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Europa als Problem der politischen Pädagogik an den Gymnasien in der Bundesrepublik | APuZ 15/1965 | bpb.de

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APuZ 15/1965 Politische Weltkunde. Der Lehrgang Politische Weltkunde Europa als Problem der politischen Pädagogik an den Gymnasien in der Bundesrepublik

Europa als Problem der politischen Pädagogik an den Gymnasien in der Bundesrepublik

Wolfgang W. Mickel

Vorbemerkung

Ein Deutscher, der sich mit dem Beitrag der politischen Pädagogik seines Landes zur europäischen Verständigung befaßt, gerät oft in den Verdacht, dies aus opportunistischen Gründen zu tun. Man ist leicht geneigt, das deutsche Bestreben um Europa als Reaktion auf einen Frustrationsprozeß zu betrachten, die darin besteht, daß die totale Niederlage des deutschen Nationalismus der Vergangenheit sich nun in betonter Aktivität um Europa entlädt, oder, in die Sprache der Zeitgeschichte übersetzt, uns Deutschen blieb nach zwei katastrophalen Niederlagen innerhalb einer Generation gar nichts anderes übrig, als die Chance einer nationalen und politischen Wiedergeburt in der Förderung des Europagedankens zu sehen, gleichsam über und im Rahmen der größeren Einheit Europa die eigene Einheit wiederzuerlangen.

Die erwähnten psychologischen und zeitgeschichtlichen Gründe wurden bald durch die politische Weltkonstellation überholt. Das Auseinandertreten der beiden Machtblöcke in Ost und West ergab für alle europäischen Staaten die Notwendigkeit einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einigung.

Damit wurde die deutsche Aktivität von allen Verdächtigungen befreit, und es bedarf hin-fort für sie keiner weiteren Legitimation mehr.

Das Problem Europa war jedoch nicht nur eine Sache der deutschen Politik nach 1945, sondern ebenso der politischen Pädagogik. Es ging in unserem darniederliegenden Lande darum, der Jugend eine neue und tragfähige politische Idee zu vermitteln, ohne die kein Land auskommen kann. Der Erziehung, die solche Ideen zu tradieren hat, fiel dabei eine besondere Aufgabe zu. Wenn auch vor jedem überspannten Erziehungs-und Bildungsoptimismus gewarnt werden muß, so darf doch die Veranstaltung planmäßiger und bewußter Erziehung nicht unterschätzt werden. Es waren besonders Gymnasiasten und Studenten, die infolge ihrer allgemeinen Weltoffenheit und ihrer Sprachkenntnisse an den ersten von der Europa-Union veranstalteten europäischen Treffen teilnahmen. Das berechtigt uns zu der Feststellung, daß das Gymnasium selbst, oft mittels der führenden Rolle seiner Lehrer, einen beträchtlichen Anteil an der Bewegung hatte.

Theoretische Grundlegung

Allgemeine pädagogische Schwierigkeiten Bevor wir uns der Untersuchung widmen, welche Bedeutung dem deutschen Gymnasium und seinem Unterricht in Gemeinschaftskunde/Sozialkunde bei der Bildung des europäischen Bewußtseins, das in erster Linie Gegenstand dieser Untersuchung sein soll, zukommt, muß auf einige generelle pädagogische Schwierigkeiten hingewiesen werden. Einmal ist der unpolitische Bildungsbegriff zu erwähnen, der sich dagegen sträubt, die politische Pädagogik als integrierenden Teil der Pädagogik überhaupt anzuerkennen, zum andern die Gefahr der Ideologisierung. Ferner stehen wir vor der sachlichen Schwierigkeit, daß die europäische Einigung zu einem Zeitpunkt erreicht werden soll, da die europäische Epoche der Weltgeschichte vorübergegangen ist Man kann natürlich auch in diesem Sachverhalt eine geschichtliche Chance sehen, die darin besteht, daß jetzt Europa nach der so-genannten Enteuropäisierung der Erde in die Lage versetzt ist, seine ganzen Energien auf den Kontinent zu konzentrieren und eine Einheit zu schaffen, wie sie nie zuvor bestanden hat. Wenn wir jedoch die Dinge etwas weiter verfolgen bis in die europäischen Verhandlungen hinein, etwa im Zusammenhang mit dem Schuman-Plan von 1951, als der ersten europäischen Gemeinschaft, oder mit dem gescheiterten EVG-Vertrag von 1954 und schließlich mit den am 29. Januar 1963 ergebnislos abgebrochenen Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zur EWG, dann wird man sich an nationale Sentiments und Ressentiments erinnern, die aus der Tiefe der verwundeten Seele der europäischen Völker hervorströmten. Die vielfachen psychologischen Widerstände müssen hier ausgeklammert werden. Das Hauptgewicht soll vielmehr auf die geistigen Gründe und Hintergründe gelegt werden, die im Rahmen der politischen Pädagogik für die Bildung eines europäischen Bewußtseins maßgebend sind. Dies ist die für unsere Gymnasiasten legitime Ebene. Der Anteil planloser, vorurteilsvoller, das Unterbewußtsein und die unbewußte Haltung beeinflussender Miterzieher soll dabei wenigstens mit erwähnt werden.

Historischer Rückblick Im geistig-kulturellen Bereich scheint der beste Ansatz für eine europäische politische Verständigung gegeben, weil gemeinsame Traditionen vorhanden sind, die jenseits von nationalen Verdächtigungen von allen anerkannt werden können. Erscheinungen der Literatur, Philosophie und Kunst sind allgemein-europäisch. Namen wie Dante, Cervantes, Shakespeare, Goethe, Racine, Descartes, Kant, Locke, Croce, Michelangelo, Tizian, Dürer, Rubens, Picasso — um nur einige zu nennen — überschreiten mühelos die nationalen Grenzen. In der Architektur zeigt sich am augenfälligsten wie die großen Baustile die europäischen Länder verbinden.

Darüber hinaus gibt es noch allgemein-europäische politisch-soziale Gemeinsamkeiten aus der Vergangenheit: Westeuropa und ein Teil von Osteuropa haben seit der Zeit des frühen Mittelalters in einer z. T. bewußten oder unbewußten Weise als eine historisch-politische Einheit gelebt, die gegenüber der byzantinischen, ostslawischen und islamischen Welt deutlich zutage trat. Griechisch-römische Kultur und universale katholische Kirche waren die einenden Bande, zu denen zeitweise die politische Einheit in der Gestalt des König-und Kaisertums hinzutrat. Z. B. forderte Dante in seiner Schrift „De monarchia" (1306) eine europäische Universalmonarchie unter einem römisch-deutschen Kaiser. Dem Mittelalter fehlte der bewußte Begriff vom souveränen Einzelstaat (vgl. Thoma v. Aquino und Dante).

Die rechtliche Einheit ruhte auf der gemeinsamen Anerkennung des Naturrechts. Sacerdotium und Imperium, Papst und Kaiser waren die Mächte, die das Bewußtsein übernationaler Zugehörigkeit in den Menschen hervorriefen. Adel und Geistlichkeit waren in ihren gegenseitigen Beziehungen international, die Kreuzzüge, die Ostkolonisation und die Abwehr der Mongolen und des Islam waren gesamteuropäische Veranstaltungen.

Im ausgehenden Mittelalter haben wir die europäische Gelehrtenrepublik des Humanismus und der Renaissance, im 17. und 18. Jahrhundert das internationale Ideal des gentil et galant homme sowie die internationale Kauf-mannschaft seit dem Aufblühen des Handels im Zusammenhang mit der Ausweitung der Geldwirtschaft. Die Gemeinsamkeit lag weniger in der Organisation, als vielmehr in der Struktur der Lebensverhältnisse. Überall in Europa gab es im Mittelalter die gleiche Schichtung in Stände mit gesonderten Rechten und Pflichten.

Die europäische Gemeinsamkeit des Standes, des gleichen geistigen Strebens und der Anerkennung allgemein verbindlicher Werte änderte sich mit dem Entstehen von Religionsparteien quer durch die Staaten hindurch. Der Absolutismus führte die einzelnen Staaten in die politische Isolierung. Sie erreichte ihren Höhepunkt in der Entstehung der Nationalstaaten am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert. Im vorigen Jahrhundert hat Napoleon einen europäischen Kontinentalbund als Gegengewicht gegen England angestrebt, nach dem seine außereuropäischen Ambitionen gescheitert waren. Der Wiener Kongreß hat 1815 die Heilige Allianz zustande gebracht, die Rußland und England mit einschloß. Dieser monarchischen Form einer religiös-moralisch gemeinten europäischen Einigung stellte der Genuese Mazzini 1834 seine Bewegung „junges Europa" gegenüber mit dem Ziel eines einigen Europa auf demokratischer und nationaler Grundlage, als Zusammenfassung aller revolutionären Bewegungen im Dienste dieses Zieles.

Aus unserem Jahrhundert sind die Bemühungen des Grafen Coudenhove-Kalergi seit 1919 zu nennen („Paneuropa" 1923), der die 26 europäischen Demokratien zu einem Staatenbund nach dem Vorbild der panamerikanischen Union zusammenfassen wollte. Am Ende der zwanziger Jahre waren es die Staatsmänner Briand und Stresemann, die sich dem Gedanken der europäischen Einigung im Interesse der gegenseitigen Befriedigung von Frankreich und Deutschland verschrieben. Durch das Aufkommen des Faschismus und den frühen Tod der beiden Staatsmänner blieben ihre Bemühungen in den Anfängen stecken.

Hinter allen Einigungsbestrebungen insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts verbarg sich die Idee des europäischen Nationalismus, in Deutschland besonders gefördert unter dem Einfluß der in der Hegeischen Rechts-philosophie vollzogenen Verabsolutierung des Nationalstaates.

Warum wird die historische Perspektive erwähnt? Ein Leben ohne Geschichte ist für den geistigen Menschen unmöglich. Also müssen wir nach geschichtsmächtigen Bildern suchen, die zu europäischen Leitbildern werden können. Es kann sich dabei vorläufig nur um Minimalübereinkünfte handeln. Nach Grabowsky haben die europäischen Staaten folgende für die Bildung eines europäischen Bewußtseins und einer europäischen Gesittung geeigneten Leitbilder anzubieten:

Die Frage der Leitbilder England das Ideal des Staatsmannes (Public Schools, Christian Gentleman), Frankreich die Harte latine, das diskursive Denken, Italien die universale Tradition des Imperium Romanum, Deutschland seine Aktivität und Vitalität, seine auf die Gegenwart bezogene Lebenskraft. Die gemeineuropäischen Anstrengungen dürfen jedoch nicht im Geistig-Kulturellen stehen bleiben, sondern müssen sich auf die Bildung eines politischen Bewußtseins richten

Die Legitimität des Themas Europa im Unterricht Bevor wir uns der Unterrichtswirklichkeit zuwenden, muß der Praxis ein theoretisches Fundament gegeben werden. Nur dann wird Erziehungswissenschaft glaubhaft, wenn sie eine Klärung der Begriffe und Grundlagen vollziehen kann. Die erste Frage muß auf die Legitimität des Themas Europa im Unterricht und in der Erziehung gerichtet sein. Eine überholte Gymnasialideologie ließ Jahrzehnte hindurch nur die Antike gelten, so daß sich Kaiser Wilhelm II. genötigt sah, in seiner Eröffnungsansprache auf der Reichsschulkonferenz von 1890 zu verlangen: „... wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer." Das restaurative Erziehungs-und Bildungsideal wurde in Deutschland durch die Einführung der Real-gymnasien, d. h. solcher Gymnasien, die ihren Sinn vor allem in der Vermittlung der Kenntnisse der Naturwissenschaften und der modernen Sprachen sahen, um die Jahrhundertwende abgelöst. Man darf vermerken, daß es wohl kein anderes europäisches Land gibt, in dem die Gymnasien mehr moderne Fremdsprachen obligatorisch und fakultativ anzubieten haben als in Deutschland. Damit soll gesagt werden, daß das Anliegen Europa, allerdings weniger im Sinne einer politischen Entität, sondern im kulturell-geistigen Sinne, an den deutschen Gymnasien mindestens seit der Jahrhundertwende eine Selbstverständlichkeit ist. Neben den sprachlichen Fächern sind vor allem Geschichte und Erdkunde zu erwähnen. Sie vermochten seit ihrer Aufnahme in den Fächer-kanon der deutschen Gymnasien seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts das europäische Geschichts-und Raumbewußtsein auszubilden. Dabei sei natürlich nicht verschwiegen, daß lange Zeit hindurch die Geschichte national-politische Akzente erhielt, die europäischen Staaten vorwiegend in der Rolle des feindlichen Gegenüber betrachtete und damit das Revanchedenken ideologisch untermauerte; die Erdkunde sah weithin nicht mehr die Menschen verschiedener Länder als Partner im Raum, sondern subsummierte sie in falsch verstandener geopolitischer Interpretation unter den Aspekt militärischer und volkstums-politischer Fragestellungen.

Mit diesen Bemerkungen soll angedeutet werden, daß das Thema Europa im Hinblick auf seine schulische Verankerung grundsätzlich keines Nachweises mehr bedarf. Allerdings wird noch zu überlegen sein, wie die Akzente gesetzt werden müssen; denn darauf kommt es entscheidend an. Neben dem Verweis auf europäische Themen im Unterricht seit etwa 80 Jahren, der durch den Lehrplan begründet ist, habe ich außerdem einen soziologischen Grund anzuführen, der erst langsam an Boden innerhalb der deutschen Gymnasialideologie gewinnt. Dazu eine Vorbemerkung: Man ist in unserem Lande im Hinblick auf die Festlegung von Lehr-und Bildungsplänen immer noch sehr auf das sogenannte Grundsätzliche und Allgemeine gerichtet. Darunter versteht man Bildungsgüter, deren perennierende Gültigkeit scheinbar unumstößlich feststeht. Dagegen steht man jenen Ansichten skeptisch gegenüber, die mehr das Elementare und Exemplarische im Bildungsprozeß und seiner Anwendung auf die Gegenwart betonen. Diese Einstellung begegnet bei uns zu leicht dem Vorwurf des Pragmatismus, obwohl sich die Gegenseite in der Praxis ebenso pragmatisch verhält. Die einmal erfolgte Kanonisierung von Lehrgehalten gilt zu schnell als immer verbindlich. Sie ignoriert — und damit kommen wir auf den bildungssoziologischen Grund zurück — die Anforderungen der Gesellschaft. Es ist bei uns schwierig, für die Auffassung Sympathie zu finden, daß das Gymnasium etwas mit der Gesellschaft zu tun habe. Ich gehe zwar auch nicht so weit, daß ich es mit der Gesellschaft identifiziert sehen möchte und erkenne den Wert von überzeitlichen Bildungsgütern voll an, glaube aber, daß die Gegenwart mit ihren Strukturen eine stärkere und bewußtere Berücksichtigung finden sollte. Dazu gehört das Thema Europa. Die heftigen Auseinandersetzungen um die politische Erziehung und Bildung im Nachkriegsdeutschland, erneut angefacht durch den Beschluß der Kultusministerkonferenz über die allgemeine Einführung des Faches Gemeinschaftskunde in den Primen (Saarbrücker Rahmenvereinbarung II, 2 vom 29. 9. 1960), illustrieren, was ich mit dem bildungssoziologischen Argument sagen will. In der Diskussion hat sich gezeigt, wie wenig man aus — wie ich meine — Verbandesinteressen heraus, die natürlich mit einem bildungsideologischen Mantel umhüllt werden, geneigt war oder noch ist, von soziologisch-politischen Notwendigkeiten der Gegenwart Kenntnis zu nehmen. Man kann jenen Leuten den Vorwurf des Historismus nicht ersparen, wenn sie meinen, die Kenntnis der Vergangenheit löse die Probleme der Gegenwart von selbst. Es hat deswegen des gründlichen Anstoßes durch Bildungspolitiker (oft waren sie nicht einmal Fachleute) bedurft, um das Gymnasium vielerorts zu zwingen, von bildungssoziologischen und bildungspolitischen Gegebenheiten Kenntnis zu nehmen. Es läuft Gefahr, sich restaurativ gegenüber der Gesellschaft zu verhalten, so daß allmählich die Außenseiter des 2. Bildungsweges, die Abendgymnasien und Kollegs sowie die Wirtschaftsgymnasien, zu den Avantgardisten einer zukünftigen neuen gymnasialen Bildungsideologie zu werden drohen. Uber die bestehenden Gymnasien wurde bereits von dem Bildungspolitiker Georg Picht gesagt, man solle sie eben verkümmern lassen, wenn sie nicht jene notwendige Anpassung an die Gesellschaft vollziehen wollten Die Gymnasien werden steril, wenn sie ihrer kulturkritischen Haltung untreu werden. Dazu gehört die volle Anerkennung der politisch-sozialen Strukturen der Gegenwart.

Die Notwendigkeit planmäßiger politischer Bewußtseinsbildung Mit den skizzierten beiden Gründen wurde die Rechtmäßigkeit des Themas Europa in Unterricht und Erziehung der Gymnasien festgestellt. Als Ziel habe ich die politische Bewußtseinsbildung und Gesittung angegeben, die durch Unterricht und Erziehung geleistet werden soll. Damit komme ich zu einer wesentlichen Grundfrage politischer Erziehung und Bildung überhaupt, zur Frage, ob politische Willens-und Bewußtseinsbildung als planmäßige Veranstaltung möglich ist. Oder — einfacher und auf unser Thema bezogen formuliert — ist es nicht sinnvoller, die Jugendlichen zu unseren Nachbarn für einige Wochen auf Besuch zu schicken, als im Unterricht eine mühevolle geistige Auseinandersetzung über Wochen und Jahre zu führen? Dazu ist zu bemerken: Es ist Aufgabe der höheren Schule in reflektierender Weise die Dinge über den Intellekt aufzunehmen, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Gefühlsbildung Gerade bei der politischen Erziehung und Bildung hat man eingesehen, daß die bloße Sachkenntnis nicht ausreicht zur Aktivierung eines politischen Willens. In der politischen Pädagogik hat man sich daher inzwischen auf die Vermittlung von Strukturen und Einsichten festgelegt, d. h. auf die Kombination des rationalen mit dem mehr irrationalen Moment im Erziehungs-und Bildungsvorgang. Gerade die Psychologie des Lehrens und Lernens hat herausgearbeitet, wie empfänglich das Kind und der Jugendliche für das rationale Aufnehmen der Umwelt sind Ein unreflektiertes Gefühl kann insbesondere für den Schüler nicht als hinreichend zugelassen werden, der einmal mehr als Völkerversöhnung spüren, vielmehr sie in Verantwortung praktizieren soll. Dazu gehört Kenntnis von Land und Leuten, Politik und Kultur, Recht und Wirtschaft.

Der Begriff des europäisch-politischen Bewußtseins — ein Zentralthema der politischen Pädagogik Nach diesen Bemerkungen müssen wir uns noch fragen, inwieweit europäisches Bewußtsein im Sinne bewußter Wahrnehmung politischer Verantwortung überhaupt der Realität ob nicht zu jenen Begriffen entspricht oder es gehört, mit denen man heute so gerne arbeitet — ich erinnere an den Begriff der Gemeinschaft oder an den des gemeinsamen Willens —, denen aber lediglich ein unbestimmter Gefühlswert zukommt. Be Die Unklarheit der -

beseitigt werden. griffe muß dringend Welche ihr wir Gefahr sich in birgt, sehen etwa an der Ambivalenz des Begriffes der Freiheit in Ost und West. Was wir brauchen, sind tragfähige Begriffe und Inhalte, die zu verpflichtender Tat anleiten. Zunächst wurde gesagt, daß europäisches Bewußtsein ein politisches Bewußtsein sein müsse. Damit verbinden wir gleichzeitig eine Kritik des europäischen Bewußtseins bis 1945. Es war bis dahin ein vorwiegend kulturelles Bewußtsein, wie an Hand des geschichtlichen Rückblicks und der schulischen Wirklichkeit zu zeigen versucht wurde. Die gebildeten Schichten sind schon immer ins europäische Ausland gereist, haben sich an seiner Kultur, insbesondere an seiner Literatur und Philosophie berauscht, wußten sich geistig in Frankreich oder England ebenso zu Hause wie im eigenen Lande. Dennoch, so müssen wir beschämt bekennen, war das kulturelle europäische Bewußtsein nicht ausreichend, um Schlimmes in der Geschichte der europäischen Völker der letzten 100 Jahre zu verhüten. Es genügt nicht — konkret gesprochen — Hitler einen Barbaren zu nennen und sich in den Schmollwinkel zurückzuziehen im Bewußtsein, das politische Geschehen gehe einen nichts an. Dahinter steht die über Jahrhunderte von der deutschen geistigen Schicht praktizierte Dichomotie von Geist und Politik.

Wir kennen alle die Bemerkung des lustigen Gesellen Brander in Goethes Faust: „Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied! ein leidig Lied!"

Nach diesen Hinweisen darf gesagt werden, daß europäisches Bewußtsein, das nach unser aller Wunsch dem Frieden dienen soll, politisches Bewußtsein sein muß, weil nur dieses im allgemeinen auf das praktische Tun ausgerichtet ist. Die relative Unverbindlichkeit ästhetisch-literarischer und oft auch historischer Erziehung und Bildung können wir uns aus Gründen unserer nackten Existenz nicht länger leisten. Dies impliziert die verstärkte Aufnahme der Kategorie des Politischen in jedes Erziehungs-und Bildungsprogramm.

Dazu erinnern wir uns des historischen Exkurses, der gezeigt hat, daß ernsthafte politische Bemühungen um eine Einigung Europas auf der Grundlage der Partnerschaft der Mitgliederstaaten eigentlich nur bei Briand und Stresemann vorlagen, die erst von Chruchill in seinem Aufruf zur Bildung der Vereinigten Staaten von Europa am 19. 9. 1946 in seiner Züricher Rede wieder aufgegriffen wurden.

Bei dieser Gelegenheit muß noch der Begriff des Politischen erläutert werden, da er gerade in der politischen Pädagogik so außerordentlich schillernd ist. Politik, so könnte man abkürzend sagen, hat es mit der Erhaltung und Stiftung von Ordnung unter den Menschen zu tun. Sie bedient sich dabei der Macht, die jedoch ihre Kontrolle durch den Begriff der Verantwortung erfahren muß. Mit dieser Bestimmung des Politischen weisen wir seine Begrenzung auf das Kooperativ-Partnerschaftliche zurück. Für die Bildung eines gemeinsamen Europa ist die Kategorie des Politischen, repräsentiert durch Macht und Verantwortung, ausschlaggebend. Eine Verharmlosung des Problems durch die in unserer politischen Pädagogik noch weitverbreitete Meinung, man benötige nur den guten Willen, der seinerseits zunächst einmal im friedlichen Zusammenleben in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde zu üben sei, und dann brauche man sich nur zusammenzusetzen und ein einheitliches Europa zu gründen, geht an der Realität vorüber. Manche Ereignisse in der politischen und wirtschaftlichen Geschichte Europas aus der jüngsten Zeit haben gerade gezeigt, wie hart um die Probleme gerungen werden muß, und wie es keineswegs nur eine Frage der Zeit und der politischen Vernunft zu sein scheint, daß Europa eine Einheit werde. Um so vordringlicher scheint die politische Bewußtseinsbildung, die einige Grundüberzeugungen des Inhalts vermitteln muß, wonach europäische Existenz nur in einem geeinten Europa auf die Dauer möglich sein wird. Mit diesem Hinweis ist zugleich ein weiteres Kriterium für die Prüfung und Beurteilung dessen, was an unseren Gymnasien tatsächlich in bezug auf Europa getan wird, genannt.

Es bleibt nur noch die Aufgabe, die Tragfähigkeit des Begriffes Bewußtsein zu klären. Für unsere Zwecke geht es nicht um seine psychologische Gestaltung, sondern um seine philosophisch-erkenntnistheoretische Seite. Nach Kant ist „das Bewußtsein meines eigenen Daseins zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir." (Kritik der reinen Vernunft.) Dieser ontische Aspekt ist geeignet, unser Dasein als ein Mit-und Zusammensein zu begründen, wobei alle Möglichkeiten der Ausdehnung gegeben sind. Freilich macht die inhaltliche Bestimmung Schwierigkeiten. Die Dinge liegen in Europa nicht so einfach wie im partikularistischen Deutschland bis 1871 oder im Staat-werden der ehemaligen nordamerikanischen Kolonien. Unsere Schwierigkeiten beginnen vielmehr bei der Umschreibung des geographischen Begriffes Europa. Im allgemeinen denken wir nur an das freie West-und Mitteleuropa. Zwar haben wir den Anfang mit einer wirtschaftlichen Union gemacht und Teilerfolge im sozialen und militärischen Bereich erzielt, aber es fehlt noch sehr an einer allgemeinen politischen Konzeption. Unter den Europakonzeptionen ist die britische nach außen gerichtet, die französische auf ein „Europa der Vaterländer" (de Gaulle), eine andere Konzeption nach dem „Vaterland Europa". Fragen nach einem Bundesstaat, einem Staatenbund oder „europäischem Commonwealth" werden heute in dem merklich kühler gewordenen europäischen politischen Klima nicht mehr leidenschaftlich genug gestellt. In diesem Zusammenhang müssen Begriffe wie Volk, Nation und Vaterland zu einer verbindlichen Klärung gebracht werden. Ein Stimmungseuropäertum genügt nicht unter ständiger Verwendung der Vokabel von der „Völkerverständigung". Die Motive der Einigungspolitik müssen erörtert, die Ziele diskutiert und von da aus auf institutionelle Fragen übergegangen werden Eine Grundfrage wird dabei die Art der Repräsentanz des staatsbürgerlichen Willens sein müssen. Er ist in der modernen Demokratie zu sehr bei der Regierung zentriert, während er bei der Legislative liegen sollte. Man hat sich dagegen auf den neutralen Begriff der europäischen Integration zurückgezogen, der viele Interpretationsmöglichkeiten bietet. Demgegenüber wäre es für die politische Pädagogik von entscheidender Wichtigkeit, konkrete Tatbestände wie eine europäische Solidarität und ein europäisches Gemeinwohl zur Verfügung zu haben. Eine solche volonte generale setzt ursprünglich unanimite voraus und ist nicht einfach eine Addition der volontes particulieres. Letztere würden Europa als ein überindividuelles Gebilde konstituieren. Ein europäisches politisches Bewußtsein setzt den unentbehrlichen Konsensus über die Interdependenz und universale Verflechtung der Probleme voraus.

Die Unklarheit des Begriffs der europäischen Integration Die mangelhafte Konturierung des Begriffes der europäischen Integration erschwert die politische Bewußtseinsbildung außerordentlich. Die Tatsache bestehender supranationaler politischer Gebilde wie Europa-Rat, Europäisches Parlament, Hohe Behörde, die vorwiegend nur das Recht zu Empfehlungen an die Regierungen haben, d. h. ohne Legislative sind, reicht nicht aus, um Europa als politische Realität erscheinen zu lassen. Die kulturelle und wirtschaftlich-soziale Einheit darf die Pluralität, ja Heterogenität der politischen Ordnungen innerhalb Europas nicht bagatellisieren. Wir müssen uns vorerst leider noch mit Abstraktionen begnügen, mit Idealtypen im Sinne von Max Weber. Dieses Verfahren erschwert leider wirkliche europäische Erziehung und Bildung, weil politische Pädagogik im allgemeinen sehr von Anschauung und Vorbild abhängig ist. Andererseits muß in der politischen Pädagogik infolge der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes, der es immer mit der Zukunft zu tun hat, ein Schuß Utopie enthalten sein. Darüber hinaus ist in der politischen Erziehung und Bildung Nüchternheit und Realitätssinn mehr als anderswo am Platze. Das entspricht nicht zuletzt den Erkenntnissen der Jugendpsychologie, wonach der Sinn für die Realitäten ein Charakteristikum der Jugend des industriellen Zeitalters ist. Die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und den schulischen Bemühungen darf nicht zu groß sein, will man den Erfolg nicht von vornherein in Frage stellen. Gemeineuropäische Formkräfte Damit nicht der Eindruck entsteht, der Wert der kulturellen Einheit Europas werde unterschätzt und der politische Aspekt gewinne die überhand, sollen noch einige Bemerkungen über das gemeineuropäische kulturelle Erbe angefügt werden. Auf diese Weise kommen wir zu einem verbindlichen Minimalkatalog von europäischen Gemeinsamkeiten, an dem wir dann die pädagogische Praxis messen können. Fangen wir mit der Geschichte an. Sie muß gewisse Übereinstimmungen im Denken, Fühlen, Werten und Wollen, im Verhalten und in der Gestaltung des Lebens hinterlassen haben. Jedoch fehlt uns ein europäisches Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein. Das gleiche gilt für die gesamte Kultur. Eine europäische Kulturmorphologie wäre noch zu schreiben. Wilhelm Flitner hat Freiheit und personalistisch verstandene Menschlichkeit als die beiden konstituierenden Merkmale der europäischen Gesittungsgeschichte herausgearbeitet. In der Tat gibt es den spezifisch europäischen Begriff der Freiheit, der ihn von dem anderer Kulturbereiche unterscheidet. Ähnlich ist es mit dem europäischen Personalismus. Philosophie und Theologie, insbesondere die Ethik, sind von Anfang an auf ihm aufgebaut, und wir wissen, wie sehr wir uns hierin vom mehr kollektivistischen Denken anderer Kulturen unterscheiden. Der jüngst verstorbene Freiburger Politologe Arnold Bergstraesser fügte den gemeinsamen kulturell-normativen Bildungen noch die gemeineuropäische technisch-organisatorische Leistung hinzu, die die moderne Industriegesellschaft als europäische Gemeinschaftsleistung verstehen läßt. Die in Europa entstandene Form der organisatorisch-technischen Daseinsfürsorge ist nach Bergstraesser zum maßgebenden Prinzip des wirtschaftlich-sozialen Handelns überhaupt geworden. Gerhard Mö-bus hat die „europäische Formkraft" herausgearbeitet, wonach sich das Politische in bipolarer Form wie folgt darstellt: „Wo Macht und Menschsein ins Spiel kommen, wird auf der einen Seite das Werthaben des Menschen und des Menschseins in sich selber ohne Rücksicht aufs Politische in den Blick gerückt; auf der anderen Seite betont, daß dieses Mensch-sein selbst gefährdet ist in sich und des Schutzes bedarf, also angewiesen ist auf das Politische." Von dem englischen Kulturkritiker Christopher Dawson wird schließlich noch das Christentum als konstitutives Moment genannt. Damit verfolgt er im Grunde eine Idee der Romantik, die sich schon in Novalis’ Aufsatz „Die Christenheit oder Europa" vorfindet.

Ergebnis Wenn wir unsere bisherigen Ausführungen zusammenfassen, dann erscheint die Res publica Europaea als ein geistig-sittliches Problem, dem nun der gestaltende, d. h. politische Wille der Völker folgen muß. Trotz des unstreitig vorhandenen gemeinsamen politischen und kulturellen europäischen Erbes hat die deutsche Pädagogik den Begriff Europa nicht zum festen Bestand ihrer Wertgehalte gemacht. Sie spricht zwar vom „Abendland" oder „christlichen Abendland" und meint damit die antik-christliche Überlieferung, aber sie verfügt nicht über einen klaren Begriff von Europa als geistig-kultureller und politischer Einheit. Ähnlich ist es heute noch mit der politischen Praxis bestellt. Trotz mancher Erfolge im europäischen Rahmen scheint das Bewußtsein der Öffentlichkeit mehr auf Europa im ökonomischen Sinne oder auf einen weltbürgerlichen Internationalismus gerichtet zu sein; d. h., die Vereinigten Staaten der Welt liegen vielen Europäern politisch näher als die Vereinigten Staaten von Europa.

Die Praxis

Nach den theoretischen Erörterungen wenden wir uns der Praxis zu. Ihre Ergründung ist in einem Lande mit kulturellem Föderalismus nicht leicht. In erster Linie werden die Aussagen der Lehrpläne der Fächer Geschichte, Erdkunde und Sozial-/Gemeinschaftskunde der einzelnen Bundesländer zu unserem Gegenstand zu überprüfen sein. Danach wird einiges über die Ausbildung der Philologen sowie über sonstige schulische Unternehmungen und über die Lehrmittel und Lehrbücher auszuführen sein. Zu dem eingeschlagenen methodischen Weg sei vorweg folgendes bemerkt: Die Lehrpläne eines Bundeslandes, zu deren Einhaltung der Lehrer als Beamter verpflichtet ist, spielen in der Unterrichtspraxis eine größere Rolle, als man gemeinhin annimmt. Bei aller Freiheit des Unterrichtenden geben die Lehrpläne die verbindlichen Richtlinien. In allen Auseinandersetzungen über Bildungswert und nhalt eines Faches pflegt man sich auf sie als Autorität zu berufen. Sie vermögen zumindest über die inhaltliche Tendenz des Unterrichts mehr auszusagen als etwa der Besuch vieler Unterrichtsstunden. So erweist sich die exakte gehaltliche Analyse der Lehrpläne sowie ihr Vergleich untereinander als ein dringendes Gebot der Bildungsforschung.

Europa und Grundgesetz Es dürfte etwas Einmaliges in der Verfassungsgeschichte sein, daß ein Land das Bekenntnis zu Europa in seiner Staatsverfassung verankert hat. In der Präambel des Grundgesetzes von 1949 heißt es, das deutsche Volk sei „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ..." Im Artikel 24, Absatz 2 wird diese allgemeine Aussage der Präambel präzisiert: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern."

Damit wird von der Verfassung der Bundesrepublik die Möglichkeit einer Einschränkung der staatlichen Souveränität zugunsten des großen Ganzen eingeräumt.

Deutscher Ausschuß und Kultusminister-konferenz zur Frage Europas Ein viel beachtetes bildungspolitisches Dokument, der sogenannte Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs-und Bildungswesen, möchte eine ganze Schulart, die sogenannte Studienschule, als Schule „der europäischen Bildungstradition" aufbauen, deren Bildungspläne „mehr als zweieinhalb Jahrtausende europäischer Geistesgeschichte in ihren großen Gestaltungen durchmessen sollen." Man kann diesem Plan den Vorwurf nicht ersparen, einmal die bewußte europäische Erziehung rein literarisch-historisch konzipiert zu haben und zum andern den Gedanken überhaupt nur für eine kleine Elite verbindlich machen zu wollen. Das „Gutachten zur politischen Bildung und Erziehung" des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen vom 22. Januar 1955 erwähnt Europa nur im Zusammenhang mit dem neusprachlichen Unterricht. Ausführlicher gehen auf Europa die „Empfehlungen für den Erdkundeunterricht" der Kultusministerkonferenz vom 20. /21. Januar 1956 ein. Sie begreifen Deutschland als ein Teil Europas in der Welt in seinen chorologisch-anthropologischen Verflechtungen, womit expressis verbis ein Beitrag zur politischen Erziehung und Bildung geleistet werden soll. Der Europagedanke wird besonders betont, Europa selbst zu den „politischen Großräumen" gerechnet. In den Klassen 6 und 7 steht die Länderkarte Europas im Vordergrund. In Klasse 10 wird sie durch eine „vertiefende Betrachtung Deutschlands und seiner Verflechtung mit den übrigen europäischen Ländern" ergänzt im Sinne einer politischen Geographie. In Klasse 13 werden im Stile ausgewählter geographischer Fragenkreise die europäischen Probleme von der kultur-, wirtschafts-, Verkehrs-, siedlungs-, sozial-und anthropogeographischen sowie von der politischen Seite her noch einmal besprochen. Allerdings ist inzwischen das Fach Erdkunde in den meisten Bundesländern in den beiden letzten Klassen weggefallen. Dennoch wird im Geographieunterricht noch am ehesten das Phänomen Europa, — durchaus im politischen Sinne — ins Bewußtsein der Schüler gehoben. Der Deutsche Geographentag in Heidelberg vom 3. — 7. Juni 1963 beschäftigte sich mit Europa in anthropogeographischer, länderkundlicher, kultureller, sozialer und wirtschaftsgeographischer Hinsicht. Das Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs-und Bildungswesen über das Fach „Politische Weltkunde" von 1965 sieht das Europaproblem wieder vorwiegend geistesgeschichtlich-kulturell. Danach ist der Ausgang und der Bezugspunkt der Politik der Mensch als Person, und „dazu ist die Orientierung an der großen europäischen Überlieferung des Denkens über den Menschen in seinen Ordnungen nötig und ein Wissen davon, welches heute die Bedingungen seiner Verwirklichung in den verschiedenen Bereichen unserer Daseinsordnung Europa in den Erdkundelehrplänen Verfolgen wir nun das Thema Europa in den Lehrplänen und Richtlinien der Bundesländer. Dabei müssen wir unseren Blick auf Geschichte und Erdkunde richten, da beide Fächer durchweg mit zur politischen Erziehung und Bildung herangezogen wurden bzw. oft viele Jahre hindurch als ihre alleinigen Träger zu gelten hatten.

In allen Erdkunde-Lehrplänen seit 1945 erscheint die Länderkunde von Europa in Klasse 6 bzw. 7, in Klasse 9 mancherorts die „Großlandschaften Europas, ihr Einfluß auf Eigenart und gegenseitige Beziehungen der Länder" (Rheinland-Pfalz 1954), Klasse 10 bringt eine „Vertiefte Betrachtung Deutschlands und seiner Verflechtung mit den übrigen Ländern" (Rheinland-Pfalz 1960) oder einfach „Der Europagedanke" (Nordrhein-Westfalen 1956) oder wieder anders: „Die deutsche Wirtschaft in ihrer Verflechtung mit der Wirtschaft Europas und der Welt" (Baden-Württemberg 1957), Klasse 13 setzt sich im laufenden Unterricht oder in Arbeitsgemeinschaften mit der „Gesamtgeographischen Wertung des mitteleuropäischen Raumes" auseinander, einschließlich der „Politischen Neugestaltung des mitteleuropäischen Raumes" (Hessen 1946), oder eine „Vergleichende Betrachtung der Wirtschaftsgroßräume der Erde: Mitteleuropa . . . Die Verflechtung Mitteleuropas mit den übrigen Wirtschaftsräumen ist besonders zu betonen" (Bayern 1952, ähnlich 1956). Ein anderer Plan verlangt „Bevölkerungs-und Siedlungsprobleme Gesamtdeutschlands und Europas" (Nordrhein-Westfalen 1956).

Die einzelnen Formulierungen sind nicht immer eindeutig. Insgesamt herrscht ziemliche Übereinstimmung in allen Bundesländern über die zeitliche Aufteilung des Stoffes und über die mehrjährige Notwendigkeit einer Behandlung Europas. Aus den thematischen Erläuterungen läßt sich die jeweils verschiedenartige Akzentuierung herausschälen. So stehen neben der notwendigen topographisch-länderkundlichen Betrachtungsweise der Unterstufe die wirtschafts-, kultur-und sozialgeographischen Gesichtspunkte der Mittel-und Oberstufe. Auf der letzteren tritt dann vor allem das politische Moment in den Vordergrund, d. h. die Bedeutung des Raumes für die politischen Ordnungen der Menschen. Intentional kommt es den Lehrplänen weniger auf ein bestimmtes Europabild an als vielmehr auf die sachliche Darlegung der verschiedenartigen geographischen Gegebenheiten, die dann in einer eigentlich politischen Auseinandersetzung als Materialien dienen können. Damit leistet die Erdkunde einen wichtigen Beitrag zum Thema Europa im Rahmen der politischen Erziehung und Bildüng. Nur ein Lehrplan versucht das — allerdings noch schwach genug — auszudrücken, indem er als Aufgabe und Ziel angibt: „Der Erdkundeunterricht pflegt die Liebe zur Heimat, erzieht aber auch zu europäischem und weltweitem Denken"

(Baden-Württemberg 1957). Die Denkschrift des Verbandes Deutscher Schulgeographen von 1959 sieht in dem Beitrag zur politischen Erziehung und Bildung eine wesentliche Aufgabe des Erdkundeunterrichts überhaupt. Danach behandelt die Erdkunde die Staaten „mit ihrer Regierungsform, ihrer Eigenart und ihren besonderen politischen Problemen . . . Mit dem Landschaftsbild der Erde zusammen entsteht so auch die Grundlage für ein politisches Weltbild."

Europa in den Geschichtslehrplänen Bei den Lehrplänen für Geschichte kann man sich kürzer fassen, da ihr Inhalt auf der Hand liegt. Im Vordergrund steht die politische Geschichte, die insbesondere das Werden Deutschlands und der europäischen Staaten verfolgt. Ihr Interesse gilt vor allem der Herausbildung der Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert. Europa wird dabei vorwiegend als ein jahrhundertelanger Krisenherd gesehen, nicht als eine Einheit. Erst in den letzten Jahren wird die verbindende Wirtschaftsund Sozialgeschichte etwas stärker betont. Soweit man sehen kann, gibt es nur einen Lehrplan für Geschichte, der das zum Ausdruck bringt. Unter dem Themenvorschlag für die Oberstufe „Europa und die Welt" sollen u. a. die „Europäischen Gemeinsamkeiten" herausgearbeitet werden, nämlich das gesellschaftliche Gefüge, die Wirtschaft und die geistigen Lebensformen. Ferner wird unter dem Themenvorschlag „Die geistigen Kräfte neuzeitlichen Lebens in Europa" folgendes verstanden: das Streben nach Ruhm, Gewinn und Wissenschaft, der Glaube an die sittliche Autonomie des Menschen, der Staat als menschliche Rechtsordnung und als Machtstaat, das christliche Erbe, der Eintritt von Bürgertum und Arbeiterschaft in die politische Welt . .. (Niedersachsen 1951).

Lediglich bei diesem letzten Geschichtslehrplan können wir von einem konturierten, kulturell-gesellschaftlich bestimmten Europabegriff sprechen, während sich andere Pläne mit so vagen Formulierungen wie „Verständnis fremder Völker und Staaten", „Geschichte des Abendlandes", „menschliche Gemeinschaften" usw. begnügen. Mit anderen Worten, wo nicht der Begriff Europa in den Lehrplänen ganz fehlt, da hat er zumindest keine Konturen. Oft hängt das mit der Entstehungsgeschichte der Lehrpläne nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Der Geschichtsunterricht zog sich entweder auf die Kulturgeschichte zurück oder sah seine Hauptaufgabe in der Überwindung des Nationalismus In Ermangelung eines konkreten Geschichtsbildes, das bei uns sowieso erst von nationalistischer Enge zu universaler Weite verändert werden mußte, war man allgemein unsicher. 1945 hat z. B.der Cambridger Historiker Butterfield in seinem Buche „Christianity and History" die Fragwürdigkeit unserer Ordnung herausgestellt (ähnlich wie Spengler nach dem Ersten Weltkrieg).

Europa in den Lehrplänen für Sozialkunde /Gemeinschaftskunde

Wenden wir uns nun den Lehrplänen für Sozialkunde/Gemeinschaftskunde zu. Mit einem Abstand von zehn und mehr Jahren wurde der politische Unterricht in den einzelnen Bundesländern eingeführt. Uber die Gründe dafür ist hier nicht zu befinden. Der Begriff Europa ist allen Sozialkunde/Gemeinschaftskundelehrplänen geläufig, jedoch wieder mit recht unterschiedlicher Akzentuierung. Es muß zunächst dazu angemerkt werden, daß der zeitlich sehr verschiedene Einsatz dieses Faches sowie seine Ausstattung mit ein oder zwei Wochenstunden für die entsprechenden Formulierungen mitverantwortlich gewesen sind. In den meisten Fällen sind die Hinweise sehr knapp, so z. B. für Klasse 10: „Europafrage" unter „Politische Fragen unserer Zeit" (Bremen 1959), „Nato und Westeuropäische Union" (Niedersachsen 1958), „Die westeuropäische Einigung und die USA" als Problem des souveränen Staates und der supranationalen Integration (Hamburg 1963), „Deutschland, Europa und die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg" (Nordrhein-Westfalen: Geschichte und Gemeinschaftskunde 1963), „Europarat"

als überstaatliche Einrichtung (Baden-Württemberg 1957), „Europa" (Bayern 1964). Bemerkenswert an diesen Formulierungen ist, daß sie fast alle irgendeinen Europabegriff voraussetzen, der in Wirklichkeit gar nicht als Allgemeingut der Lehrenden vorhanden ist.

Damit bleibt der Begriff selbst eine bloße Deklamation.

In Klasse 11 beschäftigt man sich in zwei Bundesländern mit dem Thema Europa. Bremen (1959) nennt als Beispiele für „Europäische Einheitsbestrebungen": „Pan-Europaidee — Wirtschaftliche Zusammenschlüsse — Politische Einigung". Niedersachsen (1958) entwikkelt dagegen eine klare Konzeption des Gesamtthemas „Deutschland als Glied der europäischen Völkerfamilie". Wir zitieren diese Konzeption ausführlich, damit die Möglichkeit schulischer Behandlung des Europaproblems klar wird:

1. „Einführung in wirtschaftliche Grundbegriffe und in die Wirtschaft Europas" ... 2. „Die europäische Einigung a) Nationale Eigenart europäischer Völker und Regierungsformen europäischer Staaten seit dem 19. Jahrhundert.

b) Die europäischen Einigungsbestrebungen vor und nach dem zweiten Weltkriege:

Pan-Europa-Idee, Briand-Plan, die europäische Bewegung.

c) Europa und der Ursprung der modernen Demokratie.

d) Die europäische Wissenschaft der Neuzeit als Voraussetzung der modernen Technik und Industrie.

e) Der Marshallplan (europäisches Wieder-aufbauprogramm), die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) und die europäische Zahlungsunion (EZU).

f) Die Montanunion, die Westeuropäische Union (WEU), Gemeinsamer Markt und Euratom.

g) Der Europarat.

h) Die europäische Konvention der Menschenrechte“. Europa wird hier politisch, wirtschaftlich, geistig-kulturell, ethnisch und institutionell als eine Einheit in der Vielheit gesehen. Damit ist wenigstens eine Ausgangsbasis für einen konstruktiven Europabegriff geschaffen. Der Inhalt des Begriffs selbst und seine Tendenz werden jedoch wiederum nicht angegeben. Im übrigen ist zu bemerken, daß der niedersächsische Lehrplan von 1963 unter Klasse 11 nur noch „übernationale wirtschaftliche Zusammenschlüsse" kennt, also von seinem ausführlichen Konzept von 1958 weit abgewichen ist.

Die Europa-Themen für Klasse 13 lauteten vor der Verwirklichung der Rahmenvereinbarungen Ostern 1963: „Die internationale politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit besonders der europäischen Nationen" (Baden-Württemberg 1957), „Zwischen-und überstaatliche Ordnungen" (Nordrhein-Westfalen, Geschichte, 1956), „Die Europäische Einigung [Fördernde und hemmende Faktoren; das Erreichte, die Pläne]" (Berlin 1960), „überstaatliche Bindungen und Aufgaben": EuropaUnion und Europa-Rat (Bremen 1950).

Am Beispiel Hessens können wir die Entwicklung des Begriffs Europa im politischen Bewußtsein verdeutlichen. Im Vorläufigen Lehrplan von 1946 tritt er überhaupt nicht in Erscheinung. 1948 und 1949 werden unter der Bezeichnung „überstaatliche Kräfte und Mächte" Europa-Union und Europa-Rat genannt. Der Lehrplan von 1959 setzt eindeutige Akzente: „Die europäische Einigung.

Die Möglichkeiten einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Integration Europas; die europäische Bewegung, der Europarat, die Westeuropäische Union. Die Montanunion. Der Nationalismus und seine Überwindung durch die veränderten Größen und Machtverhältnisse der Welt (sachliche Prüfung der Lage, der Voraussetzungen, der Rückschläge, der Epochenbedingtheit; kein Moralisieren!)."

Dagegen führt der Vorläufige Bildungsplan für Gemeinschaftskunde von 1963 wieder nur kurz an: „Wege zur Einigung Europas in der zweigeteilten Welt." Das Thema soll gesellschaftlich-politisch im Zusammenhang mit England, Frankreich und Polen behandelt werden.

Der Bildungsplan von 1964 ist institutionenkundlich formuliert. Er bestimmt: „Die europäischen Einigungsbestrebungen und ihre Organisation; überstaatliche Organisationen zur wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas."

Europa in den Rahmenrichtlinien der Kultusministerkonferenz Eine Abkehr von dem — wie festgestellt wurde — weithin inhalts-und richtungslosen Begriff Europa haben die Rahmenrichtlinien der Kultusministerkonferenz von 1962 vollzogen. In ihnen ist der Aspekt Europa zum Zentralthema überhaupt gemacht worden. Von sieben Rahmenthemen nennen vier ausdrücklich Europa:

1. Grundlegende politische, wirtschaftliche und soziale Kräfte und Bewegungen in Europa. 3. Deutschland, seine Stellung in Europa und sein Verhältnis zur Welt.

4. Europa und die Welt von heute.

5. Europäisierung — Enteuropäisierung der Erde — Entwicklungsländer.

Mit dieser Themenstellung ist der entscheidende lehrplanmäßige Durchbruch zu Europa vollzogen worden. Im Mittelpunkt der politischen Gegenwartsanalyse steht Deutschland in seiner europäischen Verflechtung. Dabei tritt die Frage des Nationalismus nur noch zur historischen Abrundung in Erscheinung. Im übrigen wird von Europa als einer gesellschaftlich-politischen Entität ausgegangen. Allerdings ist keine klar umrissene Europakonzeption entwickelt. Es geht aus den Unter-themen nicht hervor, welche Richtung der europäischen Einigung die Kultusminister für wünschenswert halten. Mit solchen ideologischen Fragen ist man bei uns vorsichtig geworden im Gegensatz zur Weimarer Zeit, wo die Richertschen Richtlinien ganz eindeutig eine nationale Tendenz aufwiesen. Die Verantwortung ist also jetzt dem einzelnen Lehrer übergeben. Man sollte die Gefahrenpunkte dabei nicht übersehen: der Einsatz für eine föderalistische oder zentralistische europäische Lösung darf uns nicht gleichgültig sein. Ebenso fragwürdig muß eine sogenannte objektive Darstellung der Probleme werden, die zu politischer Sterilität verleiten kann. Wenn politische Erziehung und Bildung nach einem Wort Arnold Bergstraessers „engagierte Bildung" ist, dann ist ihr gerade die Sterilität abträglich. Ihre schwere Aufgabe liegt auf didaktischem Gebiet in ihrem Weg zwischen der Scylla einer Ideologisierung und der Charybdis einer Neutralisierung.

Den Rahmenrichtlinien haben sich die Bundesländer im wesentlichen in ihren meist 1963 erschienenen Lehrplänen für Gemeinschafts-künde teilweise (Bremen, Bayern, Niedersachsen, Saarland 1964, Nordrhein-Westfalen, Hessen) oder ganz angeschlossen. Am weitesten folgt Berlin, das die verschiedenen Themen nochmals ausführlich gegliedert hat. Eine etwas gekürzte Übersicht soll davon einen Eindruck vermitteln:

I. Grundlegende politische, wirtschaftliche und soziale Kräfte und Bewegungen Europas. III. Deutschland, seine Stellung in Europa und sein Verhältnis zur Welt.

IV. Europa und die Welt von heute.

1. Räume und Völker des heutigen Europa. A. Grundzüge der Physischen Geographie Europas B. Kulturgeographie Europas 2. Das Problem der Grenzen.

3. Dorf — Stadt — Verstädterung — Raumplanung.

4. Die europäische Bewegung — Der Europarat.

5. Europäische Wirtschaftsvereinigungen in Ost und West.

6. Mächtegruppierungen in Europa und in der Welt.

7. Die Weltmächte.

V. Aufbau und Zerfall der Weltherrschaft Europas — Entwicklungsländer. Zusammenfassung Wenn man die Analyse des Begriffs Europa in den Lehrplänen für Sozialkunde/Gemeinschaftskunde zusammenfaßt, dann darf besonders seit den Rahmenrichtlinien 1962 von einem wachsenden Europabewußtsein im Sinne einer gesellschaftlich-politischen Entität gesprochen werden. Allerdings ist der Begriff noch nicht klar genug umrissen und hat noch keine einheitliche Gestalt, wie es für die politische Pädagogik dringend geboten wäre. In vielen Fällen gleitet er zu sehr ins Institutionelle ab, was übrigens eine bedauerliche Erscheinung des politischen Unterrichts im allgemeinen ist. Mancherorts wird zu viel Wert auf die bloß inhaltliche Kenntnisnahme von internationalen Verträgen, auf die oberflächliche Floskel vom abendländischen Kulturgut usw. gelegt.

Am eindeutigsten im Sinne einer bestimmten methodisch-didaktischen Konzeption des Europabegriffs sind die „Vorschläge zur Behandlung des Themas Europa im politischen Unterricht" der Akademie für Politische Bildung, Tutzing 1963. Ihr wichtigster Absatz (II.) lautet: „Soll dieser Unterricht lebendig und also wirksam werden, darf er die europäischen Institutionen nicht um ihrer selbst willen behandeln; bloße, also statische Institutionskunde ist uninteressant; muß er zeigen, daß die europäischen Völker ganz und gar aufeinander angewiesen sind, diese gegenseitige Abhängigkeit die europäischen Institutionen unentbehrlich macht und sie erst von ihr her wirklich verstanden werden können.

Folglich muß dieser Unterricht starkes Gewicht legen 1. auf die dynamischen Aspekte des europäischen Integrationsprozesses, 2. auf die Zugeständnisse und sogar Opfer, welche eine solche Integration fordert: die Probleme, Schwierigkeiten, ja die politischen und kulturellen Spannungen, die sich daraus ergeben."

Sonstige Aktivitäten

Hören wir schließlich zu diesem Punkte noch, was hessische Gymnasien auf die Frage: „Wie beurteilen Sie die Entwicklung von Strebungen, die an übernationale (z. B. europäische) Zielvorstellungen gebunden sind?" geant-wortet haben. Nach den Angaben des Berichterstatters hat diese Frage das deutlichste positive Echo im Hinblick auf den Wirkungsgrad der politischen Bildung gefunden. Von 57 Schulen haben 51 positiv, eine negativ und fünf unbestimmt geantwortet. Von den positiven Antworten hier einige wörtlich. Da heißt es: „Die europäische Vereinigung ist die Idealvorstellung aller." „Der Prozentsatz derjenigen, die international zu denken vermögen, wächst stetig." „übernationale Begriffe haben eine viel größere Durchschlagskraft als nationale. Die Vereinigung Europas wird von fast allen Schülern bejaht." Allerdings hören wir auch von „Oberflächlichkeit ohne Engagement".

Man darf trotz ihres allgemein positiven Grundtenors nicht vergessen, daß in der deutschen politischen Erziehung und Bildung Begriffe wie Nation und Vaterland noch nicht wieder zu tragfähigen Fundamenten geworden sind, d. h., der betonte Internationalismus beruht mit auf der frustrierenden Wirkung eines mangelnden vaterländischen Bewußtseins. Deswegen müßte sich die politische Pädagogik bemühen, die Dinge wieder in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. In ein Vereinigtes Europa müßten die politisch-nationalen sowie die kulturell-geistigen Werte der einzelnen Völker und Nationen immer wieder, gleichsam von den Quellen her, eingebracht werden.

Der Vollständigkeit wegen müssen im Anschluß an die Darstellung des Unterrichts noch einige Aktivitäten auf dem Gebiete der europäischen Einigung durch die Höhere Schule oder ihr verbundene Institutionen angeführt werden: Da ist der jährliche Europäische Schultag mit seinem Aufsatzwettbewerb zu nennen, ferner europäische Seminare über gemeinsame politische Themen, europäischer Schüler-und Lehreraustausch, Studienfahrten nach europäischen Ländern und zu europäischen Behörden, Arbeitsgemeinschaften über europäische Probleme, die Arbeit der deutschen Sektion des Europäischen Erzieherbundes, das Bemühen des Internationalen Schulbuchinstituts in Braunschweig und schließlich des Europäischen Instituts an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, die Tätigkeit der Schülermitverwaltung.

Der Unterricht in Sozialkunde/Gemeinschaftskunde wird vorwiegend von Historikern gegeben, in Bayern oft von Germanisten und in Hessen von Sozialkundlern und Politologen. Infolge der Freiheit des Studiengangs an der Philosophischen Fakultät der deutschen Universität hat jeder Student die Möglichkeit, sich mit europäischen Fragen zu befassen. Von den Wissenschaftlichen Prüfungsordnungen für Gemeinschaftskunde/Sozialkunde in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern verlangt lediglich die letztere von 1962 die institutionelle Kenntnis der internationalen Zusammenschlüsse. Nach der freiheitlichen Struktur der deutschen Universität darf man das Fehlen von entsprechenden Vorschriften nicht überbewerten. Am Studienseminar ist die Ausbildung thematisch nicht festgelegt. Europäische Themen können behandelt werden.

Literatur und Anschauungsmittel für den Unterricht sind in ausreichender Zahl vorhanden. Jedoch gilt auch hier die wiederholte Feststellung von der Überbetonung des Institutioneilen. Das gleiche gilt für die Lehrbücher des politischen Unterrichts — im übrigen ein Problem, das insbesondere für die Mittelstufe noch nicht befriedigend gelöst ist.

Als Ergebnis soll hier festgehalten werden: Die Entwicklung des Europabewußtseins innerhalb der Gymnasien in der Bundesrepublik muß grundsätzlich als positiv im institutionellen wie im praktischen und geistigen Sinne angesehen werden. Es wird bei uns keinen Schüler geben, der während seiner Gymnasialzeit nicht mit europäischen Problemen konfrontiert würde. Man muß freilich zugeben, daß der Begriff Europa einmal einer dringenden politisch-rationalen Klärung bedarf und zum andern mit Gefühlswerten angereichert werden muß. Beides zusammen könnte ihn dann zu einem wirklich fruchtbaren Fundament europäischer politischer Pädagogik machen mit dem Ziel, einen angemessenen Beitrag zur politischen Einigung der europäischen Völker und Nationen zu leisten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Felix Messerschmid, Das europäische Bewußtsein und die Schule. In: Geschichte in Wis78nS 90aft und Unterricht, 9. Jahrgang (1958), S.

  2. Adolf Grabowsky, Die politische Bedeutung der vergleichenden Erziehungswissenschaft für den Zusammenschluß Europas. In: Hans Espe (Hrsg.), Die Bedeutung der Vergleichenden Erziehungswissenschaft für Lehrerschaft und Schule, Berlin-West 1956, S. 101 f.

  3. Heinz-Hermann Schepp, Bildung eines europäischen politischen Bewußtseins? In: Zeitschrift für Pädagogik, 9. Jahrgang (1963), S. 363— 378.

  4. Gerhard Giese, Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800, Göttingen — Berlin — Frankfurt 1961, S. 197 f.

  5. Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Sonderdruck aus „Christ und Welt", Stuttgart 1964.

  6. Theodor Wilhelm, Für und wider die politische Gefühlsbildung. In: Die deutsche Berufs-und Fach-schule, 57. Jahrgang (1961), S. 242— 249.

  7. Vgl. Heinrich Roth, Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens, Berlin — Hannover — Darmstadt 19582.

  8. Vgl. Heinrich Schneider, Europa in der politischen Erwachsenenbildung, Düsseldorf 19622.

  9. Wilhelm Flitner, Europäische Gesittung. Ursprung und Aufbau abendländischer Lebensformen, Zürich — Stuttgart 1961.

  10. Arnold Bergstraesser, Europa als geistige und politische Wirklichkeit. In: Politik in Wissenschaft und Bildung, Freiburg 1961, S. 156— 165.

  11. Gerhard Möbus, Europas Humanität als politische Formkraft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 26/63 vom 26. Juni 1963.

  12. Christopher Dawson, Europa. Idee und Wirklichkeit, München 1953 (engl.: Understanding Europe, 1952).

  13. Eugen Lemberg, Nationalismus und übernatürliche Gemeinschaft als Problem der politischen Pädagogik. In: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 4. Jahrgang (1959), S. 101— 107.

  14. Karl Seidelmann, Wie beurteilt die höhere Schule die Ergebnisse ihrer politischen Bildungsarbeit? In: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 8. Jahrgang (1963), S. 373 f.

Weitere Inhalte

Wolfgang W. Mickel, Dr. phil., geb. am 6. April 1929, Studienrat, seit Ostern 1963 am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt/M., tätig. Veröffentlichungen: Viele Zeitschriftenbeiträge zu methodischen und didaktischen Fragen der politischen Bildung und der politischen Pädagogik (vor allem in „Gesellschaft — Staat — Erziehung", „Die Pädagogische Provinz"); Herausgeber der „Festschrift der Ziehenschule — Gymnasium", Frankfurt 1963; Verfasser eines Lehrbuchs für den politischen Unterricht. Demnächst werden erscheinen: „Die politische Bildung an den Gymnasien der Bundesrepublik" und „Methodik des politischen Unterrichts".