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Deutschland und England 1912 und 1925 | APuZ 20/1965 | bpb.de

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APuZ 20/1965 Artikel 1 Historische Voraussetzungen des gegenwärtigen britischen Deutschlandbildes Deutschland und England 1912 und 1925

Deutschland und England 1912 und 1925

Werner Frhr. von Rheinbaben

Einführung

Wenn ich im vorgerückten Alter als früherer Kaiserlicher Seeoffizier und Diplomat, als Politiker und Genfer Delegierter in der Weimarer Epoche zu zwei der von mir miterlebten Ereignisse der Vergangenheit nunmehr vor einem kritischen Leserpublikum Stellung nehme, so schulde ich diesem am Beginn meiner Arbeit eine Erklärung. Ich bin der Meinung, daß die Rolle Englands bzw.der Beziehungen zwischen Deutschland und England sowohl im Kaiserreich wie während der Weimarer Republik von sehr vielen Historikern, Politikern und Journalisten nicht erkannt oder falsch oder mindestens nicht ausreichend gewürdigt worden ist. In der neueren deutschen Geschichte war England die eigentliche „Schicksalsmacht" Deutschlands. Im Kaiserreich war es das Mißlingen der englischen „Haldane Mission" 1912, dem eine entscheidende Bedeutung für die Haltung Englands in der Julikrise 1914 zukommt. Alles was über die Ursachen des Ersten Weltkrieges drinnen und draußen zu Tode geredet und geschrieben worden ist, zerflattert vor dem wirklichen Ablauf der Geschichte wie die fallenden Herbstblätter vor dem Novembersturm. Die Wahrheit über den Weg in den Ersten Weltkrieg ist kurz und inhalts-schwer. Die drei für die Abweisung des englischen Annäherungsversuches unter dem Kriegsminister Haldane Verantwortlichen, der Kaiser, der Reichskanzler von Bethmann Hollweg und der Marine-Staatssekretär von Tirpitz, haben im Februar 1912 die Machtlage Deutschlands im damaligen Konzert der Groß-mächte falsch beurteilt. Sie haben geglaubt, Deutschland habe es nicht nötig, Londons Wunsch nach Festlegung einer gegenüber der englischen begrenzten Flottenstärke entgegen-zukommen. Sie haben die gebotene Sternstunde versäumt, in voller Gleichberechtigung und ohne Einschränkung des so oft zitierten „Risikowertes" der deutschen Flotte gegenüber einem möglichen englischen Angriff eine von der gegenseitigen gehässigen Rüstungspropaganda befreite freundschaftliche Atmosphäre zwischen beiden Staaten herzustellen. Eine solche Entwicklung hätte mit Gewißheit dem Versuch englischer Friedensvermittlung im Juli 1914 die durch die in Deutschland bekannten geheimen englisch-französischen militärischen Abmachungen fehlende Aufrichtigkeit und größeres internationales Gewicht gegeben. Sie hätte Paris und Petersburg zu größter Vorsicht gemahnt, anstatt ihnen praktisch die Gewißheit zu geben, daß im Falle des Krieges England auf ihrer Seite stehen würde. Sie hätte so mit großer Wahrscheinlichkeit die für den Ausbruch des Weltkrieges entscheidende russische Mobilmachung gegen Osterreich-Ungarn verhindert und Zeit für die von England angeregte Vermittlungsaktion zur Erhaltung des Friedens geschaffen. Mit einem Wort: Hier lag im Rückblick auf 1914 die einzige Möglichkeit, den „dümmsten Krieg der Weltgeschichte" zu vermeiden, den jedenfalls Deutschland und England nicht wollten. In nachträglich fast unbegreiflicher Fehlrechnung haben Wilhelm II., Bethmann und Tirpitz bei ihrer Unterhaltung mit Haldane 1912 nicht vermocht, sich ernsthaft eine europäische kriegerische Entwicklung vorzustellen, bei der ein an der Seite Frankreichs und Rußlands kämpfendes England dem nur mit dem zerfallenden Osterreich-Ungarn verbundenen Deutschland als große, nicht zu besiegende Übermacht gegenübertreten könnte. Dieses unheilkündende Geschehen habe ich als Seeoffizier und Diplomat aus nächster Nähe miterlebt. Kein Historiker drinnen oder draußen kann mich in meiner Überzeugung wankend machen, daß im Lichte der Geschichte, nach allem was wir heute über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wissen, die Weiche zum Untergang des deutschen Kaiserreichs im Februar 1912 durch das Mißlingen der Haldane-Mission gestellt worden ist. Keinem andern Ereignis aus der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges kommt eine ähnliche Bedeutung in der Bestimmung des Ablaufs der Geschichte zu.

Ein entsprechendes Ereignis, aus dem es nur schwer noch einen Ausweg ins Freie gab, nimmt in der Geschichte der Weimarer Republik der einst so hochgepriesene Locarno-Vertrag von 1925 ein. Hier schien der französische Außenminister Briand der Flauptpartner des deutschen Außenministers Stresemann zu sein, während der britische Außenminister Sir Austen Chamberlain mehr als der wohlmeinend zustimmende Dritte im Bunde porträtiert worden ist. In Wirklichkeit lagen die Gewichte anders. England hatte durch seinen Berliner Botschafter Lord d'Abernon die zu -ocarno führende Politik eingeleitet. Es war . rotz Mr. Poincare und einer aufgeregten deutschfeindlichen Pariser Presse immer noch der Regulator des europäischen Uhrwerks, und die Liebe seines Außenministers zu Frankreich „wie zu einer Frau" ist England später teuer zu stehen gekommen. Es hat übersehen, daß 1925 eine weitgehende Räumung des Rheinlandes erfolgen mußte, um das durch die Niederlage von 1918, durch das Friedens-diktat von Versailles, durch den Ruhreinbruch Frankreichs mit der Begleiterscheinung der Inflation und den Reparationen tief gedemütigte deutsche Volk endgültig auf den Weg friedlicher Mitarbeit in einer europäischen Ordnung zu bringen. England hatte die Mit-verantwortung für die schlechte und von Deutschland als ungerecht empfundene Friedensregelung von 1919 und es hatte besonders nach Ausscheiden der USA aus dem Konzert der Siegermächte vor der Geschichte auch die klare Mitverantwortung für die nun mögliche Herstellung eines besseren und dauernden Friedens. Es hat sich mit dem Scheinerfolg des Verhandlungsergebnisses von Locarno begnügt, anstatt sein volles Gewicht für einen ausgleichenden, wirklichen „Frieden von Locarno" auf die Waagschale der Geschichte zu legen. Auch dieser Entwicklung habe ich als Parlamentarier, als Stresemanns Staatssekretär in der Reichskanzlei und als sein Freund recht nahe gestanden. Ich habe das seltene Glück gehabt, sowohl im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik dem jeweils fähigsten Mann in nachgeordneter Stellung jahrelang verbunden gewesen zu sein. Im Falle Tirpitz mußte die Geschichtsschreibung seine Fehleinschätzung Englands beanstanden. Im Falle Stresemann war es die auch durch seine nächsten Berater im Auswärtigen Amt nicht erkannte Notwendigkeit, daß die im Locarno-Vertrag erneut übernommene Souveränitätseinschränkung einer von Deutschland garantierten militärischen Freizone im Rheinland (von dem nun freiwillig erfolgenden Verzicht auf Elsaß-Lothringen zu schweigen) als Gegenleistung durch eine militärische Räumung der Siegermächte kompensiert werden mußte.

Der geschichtliche Rückblick lehrt, daß an erster Stelle ohne Revision der Rheinland-Artikel des Versailler Vertrages die Welle des hochkommenden Nationalsozialismus nicht gebrochen und im Weimarer Staate aufgefangen werden konnte. Nur England wäre 1925 imstande gewesen, eine solche Entwicklung herbeizuführen. Auch dieses Geschehen möchte ich meinen Lesern so objektiv wie möglich schildern und losgelöst von verwirrenden Einzelheiten einen aus persönlicher Erfahrung geschöpften Beitrag zur Antwort auf die Frage geben, wie es in weiterer Folge zum 30. Januar 1933 und damit zum Zweiten Weltkrieg gekommen ist.

Erstaunlicherweise wird noch viel Unrichtiges über die besondere Rolle Englands in jenen Schicksalsjahren geschrieben. Es scheint mir gerade die Fülle der Literatur und das Mitreden so vieler verhindert zu haben, daß die wirklich wichtigsten Meilensteine der jüngsten Geschichte als solche erkannt und entsprechend in der Öffentlichkeit bewertet worden sind. Bei allem Respekt sei es gesagt: Es gibt sicher viele ehrenwerte, fleißige Historiker, aber es gibt auch soviel Widerspruch zwischen ihnen, daß einige ganz bestimmt nicht recht haben können. Noch wichtiger als manche Dokumente ist das wirkliche Leben und das Wissen um die Motive der handelnden Personen. So möchte ich — ebenso wie ich in meiner Jugend mit schwachen Kräften mich leider vergeblich bemüht habe, gemeinsam mit vielen anderen einen deutsch-englischen Krieg zu verhindern, und in der Mitte meines Lebens aktiv für Freundschaft zwischen Deutschland und England gearbeitet habe — nun im Alter aus meiner Lebenserfahrung heraus etwas dazu beitragen, die Erkenntnis für das Handeln beider Länder in den Schicksalsjähren 1912 und 1925 zu vermehren. Mehr als vieles andere hat es den Lauf der Geschichte bestimmt und dazu beigetragen, die unruhige Welt von heute zu gestalten.

I. Persönliche Erinnerungen an die Haldane-Mission und ihr Scheitern

Im Frühjahr 1909 saß ich in meinem Büro der Zentralabteilung des Reichsmarineamts, wo ich als Kapitänleutnant eine mich sehr befriedigende Tätigkeit ausübte. Ich bearbeitete den Dienstplan, Empfänge, Besucher unseres „Meisters", des Admirals von Tirpitz, begleitete ihn auf allen Dienstreisen, führte Protokolle bei Sitzungen, stellte die berühmte rote Mappe für Vorträge beim Kaiser zusammen und hatte die ausländischen Marineattaches zu empfangen, wenn sie Wünsche nach Informationen äußerten oder sie sonst etwas zu zuständigen Behörden in Berlin führte. Diesmal klopfte es besonders energisch an meiner Tür. Herein trat Captain Heath, der englische Marineattache.

Ich wußte, daß er mit amtlichem Mißtrauen unsere Flottenpolitik beobachtete, und an jenem Tage zeigte er eine besonders ernste Miene. Er wollte von mir wissen, wie es käme, daß die eben erst vom Reichstag bewilligten vier neuen großen Panzerschiffe, im Sprachgebrauch nach englischem Vorbild „Dreadnoughts" genannt, nach seinen Nachrichten sich auf den Werften schon in vollem Bau befänden, und erhob ziemlich unverblümt den Vorwurf, daß wir mit dem Bau heimlich schon seit längerer Zeit begonnen hätten, um England im Wettrüsten zu überflügeln.

Vorsorglich hatte ich mir von Tirpitz Weisungen geholt, was ich dem Attache erwidern sollte, da seine Beschwerde zu erwarten war. Sie gab nur das wieder, was seit einigen Tagen in der englischen Presse sich als „Navy scare", d. h. Unruhe über die deutsche Flottenstärke, entwickelt hatte. Meine etwas dürftige Antwort lautete, daß vor Bewilligung der Schiffe im Parlament kein rechtsgültiger Bau-auftrag erteilt worden wäre. Mehr und mehr aber sickerte in der Öffentlichkeit durch, daß die betreffenden Werften vertraulich einige Zeit vorher einen „Wink" über die bevorstehenden Aufträge bekommen hätten — und so war dann von ihnen schon einiges vor dem Reichstagsbeschluß „vorbereitet" worden.

Zur Vorgeschichte dieser spannungsgeladenen Wochen und Monate, in denen ich selbst eifrig tätig war, folgendes: Das von Tirpitz 1900 eingebrachte deutsche Flottengesetz sah vor, daß nach festgelegter Lebensdauer die alten Schiffe durch kampfkräftige Neubauten ersetzt werden sollten. Das war ein auf die schwierigen deutschen parlamentarischen Verhältnisse abgestellter genialer Plan zum systematischen Aufbau der Flotte. Im Gegensatz zu den von Jahr zu Jahr neu zu beschließenden Ausgaben in andern Ländern war damit eine feste Grundlage für die künftige deutsche Flottenstärke geschaffen, die nur durch ein neues Gesetz mit allen dabei auftretenden Schwierigkeiten hätte abgeändert werden können. Entsprechend dem allgemeinen schnellen Wachstum der deutschen Wirtschaft und Industrie und der zunehmenden Stärke des deutschen Reiches auf allen Gebieten war

Tirpitz mit Hilfe des Kaisers und einer geschickten Bearbeitung der öffentlichen Meinung bestrebt, die heranstehenden Ersatzbauten möglichst regelmäßig auf die deutschen Werften zu verteilen. Die Zahlen 2 bis 4 Schiffe pro Jahr spielten dabei eine große Rolle und gaben Anlaß zu endlosen Auseinandersetzungen in der deutschen und englischen Presse. Zusätzlich kam es im Laufe der Zeit zu soge-nannten „Novellen" sowohl für neue Schiffe in entstehenden Baulücken wie für Vermehrung des Personals, die in zunehmendem Maße England erregten und zu der Sorge führten, die heranwachsende deutsche Flotte könnte die bisherige britische Seeherrschaft bedrohen oder zum mindesten einschränken. Alles das geschah in außenpolitischer Begleitung der „Entente Cordiale" zwischen England und Frankreich, der deutschen Auseinandersetzungen mit Frankreich in der wenig glücklichen Marokkopolitik und nach der russischen Niederlage im Krieg gegen Japan, die Frankreichs Stellung in Europa sichtbar schwächte. Da hatte im Jahre 1905 England eine Überraschungsaktion begonnen. Es war zum Bau erheblich größerer Schiffe, eben der erwähnten „Dreadnoughts", übergegangen, um uns der hohen Kosten wegen die Lust zu nehmen, mit ihm in einen ernsthaften Wettbewerb des Flottenbaus einzutreten. Damit hatte es jedoch keinen Erfolg, weil Deutschland nach dem Gesetz sehr bald seine alten kleinen Schiffe nunmehr auch durch „Dreadnoughts" ersetzte. Dadurch büßte die englische Flotte ihre bisherige große Überlegenheit ein, so daß die Flottenrivalität sich mehr und mehr in der Zahl der neuen „Dreadnoughts" ausdrückte, bei denen die deutsche Flotte natürlich schnell relativ an Stärke gewann.

Das wußte der mit der Beobachtung des deutschen Flottenbaus betraute Captain Heath, mein Gesprächspartner, natürlich recht gut, und nun war er über das neueste deutsche Bautempo — gleich vier neue „Dreadnoughts" in einem Jahr — alarmiert. Er ist nach diesem Besuch noch oft zu mir gekommen und hat mich stets unbefriedigt wieder verlassen. Er bezeugte in seiner Person treffend die Enttäuschung der Londoner Admiralität über unsere Reaktion auf den „Dreadnought" -Bau. Es war ein richtiges Wettrüsten zur See entstanden. England reagierte jetzt auf seine Weise mit absichtlich manchmal fast an Panik grenzenden Presseartikeln und Reden und baute in verstärktem Tempo unter Hinweis auf die schnell wachsende deutsche Flotte unwillig weiter. Einmal hatte ein englischer Unterstaatssekretär dem deutschen Kaiser bei einem Besuch König Eduards VII. in Kronberg zugerufen:

„You must stop building — Sie müssen mit dem Schiffbauen aufhören." Das war, wie man in Deutschland sagte, ziemlich „starker Tobak", denn der Kaiser hatte geantwortet: „Das werden wir nicht tun, lieber werden wir kämpfen!" Einige Jahre früher hatte schon ein besonders forscher Erster Seelord, Sir John Fischer, die wachsende deutsche Flotte, so wie einst Nelson die dänische Flotte, in ihren Häfen vernichten wollen. Auf englisch hieß das „to kopenhague the German Fleet". Das sind nur einige Randbemerkungen zu der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die deutsch-englischen Beziehungen immer schwerer belastenden Spannung aus der offenkundigen Rivalität in der beiderseitigen Flotten-stärke, die wir jüngeren Seeoffiziere mit begreiflichem Interesse verfolgten und unter uns erörterten. Wir kannten alle Seeschlachten, in denen England Sieger geblieben war. Es hatte in den vergangenen Jahrhunderten nacheinander die holländische, spanische und französische Seemacht bekämpft und machtpolitisch unschädlich gemacht. Nun betrachtete es mehr und mehr die deutsche Kriegsflotte als einen möglichen Gegner, der seine unbestrittene Herrschaft auf den Weltmeere stören oder beeinträchtigen könnte. Deutschland erstrebte neben seiner Landrüstung gegen Frankreich und Rußland unter Führung des Kaisers und des Admirals von Tirpitz nach dem Gesetz eine „so starke Flotte, daß auch der seemächtigste Gegner, also gegebenenfalls England, vor dem . Risiko des Angriffs'zurückschrecken würde". Das war in wenigen Worten der Kern der soviel diskutierten Flottenfrage vor dem Ersten Weltkrieg. Natürlich haben in diesen Jahren auf beiden Seiten, in Deutschland und in England, viele Persönlichkeiten nach einem Ausweg aus der gespannten Situation und den recht unerquicklichen Pressefehden gesucht. Im besonderen gab es einen engen persönlichen Kontakt zwischen Sir Ernest Cassel und dem Leiter der Hamburg-Amerika-Linie, Ballin, über den ich stets auf dem laufenden war und der schnell seinen Weg zu amtlichen Stellen fand.

Meine eigene Stellungsnahme habe ich 1910, im Reichsmarineamt tätig, bezogen, als Tirpitz selbst im vertrauten Kreise den Gedanken vorbrachte, durch eine feste vertragliche Relation in der Zahl und Stärke der großen Schiffe, etwa auf der Basis 10 deutsche gegen 16 englische Großkampfschiffe, ein sogenanntes „Agreement" mit London abzuschließen. Es sollte der deutschen Forderung nach dem „Risiko des Feindangriffs" ebenso Rechnung tragen, wie es den Engländern die Sicherheit gab, daß ihre Flotte der deutschen immer um ein gutes Drittel überlegen sein würde. Ein solches „Agreement" hielt ich bis zum Ersten Weltkrieg für die einzig mögliche Lösung der Flottenfrage. Da wir England unsererseits niemals „angreifen" konnten oder wollten, wäre nach meiner Ansicht eine Verständigung mit ihm über das leidige Thema der Großschiffbauten dann höchstes Gebot gewesen, wenn sich dadurch eine ernsthafte Chance bot, zu ihm ein politisch freundlicheres Verhältnis zu erreichen. Das allerdings war auch für mich die Voraussetzung einer freiwilligen Beschränkung des Flottenbaus auf deutscher Seite, und nur in dieser Form wäre sie bei dem Stande der damaligen öffentlichen Meinung und im Reichstage durchzusetzen gewesen.

Leider hat Tirpitz an seiner Idee von 1910 nicht klar festgehalten, sondern sich weitgehend durch die von ihm stets als „vorzüglich" bezeichneten Berichte unseres Marineattaches in London dahingehend beeinflussen lassen, daß eine vertragliche Beschränkung oder Begrenzung unseres Flottenbaus („Agreement") von den Engländern als „Schwäche" mit schlimmen Folgen für uns ausgelegt werden könnte und außerdem das „große Werk des Flottengesetzes durchlöchern oder gar hinfällig machen" würde. Einmal berichtete dieser: „Der Preis, den England zu zahlen gewillt sein wird, wird steigen, je fester unser Wille ist." In unzähligen Varianten hat er in seiner Berichterstattung an Kaiser und Tirpitz so starke Worte gebraucht. Er ist damit zu einer Figur geworden, die weit über den Rahmen seiner eigentlichen Berufstätigkeit als Seeoffizier die Reichspolitik beeinflußt hat.

Ich habe meine andere Meinung, daß auf jeden Fall der Versuch eines „Agreements" gemacht werden müßte, damit „büßen" müssen, daß ich im Frühjahr 1912 nicht nach der Absicht des Kabinettchefs von Müller als Marineattache nach London entsandt wurde. Der eben erwähnte bisherige Inhaber dieses Postens, Korvettenkapitän Wiedenmann, scheinbar mein „Freund", der aus meinen häufigen Urlaubsbesuchen bei ihm als sein Wohngast meine Ansichten über die Notwendigkeit eines „Agreements" genau kannte und über meinen ausgedehnten englischen Bekanntenkreis, sagen wir einmal, „erstaunt" war, hatte das mit der absurden Begründung verhindert, „ich liefe den Engländern nach, anstatt sie auf mich zukommen zu lassen“. Ich wurde Marineattache in Rom. Aber auch dort habe ich in freundschaftlichen Beziehungen zum englischen Botschafter Sir Rennel Rodd und dem Marineattache Courtney Stewart mit Leidenschaft für ein „Agreement" geworben.

Es gibt heute noch Leute, die behaupten, Deutschland habe doch eigentlich gar keine Flotte gebraucht und die ganze Tirpitzsche Flottenpolitik sei falsch gewesen. Auch im Ausland, noch unlängst in den USA, trifft man gelegentlich noch auf solche Ansichten. Diese Kritiker urteilen weitgehend „post festum". Sie vermögen nicht, sich in die europäische Entwicklung vor dem Ersten Weltkriege hineinzuversetzen. Zunächst einmal: Jede Großmacht hatte damals neben einer Armee eine Kriegsflotte. Deutschland besaß lange Küsten an der Ostsee und Nordsee. Es hatte Kolonien in Übersee, einen ausgedehnten lebenswichtigen Seehandel, der nur vom englischen im Umfang übertroffen wurde, aber vor allem, es stand dem französisch-russischen Bündnis und seinen Flotten gegenüber und strebte in seiner ganzen überschäumenden Entwicklung als stärkste europäische Kontinentalmacht ganz natürlich ohne Expansionsziele und irgendwelche feindliche Absichten dahin, neben England draußen auf den Weltmeeren seine Stellung zu verstärken. Als ich später, 1927 als Reichstagsabgeordneter, die Ehre hatte, von Mr. Churchill empfangen zu werden, ließ er mich bei einem Glase Vermouth und einer für mich viel zu schweren Brasilzigarre niedersetzen, ging etwas erregt ca. 1 Stunde vor mir auf und ab und setzte mir seine Ansicht über die Tirpitz’sche Flottenpolitik auseinander. Meinte er, Deutschland hätte vor 1914 keine Flotte gebraucht? Beharrte er auf seiner Formulierung in einer gegen Deutschland gerichteten Rede, daß die deutsche Flotte eine „Luxusflotte" gewesen wäre? Keineswegs! Aber er sagte mir unzweideutig, daß die deutsche Flotte vor dem Ersten Weltkriege so „begrenzt" hätte bleiben müssen, daß England aus ihr keine Bedrohung für seine eigene Seemachtstellung zu empfinden brauchte. Nach einer Äußerung Churchills von 1927 einem früheren Kaiserlichen Seeoffizier gegenüber, hätte also Deutschland seine Landmacht beliebig ohne englische Bedenken ausbauen können!

Ich lasse es dahingestellt, ob das auch seine Ansicht gewesen wäre, wenn er, wie wir hofften, anstatt des Kriegsministers Haldane 1912 nach Berlin gekommen wäre; denn diese These hätte dem bekannten Crowe'schen Prinzip „England muß stets gegen die stärkste Macht auf dem Kontinent eingestellt sein", widersprochen. Immerhin bleiben seine temperamentvollen Äußerungen für einen Rückblick interessant, denn auch er als sehr kompetenter Beurteiler und Gegner Deutschlands hat die Berechtigung einer Flotte des Kaiserreichs keineswegs verneint.

Ich kehre zurück zu den Jahren vor 1914. Gewisse englische Pläne für eigene Flotten-aktionen im Kriegsfälle, wie mögliche Landungen in Dänemark oder Schleswig-Holstein, ließen uns damals aufhorchen und an Abwehr-aktionen, auch gegen England, denken. Alles in allem war durch gegenseitige Polemiken eigentlich eine schreckliche Verwirrung der Geister hüben und drüben entstanden, und ich jedenfalls empfand es als ein sehr glückliches Ereignis, daß der englische Kriegsminister Haldane nach monatelangen geheimen Sondierungen am 9. Februar 1912 im Berliner Schloß vom Kaiser und Reichskanzler zur Erörterung der deutsch-englischen Beziehungen, in erster Linie der Flottenfrage, empfangen wurde, denen sich später der „Ressortminister" Tirpitz zugesellte. In diesen Tagen bereitete ich mich gerade im Reichsmarineamt auf mein neues Kommando als Attache in Rom vor, und natürlich war ich aufs äußerste gespannt. Ich konnte nichts anderes annehmen, als daß es nun in der gefährdeten deutschen Lage endlich zu einer Verständigung mit England über die gegenseitigen Flottenstärken kommen würde, zumal Tirpitz kurz vorher, als Antwort auf die öffentliche Kriegsdrohung von Lloyd George im Sommer 1911 („Agadir"), eine neue Flottennovelle angekündigt hatte, die natürlich wieder in England heftig kritisiert worden war.

Und was geschah? Der Kaiser, der den Vorsitz in den Besprechungen mit Haldane führte, glaubte anfangs an den Erfolg und gab spontan seiner Freude darüber Ausdruck. Am Morgen des ersten Verhandlungstages hatte er Tirpitz durch den Chef des Marinekabinetts, Admiral von Müller, dringend ersuchen lassen, das beabsichtigte „Agreement" mit England nicht durch übertriebene Forderungen zu stören. Aber ähnlich wie bei früheren großen Entscheidungen hielt er nicht an seiner Ansicht fest, sondern schloß sich den Vorschlägen seines Marineberaters an, als Tirpitz als Gegenleistung Englands für eine gewisse Verlangsamung des deutschen Flottenbaus eine englische „Neutralitätserklärung im Falle eines Krieges forderte, den Frankreich oder Rußland gegen Deutschland angriffsweise führen würde".

Wie so oft, nahm der Kanzler Bethmann keine entschiedene Haltung ein. Er hatte sich in der inneren preußischen Verwaltung mit Außenpolitik nicht beschäftigt. Er wollte als Kanzler gewiß eine Verständigung mit England herbeiführen und war von ihrer Notwendigkeit durchdrungen, aber er versagte stets, wenn er seine an sich richtige Grundeinstellung in der praktischen Politik zur Geltung bringen sollte. Aus meiner ziemlich guten Kenntnis der Umgebung des Kaisers und des Kaisers selbst — ich war jahrelang dem Sohne des Kaisers, dem „Marineprinzen" Adalbert attachiert gewesen, wohnte einmal wochenlang im Berliner Schloß und sah dann den Kaiser täglich in der Intimität des Familienkreises, auch habe ich den Kaiser sehr oft während meiner Marinedienstzeit bei Ansprachen aller Art auf Schiffen und in Kasinos erlebt, habe einmal auf der Yacht „Hohenzollern" neben ihm an der Tafel gesessen — kann ich mit Bestimmtheit niederschreiben: Der Reichskanzler hätte damals durch Beharren auf seiner sachlich richtigen Meinung, daß aus höchsten politischen Gründen die durch Haldane angeregte Flottenverständigung als Vorbedingung jeder politischen deutsch-englischen Annäherung zustande kommen müsse und daß er seinen Abschied nehmen würde, falls der Kaiser gegen ihn und für Tirpitz entscheiden würde, mit großer Wahrscheinlichkeit das Deutsche Reich und die Monarchie gerettet. Dann hätte sich nämlich Wilhelm II. ihm und nicht Tirpitz angeschlossen!

Leider war der Reichskanzler weit von solcher Entschlußkraft entfernt. Er tat das Schlimmste, was ein Staatsmann tun kann, er schwankte, liebäugelte selbst mit der Forderung nach englischer Neutralität und blieb in Amt und Würden, obwohl er die endgültige kaiserliche Entscheidung zugunsten von Tirpitz für falsch hielt. Haldane lehnte — wir müssen heute sagen selbstverständlich — die nach dem Stande der damaligen europäischen Politik und vor der englischen Öffentlichkeit unmögliche deutsche „Neutralitätsforderung" ab. Sie wäre praktisch in der ganzen Weltmeinung als eine englische Verstärkung der deutschen politischen und militärischen Machtposition in Europa angesehen worden — und das war wohl das letzte, was Englands Regierung damals im Auge hatte. Bei der Rückkehr nach London äußerte sich Haldane dahin, daß „Deutschland über Frankreich herzufallen" geneigt sein könnte, wenn England einer solchen Selbst-bescheidungzustimmen würde. Haldane wäre keinen Tag länger Minister geblieben, hätte er sie etwa in London empfehlend für weitere Verhandlungen zur Diskussion gestellt. England hatte nicht einmal mit dem so eng befreundeten Frankreich offiziell eine entsprechende Vertragsbindung. Die Marinefragen, das Bautempo in den nächsten Jahren, Vermehrung der Mannschaften etc. blieben in Details stecken. Tirpitz bestand auf der Einbringung einer neuen Flottennovelle als Antwort auf die englische Kriegsdrohung vom Vorjahre. Das brachte natürlich gleich alle Pläne für eine von England erstrebte Verlangsamung des deutschen Flottenausbaus durcheinander und stellte in der Tat schon allein für sich den Erfolg der Haldane-Mission in Frage.

Nach beiderseitigen Höflichkeitsphrasen kehrte Haldane enttäuscht nach London zurück.

Es folgten weitere diplomatische Verhandlungen, bei denen sich in London die Admiralität (Churchill) einschaltete und zu allem Unglück die schon in Berlin sehr kritisch aufgenommenen Haidaneschen Formulierungen über Marinefragen teilweise desavouierte, d. h. für Deutschland verschlechterte. Die dann vom Kaiser und von Tirpitz abgelehnte Formel des englischen Kabinetts, daß im Falle eines Flotten-Agreements England sich verpflichten würde, „keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland zu unterstützen", lehnte Berlin als „nichtssagend" ab. Der Kaiser und seine Marineberater, Tirpitz und Wiedenmann, fühlten sich von London „getäuscht". Das ist die Kurzgeschichte der gescheiterten Haldane-Mission 1912, wie ich sie aus nächster Nähe miterlebte.

Weder der Kaiser noch seine nächsten Berater hatten im Frühjahr 1912 erkannt, daß wir Deutschen ein Flotten-Agreement viel nötiger hatten als das heimlich in militärische Abreden mit Frankreich verstrickte, immer noch die Meere beherrschende England. Alle drei, der Kaiser, Bethmann und Tirpitz, hatten die Macht Deutschlands weit überschätzt. Sie sind sich der militärischen Überlegenheit und der Festigkeit der „Triple-Entente" Frankreich, Rußland, England durchaus nicht bewußt geworden oder glaubten fälschlich wie Tirpitz, sie durch eine neue Flottennovelle gegenüber der Kriegsdrohung Lloyd Georges von 1911 vermindern zu können, anstatt schon 1912 erhebliche HeeresVerstärkungen (1913 wurden sie endlich durchgeführt, aber konnten sich zu Deutschlands Unglück bis 1914 nicht mehr voll auswirken) vorzunehmen, die der Marne-schlacht von 1914 und damit mit großer Wahrscheinlichkeit dem Ersten Weltkrieg ein anderes Gesicht gegeben hätten. Die vom langjährigen preußischen Kriegsminister von Einem leider versäumte rechtzeitige Heeresvermehrung, die, wie sich nach 1914 herausstellte, im Kriegsfälle weitaus das Wichtigste war, hätte übrigens, so kann man heute urteilen, schon ganz von selbst eine weitere Marinevergrößerung verhindert, aber Tirpitz war die bei weitem stärkste Figur in der Leitung der entscheidenden Reichsgeschäfte. Er hatte den Kaiser und die Mehrheit der öffentlichen Meinung zugunsten der Marine auf seiner Seite. Trotz alledem: Nicht die Marinefrage, sondern die von ihm vertretene und von Bethmann unterstützte politische Forderung nach einem „Neutralitätsvertrag Englands" hat die Mission Haldanes zu Fall gebracht und damit eine mögliche Änderung der Einstellung Englands zu Deutschland vor dem Ersten Weltkriege verhindert.

\ Diese historische Erkenntnis habe ich im Februar 1912 noch nicht in vollem Umfange gehabt. Ich ließ mich nach Haldanes Abreise durch die Hoffnung trösten, daß man in Zukunft versuchen würde, doch noch zu einem „Agreement" zu kommen. Dann waren wir drei nach London, Washington und Rom neu-ernannten Marineattaches bei Tirpitz zum Abschiedsessen eingeladen. Beim Braten erschien eine Ordonnanz, flüsterte Tirpitz etwas ins Ohr. Dieser wurde bleich, erhob sich, stürzte an mir vorüber mit dem Ruf: „Das ist das Ende!" Er war ins Schloß zum Kaiser zitiert worden und glaubte, er werde vom Kaiser hören, daß die von ihm neu eingebrachte Flottennovelle — der Marineattache in London hatte sie aus der Enge seines falschen Englandbildes dringend befürwortet — auf Drängen des durch Haldanes Besuch bedenklich gewordenen Kanzlers Bethmann zurückgezogen werden sollte. Wir Attaches wußten, worum es ging, und das Essen wollte uns nicht mehr recht schmecken. Da kehrte Tirpitz nach einer Stunde aufrecht und glänzender Stimmung zurück. Der bis zuletzt zögernde Kaiser hatte nach seiner eigenen Schilderung unter dem Einfluß der „marinefreundlichen" Kaiserin sich endgültig für Tirpitz und gegen den der Zusatznovelle opponierenden Bethmann entschieden, wie Tirpitz selbst uns sofort erzählte. Eigenartige Wege geht manchmal Weltgeschichte!

Zufällig las ich kürzlich das amüsante kleine Memoirenbuch „Gathered Yesterdays" der mir bekannten Frau Leila von Meister. Sie war die besonders attraktive Frau des preußischen Regierungspräsidenten von Meister, geborene Amerikanerin, infolge ihrer Erziehung in England ganz von englischer Mentalität erfüllt. Sie sang sehr charmant zur Gitarre und war eine vom Kaiser Wilhelm II.sehr geschätzte Frau, die natürlich vieles zu erzählen wußte. Ich möchte folgendes Erlebnis aus dem Jahre 1920 zitieren:

„Unter den Freunden meiner Mädchenzeit, mit denen ich bei meinen Besuchen Englands stets Kontakt hielt, war Lord Haldane. Als er hörte, daß ich wieder in London wäre, lud er mich zum Frühstück in seine Wohnung Queen Anne s Gate ein. Ich nahm die Einladung mit großer Freude an, denn er war beachtlich klug und ein gütiger und liebenswerter Mann. Sehr bald sprachen wir von seiner Mission nach Berlin 1912 und er erzählte mir ausführlich von seinen Unterhaltungen mit dem Kaiser und Bethmann Hollweg. Er hatte beide, Kaiser und Kanzler, dem Gedanken sehr geneigt gefunden, eine Lösung der Probleme zwischen beiden Ländern zu finden, und die ganze Atmosphäre der Vormittags-Unterhaltungen war recht ermutigend. Nach dem Essen bei einer zweiten Unterhaltung, an der auch Admiral von Tirpitz teilnahm, hat sich die ganze Atmosphäre gewandelt und am Ende verließ Haldane Berlin mit dem Gefühl, daß seine vielversprechende Mission, die für beide Länder so lebenswichtig war, als gescheitert betrachtet werden mußte.

Er fragte mich, ob ich aus meiner Kenntnis des Kaisers, Bethmanns und Tirpitz etwas darüber sagen könnte, was hinter den Kulissen in den wenigen Stunden passiert sein muß, die zwischen den beiden Unterhaltungen lagen. Zufällig wußte ich das, aber ich hätte es auch geahnt aus meiner Kenntnis von Tirpitz und seiner Mentalität. Mein Schwager Walter vom Rath hatte Admiral von Tirpitz am Nachmittag der Konferenz getroffen und dieser war im Gespräch über das aktuelle Geschehen mit der Bemerkung herausgeplatzt:

Gott sei Dank, habe ich das kaputt gemacht.'Walter vom Rath hatte mir damals alsbald dieses Erlebnis erzählt. Als ich es nun, 1920, Haldane berichtete, schüttelte er langsam seinen Kopf und sagte: . Tirpitz wird wohl seitdem Gründe gefunden haben, seine damalige Haltung zu bereuen. Ich bin nicht überrascht, daß Sie meinen Verdacht bestätigen. Ich fühlte schon damals, daß es der Einfluß von Tirpitz war, der alles vereitelte, denn der Kaiser und Bethmann waren ausgesprochen für eine Verständigung, und ich wünschte dringend, sie zustande zu bringen und die gräßliche Erfahrung zu vermeiden, die wir jetzt gerade hinter uns gebracht haben."'

Vieles spricht für die sachliche Richtigkeit dieser Erinnerung, was meine vorherige Schilderung ergänzt. Ich muß es mir versagen, hier auf die mir nicht 1912, sondern nachträglich durch die Erinnerungen des Kaisers, des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg und des Kapitäns Wiedenmann zuteil gewordenen Detailkenntnisse der Verhandlungen am 9. und 10. Februar 1912 einzugehen, die zum Teil ja auch die englische Aktenpublikation über diese Periode verwerten. Wer sich für diese Einzelheiten interessiert, wird bei dieser Lektüre auf seine Kosten kommen. Liest man heute alle diese Publikationen, so kann man ob des Wirrwarrs über die Zahl der alten und neuen „Dreadnoughts", ihre Einreihung in die von Tirpitz vorbereitete Flottennovelle auf viele Jahre hinaus, über die Zahl der deutschen Mannschaften, über afrikanischen Kolonialbesitz, über kleinliche Differenzen bezüglich des portugiesischen Timor und der Bagdadbahn sowie vor allem des gegenseitigen Mißtrauens nur staunen. Eines ist gewiß: Diese so komplizierten Verhandlungen sind auf beiden Seiten nicht mit der gebotenen Ehrlichkeit und dem Willen zum Erfolg geführt worden. Die beiderseitigen Zielsetzungen waren allzu verschieden. Erinnern wir uns an das Wesentliche. Deutschland sollte freiwillig seinen Flottenausbau beschränken und England sollte als Gegengabe öffentlich einen Beweis seiner friedlichen Absichten und guten Willens geben. Die im englischen Kabinett maßgebenden Minister Asquith, Grey, Haldane und Churchill hatten ausdrücklich dieser Verhandlungsbasis zugestimmt. War hierüber eine Verständigung unmöglich? Woran ist sie gescheitert? Was lehrt ein Rückblick in die Geschichte?

Für meine Person komme ich zu folgenden Schlußfolgerungen: 1. Die Entsendung eines kompetenten Mitgliedes des englischen Kabinetts auf Grund von eingehenden Sondierungen, die eigentlich schon 1910 begonnen hatten, war vom englischen Standpunkt aus durchaus verständlich. Man wollte die Ausgaben für die Flotte einschränken, dabei jedoch eine ausreichende Überlegenheit über die deutschen Seestreitkräfte und vor allem die geheimen militärischen Abreden mit Frankreich (englisches Expeditionskorps nach Frankreich) und die freie Hand im Kriegsfälle, d. h. die Möglichkeit der

Deutschland forderte: „Sollte einer der hohen Vertragschließenden in einen Krieg mit einer oder mehreren Mächten verwickelt werden, so wird der andere Vertragschließende dem in den Krieg verwickelten Vertragschließenden gegenüber zum mindesten wohlwollende Neutralität beobachten und nach allen Kräften für die Lokalisierung des Konfliktes bemüht sein."

Die maßgebenden Mitglieder des englischen Kabinetts antworteten mit der Formel: „Da die beiden Mächte gegenseitig den Wunsch haben, Frieden und Freundschaft untereinander sicherzustellen, erklärt England, daß es keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen und sich einer aggressiven Politik gegen Deutschland enthalten werde. Ein Angriff ist in keinem Vertrage enthalten und in keiner Kombination vorgesehen, der England zur Zeit angehört, und England wird keiner Abmachung beitreten, die einen solchen Angriff bezweckt." 2. Trotz dieser schwierigen Verhandlungsbasis lehrt der Rückblick, daß die deutsche Politik einen großen Fehler beging, als sie die englische politische Formulierung als „nichtssagend" bezeichnete und ablehnte. Ihr Inhalt hätte für den Augenblick genügt. Sie hätte der Welt mitgeteilt, daß Deutschland und England miteinander in Frieden leben wollten. Zusammen mit einer geschickten Außenpolitik und ihren vielen Mitteln, „Freundschaft" zu zeigen, hätte sie 1914 Frankreich und Rußland nicht die praktische Gewißheit gegeben, daß England in einem europäischen Kriege an ihrer Seite kämpfen würde und hätte mit großer Wahrscheinlichkeit die weiteren geheimen Abreden Englands mit Frankreich 1912, mit Rußland sogar noch 1914 verhindert. Sie waren ja die Reaktion Englands auf das Scheitern der Haldane-Mission. Das wird oft vergessen. In Wahrheit kam es doch nicht darauf an, ob drei neue deutsche Dread-noughts 1913, 1915 und 1919 gebaut werden konnten und ob die deutsche Marinemannschaft vermehrt wurde (was ohne Schwierigkeit und Aufheben in der nächsten Etatberatung hätte geschehen können), sondern Englands bekannte Grundhaltung uns gegenüber zu verbessern. Mit andern Worten: Die deutsche Einstellung in den ganzen Verhandlungen war falsch. Wir mußten unsere auf unrichtiger Einschätzung der Machtverteilung in der Welt beruhenden Erwartungen zurückstecken, um das wirkliche große Ziel zu erreichen, das ebenso wie Deutschland einen Krieg scheuende England nicht noch fester an Frankreich und Rußland heranzuführen, die beide im Falle eines Krieges große Gewinne zu machen hofften. Ich wiederhole: Deutschland mußte trotz vieler Bedenken in dieser ausschlaggebenden Frage wenigstens den Versuch machen, in dieser Richtung seine Zukunft zu sichern. Die in der historischen Literatur oft erwähnte Tatsache, daß die Diplomatie beider Länder doch in den Balkankriegen 1912/13 so freundschaftlich zusammengearbeitet und daß das 25jährige Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II. im Jahre 1913 durch Anwesenheit so vieler Monarchen und sonstiger Vertreter europäischer Staaten einen so ungetrübten Frieden und Glanz ausgestrahlt hätte, hat natürlich nichts an dem grundlegenden und wahren Verhältnis der Staaten zueinander geändert. Der amerikanische Historiker Marder schrieb unlängst: „Now, the naval rivalry did not cause the war (1914), but it ensured, that when war broke out, Great Britain would be on the side of Germany's enemies."

Ein anderer Historiker, Michael Balfour, schrieb in seinem neuen Buch „The Kaiser and his times": „The navel rivalry did ensure, that when war broke out, Britain was on the side of Germany's enemies ..."

Das ist genau meine These 1912 gewesen und heute erst recht. Der große Irrtum der Leitung deutscher Geschicke (Kaiser, Bethmann, Tirpitz, Generalstabschef von Moltke, wechselnde Admiralstabchefs) hat darin bestanden, daß ihre Phantasie nicht ausreichte, sich einen Krieg vorzustellen, in den Deutschland durch das'sichtbar innerlich zersetzte ÖsterreichUngarn, dessen Balkanpolitik und Gegensatz zu Rußland gegen seinen Friedenswillen hineingezogen werden könnte, was nach den Ereignissen der letzten Jahre (1909) wirklich eine ständige Bedrohung des Friedens darstellte. Militärisch zu Lande gab es im Falle eines französisch-russischen Angriffs den leider verwässerten Schlieffenplan zur Offensive im Westen und Defensive im Osten. Getrennt davon hat der deutsche Admiralstab natürlich Überlegungen angestellt über das Erscheinen einer englischen Flotte in der deutschen Bucht, über enge oder weite Blockade etc., aber es gab keinen Gesamtplan, keine ausreichenden politischen und wirtschaftlichen Überlegungen und wirkliche Vorbereitung auf einen Krieg, wie er 1914 tatsächlich ausgebrochen ist. Niemals hat, soweit meine Kenntnis reicht, ein Kriegsspiel unter Vorsitz des Kaisers und Teilnahme aller zuständigen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Ressortchefs stattgefunden, das die Kardinalfrage zu beantworten hatte: Wie wird die Lage Deutschlands sein, wenn England an die Seite Frankreichs und Rußlands tritt? Das war ohne Zweifel ein schweres Versäumnis; aber es ist der beste Beweis dafür, daß Deutschland 1914 keinen europäischen Krieg gewollt hat, sonst hätte es sich auf einen solchen Krieg ganz anders vorbereiten müssen, als es in falscher Einschätzung seiner höchsten Interessen getan hat. 3. Weder 1914 noch bis zum heutigen Tage ist es mir verständlich geworden, daß der für die Führung der Reichsgeschäfte verantwortliche Reichskanzler von Bethmann Hollweg bei seiner Kenntnis aller Vorgänge der letzten Jahre, insbesondere der Gründe für das Scheitern der Haldane-Mission 1912, im Juli 1914 hoffen konnte, England werde nicht in den Krieg eintreten, als er über ÖsterreichUngarn, Rußland und Serbien auszubrechen drohte. Sein Versagen in der Julikrise 1914 auch dem Kaiser gegenüber ist vollkommen. Was man über ihn auch nachträglich in Tage-büchern oder sonstigen Dokumenten noch aufstöbern mag — ich weiß es: er wollte den Frieden retten, aber den österreich-ungarischen Bundesgenossen nicht verlieren. Die angebotene englische Vermittlung zugunsten einer europäischen Konferenz, das Rettungsseil, lehnte er anfänglich wegen des dadurch angeblich verletzten Prestiges der verbündeten Donaumonarchie ab. Als er sie endlich als einzige Möglichkeit, den Frieden zu erhalten, erkannte, war es zu spät. Die russische Lawine rollte an. Er war ein Unglückskanzler für Deutschland. 4. Haldane schrieb in seinen Erinnerungen:

„Wenn wir Deutschland besser verstanden hätten, würden wir es sowohl wie Frankreich und Rußland erfolgreich haben überreden können, untereinander zu einem besseren Verständnis zu kommen." Eine solche Äußerung wirft die schon berührte Frage auf, ob England die um die Haldane-Mission kreisenden Gespräche und Verhandlungen mit dem Willen zu einem für beide Mächte annehmbaren Ergebnis geführt hat.

Wie ich darlegte, waren die unter Leitung Sir Edward Greys nach 1906 getroffenen militärischen Geheimabmachungen mit Frankreich — Transport eines englischen Expeditionskorps nach Frankreich — nicht dem Gesamt-kabinett mitgeteilt, sondern lediglich mit dem Premierminister Asquith, dem Kriegsminister Haldane, Lloyd George und dem Marine-minister Churchill ausgehandelt worden. Sie blieben der Öffentlichkeit verborgen und waren auch in Deutschland einem kleinen Kreis oberer Stellen nur dadurch bekannt geworden, daß der deutsche Militärattache sie, gerade als ich wieder einmal in London war, in einer vergessenen Mappe zufällig in der Toilette eines Clubs gefunden hatte. So stand der nicht informierten öffentlichen Meinung in England eine solche in Deutschland gegenüber, die sich trotz aller Polemik nie ernstlich mit der Möglichkeit eines Krieges gegen die Kombination Frankreich—Rußland—England beschäftigte. Sehr vielen klugen und einflußreichen Leuten schien damals ein Krieg Deutschlands mit England undenkbar, und Bethmann, der Kanzler, der es hätte besser wissen müssen, gehörte trotz Schwankens auch in dieser Frage letzten Endes doch in dieses Lager. So hat in deutscher Sicht die Geheimpolitik Sir Edward Greys die Kriegs-gefahr vermehrt. Sie war ein schweres Hindernis für das Gelingen der Haldane-Mission. Gleichzeitig mit Frankreich geheim vereinbaren, wie beide Mächte sich im Kriegsfälle gegen Deutschland unterstützen würden, und nach außen mit Deutschland Freundschaft pflegen, nachdem dieses freiwillig seinen Flotten-bau zugunsten dieser Freundschaft verlangsamt hatte, wäre so etwas wie ein „Balanceakt auf schwankendem Drahtseil" gewesen. Er konnte keinesfalls Dauer haben. Man kann jedoch mit viel Berechtigung annehmen, daß ein deutsch-englisches Agreement von 1912 durch sein natürliches Schwergewicht in der öffentlichen Meinung beider Länder den weiteren Lauf der Dinge bis 1914 so geändert hätte, daß auch von deutscher Seite eine englische Aktion zur Vermeidung des Kriegsausbruchs willkommen geheißen und von Erfolg begleitet gewesen wäre. Ich wiederhole: Ein von Freundschaftsbezeugungen begleitetes Agreement von 1912 hätte nach allen seit dem Ersten Weltkriege bekanntgewordenen Dokumenten Petersburg zu größerer Vorsicht angehalten, als es durch die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn bezeigt hat, die den Krieg auslösen mußte. So enthält der Fehlschlag der Haldane-Mission nicht nur eine verpaßte Chance Deutschlands, sondern auch eine geschichtliche Mitverantwortung Englands für das große Geschehen in der Welt von 1914. Aber wahrscheinlich sieht die Außenpolitik Sir Edward Greys vor dem Ersten Weltkrieg in englischen Augen anders aus! 5. Der Verlauf der Ereignisse in den Jahren vor dem Ersten Weltkriege hat gezeigt, daß am 9. und 10. Februar 1912 einschließlich der ihnen folgenden Wochen die geschichtlich letzte Möglichkeit bestanden hat, die Verkrampfung des europäischen Bündnissystems zu lösen. Weil das nicht geschah, ist für mich als ehemaligem kaiserlichen Seeoffizier, der die Gefahr zu erkennen glaubte, das Scheitern des Flotten-Agreements oder jedenfalls des ernsthaften Versuchs, ein solches zu erreichen, das Verpassen der einzigen Möglichkeit, den Ersten Weltkrieg unter voller Aufrechterhaltung der deutschen Großmachtstellung zu vermeiden. Statt dessen bedeutet für mich das Scheitern der Haldane-Mission von 1912 die Stellung der historischen Weiche zum Untergang des Kaiserreichs durch einen Krieg gegen eine nicht zu besiegende Übermacht. Ich habe die hier dargelegten Ansichten und Urteile im Kern nicht nachträglich formuliert, sondern sie schon in der Jugend beruflich mit Energie verfochten. Beinahe wäre es mir damals vergönnt gewesen, an einer lebenswichtigen Entscheidung zugunsten Deutschlands mitzuarbeiten. Heute, nach fünfzig Jahren, zitiere ich traurig einen Vers des englischen Dichters Dryden, der auf die verpaßte Chance Deutschlands und vielleicht auch von England im Frühjahr 1912 paßt: „No man in all the world Upon the past has power, What has been, has been And you have had your hour."

II. Locarno-Vertrag und Rheinlandbesetzung

Ich habe vorher geschrieben, daß ich das Glück, hatte sowohl im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik dem jeweils fähigsten Mann in nachgeordneter Stellung jahrelang verbunden gewesen zu sein, über den Großadmiral von Tirpitz habe ich das ausgeführt, was in Verbindung mit der Haldane-Mission 1912 zu wissen notwendig ist. Nun will ich entsprechend mit Dr. Stresemann verfahren, welcher der Außenpolitik der Weimarer Republik, wie die Geschichte anerkannt hat, von 1923 bis zu seinem Tode 1929 seinen Stempel aufgedrückt hat. Er war der fähigste Politiker die-des Staates. Wenn es überhaupt einem einzelnen gegeben war, etwas Entscheidendes für die Außenpolitik der Weimarer Republik zu tun, so ist, abgesehen von Präsident Ebert in den ersten wirren Jahren, Stresemann der dafür an erster Stelle zu nennende Mann. Darüber ist schon vieles geschrieben worden und wird noch heute geschrieben. Ich beschränke mich hier auf die Schilderung, wie er auf dem Höhepunkt seiner Karriere, vor und während der Konferenz von Locarno 1925 zwar manches erreicht, aber die für Deutschland gegebenen Möglichkeiten in Verbindung mit der englischen Politik nicht voll ausgenutzt hat. Daß er selbst auch ohne nachträgliche dokumentarisch vorliegende Zustimmung zu meiner nun folgenden kritischen Bewertung der Locarno-Konferenz dieser am Ende seines Lebens im Grunde nicht fern stand, beweist am Lebensende seine „Enttäuschung über das Gesamtergebnis seiner Außenpolitik, so daß die wohl innerlich oft gestellten Fragen „hätte ich 1925 anders handeln sollen?" — „was habe ich in meinem Optimismus zu Unrecht erhofft?" sich eigentlich von selbst beantworten.

Zum Verständnis der ganzen Periode von Stresemanns Wirken möchte ich in aller Kürze Folgendes sagen.

Im November 1918 war Deutschland total besiegt, dazu von innerer Revolution erschüttert. Die Kriegsgegner hatten ihm dann im Art. 231 des Versailler Vertrages die alleinige Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914 zu Unrecht aufgebürdet und ein entsprechend hartes Friedensdiktat auferlegt. Kann es bei objektiver Würdigung der Ereignisse verwundern, daß zum mindesten eine große Mehrheit des deutschen Volkes, gestützt auf jahrhundertealte und stolze Tradition, sich mühte, „los von Versailles" zur „Souveränität" und zur „Freiheit" zurückzukehren, dabei gegen den falschen, aus dem Haß des Krieges geborenen Vorwurf der alleinigen Kriegsverantwortung von 1914 zu protestieren? Stresemann, patriotischer Nationalliberaler während der Kaiserzeit, gründete nach dem Zusammenbruch mit den Resten seiner früheren Partei und einigen Freikonservativen 1919 eine neue Partei, die Deutsche Volkspartei, und blieb ihr Chef bis zu seinem Tode. Ich mußte damals wegen persönlicher Intrigen seitens des konsularischen Reformators des Auswärtigen Amts den diplomatischen Dienst (1913 bis 1919) aufgeben und schloß mich, von Stresemanns nationaler und gleichzeitig durch Vernunft bestimmter Gesinnung angetan, begeistert seiner Deutschen Volkspartei an, wurde 1920 in den Reichstag gewählt und 1923 unter dem Reichskanzler Stresemann Staatssekretär in der Reichskanzlei. Natürlich blieb ich im Reichstag und als Genfer Delegierter Stresemann und seiner Gedankenwelt eng verbunden. In der Öffentlichkeit habe ich bis zu seinem Tode die Stresemannsche Außenpolitik im Grundsatz, nicht in allen Einzelheiten, mit aller mir zu Gebote stehenden Energie im In-und Ausland vertreten. i

Aus Hunderten von Gesprächen mit ihm wußte ich, daß es sein Ehrgeiz war, als „Rheinlandbefreier" in die Geschichte einzugehen, wozu für ihn natürlich auch das verwandte Ziel der Rückführung des Saargebietes in die deutsche Hoheit gehörte. Im Osten wollte er, gestützt auf die große Mehrheit des deutschen Volkes, den Danziger Korridor beseitigen in Form einer deutschen Verbindung durch Polen nach Ostpreußen, und dabei den deutschen Charakter Danzigs besser fundieren, als dies seitens des Völkerbundes geschehen war. Selbstverständlich gehörte zu diesem Programm die militärische Gleichberechtigung mit Frankreich, die Herabsetzung der deutschen Tributzahlungen, Reparationen genannt, auf ein mit der deutschen Leistungsfähigkeit zu vereinbarendes Maß, das zuallerst den notwendigen ausreichenden deutschen Lebensstandard gewährleistete. Mit einem Wort: Deutschland sollte unter den veränderten Verhältnissen in Aussöhnung mit Frankreich wieder eine souveräne Großmacht werden.

Dieses Ziel mußte in harter Auseinandersetzung mit Frankreich, das Stresemann im ver-trauten Kreise „den Würger" nannte, angepackt und gefördert werden. England war an dieser Auseinandersetzung wegen seiner Freundschaft mit Frankreich und als europäische Ordnungsmacht stets beteiligt. Es konnte in Stresemanns Augen eine nützliche Hilfestellung leisten, da, abgesehen von dem wegen seiner Kriegsschulden an die USA wichtigen deutschen Reparationsproblem, sein Interesse in Erinnerung an den von ihm kritisierten französischen Ruhreinfall in erster Linie auf die Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung als der Garantie friedlicher Zukunft gerichtet war.

In bezug auf Rußland hatte Stresemann von Anfang an die hochfliegenden Pläne des nun in Moskau amtierenden Botschafters Graf Brockdorff-Rantzau in der Richtung auf dessen „deutsch-russische Schicksalsgemeinschaft" ohne innere Anteilnahme verfolgt. Wir waren beide keine Bewunderer des zwielichtigen und recht arrogant auftretenden Diplomaten und waren erstaunt über die Wertschätzung, die ihm in der Öffentlichkeit zuteil wurde. Wohl aber war Stresemann in Erinnerung an Bismarck und neuerdings wegen des Rapallo-Vertrages gewillt, eine etwa gebotene Rücken-deckung gegen die französische Bedrohung voll auszunutzen. Seine Devise lautete: „Zwischen West und Ost das Beste für Deutschland herausholen."

Damit komme ich zur Vorgeschichte von Locarno. Nach dem, was ich vorher über Stresemanns „Programm" ausgeführt habe, war es nur natürlich, daß er nach vorläufiger, d. h. für die Dauer einiger Jahre durch Ausländsanleihen und Reduzierung der Summen erträglich gestalteter Regelung der Reparationszahlungen auf der Londoner Sommerkonferenz 1924 in Überlegungen eintrat, ob nicht in einer gebesserten internationalen Atmosphäre auch auf dem Gebiet der Rheinlandräumung eine Lösung, zum mindesten ein greifbarer Anfang, herbeigeführt werden könnte. Seine Ratgeber in dieser schwierigen Frage waren der englische Botschafter Lord d'Abernon einerseits, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt von Schubert mit dem von ihm auch in allen laufenden Tagesfragen durch Spezialdraht unzertrennlichen „Kronjuristen" Ministerialdirektor Dr. Gaus andererseits.

Für mich war es in dieser Übergangsperiode interessant zu beobachten, wie der so bewegliche Geist Stresemanns mehr und mehr von der traditionellen Atmosphäre des Auswärtigen Amts beeinflußt wurde. Seine Äußerungen in unserer Fraktion wurden, im Vergleich zu früheren Jahren, vorsichtiger und gemessener. Immer mehr stellte er den deutschen „Typ Minister" dar. Zweifellos ist seine Haltung bei den Verhandlungen vor und auch während der Konferenz von Locarno neben seinem damals noch ungebrochenen Optimismus in hohem Maße von der beruflichen Vorsicht seiner beiden Ratgeber Schubert und Gaus bestimmt worden. Leider zu Deutschlands Nachteil, wie ich jetzt über den wichtigsten und entscheidendsten Augenblick der Konferenz schildern werde.

Gewiß, die international vertraglich festgelegte Behinderung Frankreichs, noch einmal das Ruhrgebiet zu besetzen oder das Rheinland abzutrennen, bedeutete eine Verbesserung gegenüber 1923. Das vom Kaiserreich her zu fürchtende Bündnis Frankreichs mit England wurde durch ein Deutschland einschließendes Kollektivabkommen ersetzt. Aber die deutsche Hauptforderung mußte doch die Befreiung des Rheinlandes sein. Warum? Weil es unter französischer Besetzung ein Faustpfand war, um Deutschland mit dem Mittel der Reparationen wirtschaftlich so zu schwächen, daß sein Wiederaufstieg völlig von Frankreichs Gnade abhing.

Briand hat beim verspäteten Aufwerfen der Räumungsfrage in Locarno bewußt Theater gespielt. Er spielte den überraschten und behauptete, die Räumung des Rheinlandes sei eine „Sicherheitsfrage" und er könne doch jetzt so kurz vor dem Abschluß des Vertrages nicht die französischen Generäle nach Locarno zitieren, um über die militärische Sicherheit Frankreichs zu diskutieren. Nein, wir wissen aus zahllosen Dokumenten, ja aus Äußerungen des französischen Ministerpräsidenten Poincare selber, daß Frankreich das Rheinland als Druckmittel für künftige deutsche Zahlungen besetzt halten wollte. Auch wenn man berücksichtigt, daß Frankreich seinerseits durch seine Kriegsschulden an die USA in einer gewissen Zwangslage war, verliert mein Argument, daß in der Zielsetzung der Locarno-Verhandlung die Räumung des Rheinlandes zu kurz gekommen ist, nichts von seinem Gewicht. In den diplomatischen Vorbesprechungen hat Stresemann sich im Interesse ihres Fortschritts bereit gefunden, abgesehen von gelegentlichen tastenden Versuchen, sie ins Gespräch zu bringen, daß sie nicht auf das Programm der Konferenz gesetzt wurde. Er befürchtete mit einigem Recht, daß sich der von seinem Ministerpräsidenten unter scharfer Kontrolle gehaltene französische Außenminister Briand bei dem Stand der damaligen öffentlichen Meinung in Paris mit einer Tagesordnung „Rheinlandräumung" nicht zu einer Konferenz über eine europäische Friedensordnung bereit erklären würde.

Wir wissen heute, daß die Räumung des Rheinlandes später nur durch die Annahme des immer noch unerschwingliche Zahlungen von Deutschland fordernden Young-Planes erreicht wurde, der zusammen mit der Weltwirtschaftskrise und Rückforderung der Auslands-kredite die trostlose Situation von 1930/31 und den rapiden Aufstieg des Nationalsozialismus herbeiführte. Wäre die Rheinlandräumung in oder als Folge von Locarno („Rückwirkungen") erfolgt, hätte Deutschland den Young-Plan nicht anzunehmen brauchen. Jedenfalls wäre es nicht zu der katastrophalen Lage in den Jahren 1929/30 gekommen. Die ganze innere Entwicklung hätte einen anderen Lauf genommen, die große Rechtspartei der Deutschnationalen hätte weiter hinter der deutschen Außenpolitik gestanden, sie hätte die Naziwelle abgebremst, anstatt mit ihr zu paktieren, die Haager Konferenzen hätten unter einem für Deutschland sehr viel günstigeren Aspekt stattgefunden und Stresemann wäre bis zu seinem Tode ein „erfolgreicher" Außenminister gewesen. Das ist noch heute meine feste Überzeugung. Aber so ist es ja leider nicht gekommen.

Ich gestehe, daß wir in der Fraktion der Deutschen Volkspartei auf die Locarno-Planung Stresemanns so gut wie keinen Einfluß mehr hatten. Er war fast völlig in das Räderwerk der oberen Bürokratie des Auswärtigen Amtes und dabei vor allem unter den Einfluß des „Kronjuristen" Dr. Gaus gelangt. Mit internationalen Verträgen hatte er bisher nur am Rande zu tun.

Nun mußte in der Locarnoverhandlung der Hauptteil der Zeit unter russischem Druck auf die Vereinbarkeit des Art. 16 des Völkerbundpaktes mit dem im Falle eines russisch-polnischen Krieges möglichen Durchmarsch einer französischen Unterstützungsarmee für Polen verwandt werden. Darin erhielt Deutschland zugunsten Rußlands das Recht, einen solchen Durchmarsch nur dann zu gestatten, wenn er „mit seiner eigenen militärischen Lage zu vereinbaren wäre". Eine hochtheoretische typische Verschleierungsformel der in Wahrheit kategorisch von Moskau gestellten Forderung, einen solchen Durchmarsch keinesfalls zu gestatten. Sogar ich selbst, als außenpolitischer Sprecher der Deutschen Volkspartei, war vom russischen Außenkommissar Tschitscherin für wert erachtet worden, seine stundenlangen Vorträge über dieses Thema entgegenzunehmen. Mit entsprechender Vertragsakrobatik vergingen kostbare Tage. Andere Schwierigkeiten entstanden durch den nur mit Mühe abgewehrten Versuch Briands, dem polnischen Bundesgenossen durch ein „Ost-Locarno" dieselbe Vertragssicherung zu verschaffen, wie sie Frankreich durch das Versprechen englischen und italienischen Beistandes im Falle einer deutschen Aggression erhalten hatte. Wieder Hochkonjunktur für die Juristerei!

Und die Rheinlandräumung? Nachdem Dr. Luther mit Briand in direkter Unterhaltung vergeblich versucht hatte, durch Vorbringen des Begriffs „Rückwirkungen von Locarno" die Räumungsfrage doch noch zu erörtern und in der gleich zu erwähnenden Schlußsitzung der Konferenz ein entsprechender Versuch Stresemanns gleichfalls gescheitert war, drängte man allerseits auf den Abschluß der Konferenz. So kam der für die Zukunft Deutschlands entscheidende Augenblick heran: Sollten Luther und Stresemann „ne varietur", also endgültig, den Vertragstext ohne Räumung des Rheinlandes paraphieren?

Im sonst so vielseitigen dreibändigen Stresemann-Vermächtnis steht darüber nur ein Satz: „Wir (Luther und Stresemann) verständigten uns, zu unterzeichnen." Also hatte damals nicht einmal ein eingehendes Gespräch zwischen beiden über die Frage stattgefunden, was in Berlin die von den 104 Deutschnationalen beherrschte Regierung dazu sagen würde, daß in der Räumung nichts Entscheidendes erreicht worden und mit einer weiteren jahrelangen Anwesenheit französischer Truppen im Rheinland zu rechnen war! Hatte das Kabinett nicht als „Richtlinie" vorgeschrieben, nicht ohne „Rückwirkungen" (also Rheinland-räumung) zu unterschreiben? Beide Minister haben sich also in eigenem Entschluß über diesen Kabinettsbeschluß hinweggesetzt, obwohl sie über die Berliner Stimmung laufend unterrichtet wurden. über diese ziemlich verwirrten Vorgänge bringen die folgenden Unterlagen nach meiner Auffassung genügende Aufklärung:

Zunächst im Auszug ein Bericht des Protokoll-führers der deutschen Delegation, des Ministerialdirektors Dr. von Dirksen (1938/39 Botschafter in London), an mich über die Schlußsitzung der Konferenz: „Die Locarno-Verhandlungen vom Oktober 1925 litten von vornherein darunter, daß ihr Hauptgegenstand etwas Juristisches, Völkerrechtliches, Theoretisches war, nämlich die Formulierung einer Auslegung des Artikels 16 des Völkerbundpaktes, wonach bei gemeinsamen Völkerbundaktionen jedes Mitglied des Bundes sein Land für einen Durchmarsch der vom Völkerbund bestimmten Mächtekoalition öffnen und zur Verfügung stellen sollte. Damals fürchteten die Russen einen europäischen Aufmarsch der kapitalistischen Staaten. Außenkommissar Tschitscherin hatte noch am Abend der Abfahrt Stresemanns nach Locarno diesen geradezu beschworen, kein Abkommen zu unterzeichnen, nach dem Deutschland das Durchmarschland für eine Aktion gegen Sowjetrußland werden könnte. So hat sich das Tragische ereignet, daß die Erörterungen über eine entsprechende Formulierung geradezu die Hauptsache der Locarno-Verhandlungen geworden sind. Was aber hätte für Deutschland die Hauptsache sein müssen? Nichts anderes als die Räumung der besetzten Gebietet Hier hatte sich, bis vor kurzer Zeit unerwartet, für Deutschland die Möglichkeit ergeben, seine im Gegensatz zu Versailles nunmehr freiwillige Zustimmung zum Verzicht auf Elsaß-Lothringen und zum Einverständnis mit einer dauernden Entmilitarisierung des Rheinlandes gegen einen greifbaren positiven Vorteil auszuhandeln. Daß Deutschland selbst bestimmen sollte, ob es den Durchmarsch eines französischen Heeres gegen Rußland gestattet oder nicht, war etwas völlig Selbstverständliches für einen souveränen Staat. Die Verhandlungen darüber waren letztlich eine Täuschung, eine Fehlleitung, eine fiktive Rechtsakrobatik der in den Außenämtern der drei Länder Deutschland, Frankreich, England tätigen Kronjuristen und hatten nicht im entferntesten die Bedeutung, die ihnen beigemessen wurde.

Der deutsche Außenminister wußte natürlich, daß eigentlich die Räumung und nicht ein, vielleicht niemals praktisch werdendes Durchmarschrecht durch-Deutschland Gegenstand der Verhandlungen sein müsse. Aber das Juristische, die französische Verhandlungstaktik, die französische Formulierungskunst triumphierten — und Stresemann, umringt von seinen eigenen Beamten, vom politischen Genius unberührten Sachverständigen, verkannte die Gunst des Schicksals. Man hatte endlich die Formel über Artikel 16 gefunden. Schon wurde der Schlußtermin der Locarno-Konferenz festgesetzt. Am nächsten Tage war der Geburtstag der Gattin des englischen Außenministers. Eine Serenade von Schweizer Gesangvereinen war geplant, Mussolini für einen Tag nach Locarno eingeladen, und allerseits waren die Schlafwagenbillets zur Rückreise bestellt. Nun trat Stresemann, der über die kritischen Berliner Stimmungen — bei den Deutschnationalen und dem alten Reichspräsidenten — ständig durch Telephon und Sonderkuriere informiert wurde, mit gerötetem Antlitz energischer mit der Forderung hervor, es müßten auch die Auswirkungen des Locarno-Vertrages, das heißt genaue Termine für die Räumung des Rheinlandes, vertraglich festgelegt werden. Immer wieder war der schlaue französische Minister Briand ausgewichen, aber nun, kurz vor Abschluß der Verhandlungen, war die deutsche Räumungsforderung endlich ganz klar erhoben. Niemand sprach ein Wort.

Briand sah auf sein Blatt Papier vor sich und kritzelte Figuren darauf. Der englische Außenminister mit seinem berühmten vom Vater Joe ererbten Monokel blickte irgendwohin ins Leere. Drei Minuten lang herrschte bedrückendes Schweigen ..."

Sodann eine kürzlich erhaltene Mitteilung des heutigen Botschafters a. D. von Twardowski an mich, der als Beamter des Auswärtigen Amts der deutschen Delegation 1925 angehörte: „Ich war als Beamter des Auswärtigen Amtes Mitglied der Deutschen Locarno-Delegation und habe die Dinge aus nächster Nähe erlebt.

Ich kann feststellen, daß meine Ansichten und Beurteilungen über die dortigen Zusammen -

hänge sich weitgehend mit denen des Herrn von Rheinbaben decken. Vor allem, daß der Zeitpunkt dieser Verhandlung für Deutschland, weil zu früh, wahrscheinlich nicht günstig war und daß die diplomatischen Vorbereitungen bezüglich der deutschen Mindestforderung für einen Vertragsabschluß sich als nicht ausreichend erwiesen. Denn dieser Sicherheitspakt war wohl das letzte, was das ausgeplünderte Deutschland in der damaligen Zeit an politischen Zugeständnissen mit gutem Gewissen geben konnte. Rheinbaben stellt bei Behandlung der Unterzeichnung des Locarno-Protokolls mit dem endgültigen Vertragstext die Frage: Haben Luther und Stresemann sich nicht eigenmächtig über den Kabinettsbeschluß hinweggesetzt, ohne Zusicherung in der Frage der Rheinlandräumung den Vertrag nicht zu unterzeichnen?

Der Vertrag ist von den beiden deutschen Ministern am 18. Oktober 1925 im Rathaus von Locarno paraphiert worden mit der Klausel: Ne varietur. Aus eigener Anschauung kann ich dazu folgendes beitragen: Nachdem die deutsche Delegation den Entschluß gefaßt hatte, zu unterzeichnen, wurde noch einmal mit Berlin am 18. 10. vormittags telefoniert, um den Entschluß insbesondere dem stellv. Reichskanzlei Schiele, der als Führer der Deutschnationalen die wichtigste Figur im Kabinett war, mitzuteilen. Daraufhin ist das Kabinett in Berlin sofort zusammengetreten und gab ein Telefonat an die Delegation durch, nicht zu unterzeichnen, bevor eine nochmalige Stellungnahme des Kabinetts übermittelt sei.

Hierdurch kam die Delegation in Zeitdruck, da die feierliche Unterzeichnung im Rathaus von angesetzt war. Kurz Locarno für 15 Uhr vor 14. 30 Uhr begann der Fernschreiber im Quartier der deutschen Delegation das Telegramm aus Berlin aufzunehmen, dann trat eine längere Störung ein. Als der letzte Augenblick für die Abfahrt der Delegation gekommen war, lag das Telegramm nur im allerersten Anfang vor. Die Delegation fuhr ab, um die anderen nicht warten zu lassen. Ich wurde zurückgelassen, um den vollen Text des Telegramms sofort ins Rathaus zu bringen. Ich konnte erst 20 Minuten später mit dem Telegramm abfahren. Polizeiabsperrungen, die überwunden werden mußten, brachten weitere Verzögerungen.

Als ich schließlich den Konferenzsaal betrat, kamen mir Chamberlain, Luther, Stresemann und Briand eifrig sprechend und zufrieden lächelnd entgegen, und als ich Stresemann das Telegramm etwa mit den Worten gab: Ohne Zusicherungen in der Rheinlandfrage nicht unterzeichnen', zuckten die beiden deutschen Hauptdelegierten mit den Achseln und sagten: , Wir haben bereits unterzeichnet.'

Ob Luther oder Stresemann das Fernschreiben, das ja nur in diesem Exemplar existierte, an sich genommen hat, weiß ich nicht. In den Akten des Auswärtigen Amtes ist der Wortlaut bisher nicht auffindbar.

Es ist aber ohne jeden Zweifel, daß Luther und Stresemann den Locarno-Vertrag ohne die Billigung des Kabinetts unterzeichnet haben."

Und schließlich in deutscher Übersetzung der sehr anschauliche Bericht des englischen Außenministers Sir Austen Chamberlain in seinem Erinnerungsbuch „Down the Years" (1935): „Die letzten Schwierigkeiten waren beseitigt, die Paraphierung der Verträge war für den nächsten Morgen geplant, als ich eine Nachricht empfing, daß der Kanzler Luther und Dr. Stresemann mich zu sprechen wünschten und darum bäten, daß ich Briand zur Teilnahme an dieser Besprechung bitten möchte. Wir trafen uns, und vier Stunden lang wiederholten wir eine schon oft durchgeführte Unterhaltung. Wir konnten keinen Fortschritt erzielen, wir hatten unsere äußersten Konzessionen gemacht. Reparationen und Räumung (Rheinland) standen nicht auf dem Programm der Konferenz. Um 10 Uhr brachen wir auf, erschöpft durch das Wiederaufleben peinlicher und schwieriger Diskussionen, nachdem wir gehofft hatten, daß eine endgültige Verständigung erreicht war. Erst später hat Stresemann das Rätsel gelüftet. Der Kanzler hatte ein Telegramm von einigen seiner Ministerkollegen in Berlin erhalten, in dem beiden Ministern untersagt wurde, irgend etwas zu unterzeichnen, ehe sie den Vertragstext mit dem deutschen Kabinett besprochen hätten. Wären sie dieser Verpflichtung gefolgt, hätten sie alle Chancen für einen Erfolg zerstört, denn ein Auseinandergehen ohne Verständigung hätte eine Verständigung in Zukunft noch schwieriger gemacht. Als der Kanzler dieses Telegramm las, so erzählte Stresemann später, verbarg er sein Gesicht in seinen Händen. Zwei Minuten lang saß er so schweigend, dann erhob er plötzlich seinen Kopf und sagte: Sage ihnen, sie sollen nach Jericho gehen — ich werde trotzdem paraphieren.'"

Ich glaube, ich kann jetzt dazu übergehen, ähnlich wie ich das bezüglich der Haldane-Mission 1912 getan habe, die Locarno-Konferenz 1925 aus der Verwirrung von Propaganda, „make believe" und Parteiparolen der damaligen Zeit herauszunehmen und sie im geschichtlichen Rückblick zu beurteilen: 1. Wenn die Stimmen recht haben, die meinen, Paris wäre 1925, so kurz nach dem Ruhreinfall, noch nicht „reif" für eine Revision von Versailles gewesen und Briand nur ein vom Idealismus ermunterter Vorreiter künftiger Möglichkeiten, dann war eben Locarno 1925 noch zu früh und der durch diesen Vertrag vorbereitete Eintritt Deutschlands in den Völkerbund ebenfalls vorzeitig erfolgt, was der damalige tüchtige sozialdemokratische Gesandte Müller in Bern warnend immer wieder betonte. 2. Die Rheinlandräumung, auch eine Räumung etwa nur der zweiten französischen Zone, konnte 1925, wenn überhaupt, nur mit Hilfe einer positiven Aktion Englands erreicht werden. Die Räumung der ersten Zone um Köln war nach dem Versailler Vertrag 1925 fällig. Als sie am 1. Dezember 1925, am Tage der Unterzeichnung des Locarno-Vertrages in London, tatsächlich erfolgte, war das also keine Konzession, die mit Locarno zu tun hatte. (Ich weiß natürlich, daß sie von vielen englischen Historikern trotzdem als solche betrachtet wird, weil gewisse Punkte der Abrüstungsklauseln angeblich immer noch nicht zur Zufriedenheit der Sieger geregelt waren.

Aber hier muß ich klar widersprechen. Die 1925 fällige Räumung der nördlichen Zone war wohl das mindeste, was Deutschland in einem so hoch gelobten „Friedensvertrag" verlangen konnte; es war in geschichtlicher Betrachtung keineswegs ein Gegenstück zu dem, was Deutschland in Gestalt eines dauernd entmilitarisierten Rheinlandes auf sich genommen hatte.) Zum Verständins der englischen Haltung muß man Folgendes wissen: Sir Austen Chamberlain war am Anfang der Vor-verhandlungen gegen jede englische Zusammenarbeit mit Deutschland gewesen. Er ist erst durch eine Mehrheit des englischen Kabinetts auf den Kurs nach Locarno eingeschwenkt, war aber innerlich so für Frankreich und gegen Deutschland eingestellt, daß von ihm keine Anregung zugunsten Deutschlands zu erwarten war. Trotzdem mußte sich die deutsche Politik zu Beginn der englischen Unterstützung in der Räumungsfrage versichern. Wurde diese nicht gegeben, mußte die deutsche Politik so lange warten, bis sie erfolgte. Die Hoffnung auf eine Revision des Versailler Vertrages allein aus einem Entschluß Frankreichs war eine Illusion. 3. Der Versuch der deutschen Delegation, ohne englische Unterstützung in der Räumungsfrage ein Nachgeben Frankreichs zu erzielen, war nur in der Form möglich, daß er in einem überlegten Zusammenspiel zwischen der Delegation in Locarno und dem Kabinett in Berlin erfolgte. In diesem Sinne war die Anwesenheit des Reichskanzlers Dr. Luther in Locarno falsch. Er hätte in Berlin die große Rechtspartei der Deutschnationalen beeinflussen müssen, während der Konferenz selbst zu prüfen, ob ein Eingreifen in die Verhandlungen durch Stellen der Räumungsforderung geraten bzw. möglich wäre. Ein solches Zusammenspiel zwischen einer Verhandlungsdelegation und der verantwortlichen Regierung zu Hause ist keineswegs, etwas Außergewöhnliches und wird bis zum heutigen Tage eifrig als Mittel benutzt, bestimmte Ergebnisse zu erzielen. 1925 ist es aus kleinlichen Parteiintrigen — der „härtere" Luther sollte angeblich den „weicheren" Stresemann kontrollieren — unterblieben. Im Gegensatz zu manchen Kritikern meiner Ansicht in dieser so wichtigen Frage bin ich noch heute überzeugt, daß äußerstenfalls die deutsche Delegation in der Schlußsitzung der Konferenz das Berliner Kabinett als entscheidenden Faktor zur Aktion bringen mußte.

Wenn Luther/Stresemann nach Ablehnung der Räumungsforderung in Locarno eine Unterbrechung erzwungen hätten, wäre sicherlich eine sogenannte „internationale Krise" entstanden mit möglichem Ministersturz in Paris und aufgeregten Artikeln der sogenannten „Weltpresse". Aber wäre das denn ein so großes Unglück für Deutschland geworden?

Alle Wahrscheinlichkeit spricht dagegen.

Deutschland hatte in Locarno so große Verständigungsbereitschaft gezeigt und einschließlich des Eintritts in den Völkerbund, wo es von Frankreich und England dauernd kontrolliert werden sollte, so große Konzessionen gemacht-, daß zumindest in den angelsächsischen Ländern das Streben nach Vermittlung und Kompromiß sehr bald begonnen und Frankreich zugunsten der deutschen Forderung unter Druck gesetzt hätte. Warum? Weil eine solche Politik im britischen Interesse gelegen hätte. Und weiter: Nicht nur England allein, sondern das Gefühl der Angelsachsen in der ganzen Welt für fair play hätte nach kurzer Unterbrechung zu einer neuen Initiative geführt, deren Druck sich Frankreich schwerlich hätte entziehen können. 4. Ohne solchen „Druck" hat Frankreich auf Grund eigener Willensbildung in den Weimarer Jahren niemals auch nur die geringste Konzession gemacht. Das hatte sich ja noch kurz zuvor auf der Londoner Reparationskonferenz gezeigt. Ohne sanften Druck der englischen Politik und den sehr viel härteren der amerikanischen Bankiers wäre es nicht zum „Dawesplan" gekommen. Und überhaupt lehrt die Geschichte, daß kein „Sieger“ ohne Druck von außen und ohne irgendwelche Ereignisse, die seine internationale Position verändern, zum Entgegenkommen bereit ist, obwohl es bis heute immer noch viele Illusionisten gibt, die anders denken. Im Endergebnis hätte eine von uns herbeigeführte Krise 1925 ganz einfach einen Erfolg, d. h. mit größter Wahrscheinlichkeit eine erste Revision des Versailler Vertrages durch vorzeitige Räumung des Rheinlandes, gebracht und damit die Möglichkeit, dem deutschen Volk die Stresemannsche Außenpolitik der europäischen Verständigung in einem ganz anderen Lichte zu präsentieren, als dies die „Jahre der Enttäuschung" 1927 bis 1930 getan und den Auf-stieg des Nationalsozialismus ermöglicht haben. 5. Die 107 Nationalsozialisten nach den Reichstagswählen von 1930 waren eine direkte Folge des Ausbleibens der „Rückwirkungen" von Locarno. Offener Kampf um den freien Rhein wäre eine „große Entscheidung" Stresemanns gewesen. Aber was hatte er in seinem Brief an den Kronprinzen im September 1925, also kurz vor Locarno, geschrieben, als er ein Buch über den österreichisch-ungarischen Kanzler Metternich gelesen hatte: „Finassieren und den großen Entscheidungen ausweichen!" Danach hat er auch in Locarno gehandelt. Ich bin aus nächster Zusammenarbeit mit Dr. Stresemann gewiß unter denen, die seiner Lebensarbeit nach 1918 höchste Achtung zollen. Ich habe mich ihr aus voller Überzeugung angeschlossen und gerade, weil ich seine Fähigkeiten kannte, komme ich zu dem Schluß, daß er die in dieser wichtigsten internationalen Konferenz der Weimarer Ära für Deutschland enthaltenen Möglichkeiten zur Befreiung des Rheins nicht ausgenutzt hat. 6. Es ist mir bekannt, daß es viele Anhänger der sogenannten „Stresemannschen Außenpolitik" gibt, die der Ansicht sind, jedes energische Entgegentreten gegen den die Räumungsdebatte ablehnenden Briand hätte diesen großen „Friedenskämpfer" gestürzt und ernsthafte Schwierigkeiten in Paris verursacht. Diesen „Locarno-Enthusiasten" entgegne ich, daß die englische Politik 1925 das deutsche Problem so wenig erkannt hat, daß sie nicht einmal einen ernstlichen Versuch unternommen hat, die französische Starrheit zu überwinden. Ohne Rheinlandräumung vor den Terminen des Versailler Vertrages bekam nach 1925/26 Stresemanns Außenpolitik mehr und mehr bis weit in Kreise der Linken hinein den Stempel der Erfolglosigkeit. Bis etwa 1928 und den damaligen Reichstagswahlen gelang es dem unermüdlichen Außenminister, mit immer mehr künstlich zur Schau getragenem Optimismus die Hoffnung auf die so oft zitierten „Rückwirkungen von Locarno" aufrecht zu erhalten. Dann wurde es 1929 klar, daß die weitere Rheinlandbesetzung von Frankreich mit englischer Billigung dazu benutzt werden sollte, um weiterhin unerfüllbare Reparationsforderungen an Deutschland zu erzwingen. Damit begann gleichzeitig mit dem Tode Stresemanns die letzte deutlich vom Unheil gezeichnete Etappe der Weimarer Republik. 7. Kurz vor seinem Tode wurde Stresemann, wie er mir 1929 auf dem Krankenlager eines Sanatoriums selbst erzählte, vom Bewußtsein gequält, in Locarno nicht das erreicht zu haben, was das oberste Ziel seiner Politik gewesen war. Er wußte auch, daß nun der herankommende, immer noch unerfüllbare Young-Plan erneut Deutschland schwerste Prüfungen auferlegen würde. Sein von Krankheiten geschwächter Körper hat sicherlich manche politischen Aktionen beeinflußt und konnte zuletzt nur durch äußerste Willensenergie am Leben erhalten werden.

8. Stresemann erzählte mir etwa 1928, Sir Austen Chamberlain habe ihm gegenüber von einer „shabby solution" in der Rheinland-frage gesprochen, von „schmutzigen Händen Englands" und „schlechtem Gewissen". Und was sagte Stresemann selbst dazu? Er war am Ende seines Lebens tief enttäuscht über die ausgebliebenen Erfolge des „esprit de Locarno" und insbesondere über die Rolle Englands dabei. In der ganzen historischen Literatur gibt es nichts Besseres zum Beweis für diese Behauptung, als sein Interview mit dem damaligen diplomatischen Journalisten Bruce Lockhart, das dieser 1929 in seinem Buch „Retreat from Glory“ abgedruckt hat. Es ist „die Wahrheit in der Nußschale" und lautet:

Stresemann: „Das Schicksal der Republik hängt eng mit einer versöhnlichen Politik der Verbündeten gegenüber Deutschland zusammen ... Nach dem (ersten) Weltkriege wurde es mir klar, daß die alte Ordnung der Dinge für immer dahingeschwunden war. Ich habe ehrlich auf Frieden und Versöhnung unter den Völkern Europas hingearbeitet — ich habe eine deutsch-französisch-englische Verständigung gefördert, 80 Prozent der deutschen Bevölkerung hatte ich für meine Politik gewonnen — ich habe Deutschland in den Völkerbund geführt — ich habe Locarno unterzeichnet, ich habe gegeben, gegeben und immer wieder gegeben, bis sich meine Landsleute gegen mich gewandt haben. Hätte ich nach Locarno ein einziges Zugeständnis erhalten, so würde ich mein Volk überzeugt haben. Ich könnte es noch heute, aber ihr Engländer habt nichts gegeben und die einzigen Zugeständnisse, die ihr gemacht habt, sind immer zu spät gekommen — in Privat-gesprächen sind die englischen Diplomaten und Minister freundlich und freigiebig mit Versprechungen, aber vor der Welt, in Genf und überall sonst, stellen sie sich in Reih und Glied mit den Franzosen — nur Geduld sagen sie, und alles wird gutgehen, aber können sie denn nicht sehen, daß mir hier der Boden unter den Füßen weggleitet — Sir Austen Chamberlain hat bewußt oder unbewußt durchaus Frankreichs Spiel gespielt — er ist ein Gentleman und meint es gut, jawohl, aber in den letzten zehn Jahren hat Europa unter wohlmeinenden Gentlemen zu leiden gehabt — jetzt bleibt nichts mehr übrig als die rohe Gewalt — die Zukunft liegt in den Händen der jungen Generation — die Jugend Deutschlands, die wir für den Frieden und für das neue Europa gewinnen konnten, haben wir beide verloren — das ist meine Tragik und eure Schuld ..."

Bruce Lockhart: „Ich weiß, daß Stresemann das wollte, was jeder vaterlandsliebende Deutsche will: ein starkes, glückliches Deutschland, aber ich glaube, daß er bereit war, dieses auf den Grundfesten eines neuen Europa zu erbauen, für das ja Millionen von Menschen ihr Leben hingegeben haben. Es lag in vielem, was er gesagt hatte, eine tiefe Wahrheit. In der Tat: Eine auf Furcht und Gewalt begründete Politik kann immer nur eines zur Folge haben. Nicht einmal der Nützlichkeitsstandpunkt vermag sie zu rechtfertigen. Früher oder später mußte sie zum Kriege führen. Fast 11 Jahre waren seit dem Krieg verstrichen, und statt daß sie gelöscht worden wären, war man nun dabei, die glimmenden Funken des Hasses von neuem zu flammender Glut anzufachen ... Die Nachkriegspolitik gegen Deutschland hatte ebensowohl der Großmut entbehrt wie des Wohlwollens . . . Das neue Europa bröckelte zusehends auseinander, der bewaffnete Siegfrieden hatte aus dem Völkerbund ein Spottgebilde gemacht, hatte Gefühle des Grolls erweckt, die tiefer saßen als die vom Kriege aufgewühlten. Er war im Begriff, die deutsche Republik zu zerstören. Deutschland war eine schwärende Wunde. Die edelsten Früchte des menschlichen Geistes: Friede als Wirkung aufgeklärter Sinnesart, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und fair play, Demokratie, Freiheit der persönlichen Meinung — all das hatte man ungeerntet dahinfaulen lassen, der gesunde Menschenverstand war verlorengegangen . . . Zweifellos würden die Franzosen gegen die Deutschen Vorwürfe erheben, und wenn es abermals zum Zusammenstoß käme, würden sie selbst sich mit Genugtuung einreden, daß ihre Politik der starken Hand voll gerechtfertigt worden sei. Zweifellos würden auch in kommenden Jahren Geschichtsschreiber die Frage erörtern, ob ein anderer Friede, eine andere Politik das demokratische Regierungssystem in Deutschland auf feste Grundlagen gestellt haben würde. Es war das eine Frage, in der nie ein schlüssiger Beweis würde geführt werden können. Aber im innersten Herzen wußte ich, daß der deutschen Republick niemals faires Spiel gewährt worden war. So sehr ich mich auch bemüht habe, den Standpunkt der Franzosen zu begreifen, so war ich doch nie imstande, die Logik ihrer fürchterlichen Unbeirrbarkeit hoch zu bewerten. Ich wußte so gut wie jeder andere, daß es in Deutschland Militaristen gab, unversöhnliche Militaristen, die die Herrschaft durch das Schwert wieder aufzurichten wünschten.

1919 waren sie in Mißkredit gekommen, aber seit Versailles hat Frankreich niemals aufgehört, ihr Spiel zu spielen. Irgendein Verhängnis schien es dahin zu treiben, daß Frankreichs Furcht und Deutschlands Angriffswille in tragischer Vereinigung Böses wirken müßten. Diese Stimmung einzudämmen, war der europäischen Diplomatie nicht gelungen. Sie hatte die Zeit, ihre Willenskraft und ihren Verstand darauf verwandt, öde Formeln zu ermitteln und eine endlose Reihe von Flickwerk-Verträgen auszuhecken, die günstigenfalls eine vorübergehende Vertagung der Sorgen mit sich brachten und oft schon überholt waren, ehe ihr Abschluß erfolgt war. Sie standen außer jeder Beziehung zu den Grund-richtlinien der europäischen Politik: entweder deutsch-französische Verständigung oder, früher oder später, ein unvermeidlicher Krieg." „Der schon vom nahen Tode gezeichnete Stresemann hat 1929 die Zukunft richtig vorausgesehen. Das Ausbleiben eines Erfolges in der Rheinlandräumung bei Vertragsabschluß von Locarno und in den Jahren, die ihm folgten, hat in Verbindung mit beginnender Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit dem Nationalsozialismus eine breite Tür zum Vormarsch auf die Machtübernahme geöffnet. Große Teile insbesondere der Jugend verstärkten deshalb die Scharen des Abenteurers aus Braunau.

Stresemann, der Mann ohne Glück und Erfolg, muß fort. Das war ihre Parole. Die 1930 endlich zugebilligte Rheinlandräumung mußte Deutschland mit einer auf weitere Jahrzehnte festgelegte Kriegsentschädigung, dem immer noch unerfüllbaren Youngplan, erkaufen. Sie verlor dadurch jede Wirkung auf die verhängnisvolle innerdeutsche Entwicklung. Der Rhein wurde frei, nicht auf Grund europäischer Verständigung, sondern als Ergebnis einer Erpressung des machtlosen Deutschland durch die Siegermächte. So wirkte das Ergebnis der beiden Haager Konferenzen 1929/30 auf im-mer größere Teile des deutschen Volkes, als Stresemann begraben war."

9. Ein abschließendes Wort über die Mitwirkung Dr. Luthers in Locarno. Mit ihm war ein fähiger Finanzminister ein umstrittener Reichs-kanzler geworden. Obschon dieser mir vor seinem Tode erzählte, daß er beabsichtige, über seine Mitwirkung in Locarno Aufzeichnungen für die Nachwelt zu hinterlassen, ist das nur in einer kurzen Broschüre geschehen, in denen er von der letzten Etappe der Locarno-Konferenz, also der Verweigerung der Räumung, schrieb, sie habe den „Todeskeim in die Locarnopolitik gesenkt".

In den Stresemannschen Erinnerungen kann man lesen, er habe Locarno wie ein „geschlagener Mann" verlassen. So beweist auch Luthers Rückblick auf die sonnige Konferenz am Lago Maggiore die Zweifel, ob er 1925 richtig gehandelt hat. Die Erklärung dafür ist einfach: Luther wußte, daß er gegen den ausdrücklichen Willen der stärksten Regierungspartei gehandelt hatte! In einer freundschaftlichen Korrespondenz schrieb er mir: „Wenn man aus dem Rathaus kommt, ist man immer klüger." Meine These: Mindestens hätten die beiden Minister den Versuch zur Erzielung eines besseren Ergebnisses in der Räumungsfrage machen müssen. Sie wußten beide genau, daß die öffentliche Meinug bei uns kein Interesse für ein verklausuliertes Vertragswerk über die Bedeutung des Artikels 16 des Völkerbundpaktes hatte, sondern einen entscheidenden Fortschritt in der Rheinlandräumung erwartete. Diese Forderung wurde am stärksten in der ausschlaggebenden Partei der Deutschnationalen erhoben, und hier hatten sie nach meiner Ansicht durchaus recht. Also mußte doch zum mindesten eine „Aktion" in dieser Richtung erfolgen, anstatt sich mit Briands Ablehnung zufrieden zu geben und mit Hoffnungen zu trösten.

10. Im Jahre 1927 schrieb ich in meinem Buch „Von Versailles zur Freiheit" unter dem Eindruck der damals fühlbaren Krise der Locarnopolitik folgende Sätze: „Der Anlauf von Locarno war ganz gewiß nicht vergeblich, aber wir fühlen die Unvollkommenheit seiner Ergebnisse ... Was wir ... versäumt haben, liegt klar auf der Hand. Viel mehr als die Paraphierung der Verträge war die Unterschrift am 1. Dezember 1925 (in London!) entscheidend für die . Auswirkungen von Locarno', ohne welche die ganze Politik dieses Jahres ihren Sinn verlieren mußte. Hätten wir in richtiger Erkenntnis der Bedeutung jener Wochen anstatt, wie es die Deutschnationalen durch ihre Flucht aus dem Kabinett taten, die Regierung zu schwächen, einheitlich die deutsche Unterschrift von positiven Garantien in bezug auf loyale Durchführung der Locarnopolitik abhängig gemacht, dann wäre dem Rheinland und uns selbst besser gedient gewesen. So hat sich leider ... in der Gesamthaltung die französische Politik Deutschland gegenüber ausweichend und unloyal erwiesen und die englische hat aus weltpolitischen Interessen im großen und ganzen die deutsch-französischen Dinge dahin treiben lassen, wohin Poincare (französischer Ministerpräsident) sie haben wollte." 11. Meine letzte, aber wichtigste Feststellung ist diese: Es gibt wohl wenige internationale Konferenzen in der Weltgeschichte, bei denen, wie in Locarno, weitgehender Beifall im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Zeitgeschehen sich in der Folge als geschichtlicher Wendepunkt nicht nur für die hauptbeteiligte Macht, Deutschland, zum Schlimmen ausgewirkt hat. Nicht nur Deutschland hat hier seine Stunde verpaßt, sondern auch England und mit ihm sein Weltreich. Es glaubte, an der Sicherung des Friedens beteiligt zu sein, und sein Außenminister Sir Austen Chamberlain erhielt den Friedens-Nobelpreis für die aktive Mitarbeit an einem Vertrag, dessen Versäumnisse in der Folge dem Nationalsozialismus den Weg zur Macht öffneten. Das war das zweite schicksalgestaltende Zusammentreffen deutscher und englischer Politik in der neueren Geschichte, das hätte Gutes schaffen können, aber das Böses vorbereitete. Chamberlain „liebte Frankreich wie eine Frau". Aber gibt es nicht auch in der Liebe zu einer Frau Augenblicke, in denen der Mann ein Machtwort sprechen muß? England wollte, wie ich schon sagte, eine deutsch-französische Aussöhnung. Es wollte aber auch ein enges Zusammenrücken zwischen Deutschland und Sowjetrußland verhindern und es lehnte es ab, sich an Bindungen Deutschlands gegenüber Polen zu beteiligen, wodurch deutsche Hoffnungen auf friedliche Revision der Grenzen im Osten zerstört wurden. Es fehlte ihm jedoch die Phantasie oder der Willen sich vorzustellen, daß eine Befriedung Europas mit dem Locarno-Vertrag schon wegen der unerfüllbaren Reparationsbelastung Deutschlands keineswegs hergestellt war, die von Frankreich bewußt durch die fortdauernde Rheinlandbesetzung als Faustpfand untermauert wude. So bekamen die hochtönenden Parolen von Locarno und dann von Genf, geschichtlich bewertet, einen hohlen Klang. Die Demütigung, Schwächung und Verarmung Deutschlands im Versailler Vertrag von 1919 konnten mit solchen Mitteln nicht in eine dauernde Friedensordnung verwandelt werden. Jedes große Volk der damaligen Welt hätte im Falle eines nationalen Tiefstandes nach einer Revision bedrückender Verträge gestrebt. Bei Unterzeichnung des Locarno-Vertrages in London erklärte Stresemann: „Ich sehe in Locarno nicht eine juristische Konstruktion politischer Gedanken, sondern ich sehe in dem Werke von Locarno die Basis einer großen Zukunftsentwicklung." Und was waren seine letzten Worte im zitierten Interview mit Bruce Lockhart in der Enttäuschung über die bis 1929 tatsächlich eingetretene Entwicklung?: „Jetzt bleibt nichts mehr übrig als die rohe Gewalt — die Zukunft liegt in den Händen der jungen Generation — die Jugend Deutschlands, die wir für den Frieden und für das neue Europa hätten gewinnen können, haben wir beide verloren — das ist meine Tragik und eure (englische) Schuld ..."

Aus meinem Miterleben dieser Ereignisse komme ich somit im Rückblick abschließend zu dem Ergebnis, das Locarno 1925 den Untergang der Weimarer Republik eingeleitet hat — es war sozusagen „die erste Etappe" zu ihrem Untergang. Die deutsche Seite hat Fehler gemacht und hat sich in Optimismus falschen Hoffnungen hingegeben — die englische Seite hat nicht erkannt, daß nicht nur die internationale Entwicklung, sondern auch das eigene Interesse das volle Gewicht Großbritanniens zugunsten der Rheinlandräumung forderte. Nur England wäre 1925 und danach imstande gewesen, die französischen Pläne hinsichtlich der Zukunft Deutschlands so zu ändern, daß Konsolidierung und Frieden in Europa einkehrten.

Schlußwort

„La Grande Bretagne est une ile et si je vous ai dit cela je vous ai dj raconte toute son histoire." So begann der berühmte französische Historiker Michelet seine Geschichte Englands. Deutschland liegt in der Mite des europäischen Kontinents mit offenen Grenzen. Es hat eine wechselvolle 1100jährige Vergangenheit und mußte in den jüngeren Jahrhunderten immer wieder Invasionen erdulden, die sein Geschichtsbewußtsein entscheidend geprägt haben. Nachdem es unter einem genialen Staatsmann am Ende des 19. Jahrhunderts als Nation geeint worden war, trat es in die Reihe der großen Mächte, die damals bereits das „Zeitalter des Imperialismus" eröffnet hatten. So ergab sich für das neue Reich das Problem, ob es sich am imperialistischen Machtbereich beteiligen oder als reine Kontinentalmacht verharren sollte. Der ungeheure Aufstieg von Wirtschaft und Technik wies gebieterisch den Weg nach draußen. Damit begann eine Periode der Gefährdung, da sein eignes Bündnis-system dem seiner Gegner und Neider weit unterlegen war. Um seinen Bestand als Reich für eine lange Dauer zu sichern, hätte es nach der Jahrhundertwende nicht zwischen West und Ost stehen dürfen, sondern mußte sich für West oder Ost als Rückhalt entscheiden, d. h. für England oder Rußland. Beide Orientierungen enthielten Risiken und Konflikt-möglichkeiten, aber keine hätte seinen nationalen Bestand in Frage gestellt. Diese fundamentale Erkenntnis, die letzten Endes schon durch seine geographische Lage geboten war, nicht rechtzeitig erworben zu haben, ist nach der Erfahrung meines Lebens die eigentliche Tragik der neueren deutschen Geschichte. Sie hat ihren Ablauf weitgehend bestimmt. Gegen sie verblassen aller Fehler und Irrtümer, welche die kaiserliche Außenpolitik nach Bismarcks Abgang begangen haben mag.

Fussnoten

Weitere Inhalte

WernerFrhr. vonRheinbaben, geb. 19. November 1878 in Schmiedeberg/Schlesien, 1895— 1919 Marineoffizier, 1913— 1919 im diplomatischen Dienst, 1920— 1930 Mitglied des Reichstages (DVP), 1923 Staatssekretär der Reichskanzlei, 1926— 1933 deutscher Delegierter beim Völkerbund. Veröffentlichungen u. a.: 4 X Deutschland, Berlin 1954; Auf dem Wege zum Monte Veritä, Zürich — Freiburg 1958; Erlebte Zeitgeschichte, Hannover 1964.