür, daß ich niemals Kommunist werden könnte, sagte ich einmal zu einem Jungsozialisten:

„Kommunist sein bedeutet, gegen jedermann mißtrauisch zu sein und jeden Andersdenkenden als seinen Feind zu betrachten. Auf solche Weise könnte ich nicht leben. Ein solches Leben wäre kalt und leer."

So nahm ich intuitiv die Wahrheit über den Kommunismus voraus, ohne daß mich ihre Ahnung daran hindern konnte, wenig später in die Kommunistische Partei einzutreten. Ich wurde nicht nur ein einfaches Mitglied, sondern einer ihrer Fanatiker, der es sich zum Ruhm angerechnet hätte, die Funktion eines Politischen Kommissars auszuüben. In meinem Zimmer hingen ausgeschnittene Bilder von Dsershinski, dem ersten Chef der Tscheka, sowie von Berija, dem Bluthund Stalins. Dem „Schwert der Revolution", wie man die Tscheka und spätere GPU in Parteikreisen nannte, anzugehören, erschien mir damals als eine Ehre. Als sich ein anderer Funktionär während einer privaten Silvesterfeier kritisch über die Sowjetunion äußerte, sagte ich, nur leicht angetrunken, daß man ihn „an die Wand stellen" müßte.

Mein heftiger Antikommunismus war in ebenso radikalen Kommunismus umgeschlagen. In gewissem Sinne war er sogar eine Vorstufe zu ihm. (Der totalitäre Kommunismus und der totalitäre Antikommunismus berühren sich an ihren Polen.) Der Antikommunismus lag nun hinter mir, weshalb er mich nur noch empörte. Jetzt konnte ich zuweilen das Verlangen in mir spüren, gegen Antikommunisten tätlich zu werden. So kehrte sich mein Leben um. Ich war wie verzaubert. Die Ideologie kehrte mich um.

Sie lehrte mich auch auf eine neue Art „denken" : im Schablonenstil. Der Dialektische Materialismus als die kommunistische Philosophie mutet wie ein kompletter Handwerks-kasten an: er stellt eine Anzahl „Denk" -Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sich scheinbar alle Probleme der Welt lösen lassen. Die ideologischen Dogmen gleichen unterirdischen Gängen, welche in die Goldkammern der Welträtsel führen, aber nur Eingeweihten zugänglich sind. Wie hätte ich nicht stolz sein sollen, zu diesen Auserwählten der Menschheit zu gehören? Daß ich zu ihnen zählte, verdankte ich wiederum der Partei, die sich herabgelassen hatte, mich in ihre Reihen aufzunehmen und die wiederum Glied eines großen Weltbundes — eines Bruderbundes der „Gerechten" — war. Wie hätte ich nicht stolz sein sollen, Mitglied der Partei und Kommunist zu sein? Meine Verblendung überschlug sich fast. Und meine Gedanken krochen nur noch durch die Gänge der Doktrin, die in Wahrheit nicht mehr als Verzweigungen eines Termitenbaus waren — mit der Termitenkönigin als dem Kopf der Partei.

Einmal zeigte mir ein Funktionär, der mir persönlich nahestand, eine von ihm selbst verfaßte Schrift, die eine Synthese von Marx und Nietzsche enthielt und sich bemühte, den Marxismus-Leninismus weiterzudenken.

Aber ich las nur die ersten Zeilen des handgeschriebenen Buches, sah auf und sagte hart:

„Das widerspricht dem Marxismus-Leninismus!"

Wortlos, aber mit einer ärgerlichen Bewegung entzog mir mein Gegenüber — einer der wenigen Parteifunktionäre, die selbständig zu denken versuchten — sein Manuskript.

Ich hatte mich seines Vertrauens unwürdig erwiesen und das gute zwischenmenschliche Verhältnis zerstört. Noch heute spüre ich einen Schmerz über dieses Versagen, das nicht mehr gutzumachen war.

Ich habe der Kommunistischen Partei etwa drei Jahre angehört, als mir ein Mädchen, das mich mochte, sagte, daß ich wie ein Kommunist aussähe, überrascht blickte ich auf.

„Wieso?" „Na, ein gewisser Zug zur Brutalität . . .". Ich erschrak. In diesem Augenblick hätte ich mich am liebsten in mir selber verkrochen. Dieses Mädchen riß eine Masche in dem Schleier vor meinen Augen entzwei.

Der Parteieintritt war nur ein erster Schritt gewesen. Eine Tür hatte sich geöffnet und lautlos hinter mir geschlossen. Dann war ich in den Sog der Ideologie geraten, die mich aus der Erde riß und umzumodeln begann — wobei sie die Weichheit aus meinen Bewegungen schnitt und meinem Gesicht einen harten Zug verlieh, der Bekannten fremd erschien und allmählich meine Gesamtperson erfaßte. Meine Individual-Merkmale verwischten sich oder schrumpften zusammen, während die kollektivistische Seite meines Wesens aus ihrer Verpuppung brach, wuchs und expandierte. Ich nahm mit anderen Worten die typischen Züge eines Parteifunktionärs an, wobei sich diese Wandlung wie in einem Halbschlaf vollzog. Ich wurde sowohl mobil als auch disponibel, beweglich wie verfügbar zugleich. Gerade dies sind die Grundforderungen an einen typischen Parteifunktionär. Er soll außerhalb der Partei so wenig Bindungen wie nur irgend möglich haben und der Partei jederzeit ohne Rücksicht auf Privatinteressen zur Verfügung stehen. Weitere Merkmale des kommunistischen Funktionärtypus sind die Abstumpfung des kritischen Denkvermögens sowie Elemente einer absoluten, bedingungslosen Disziplin, wobei der allmähliche Verlust der Kritikfähigkeit als „überzeugungstreue"

und die Herausbildung der blinden Disziplin als Beweis der „Ergebenheit"

die Partei, die Arbeiterklasse und die Sache des Kommunismus gewertet wie glorifiziert werden. Das gefährlichste und schlimmste Merkmal des kommunistischen Typus ist die keimende und wachsende Bereitschaft, im Interesse der Partei selbst Verbrechen zu begehen, also amoralische Mittel anzuwenden, um den Kommunismus zu fördern.

Während der Hitlerzeit las ich einmal einen großen Bericht über Stalins Beteiligung Bankräubereien. Er hinterließ in mir den zweifellos gezielten Eindruck, daß der Kommunismus eine Partei von Verbrechern sei.

Später, in der Nachkriegszeit, als ich mich der Kommunistischen Partei zu nähern begann, hielt ich jenen Bericht, der sich meinem Gedächtnis eingeprägt hatte, für ein boshaftes Märchen. Ich konnte nun nicht mehr an ihn glauben. Aber ich befand mich noch keine zwei Jahre in der Partei, als ich nicht nur wußte, daß der besagte Bericht mit Ausnahme einiger Details auf Wahrheit beruhte, sondern nun schon selber bereit gewesen wäre, mich im Auftrag der Partei an „Expropriationen"

zu beteiligen, wie Lenin diese Art der Geldbeschaffung zur Finanzierung der Parteiarbeit nannte. Denn wir hatten ja gelernt, daß der kapitalistische Staat und seine Bankfilialen Instrumente der Ausbeutung seien, weshalb es uns wie ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit erschien, wenn ihr Geld „beschlagnahmt" und jener Partei zur Verfügung gestellt würde, welche die Interessen der Ausgebeuteten vertrat.

Damit hatten sich alle Hauptmerkmale des kommunistischen Parteifunktionärtypus auf mich übertragen. War ich nicht tatsächlich zu einem „neuen Menschen" geworden?

Die Rückwendung und der Exkommunismus Der Exkommunismus beginnt gewöhnlich schon innerhalb der Kommunistischen Partei. Umgekehrt kann sich auch der Exkommunist normalerweise für einige Zeit nicht völlig vom Kommunismus frei machen.

Der Exkommunismus beginnt mit dem Zweifel, schreitet fort zur Opposition gegen die jeweilige „Linie" der Partei und mündet in den Bruch mit ihr sowie mit dem Kommunismus schlechthin.

Das ist sehr schnell gesagt, aber sehr viel langsamer und nur schrittweise getan.

Denn schon der Eintritt in die Kommunistische Partei setzt einen Bruch voraus — den Bruch mit der übrigen Welt. Für den Kommunisten wird die Welt mit der Partei identisch: sie schmilzt im engeren Sinne auf ihren Rahmen und im weiteren Sinne auf den Radius ihrer Aktionen zusammen. Wer nicht aus zufälligen, sondern aus grundsätzlichen Motiven Kommunist geworden ist, läßt im gleichen Augenblick, da er die Kommunistische Partei wie einen festlichen Saal betritt, die gesamte restliche Welt hinter sich zurück, um erst im Verlauf der Parteiaktionen wieder in sie vorzustoßen — mit dem Zweck, sie im Sinne des Kommunismus zu verändern.

Wer also mit der Kommunistischen Partei brechen will, muß sich der Welt vor ihren Toren wieder nähern und den Bruch mit ihr rückläufig zu machen versuchen. In einem kommunistischen Staat ist das natürlich unvergleichlich schwieriger als in einem freien Land. Innerhalb der kommunistischen Staaten dürfte es zahllose faktische Exkommunisten geben, die nur noch formal Mitglied der Partei sind.

Der Eintritt in die Kommunistische Partei bedeutet aber in gewissem Sinne auch den Bruch mit sich selbst, die Zurückdrängung und Vergewaltigung der persönlichen Interessen zugunsten der kommunistischen Kollektivbelange und schließlich sogar als Verzicht auf Individualität. Der kommunistische Funktionär ist einer Selbstentfremdung ausgesetzt, wie sie Karl Marx nicht einmal ahnen konnte, obwohl sein Grundgedanke in der Aufhebung aller Formen der Selbstentfremdung bestand.

Dies — das Zurück zur Welt außerhalb der Kommunistischen Partei und das Zurück zu sich selbst — sind die beiden Hauptprobleme eines Menschen, der sich vom Kommunismus zu lösen beginnt. Plötzlich spürt er die Fesseln der kommunistischen Organisation und die Fesseln der kommunistischen Ideologie. Bezüglich der Welt wird sich die Größenordnung verschieben. Die Kommunistische Partei schmilzt aus der „eigentlichen" Welt wieder in eine Parzelle zusammen, die bei näherer Betrachtung wie ein Zuchthaus aussieht. Was dem Kommunisten aber als „Restwelt" erschien, die es zu unterwerfen gelte, wächst zu monumentaler Größe, zur Welt des Eigentlichen und Allumfassenden empor, in der sich die Partei wie ein dunkler Punkt ausnimmt. Die Partei selber hört auf, „die" eine zu sein. Sie wird in demokratischen Ländern zu einer von vielen oder mehreren, was sie im Bewußtsein des werdenden Exkommunisten ebenfalls zusammenschrumpfen läßt.

Bezüglich der eigenen Person und ihres Verhältnisses zur Partei wird sich die Werte-skalaverändern. Die Kollektivinteressen der Partei werden nicht mehr als die einzig legitimen erscheinen. Das Private kann sich wie aus einer Trance erheben, um nach Stillung der bisher unterdrückten Bedürfnisse zu verlangen. Damit beginnt die Wiedergeburt der Individualität, welche den über ihr liegenden Schutt beiseite stößt, was wiederum mit der Lösung vom kommunistischen Typus zusammenhängt. Kein Zweifel, der Kommunismus prägt den Menschen, die ihm anhängen, gewisse gemeinsame Merkmale auf. Seine Formkraft wird mit Hilfe der Ideologie ausgeübt, die sich als eine Schablone über das Gehirn des Menschen stülpt, und mit Hilfe der Parteiorganisation, die die natürliche Bewegungsfähigkeit des Menschen durch Prothesen ersetzt.

Wer daher mit dem Kommunismus brechen will, muß sowohl die ideologische Schablone als auch die organisatorischen Prothesen beiseite werfen. Er muß wieder kritisch denken und selbständig gehen lernen. Wenn er diese beiden Fähigkeiten neu erwirbt, besitzt er die Mittel zur Zerstörung auch der anderen Merkmale des kommunistischen Typus.

Je weiter sich der Betreffende innerlich und nach dem organisatorischen Bruch mit der Partei auch äußerlich vom Kommunismus entfernt, um so schneller trägt er Schicht um Schicht des kollektiven Typus ab, der seine Individualität verschüttete. Der Exkommunismus bedeutet die schrittweise Sprengung des kommunistischen Typus. Hinter dem Allgemeinen tritt wieder das Besondere, aus dem Halbdunkel des Anonymen tritt von neuem das Persönliche hervor. Im Unterschied zum kommunistischen Funktionär — der weniger Person als ein Typus ist, solange er sich innerhalb der Kommunistischen Partei bewegt — gehört der Exkommunist im allgemeinen keinem psychologischen Typus mehr an, der von einer spezifischen Politik und Weltanschauung genormt worden wäre.

Schlußfolgerungen

Der Verfasser möchte aus dem Gesagten, obwohl er sich der Relativität seiner Aussagen voll bewußt ist, drei Schlußfolgerungen ziehen: 1. Die Herausbildung des kommunistischen Typus kann sich nur innerhalb der Partei vollziehen, die versucht, den Menschen radikal zu verändern.

2. Die sich herausbildenden Merkmale des kommunistischen Typus verändern im wesentlichen — da sie sich über den Menschen legen statt in ihn einzusinken — nur die Oberfläche oder Randzone des Men-sehen, ohne imstande zu sein, in die menschliche Struktur einzudringen; sie können zwar menschliche Individuen aus der natürlichen Bahn ihres Lebens werfen, aber nicht die menschliche Substanz ummodeln:

weder die der Person noch die des Gattungswesens. 3. Der Prozeß der Typusbildung ist umkehrbar und hängt weitgehend von der Gewinnung einer Distanz zum Kommunismus ab. Diese drei Schlußfolgerungen sind miteinander verbunden. Ihr allgemeiner Aussagewert wird jedoch dadurch beschränkt, daß der Verfasser hauptsächlich seine persönlichen Erfahrungen dargestellt hat und auch als Kommunist in einem nichtkommunistischen Lande — der Bundesrepublik — lebte, in einer Umwelt also, die seine Lösung vom Kommunismus erleichtern mußte und die Einflußmöglichkeiten der Kommunistischen Partei selbst ihren Mitgliedern gegenüber begrenzt. Andererseits muß alles Objektive durch das Sieb des Subjektiven hindurch, wenn es sich zur Wahrheit destillieren soll. Außerdem dürften die Erfahrungen und Folgerungen des Verfassers durch den Lebensweg und die jetzige Tätigkeit zahlloser Exkommunisten — wenn auch nicht aller von ihnen — erhärtet werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Prawda, 7. 11. 1964.

  2. Ostprobleme, 3. 5. 1963, S. 259.

Weitere Inhalte

Günther Bartsch, freier Journalist, geb. 13. Februar 1927 in Neumarkt/Schlesien, von 1948 bis 1953 in leitenden Positionen der kommunistischen Jugendbewegung, Bruch mit dem Kommunismus nach dem 17. Juni 1953.