Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Historische Voraussetzungen des gegenwärtigen britischen Deutschlandbildes | APuZ 20/1965 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20/1965 Artikel 1 Historische Voraussetzungen des gegenwärtigen britischen Deutschlandbildes Deutschland und England 1912 und 1925

Historische Voraussetzungen des gegenwärtigen britischen Deutschlandbildes

Donald C. Watt

Der Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen, gibt in Kürze eine Arbeit des britischen Historikers Donald C. Watt „England blickt auf Deutschland — Deutschland in Politik und öffentlicher Meinung Englands seit 1945" heraus, die nach den Worten des Verfassers „in der Überzeugung geschrieben wurde, daß eine angemessene Überprüfung der Haltung Großbritanniens gegenüber dem ehemaligen Feind hoch an der Zeit ist und nichts damit gewonnen wäre, wenn die Vorurteile der Vergangenheit unangetastet und gar erhalten blieben.“ Wir bringen daraus mit freundlicher Genehmigung des Verlages den im Unterschied zu den Kapiteln des Hauptteils, die die britisch-deutschen Beziehungen nach 1945 zum Gegenstand haben, in sich geschlossenen Einleitungsabschnitt über die Entwicklung des britischen Deutschlandbildes zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges.

Den zweiten Beitrag dieser Ausgabe stellte Freiherr von Rheinbaben, vor 1914 Mitarbeiter von Tirpitz und in der Weimarer Republik Staatssekretär der Reichskanzlei im ersten Kabinett Stresemann, 1925 Mitglied des auswärtigen Ausschusses des Reichstages und außenpolitischer Sprecher der DVP, ein überzeugter Verfechter der deutsch-britischen Verständigung, zur Verfügung. Diese Aussage eines Mithandelnden scheint uns als historische Quelle Bedeutung zu haben, wie immer man zu den dort vorgetragenen Interpretationen und Hypothesen stehen mag.

In diesen Tagen stattet die englische Königin der Bundesrepublik Deutschland einen Staatsbesuch ab, der die Erwiderung des Staatsbesuchs von Bundespräsident Theodor Heuss im Oktober 1958 darstellt. Dieser Staatsbesuch der Queen konfrontiert die Engländer ebenso mit der Möglichkeit wie mit der Notwendigkeit, ihre eigenen Gefühle gegenüber Deutschland zu überprüfen und die offizielle britische Politik, die die Voraussetzung für diesen Besuch schuf, gutzuheißen oder abzulehnen. Es besteht ein akutes Bedürfnis für eine solche Neubeurteilung, weil öffentliche Meinung und Deutschlandpolitik der Regierung in England schon zu lange nicht mehr miteinander übereinstimmen — beide Seiten ließen sich von Überlegungen leiten und beeinflussen, die selten auch für beide Seiten gleichermaßen verbindlich und gültig waren. Darüber hinaus hat die Haltung der Öffentlichkeit in England die Handlungsfreiheit der britischen Regierung stets eingeengt und gehemmt und jede Entwicklung behindert, entmutigt, die eine herzlichere und engere Bindung zwischen den beiden Nationen, die über die unmittelbaren Bedürfnisse britischer Politik hinausging, zum Ziel zu haben schien.

Die deutsch-britischen Beziehungen seit 1945 sind daher vom Zusammenwirken des traditionellen Realismus politischer Persönlichkeiten und führender Berufsdiplomaten Englands und der emotionell feindlichen Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Deutschland geformt worden. Bei der Betrachtung der letzteren ist es nützlich, die kürzlich von einem amerikanischen Politikwissenschaftler definierten Unterschiede zwischen den Darstellern eines Stückes, seinem Publikum und den Fachkritikern zu bedenken, welchen drei Faktoren auf der anderen Seite das potentielle Theater-publikum gegenübersteht, dessen Urteil über das aufgeführte Stück durch Zeitungslektüre und Rundfunkkommentar geprägt wird. Um bei diesem Bild zu bleiben: die Schauspieler sind diejenigen, die die britische Politik formulieren und sie beraten; die Kritiker sind diejenigen, die sich aktiv und fortgesetzt für Fragen der Auslandspolitik interessieren — Journalisten, Parlamentsabgeordnete, Akademiker, Angehörige der internationalen Industrie-, Geschäfts-und Finanzwelt und politische Persönlichkeiten außerhalb des Parlaments. Zusammengenommen stellen sie die Gruppe der sogenannten politischen Elite Englands dar. Das zuletzt genannte potentielle Theater-publikum aber wird von der Masse der britischen Wähler gebildet, die ihrer Ansicht selten präzisen Ausdruck verleihen, jedoch als letzte Kontrollinstanz in bezug auf die Handlungsfreiheit jeder britischen Regierung fungieren, deren Aktionen von der Zustimmung des Wählers abhängig sind. Man kann sicherlich mit nicht allzugeringer Berechtigung sagen, daß ein Gutteil der gegen engere Be-Ziehungen zu Deutschland gerichteten gefühlsmäßigen Reaktionen auf das Konto der „Kritiker" kommt und dort am stärksten ausgeprägt ist. Auf jeder Beurteilungsebene jedoch wird das Deutschlandbild von einer Imago beherrscht, die aus den Erfahrungen zweier Weltkriege erwuchs.

Vor 1900 war die große Masse der Engländer entschieden deutschlandfreundlich — germanophil — eingestellt. Queen Victoria hatte sich einen deutschen Prinzgemahl erwählt und in diesem Zusammenhang das traditionelle deutsche Weihnachtsfest mit Liedersang, Weihnachtsbaum und Nikolaus in England eingeführt. Ihre Tochter heiratete den deutschen Kronprinzen Friedrich, der 1888 tragischerweise nur für drei Monate deutscher Kaiser war, ehe er vom Kehlkopfkrebs dahin-gerafft erlag. Damit wurden die an ihn geknüpften Hoffnungen der deutschen Liberalen auf eine sich evolutionär vollziehende Entwicklung zur konstitutionellen Demokratie zunichte. Deutsche Historiker, Philosophen, deutsche Musiker waren die bewunderten Vorbilder des intellektuellen Lebens in England. Ranke und Mommsen etablierten sich als Haupthistoriker, Hegel befruchtete entscheidend die Oxford-Schule idealistischer Philosophie, und Brahms und Wagner beherrschten bald die Musik Großbritanniens, die sich anschickte, sich aus den (in George B. Shaws Kritiken beschriebenen) Untiefen seichter Salon-musik zu erheben und zu sinnvollen Konzert-programmen und öffentlich subventionierten Orchestern wie den heutigen durchzuringen. Aber es war doch noch mehr als nur das. Der englische Utilitarismus hatte zur Herausbildung einer Berufsbeamtenschaft — Civil Service — geführt, deren Ideal eine gute Verwaltungsarbeit mit möglichst wenig hinderlicher Rücksichtnahme auf politische Interessenkonflikte war. Die Neubelebung der klassischen Philosophie in Oxford (The Oxford School of Greats), die vorherrschende Stellung der auf Platon basierenden Studien gegenüber der Tradition des englischen empirischen politischen Denkens und der Einfluß der idealischen Vorstellung Arnolds vom „Christlichen Gentleman" brachten in ihrem Zusammenwirken eine Bewunderung für das bismarcksche System autoritärer Sozialreformen um 1880 und 1890 mit sich, die alle möglichen passenden und unpassenden Etiketts erhielt. Die „Fabian Society" sah im deutschen Sozialversicherungssystem eines der Vorbilder für die von ihr angestrebte Reform der britischen Sozialarbeit; der junge Shaw bewunderte nicht nur Wagner, sondern auch den jungen deutschen Kaiser als Eigenpersönlichkeit; und das Streben nach „efficiency", das immer eine der stärksten Triebkräfte des britischen Radikalismus gewesen ist, idolisierte die „efficiency" des neuen Deutschland und übertrieb sie möglicherweise.

Diese Bestrebungen wurden durch das Aufkommen des Rassismus und des Sozial-Darwinismus in den Blütetagen des britischen Imperialismus nur verstärkt. Während die große englische Schule von Verfassungshistorikern die Anfänge des britischen rechtlichen und politischen Systems ins frühe Mittelalter verlegte und damit für den englischen Nationalismus die gleiche Rolle spielte wie Ranke und seine Schüler für Deutschland und Frederick Jackson Turner für die USA, begann die allgemeine politische Auffassung in England sich einem rohen und radikalen Pan-Anglosachsismus und Pan-Teutonismus zuzuwenden. 1897 konnte ein Mann wie Joseph Chamberlain von einem Bündnis zwischen Großbritannien, Deutschland und den Vereinigten Staaten als einer „naturgewollten" Allianz sprechen; Cecil Rhodes ließ neben Bürgern der USA und der weißen (britischen) Dominions auch Deutsche für einen Stipendienfonds zu, den er testamentarisch zu dem Zweck errichtet hatte, eine Elite zu züchten, die den darwinistisch interpretierten Zielen des Geschichtsverlaufs dienen konnte.

In einem solchen Klima intellektueller und gesellschaftlicher Germanophilie hatte es die britische öffentliche Meinung vielleicht ein wenig schwer zu erkennen, bis zu welchem Maße sich Hirne und Wege des neuen, erst kürzlich geeinten deutschen Volkes von einem bestimmten Englandbild beherrschen und überwältigen ließen. Deutschem Nationalgefühl, sendungsbewußt, wie es war, galt Großbritannien als die Weltmacht par excellence und war ebenso Gegenstand des Neides wie des Hasses. Wo immer die Deutschen sich in der Welt auch hinwandten, England war vor ihnen da — in Afrika, im Nahen Osten, in Indien, in Lateinamerika und in China. Britisches Kapital beherrschte die attraktivsten überseeischen Investitionsgebiete; britischer Frachtraum beförderte den größten Teil des Welt-Seehandels. Den von ihrer historischen Stellung überzeugten Deutschen erschienen die britischen Cousins arrogant und in ihren Geschäftsmethoden skrupellos, in der industriellen Technologie lässig und hinterwäldlerisch und dennoch auf das unverschämteste unempfindlich gegen jede Form von Druck, den Deutschland auf England auszuüben imstande war, weil geographische Gegebenheiten die Briten von der Notwendigkeit, ihren Heimat-boden zu Lande verteidigen zu müssen, entbunden hatten. Bismarck, für den Deutschland eine saturierte Macht war, konnte das hinnehmen. Soweit Deutschland sich ein Kolonial-reich schaffen konnte, war es das Resultat seiner meisterhaften Manipulierung europäischer und noch mehr mittelmeerischer Politik, mit der er von Großbritannien die Unterstützung Deutschlands erzwang. Seine Nachfolger jedoch besaßen weder seine Meisterschaft noch sein Verständnis für das Gleichgewicht der Kräfte. Sie akzeptierten auch die Vorstellung von Deutschland als einer befriedigten, saturierten Macht nicht. Chamberlains Rede 1897 löste einen Schmähungs-und Entrüstungssturm in Deutschland aus. Der Kaiser gratulierte Präsident Krüger offen zum Sieg der Burenrepublik über die britischen Truppen; und drei Jahre später führte er Deutschland auf den Weg, der es in offenen Konflikt mit England bringen sollte. Wenn die deutsche Zukunft auf dem Wasser lag, wie er als Grundsatz seiner Flottenpolitik verkündete, mußte sie in unmittelbaren Konflikt mit Großbritannien geraten.

Während der Regierungsdekade Eduards VII. drang die Erkenntnis von der tiefen England-feindschaft der Deutschen langsam in die öffentliche Meinung Englands ein, unterstützt von den brillanten Reportagen der „Times" -Korrespondenten Valentine Chirol und William Saunders in Deutschland. Gegen 1914 machten sich die konservativeren und imperialistischen Kreise Englands schließlich die Gesichtspunkte zu eigen, die in dem berühmten Foreign Office-Memorandum enthalten waren (1907 von Sir Eyre Crowe, der selbst deutscher Abstammung war, zusammengestellt). Darin hieß es, daß Deutschland England feindlich gegenüberstehe und entschlossen sei, Großbritannien seine imperialistische Stellung streitig zu machen. Letztlich schloß sich diesen Gedanken auch ein einflußreicher Flügel der Liberalen Partei an, darunter Außenminister Sir Edward Grey und Winston Churchill. Aber auf gar keinen Fall kann diese Einstellung als für die Masse der liberalen und radikalen Kreise verbindlich gelten, die ihre konservativen Gegenspieler als unzivilisierte Überbleibsel einer barbarischen Vergangenheit betrachteten. Am 30. Juli 1914, als der Krieg mit Deutschland schon unmittelbar bevorstand, schrieb eine Gruppe der bedeutendsten liberalen britischen Intellektuellen in Briefen an die „Times" und den „Manchester Guardian", daß „der Krieg gegen Deutschland im Interesse Serbiens und Rußlands ein Vergehen gegen die Kultur" sei. Der Generaldirektor der Bank von England teilte Lloyd George mit, daß die Finanz-und Handelsinteressen der Londoner City einem Krieg absolut zuwider-liefen. Das liberale Kabinett war zutiefst uneinig; zwei Tage lang blieb die Angelegenheit unentschieden, bis die Nachricht vom deutschen Einmarsch in Belgien die Zauderer umstimmten und England in den Krieg gegen Deutschland eintreten konnte.

Der Erste Weltkrieg schuf in England ein völlig neues Deutschlandbild. Nur wenige erkannten zu dieser Zeit, daß Deutschland selbst während des Krieges weitgehend eine zerrissene Nation war und die imperialistischen und konservativen Kräfte dieses Landes, dessen Machtstellung seit Bismarcks Entlassung immer mehr dahingeschmolzen war, in einem Sieg die einzige Chance für die Widerherstellung ihrer Macht erblickten. Die britische Propaganda blähte das unselige Verhalten der deutschen Invasionstruppen in Belgien zu einer übermäßigen Kriegshysterie auf, die alles und jedes zu glauben bereit war. Alles Deutsche wurde zu einem Gegenstand der Verachtung. Deutschen Rheinwein zu trinken war unpatriotisch, die unglückseligen deutschen Dackel wurden zur Zielscheibe englischen Spottes, und die Loyalität ihrer Besitzer war in Zweifel gezogen. Die widerwärtigen Zwischenfälle an der Westfront, die Bombenangriffe der Zeppeline und Flugzeuge auf London, die Rücksichtslosigkeit des U-Boot-Krieges ließen eine Atmosphäre aufkommen, in der alles Deutsche verabscheut und das Beste und Edelste dieses Volkes mit der chauvinistischen deutschen Obersten Heeresleitung und von Tirpitz'Marineleitung in Zusammenhang gebracht und von ihr beschmutzt wurde. Praktiken und Verhalten der preußischen Armee gegenüber Zivilisten und die Gefangennahme und Erschießung von Geiseln als Mittel zur Bekämpfung belgischer Franktireurs befanden sich ohnehin in Gegensatz zu dem, was die britische öffentliche Meinung billigte (wenngleich sich auch Parallelen dazu in der britischen Kriegspraxis fanden). Viele führende englische Schriftsteller und Intellektuelle gaben sich für die Zwecke der Kriegspropaganda her, und die Angriffe auf die deutsche Kultur mehrten sich, bis diese Kultur schließlich in großen Teilen Englands als etwas betrachtet wurde, was sich seit einiger Zeit zu einem außerhalb des europäischen Kulturkreises Stehenden entwickelt hatte. Alle Mühen und Anstrengungen, Verluste und Tragödien des totalen Krieges entluden sich in einer Flut von Haß gegen die Nation, die Kultur, die einem das Furchtbare offenbar aufgezwungen hatte. Die Kehrseite der Medaille — die Auswirkung der britischen Blockade auf Deutschland — wurde nur wenig bedacht.

Engländer, die sich von diesem Haßausbruch nicht mitreißen ließen, fanden sich vor allem in den Reihen der britischen Radikalen, der Liberalen und Labour-Gruppen, zusammengeschlossen in der Union of Democratic Control, die sich für einen Kompromißfrieden einsetzte. Obgleich der Waffenstillstand und die nachfolgenden Wahlen einen neuen Ausbruch antideutscher Gefühle bei den breiten Schichten und im Parlament auslösten, fanden die Argumente dieser Gruppe bei der Delegation des Britischen Empire in Versailles doch zunehmend Gehör. In den Schlußdebatten im Vierer-Rat kämpfte der britische Premier Lloyd George vergebens um die Abänderung jenes Passus der Verträge, der die Besetzung des Rheinlandes vorsah, doch gelang es ihm, große Teile Oberschlesiens vor dem Zugriff Frankreichs und Polens zu bewahren. Mit der Unterzeichnung der Versailler Verträge erweiterte sich die Einflußzone der UDC mehr und mehr, die während des Krieges doch sehr begrenzt gewesen war. Bitter wies man das französische Ansinnen zurück, die Versailler Verträge und den Völkerbund zu Instrumenten eines verewigten Sieges zu machen. Die neue Regierung der Weimarer Republik, republikanisch gesonnen und an britischen Maßstäben gemessen demokratisch bis zur Torheit, erntete die Früchte der nun aufkommenden antifranzösischen Einstellung. Zwar fanden die Deutschen in der Kriegsschuldfrage, die damals noch so stark von Angriffen auf die Politik Sir Edward Greys lebte, nicht das gleiche Echo in England wie später in den Vereinigten Staaten, doch war ein ununterbrochenes Anwachsen der Sympathien für die deutsche Ablehnung der Versailler Verträge und der Praktiken der französischen Besatzungsbehörden zu verzeichnen. Es war ein liberaler britischer Journalist, G. E. R. Gedye, der auf die französischen Bestrebungen hinwies, den Separatismus im Rheinland zu fördern; ein prominenter liberaler Labour-Jurist, Sir Patrick Hastings, wurde in das besetzte Rheinland eingeschmuggelt, um Führern des deutschen Widerstandes gegen die Besetzung dieses Gebietes wider ihre französischen Ankläger Rechtsbeistand zu geben; und der radikale Publizist E. D. Morel setzte sich an die Spitze einer Kampagne gegen den Einsatz afrikanischer Truppen seitens der französischen Besatzungsbehörden. Eine wachsende Zahl prominenter britischer Persönlichkeiten besuchte Deutschland und sah die in den Versailler Verträgen etablierten engen Grenzen des Landes, befaßte sich mit der Saarfrage oder studierte die Problematik im Rheinland oder in Schlesien aus erster Hand. Es war damals die Blütezeit des liberalen Internationalismus; sein Einfluß dehnte sich auf beinahe alle Interessensphären der britischen Außenpolitik aus.

Zugleich schlugen sich die Erfahrungen im Umgang mit den Deutschen in den frühen zwanziger Jahren tief in dem kollektiven Gedächtnis der britischen außenpolitischen Berater sowohl im diplomatischen Dienst wie auch außerhalb nieder. Die wichtigsten Lehren aus dieser Periode sollten für spätere Jahre vor allem folgende sein: erstens die Unsinnigkeit eines Unternehmens wie der Festsetzung umfangreicher Reparationszahlungen, die Deutschland doch nicht leisten konnte, weil es nicht genug Devisen einnahm und weil sie die Kapazität des damals gebräuchlichen internationalen Zahlungsverkehrs überforderte; zweitens die Unmöglichkeit, eine Entmilitarisierung zu überwachen, wenn das Land weder total besetzt noch die Produktionsmaschinerie für Kriegswaffen abgebaut wurde; drittens die Einsicht in die Stärke des deutschen Nationalgefühls und Einheitswillens; und viertens das Ausmaß, in dem die geringe wirtschaftliche Aktivität Deutschlands die Wirtschaftslage ganz Europas beeinträchtigte.

Ein Gutteil dieses Gesinnungswandels kam den deutschen Interessen entgegen, sollte in seiner Bedeutung jedoch nicht überbewertet werden. Das Klischeebild von Deutschland aus der Zeit des Ersten Weltkrieges war im britischen Bewußtsein doch tief verankert. Besuche in und Sympathiebekundungen für Deutschland waren noch Unternehmungen einer zahlenmäßig schwachen, wiewohl einflußreichen Gruppe, die sich für die Beseitigung der in den Kriegsjähren aufgekommenen Geisteshaltung einsetzte und daran glaubte, daß die Gründung des Völkerbundes eine neue Basis für die Handhabung internationaler Beziehungen und eine neue Methodik für die Lösung diesbezüglicher Probleme geschaffen habe. Sie fand weithin Gehör und schon deshalb wenig Gegnerschaft, weil die britischen Massen, im Grunde isolationistisch eingestellt, an der Außenwelt nicht interessiert und einer anderen Auffassung nicht recht zugänglich waren als der herkömmlichen — allerdings nur solange, wie die Interessen : eben dieser Massen nicht in Frage gestellt oder gar gefährdet wurden. Die Weimarer Republik, entwaffnet, ohne Luftstreitkräfte, Li-Boote oder Überseeflotte, berührte sie nicht und konnte sie nicht betreffen, Demokratie und Republikanertum hatten sie ohnehin reI spektabel gemacht. Ihre Verwundbarkeit durch Gewalt oder politischen Extremismus wurde nicht verstanden und, wenn überhaupt bemerkt, in spießerhafter Selbstgefälligkeit als Teil des üblichen Ablaufs „kontinentaler" Politik hingenommen. Derlei Dinge waren gottlob, so meinte man, in England (wenn auch vielleicht nicht in Irland) besser gelöst worden.

Die neuen Denkschemen waren in sich nun auch wieder recht prekär und bis zu einem gewissen Grade das Produkt eines Schuld-komplexes in bezug auf Kriegsverlauf und Friedensregelung. Das alte stereotype Klischee vom preußischen Offizier, der mit kurzgeschorenem Haar und dem Monokel im Auge in arrogantem Stechschritt über Europas Gefilde marschiert und „Deutschland, Deutschland über alles" singt (was-im übrigen auf englisch und in englischen Ohren erheblich anders klingt als auf deutsch), dieses Bild aus den Kriegsjahren war noch durch kein anderes ersetzt worden. Nur wenige Familien gab es, die keine Gefallenen zu beklagen hatten, und Trauer mahnte immer wieder an den Haß der Kriegsjahre. Auch die kulturellen und erzieherischen Bande, die die Eliten der beiden Völker im neunzehnten Jahrhundert zusanimengehalten hatten, wurden von der um 1920 nachfolgenden Generation in nicht annähernd der gleichen Intensität wiederhergestellt. Deutsche Intellektuelle besuchten England nach wie vor. Aber die künstlerische, musikalische und literarische Entwicklung Deutschlands in den zwanziger Jahren blieb (mit der einzigen und Film) Theater Ausnahme von in England unbeachtet. Besuche amerikanischer Universitäten traten an die Stelle früherer Reisen zu deutschen akademischen Institutionen für fast alle Fakultäten außer Linguisten und Medizinern.

Eine Ausnahme allerdings bildete der Berlin-Kult. Eine Minderheit von linksintellektuellen Literaten fühlte sich von der Liberalität und Freiheit Berlins in den zwanziger Jahren, von seinem Theaterleben und der intellektuellen Aktivität der deutschen Linken jeder Couleur einschließlich der Kommunisten gleichermaßen angezogen. Eine synthetische Literatur, wie sie T. S. Eliot und Ezra Pound praktizierten, deren Gedichte zeitweilig aus einem Sammelsurium aller europäischen Literaturen bestanden, deren Sprachen die Autoren lesen konnten (allerdings mit deutlicher Ausnahme skandinavischer und slawischer Zitate!), wurde auch von den Gefolgsleuten der Genannten übernommen und machte sie mit der deutschen Literatur bekannt, wenngleich, wie schon oben ausgeführt, die deutschen Schriftsteller dieser Periode wenig Kontakt mit ihren englischen Zeitgenossen hatten und sie kaum beeinflußten.

Die hauptsächlichen Verbindungen zwischen unserer jungen Generation und den Deutschen ergaben sich auf der Linken, und zwar nicht immer mit ihren demokratischen Flügeln. Das Eindringen des Kommunismus in britische Universitäten, das sich nach 1930 mit der Gründung kommunistischer Universitätsparteien kenntlich machte, ging in seinen Ursprüngen vielfach auf Kontakte mit deutschen Linksintellektuellen zurück. Unter der jungen, links eingestellten Intelligenz Englands begann sich die Einsicht durchzusetzen, daß in Deutschland ein Bürgerkrieg zwischen den totalitären Gruppen (der Linken und der Rechten) und den Demokraten, der unter der Oberfläche der deutschen Politik in den ganzen zwanziger Jahren geschwelt hatte, nun in offene Gewaltübung ausgebrochen war und drei Jahre andauerte, bis Hitlers Machtergreifung dem ein Ende machte. Der sich parallel hierzu herausbildende deutsche Konservativismus nichtnazistischer Prägung, ein Konservativismus, der einen der Hauptströme im späteren Widerstand gegen Hitler bilden sollte, blieb so gut wie unbeachtet.

Mit großem Wohlwollen betrachtete das offizielle England um 1920 das französisch-deutsche Rapprochement und Stresemanns Erfüllungspolitik, während es sich der Notwendigkeit, zwischen Frankreich und Deutschland zu wählen, unter Anerkenntnis der Vorrangstellung guter Beziehungen zu Frankreich entzog. Dieser letztere Gesichtspunkt wurde jedoch keineswegs allgemein geteilt, sondern blieb vielmehr und hauptsächlich auf das konservative Kabinett und auf Mitglieder der Verwaltung und Diplomatie beschränkt. Ihre liberalinternationalistischen Kritiker, die das Ausmaß der Verpflichtungen jeder konservativen Regierung gegenüber dem Völkerbund mit Argwohn und Ausdauer überwachten, waren den Franzosen gegenüber gleichermaßen mißtrauisch und feindselig eingestellt. Um 1930 war der Labour-Premier Ramsay Macdonald überzeugt, daß Frankreich einen europäischen Krieg plane. Leuten seines Schlages war die Politik des Kontinents jedoch eher ein Feld für Meditationen als Objekt britischen Eingreifens. Die Hauptbedeutung kam den anglo-amerikanischen Beziehungen und dem Commonwealth zu.

Die Machtergreifung Hitlers 1933 löste eine sechs Jahre währende bittere Debatte in England über die ihm gegenüber einzuschlagende Politik aus. Die breite Volksmeinung, isolationistisch seit 1922, glaubte an eine kollektive Sicherheit, die England davor bewahren sollte, sich ohne ausdrückliche Notwendigkeit in die europäische Politik einzumischen, und blieb weiterhin gespalten und besorgt. (Sir Harold Nicholson hat ausgezeichnet, daß er 1935 in einer öffentlichen Debatte gefragt wurde, ob er die Politik der kollektiven Sicherheit sowie den Verzicht auf jegliche politische Einmischung in Europa unterstütze; und daß weder der Fragesteller noch andere Versammlungsteilnehmer, denen er die gleiche Frage später vorlegte, darin irgendeine Inkonsequenz zu sehen vermocht hätten!) Aber die politisch wachen, bewußt denkenden Kreise — die Schauspieler und Kritiker unserer Metapher — kann man zu drei großen Denkschulen zusammenfassen.

Die erste repräsentierte die Wiederbelebung des konservativen, imperialistisch-chauvinistischen Anti-Germanismus der Rechten vor 1914. Innerhalb des ständigen Verwaltungsapparates waren seine Hauptwortführer die beiden leitenden Beamten Sir Warren Fisher und Sir Robert Vansittart, Ständiger Unter-staatssekretär im Schatzministerium der eine, im Außenministerium der andere. Sie waren es, die zusammen mit Lord Hankey und den Stabschefs im Februar 1934 einen Bericht für das Kabinett zusammenstellten, in dem sie Hitlerdeutschland als Englands Todfeind Nr. 1 bezeichneten. Sie waren es weiterhin, die 1935 die Regierung zu einem gewissen Maß von Aufrüstung überredeten, was sie in Anbetracht der deutschen Rüstung für gerechtfertigt hielten, und die einen zweiten Bericht ausarbeiteten, der das Jahr 1939 als einen Zeitpunkt voraussah, zu dem Deutschlands Aufrüstung für Großbritannien wirklich gefährlich zu werden drohte. Im Parlament fanden sie Widerhall bei Winston Churchill, dessen massiver Gestalt von Leo Amery, Brendan Brecken und anderen Persönlichkeiten des imperialistischen rechten Flügels der Konservativen sekundiert wurde. Ihnen schlossen sich die sozialen Patrioten (um Lenins Wort zu verwenden) der Labour-Partei, wie Hugh Dalton, Ernie Bevan und Josiah Wedgewood, an. Im Lande selbst war das Echo geringer, bis kurz nach 1936 ein Flügel der Internationalen dort aufzutreten begann, für den Professor Arnold Toynbee vielleicht das beste Beispiel ist. Sir Lewis Namier, der große Historiker, und einige Mitglieder der von Toynbee um Chatham House gebildeten Schriftstellerschule, wie Professor Elizabeth Wiskemann, gehörten zu diesen Kreisen. Von der Presse war es wahrscheinlich nur der „Daily Telegraph", der als konservatives Blatt Deutschland unabänderlich kritisch gegenüberstand.

Die zweite nazideutschland-feindliche Schule fand sich auf der Linken. Wenn man die konservative Natur der damaligen Regierung und des Civil Service bedenkt, kann man höchstens sagen, daß eine bestimmte Minderheit von ihnen für die Einstellung der Linken zu Nazideutschland eine gewisse Sympathie gehegt hat. Ihre Grundeinstellung hatte sich natürlich an Kontakten mit Hitlergegnern in Deutschland und im Exil gebildet; sie sahen die europäische Politik der dreißiger Jahre im wesentlichen im Licht des Bürgerkrieges in Europa, eines Krieges zwischen den Kräften der demokratischen Volksherrschaft und denen der totalitären Oligarchie, einer Verbindung zwischen europäischem Großkapital und einer vage als Faschismus bezeichneten Strömung.

Im Parlament waren sie durch die Führer der liberalen Rumpfpartei und die offiziellen Führer der Labour Party vertreten, besonders nachdem Dalton und Bevin für die Abberufung des Pazifisten George Lansbury von der Parteileitung auf der Parteikonferenz 1935 gesorgt hatten. Wenngleich die Führung der Labour Party der Idee einer gemeinsamen Volksfront mit den britischen Kommunisten feindlich gegenüberstand (und Sir Stafford Cripps und andere eigentlich wegen ihrer ständigen Befürwortung dieses Gedankens aus-schlossen), unterstützten sie doch die Volks-fronten in anderen Ländern, wie vor allem in Spanien und Frankreich. Aber die ständige, argwöhnische Furcht vor dem Militarismus, die für die Labour Party charakteristisch ist, ließ ihre Einstellung zu Maßnahmen gegen Hitler doch mehr durch die Reinheit ihrer Empfindungen als durch praktische Beteiligungen an den Erfordernissen des Tages hervortreten. Die wirkliche Bedeutung dieser Gruppe liegt weniger in dem, was sie politisch vertrat, als in der Unterstützung, die sie vom Pressekorps erfuhr. Es wird häufig nachdrücklich die An-sicht vertreten, daß die große Masse der britischen Zeitungsleute um 1930 für die Beschwichtigungspolitik eintrat. Das mag vielleicht zutreffen, galt jedoch nicht für die britische Presse in Übersee, die fast wie ein Mann die europäischen Ereignisse als Teil des Bürgerkrieges zwischen Demokraten und Faschisten wertete. Was ihre respektiven Zeitungen nicht als Nachrichten drucken wollten, brachten sie in Buchform: Titel wie „Insanity Fair" (Jahrmarkt des Irrsinns), „Fallen Bastions" (Gefallene Bastionen), „Hitler the Pawn" (Schachfigur Hitler), um nur einige Bücher zu nennen, waren geschäftliche Erfolge. Der „Lest Book Club" (Bücherklub der Linken), von Victor Gollancz hervorragend geleitet, sorgte für eine weite Verbreitung dieser Bücher unter der Intelligenz, wie übrigens auch der rasch wachsende „New Statesman". Haupt-sprachrohr jedoch blieb der „Manchester Guardian". Eine Überfülle privat hergestellter Nachrichten-und Informationsblätter und Zusammenfassungen, unter denen vielleicht „Stephen King Hall's Newsletter" und des damaligen Kommunisten Claud Clockburns brillant-erfolgreiches „The Week" am bekanntesten geworden sind, verbreiteten die Nachrichten, die Redakteure und Finanziers der Beschwichtigungspolitik aus der britischen Presse heraushielten. Unterstützt und aufgehetzt wurden diese Publikationen durch die Propagandaveröffentlichungen der Pariser Komintern-Agentur unter Otto Katz und Willi Münzenberg, deren Hauptwerke das „Braunbuch des Naziterrors 1933" und das sogenannte „Rotbuch der Naziintervention in Spanien" waren. Ihr Einfluß auf die landläufige Auffassung von Deutschland unter der aufstrebenden Generation der dreißiger Jahre in England kann gar nicht überschätzt werden; denn sie fügten dem Klischee vom preußischen Offizier von 1914 das des Nazis von 1935 hinzu, machten jeglichen deutschen Nationalismus suspekt und klagten alle Deutschen außer den Angehörigen der revolutionären Arbeiterklasse des Nationalismus an. Ihr Einfluß auf Konzeptionen, die zu verbreiten sie die ersten waren, kann noch heute in der öffentlichen Meinung Englands aufgespürt werden, so daß selbst rein rassisch bedingte anti-deutsche Gefühle, die aus einer populären Fremden-feindlichkeit erwuchsen, noch heute im Gewand der Volksfront-Sprache weiterleben — dem stereotypen Bild Deutschland gleich Preußen gleich Militarismus fügten sie ein anderes hinzu: Deutschland gleich bourgeoiser Nationalismus gleich Faschismus.

Das Hauptgewicht der Gesichtspunkte, gegen die diese beiden Schulen argumentierten, lag im Zentrum und im linken Flügel der Konservativen Partei sowie in den breiten Bevölkerungsgruppen, die den internationalen Liberalismus der Jahre vor 1914 übernommen hatten. Politisch gesehen, handelte es sich um die seltsame Verbindung von vier Hauptgruppen: der autoritären und antikommunistischen Kreise des rechten Zentrums der Konservativen, der Neo-Imperialisten der „Round Table" -Propagandagruppe, die eine anglo-amerikanische Isolierung von Europa befürworteten, den Abkömmlingen all der verschiedenen liberalen Gruppen, die zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen 1916 und 1931 zur Konservativen Partei gestoßen und dort verblieben waren, und schließlich den Beschwichtigern mit religiösen und quasi-religiösen Inspirationen wie dem Pazifisten Clifford Allen, den Quäkern Roden Buxton und Conwell-Evans oder den Christian Scientists (mit Verbindung zur „Round Table" -Gruppe) Lord Lothian und Lady Astor. Diese Gruppen kontrollierten unter sich einen großen Teil der britischen Presse, an der Spitze „Times" und „Observer", die sich von ihrem Charakter vor 1914 deutlich entfernt hatten, wenngleich sie durch einen reinen Zufall beide noch unter der gleichen Herausgeberschaft wie 1914 erschienen. Aus anderen Gründen schlug die Massenpresse der Rothermere-und Beaverbrook-Konzerne eine ähnliche Linie ein. Diese, Gruppen glaubten, daß vieles, was an der nazistischen deutschen Außenpolitik unerfreulich und gefährlich war, auf die Ungerechtigkeiten der Versailler Verträge zurückzuführen sei. Sie machten sich die Argumentation zu eigen, daß diese Politik durch eine juristische Revision der ungerechten Punkte entschärft werden müsse, statteten Hitler häufig Besuche ab und gaben sich ihm gegenüber, wenn er vernünftig war, äußerst aufgeschlossen. Einer nach dem anderen — Lord Londonderry, Lord Lothian, Clifford Allen, Lloyd George, selbst der Herzog von Windsor nach seiner Abdankung und der abgelöste Labour-Führer George Lansbury — besuchten Hitler und brachten die Nachricht mit zurück, daß er anglophil sei, ein aufrichtiger Mann guten Willens, dessen Forderungen berechtigt und dessen Ziele friedlich waren.

Die konservative Regierung von 1933— 1939 ist von diesen Kreisen allerdings weit weniger beeinflußt worden, als man gemeinhin annimmt. Ihre Politik richtete sich im Prinzip auf die Notwendigkeit aus, die fortgesetzte Wirt-schaftskrise Englands zu überwinden, deren katastrophaler Ausbruch 1931 zur Regierungsumbildung geführt hatte. Es begann mit der Annahme politischer Empfehlungen der chauvinistisch-antideutschen Angehörigen des Civil Service zur Frage der britischen Wiederaufrüstung. Die Fähigkeit der damaligen konservativen Regierung, diese Politik in der Praxis durch-und aufrechtzuerhalten, wurde jedoch durch die starken pazifistischen und isolationistischen Regungen im Volke auf der einen und der gleichzeitig aufkommenden Bedrohung durch Japan und Italien auf der anderen Seite erschüttert. Allein die Kosten einer Wiederbewaffnung Englands erschienen als schwere Belastung der wirtschaftlichen Gesundungsversuche des Landes. Innenpolitisch betrachtet, wirkte sich die Wiederbewaffnung besonders nach den sensationellen und wiederholten Niederlagen von Kandidaten der Regierungspartei in Nachwahlen 1933 bis 1934, in denen es um diese Frage ging, als eine echte Belastung aus. Die im Umgang mit Japan und Italien auftretenden Komplikationen verhinderten die Ausarbeitung irgendeiner logisch-konsequenten Politik. 1934 wurden die Fürsprecher eines Arrangements mit Japan (mit dem Ziel, eine Konzentrierung der Kräfte gegen Deutschland zu ermöglichen) von den Pro-Amerikanern in Verwaltung und Presse besiegt, denen vom kompromißlosen Chauvinismus der Japanischen Armee und Marineführung allerdings eine höchst brauchbare Unterstützung zuteil wurde. 1935, nachdem Italien Abessinien angegriffen hatte, resultierte die Haltung der von der „Times" angeführten britischen Öffentlichkeit in der Ablehnung des Hoare-Laval-Planes, der im wesentlichen ein ähnliches Arrangement aus ähnlichen antideutschen Motiven heraus mit Italien angestrebt hatte. Als Folge hiervon verloren die Deutschenhasser im Civil Service und im Auslandsdienst — unter anderen besonders Vansittart — einen großen Teil ihres Einflusses; das Feld lag nun denen offen, die für eine Annäherung zwischen England und Deutschland eintraten.

Das führte wiederum dazu, daß das britische Kabinett in zunehmendem Maße auf ihre Argumente zu hören begann; und die ersten exemplarischen Schritte in Richtung auf ein . Rapprochement wurden tatsächlich zur gleichen Zeit unternommen, als — in den ersten Monaten des Jahres 1935 — das erste Aufrüstungsprogramm verkündet wurde. Die nun folgenden zwei Jahre waren durch weiteres Vordringen Hitlers gekennzeichnet: durch die Proklamation der Befreiung Deutschlands von den in den Versailler Verträgen postulierten Aufrüstungsbeschränkungen, die Rückgewinnung des Rheinlandes im März 1936, die Festungsbauten an Deutschlands Westgrenze, die Besiegelung des Achsen-Paktes mit Italien und des Anti-Komintern-Paktes mit Japan, die Unterstützung der nationalistischen Truppen Francos im Spanischen Bürgerkrieg mit Rohmaterial und Waffen und der Legion Condor mit Panzern und Flugzeugen sowie durch die Verkündung des Vier-Jahres-Planes, mit dessen Hilfe die deutsche Rüstungsproduktion beschleunigt und von Rohmaterialimporten weniger abhängig gemacht werden sollte. Hitler selbst war es, der sich in dieser Periode nur zu gern als Politiker gab, dem an der Gewinnung der Freundschaft Großbritanniens viel gelegen schien. Er und seine Propagandisten priesen das englische-deutsche Flottenabkommen vom Juni 1935 als Beweis seiner ernsthaften und gutwilligen Absichten in bezug auf England; und den damaligen Unterhändler dieses Abkommens, Ribbentrop, sandte er als seinen Botschafter nach London. Jedoch hielt ihn sein Werben um die britische Freundschaft nicht davon ab, häufig mit der Forderung hervorzutreten, daß Großbritannien die im Versailler Vertrag abgetretenen Kolonien wieder an Deutschland zurückgeben solle.

Im Frühjahr 1937 mußte die britische Position in der Weltpolitik daher der konservativen Regierung erheblich verschlechtert erscheinen.

Die Spannungen mit Italien im Mittelmeerraum blieben sehr stark; mit Japan hatte sich trotz erneuter Verhandlungen im voraufgegangenen Winter kein wirklicher Modus vivendi erzielen lassen. Das britische Rüstungsprogramm litt unter bedrohlichen Engpässen und Verknappungserscheinungen; außerdem wurde dieses Programm vom Schatzministerium gebremst, dem der Zustand der britischen Finanzen sowie die absinkende Tendenz des Überseehandels zu schaffen machten. Die amerikanische Neutralitäts-Gesetzgebung schien Großbritannien für den Fall, daß es in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt würde, der Möglichkeit zu berauben, auf dem amerikanischen Kapitalmarkt Anleihen aufzunehmen, mit denen Waffenkäufe in den USA hätten bestritten werden können. Die Commonwealth-Konferenz im Mai 1937 stellte klar, daß keines der Dominions England gern in einen kontinentalen Krieg verwickelt sähe, und der südafrikanische Delegierte erklärte unumwunden, daß sein Land in einem solchen Falle neutral bleiben würde. Die Argumente derer, die einen Versuch gemacht sehen wollten, die vermeintlichen Gründe für Deutschlands Klagen aus der Welt zu schaffen, müssen sich der Beachtung und Untersuchung förmlich angeboten haben.

Unter diesen Umständen ließ sich die konservative Regierung, zu deren Führer Chamberlain 1937 aufgestiegen war, zu jenem unglückseligen Experiment verleiten, das hernach als „Appeasement" -Politik, als Politik der Beschwichtigung, bekanntgeworden ist. Es handelte sich dabei in der Tat um die Wiederholung eines Versuches, durch separat geführte bilaterale Verhandlungen mit Deutschland und Italien ein Rapprochement herbeizuführen, der zuerst 1935 gemacht worden war. Nur daß die Situation jetzt weit ungünstiger und gefährlicher war als damals. Inbegriffen war dabei eine Versicherung an Deutschland, daß England einer Revision der verbliebenen Territorialfragen in Osteuropa, die auf den Versailler Vertrag zurückgingen, keine ernsthaften Hindernisse in den Weg legen wolle, vorausgesetzt, daß sie mit diplomatischen Mitteln und der Zustimmung der Großmächte und nicht durch einseitige Anwendung oder Androhung von Gewalt durchgeführt würde. Diese Zusicherung wurde Hitler nach einer Reihe von Fehlstarts durch Lord Halifax im November 1937 gegeben. Zur gleichen Zeit wurden die britischen Rüstungsanstrengungen so verstärkt, wie es die Sorgen des Schatzkanzlers um Großbritanniens Weltstellung nur erlaubten; es geschah in der Hoffnung darauf, daß rasch eine Position errungen werden konnte, in der England stark genug sein würde, um Hitler von der Verfolgung seiner Absichten durch andere als diplomatische Mittel abhalten zu können. Man begriff, daß Hitlers Spitzenstellung im Rüstungswettlauf (die erheblich überbewertet wurde) bedeutete, daß noch einige Zeit zu verstreichen hatte, ehe Großbritanniens Schlagkraft genügend eindrucksvoll geworden wäre, und man glaubte, diese Lücke bis 1939 etwa schließen zu können.

Es ist an dieser Stelle überflüssig, noch einmal die einzelnen Stadien in der Entwicklung der Beschwichtigungspolitik von 1937 an darzustellen. Es möge der Hinweis genügen, daß sich drei Faktoren miteinander verbanden, um diese Politik zu einer einzigartig unglücklichen zu machen. Erstens hatte sich die Chamberlain-Regierung entschieden, ihre Politik öffentlich in Begriffen des damals aktuellen absolutistischen Internationalismus zu rechtfertigen. Was in den inneren Zirkeln als ungewisse Bedingungspolitik, als riskante Fernzielplanung verstanden wurde, die angestrebt werden mußte, solange es nur eine kleine Chance zur Vermeidung eines europäischen Krieges gab, der allgemeiner Überzeugung nach jede Zivilisation in Chaos versinken lassen würde, wurde in der Öffentlichkeit durch Schlagworte wie „Gerechtigkeit und Vertrauen für Herrn Hitler", „Beseitigung der Streitobjekte", „Bemühungen um einen universellen Frieden", „Erhaltung des europäischen Wohlstandes" gerechtfertigt und glich der Sprache des Arztes am Krankenbett, der dem krebskranken Patienten seinen besorgniserregenden Zustand verschleiert. Wer um den wirklichen Stand der Dinge wußte, fühlte sich versucht, entweder den Patriotismus oder die aufrecht-demokratische Gesinnung ihrer Urheber in Zweifel zu ziehen, je nachdem, ob man selbst der patriotischen Rechten oder der ideologisch ausgerichteten Linken angehörte.

Das zweite Element war, daß man die Einwohner der osteuropäischen Staaten der Gnade der Nazis überließ, darunter besonders diejenigen, die persönlich der Nazivergeltung am wahrscheinlichsten zum Opfer fallen würden, wenn ihre Länder erst einmal besetzt waren — nämlich die demokratischen Führer und jüdischen Minderheiten. Dieses Verhalten hat Großbritannien in einer Weise entehrt, wie es in seiner ganzen Geschichte wohl nur wenige Parallelfälle findet. Es ist möglich, die britische Politik als Realpolitik zu verteidigen und zu argumentieren, daß die deutsche Einverleibung Österreichs und der Tschechoslowakei eine Aktion war, die England nicht stark genug war zu verhindern. Aber im Gegensatz zu Pilatus, der seine Handlungen seinerzeit nur mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründete, zogen die Briten die moralische Rechtfertigungsterminologie heran, um eine Haltung zu motivieren, die andere Menschen der Gestapo, der SS und den KZ-Wachen in die Gewalt gegeben hatte.

Der dritte Faktor war, daß sich die Beschwichtigungspolitik insofern selbst widerlegte, als sie alle Rüstungsanstrengungen um ihre abschreckende Wirkung auf Hitler brachte. 1938 vertrat Hitler sehr nachdrücklich die Auffassung, daß Großbritannien und Frankreich nicht eingreifen würden, wenn er die Tschechoslowakei angriffe. In der Folge haben sich diese Staaten dann doch eingeschaltet — allein nur, um einem Angriff Hitlers zuvorzukommen. Daher hielt Hitler ungeachtet des Halifax-Besuches seine Generäle durch Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Krieges mit England in Atem, gab er der Marine ungeachtet des diplomatischen Rückschlages durch die Halb-Mobilmachung in der Tschechoslowakei den Befehl, ein neues Aufrüstungsprogramm vorzubereiten, das sie in den Stand setzen würde, die britischen Seestreitkräfte in die Schranken zu fordern; gab er ungeachtet der Auswirkungen der Münchner Verhandlungen weitere Anweisungen für eine militärische Planung, vermittels derer Frankreich besiegt und Großbritannien somit seines wichtigsten Bundesgenossen auf dem Kontinent beraubt werden sollte; nutzte er das ganze folgende Jahr für die Abgabe von Versicherungen sowohl gegenüber seinen Militärplanern wie seinem italienischen Verbündeten, daß England seine Pläne mit Polen nicht stören würde. Als England dann doch intervenierte, quittierte er die Übermittlung der englischen Kriegserklärung mit einem wütenden und höchst verblüfften „Was nun?".

Fussnoten

Weitere Inhalte

D o n a 1 d C. W a 11, M. A., geb. 17. Mai 1928, ist Dozent (Senior Lecturer) für Internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science und Mitglied der Kommission des Foreign Office, die die „Documents on German Foreign Policy, 1918 bis 1945" herausgibt. Er hat zahlreiche Artikel zur Neueren und Zeitgeschichte veröffentlicht. In Kürze erscheint eine von ihm besorgte gekürzte englische Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf" mit einer ausführlichen Einführung. Die englische Originalausgabe des Buches „England blickt auf Deutschland" erschien 1964 unter dem Titel „Britain looks to Germany" bei Oswald Wollff in London.