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Rechtsstaatlichkeit und Demokratie | APuZ 21/1965 | bpb.de

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APuZ 21/1965 Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Kommunale Selbstverwaltung und politische Bildungsarbeit

Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Ewald Bucher

Erstmalig in der deutschen Verfassungsgeschichte erwähnt das Grundgesetz ausdrücklich den Begriff „Rechtsstaat". Es bestimmt in Artikel 28: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen." Diese Grundsätze des Rechtsstaates gelten nach dem Sinnzusammenhang des gesamten Grundgesetzes, insbesondere nach der Rechtsstaatsklausel in Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind, auch für den Bund. Auch die parlamentari-schen Gesetzgeber sind daher nicht absolut und allmächtig, sondern an die verfassungsmäßige Ordnung und daher an die Grundsätze des Rechtsstaats gebunden.

1. Welches sind die Grundsätze des Rechts-staats? 2. Ist der Begriff „Rechtsstaat" an eine bestimmte politische Idee oder an eine bestimmte Verfassung gebunden?

3. In welcher Weise ist die Rechtsstaatsidee im Bonner Grundgesetz verwirklicht?

4. Wie ist das Verhältnis des Rechtsstaats zur politisch-sozialen Dynamik?

Die Entwicklung der Rechtsstaatsidee

Die Idee des Rechtsstaats moderner Prägung ist am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Abkehr von Absolutismus und Polizeistaat entstanden. Als Grundprinzip des Rechtsstaates wurde damals die politische Entscheidung angesehen, daß der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Individuums in seiner geistigen, seelischen und wirtschaftlichen Entfaltung anerkennen muß. Das Individuum steht im Zentrum der Rechtsordnung, in dem nicht der einzelne für den Staat da ist, sondern der Staat die Aufgabe hat, Schranken für das geordnete Zusammenleben der Individuen zu setzen. Er ist nicht Selbstzweck, sondern Diener der Rechtsordnung. Dieser rechtsstaatliche, individuelle Freiheitsbereich findet seine Grenzen jedoch in dem gleichen Recht der anderen und an den Existenzbedürfnissen des Staates. Diese Grundsätze kamen bereits in den Forderungen der französischen Revolution nach liberte, egalite und fraternite zum Ausdruck. Inhalt und Umfang des staatsfreien Individualbereiches stehen jedoch nicht unveränderlich fest, sondern wurden und werden stets von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten und Ideen beeinflußt. Als Leitgedanken der Rechtsstaatsidee wurden bereits um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts die Idee der Menschenrechte, der Volkssouveränität und die Lehre von der Gewaltenteilung angesehen. Es waren dies im wesentlichen die Ergebnisse der naturrechtlichen Staatslehre der Neuzeit, der Prinzipien der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung sowie der französischen Staats-und Verfassungstheorie. Die Freiheit des einzelnen und die Rechtmäßigkeit der Staatsgewalt sollten vor allem durch bestimmte Grundrechte des Individuums sowie durch die Aufteilung der gesetzgebenden, vollziehenden und recht-sprechenden Staatsfunktionen auf untereinander selbständige Gewalten sichergestellt werden. Die Gesetzgebung sollte der Volksvertretung übertragen, die Verwaltung an die Gesetze der Volksvertretung gebunden werden. Die Rechtsprechung sollte als unabhän-gige, nur den Gesetzen unterworfene Gewalt ausgestaltet werden.

Diese Grundsätze wurden im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts nur zögernd und unvollkommen in die Praxis des Staatslebens umgesetzt. Erst in der Weimarer Verfassung des Jahres 1919 fanden die rechtsstaatlichen Grundsätze weitgehend Eingang.

Nach der Beseitigung der rechtsstaatlichen Garantien während der NS-Zeit und dem totalen Zusammenbruch unseres Staatswesens im Jahre 1945 hat das Bonner Grundgesetz den Rechtsstaatsbegriff erstmalig — wie eingangs bereits erwähnt — zum Verfassungsbegriff erhoben und die rechtsstaatlichen Ideen in bisher in Deutschland nicht bekanntem Umfang verwirklicht.

Die Verwirklichung der Rechtsstaatsidee im Grundgesetz

Die rechtsstaatliche Entscheidung des Bonner Grundgesetzes prägt sich im wesentlichen in folgenden Grundprinzipien aus: 1. Die Verfassung macht den sittlichen Wert der Menschenwürde zum Bezugspunkt und zum Sinn aller Staatstätigkeit, indem sie in Artikel 1 bestimmt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Infolgedessen bekennt sich das deutsche Volk als Verfassungsgeber „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". 2. Die Entfaltungsmöglichkeit des einzelnen, die dem staatlichen Zugriff grundsätzlich entzogen ist, wird durch einen umfangreichen Katalog von Grundrechten gesichert. Diese Grundrechte sind nach ihrer Art und ihren Bezugspunkten verschieden ausgestaltet.

Das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit findet z. B. in weiteren Grundrechten seine Ausgestaltung, etwa in dem Recht auf Glaubens-und Gewissensfreiheit sowie in der Freiheit der Berufswahl und der Wahl des Arbeitsplatzes. Andere Grundrechte schützen ganze institutioneile Bereiche, z. B. Ehe und Familie oder das Eigentum. Wiederum andere, z. B. die Vereinigungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung, sichern die Teilnahme an der geistigen Auseinandersetzung, insbesondere auf politischem und sozialem Gebiet. Ein Grundrecht, das sich auf alle menschlichen Bereiche bezieht und mit dem Verbot eines willkürlichen Vorgehens der Staatsgewalt unmittelbar an die Rechtsstaatsidee anknüpft, ist der Gleichheitsgrundsatz.

Außer den im eigentlichen Grundrechtsteil der Verfassung genannten Rechten sind aber auch die in Artikel 103 des Grundgesetzes normierten Ansprüche als echte Grundrechte anzusehen. Es handelt sich hierbei a) um den Anspruch auf rechtliches Gehör, b) den Anspruch auf gesetzliche Bestimmtheit der Strafe (nulla poena sine lege) und c) den Anspruch, wegen einer Tat nicht mehrmals strafrechtlich belangt zu werden. 3. Zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit verbietet Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, die Grundlagen unserer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung entscheidend umzugestalten. Danach können das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip in Artikel 20 des Grundgesetzes und der Grundsatz vom Schutz der Menschenwürde in Artikel 1 des Grundgesetzes auch durch den Verfassungsgeber nicht geändert werden. Die Väter des Grundgesetzes sind sich dabei wohl bewußt, daß dies kein Schutz gegen Diktatoren sein könne, aber der Artikel 79 Abs. 3 verhindert ein langsames Abgleiten vom rechtsstaatlichen Wege. Er wirkt wie ein Ausrufezeichen, das einer jeden derartigen Abweichung entgegensteht. 4. Abweichend von der Weimarer Verfassung, nach der fast alle Grundrechte unter dem Vorbehalt einer Beschränkung durch Gesetz standen, hat das Bonner Grundgesetz in Artikel 1 Abs. 3 generell bestimmt, daß die Grundrechte nicht nur Verwaltung und Rechtsprechung, sondern auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht binden. Gesetzliche Regelungen sind daher nur insoweit zulässig und wirksam, als die einzelnen Grundrechte die Möglichkeit einer gesetzlichen Regelung vorsehen und das jeweilige Gesetz mit den Grundsätzen des Grundrechtskatalogs vereinbar ist. 5. Die Rechte des einzelnen Staatsbürgers sind durch unabhängige Gerichte geschützt. Nach Artikel 92 des Grundgesetzes ist die Rechtsprechung dem Richter anvertraut. Der Abschnitt des Grundgesetzes über die Rechtsprechung geht weit über die entsprechenden Bestimmungen der Weimarer Verfassung hinaus. Die Rechtspflege wird als unabhängige dritte Gewalt neben Gesetzgebung und Verwaltung verfassungsrechtlich gewährleistet. Der Rechtsschutz wird auch dadurch erhöht, daß jedem, der sich durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt fühlt, nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes der Rechtsweg zu den Gerichten offen steht.

Als höchste Gerichtsinstanz hat das Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht ins Leben gerufen, dem die letzte Entscheidung in allen Verfassungsfragen zusteht. Als Staatsorgan steht das Bundesverfassungsgericht gleichberechtigt neben dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung; es nimmt durch seine Rechtsprechung als Hüter der Verfassung an der Ausübung der obersten Staatsgewalt teil.

Bei aller Betonung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung als dritten Gewalt möchte ich jedoch nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß die Rechtsprechung ebenso wie die Verwaltung bei der Auslegung von Gesetzen rechtsstaatlich durch das Prinzip der Gewaltenteilung an bestimmte Grenzen gebunden ist. Diese Grenzen dürfen, wenn die Rechtsstaatlichkeit nicht gefährdet werden soll, auch unter Berufung auf die Sozialstaatsklausel nicht überschritten werden.

Die Auslegung der Grundrechte bei aktuellen Rechtsproblemen

Nach diesem kurzen Überblick über die wesentlichen Grundzüge der Rechtsstaatsidee möchte ich, bevor ich mich dem Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit zuwende, auf einige Beispiele für die Bedeutung der Grundrechte in der Praxis des Rechtslebens hinweisen: a) die aus Artikel 3 GG hergeleitete Lohn-gleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeitsleistung, b) die gegen den Gesetzgeber durchgesetzte Abschaffung der Zusammenveranlagung von Ehegatten im Einkommensteuerrecht als Regelform und damit verbunden die Einführung des Splitting; als Nachtrag sozusagen zu dieser Entscheidung die steuerliche Anerkennung der mitarbeitenden Ehefrau bei der Gewerbesteuer, c) die Pressefreiheit (Art. 5 GG), d) die Verlängerung der Verjährungsfrist für Verbrechen aus der NS-Zeit und die Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG.

Es ist hier nicht der Ort, dieses Thema zu diskutieren. Im Zusammenhang meiner Gesamtthematik nur eine Feststellung dazu: Wenn jemand in dieser Frage mit verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten argumentierte, so kann man diese Argumentation für richtig oder für falsch halten. Aber man darf sie nicht als „formalistisch" bezeichnen. Denn Form und Inhalt gehören beide dazu, wenn man ein gutes und lebendiges Recht haben will. Wir Deutsche haben leider nie das richtige Verhältnis zur Form des Rechts gefunden. Das ist gewiß verständlich, wenn man an den schauerlichen Mißbrauch zurückdenkt, der in der nationalsozialistischen Epoche mit Rechtsformen getrieben worden ist, wenn man sich daran erinnert, daß es ein schnöder Rechts-formalismus, ja geradezu Fetischismus ermöglichte, daß Brutalitäten bis zum Mord auf ein in der richtigen Form verkündetes, mit Paragraphen bedrucktes Papier gestützt wurden. Trotz diesen Erfahrungen aber müssen wir uns dessen bewußt sein, daß der Inhalt des Rechts, der möglichst dem Idealbild der reinen Gerechtigkeit entsprechen soll, auch dann, wenn er dieses Ideal erreicht, zur Wirkungslosigkeit verdammt ist, wenn diese Gerechtigkeit nicht durch Rechtssicherheit garantiert ist, und zur Rechtssicherheit gehört all das, was man als Formvorschriften bezeichnet. Freilich können Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Einzelfall in Konflikt geraten. Auf das Ganze gesehen ist Rechtssicherheit unentbehrlich und wird deshalb auch in manchem Einzelfall der materiellen Gerechtigkeit vorgehen müssen. Gerade das Verfassungsrecht enthält in großem Umfang Garantien der Rechtssicherheit. Mit Formalismus haben diese Garantien nichts zu tun.

Rechtsstaat und Sozialstaat

Ich komme nun zu einer Problematik, um deren Lösung sich Rechtsprechung und Rechts-lehre in den letzten Jahren bemüht haben, ohne daß von einer abschließenden Lösung gesprochen werden kann, nämlich zu dem Verhältnis zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat.

Was versteht das Grundgesetz unter dem Wort „sozial", wenn es die Bundesrepublik in Artikel 20 als „sozialen Bundesstaat" bezeichnet und vorschreibt, daß die verfassungsmäßige Ordnung den Grundsätzen eines „sozialen Rechtsstaates" entsprechen muß? Ist der soziale Rechtsstaat des Grundgesetzes wirklich nur ein Programm, ein „substanzloser Blankettbegriff", wie Grewe unmittelbar nach der Verkündung des Grundgesetzes einmal formuliert hat, oder ist die Sozialstaatlichkeit unmittelbar geltendes Recht, aus dem der einzelne Staatsbürger unter Umständen Ansprüche gegen den Staat herleiten kann?

Mit diesen Fragen hat sich bereits im Jahre 1953 die Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer in Bonn befaßt, und im Jahre 1960 sind diese Fragen Gegenstand der Erörterung auf dem Juristentag in München gewesen. Der noch auf der Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahre 1953 vor allem von Forsthoff vertretenen Auffassung, daß zwischen der Idee des freiheitlichen Rechtsstaats, die nach Wilhelm von Humboldt „die gesetzmäßige Freiheit des Individuums gegenüber dem Staat" als ein wesentliches Ziel verfolgt, und der Idee des Sozialstaats, der die Verantwortung des einzelnen für die Gemeinschaft und die Daseins-vorsorge des Staates in den Mittelpunkt stellt, eine unlösbare Spannung bestehe, wird heute von dem überwiegenden Teil der Rechtslehre nicht mehr gefolgt. Auch ich möchte zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat keine Antinomie, d. h. keinen unüberbrückbaren Gegensatz sehen, sondern eine sinnvolle Wechselbezogenheit. Dafür spricht u. a. bereits die verfassungsgeschichtliche Entwicklung. Denn schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich der Rechtsstaat im modernen Sinne entwickelte, sind auch die Anfänge einer sozialstaatlichen Entwicklung unverkennbar. Ich darf z. B. nur an die Arbeitsschutzgesetzgebung und die Sozialversicherungsgesetzgebung der Bismarck-zeit erinnern. Darüber hinaus möchte ich auch darauf hinweisen, daß die politischen Programme aller Parteien bis in die neueste Zeit neben den rechtsstaatlichen auch sozialstaatliche Züge aufweisen.

Es bleibt also die Frage, welche Bedeutung den verfassungsrechtlichen Begriffen „sozialer Bundesstaat" und „sozialer Rechtsstaat" zukommt. Das Grundgesetz hat von einer näheren Ausgestaltung der Sozialordnung und damit des Rechts der sozialen Sicherheit abge-sehen und über die Artikel 20 und 28 hinaus nur im Zuständigkeitskatalog (z. B.des Artikels 74) und in der Regelung der Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern einige Bereiche der Sozialordnung, z. B.den Lasten-ausgleich, die Sozialversicherung und die Kriegsopferversorgung, angesprochen. Sein Grundrechtskatalog enthält in erster Linie Freiheitsrechte gegenüber dem Staat. Dagegen hat unser Grundgesetz auf sog. soziale Grundrechte verzichtet. Solche sozialen Grundrechte sind in der Verfassung der Sowjetunion und wohl auch in dem, was die SBZ als Verfassung bezeichnet, enthalten, z. B. Recht auf Arbeit, auf Freizeit, auf Erholung. Ich brauche nicht davon zu reden, ob und wie diese Grundrechte im östlichen Bereich tatsächlich verwirklicht werden. Unser Verfassungsgesetzgeber hat bewußt davon abgesehen, dem Bürger Rechte zu geben, die er in einer schlechten wirtschaftlichen Situation doch nicht in Anspruch nehmen kann, also sozusagen Steine statt Brot. Deshalb ist im Grundgesetz das Recht der sozialen Sicherheit vornehmlich auf ein positives Tun des Staates, auf einen Ausgleich innerhalb der Gemeinschaft gerichtet; es ist insoweit Teil der öffentlich-rechtlichen Daseinsvorsorge. Es ist heute ganz überwiegende Auffassung, daß die Charakterisierung der Bundesrepublik als sozialer Rechtsstaat nicht nur ein Programm, d. h. eine unverbindliche Richtlinie für die künftige Gesetzgebung, sondern verbindliches Verfassungsrecht darstellt, das sogar nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht abgeändert werden kann. Die Sozialstaatlichkeit bindet in gleicher Weise wie die in den Grundrechtsteil aufgenommenen Grundrechte nach Artikel 1 Abs. 3 des Grundgesetzes Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung.

Die Verwirklichung der Sozialstaatlichkeit erfolgt vor allem durch die Gesetzgebung. Sie ist zu „sozialer Aktivität" verpflichtet, wie das Bundesverfassungsgericht in einer seiner ersten grundlegenden Entscheidungen (BVerfGE 1, 97 [105]) formuliert hat. Der Gesetzgeber hat also entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes dem Sozialstaatsprinzip entsprechende Gesetze zu erlassen, in denen u. a. Voraussetzung, Inhalt und Umfang öffentlich-rechtlich sozialer Leistungen näher bestimmt werden. In Vollzug dieses verfassungsrechtlichen Auftrags hat z. B. auch die derzeitige Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung die Ausarbeitung einer umfassenden Sozialenquete beschlossen, die die Grundlage für eine Sozial-gesetzgebung aus einem Guß darstellen soll.

Obwohl der Gesetzgeber durch die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes zu sozialer Aktivität, d. h. zur Schaffung einer gesetzlichen Sozialordnung verpflichtet ist, kann der einzelne Staatsbürger hieraus keinen persönlichen Anspruch gegen den Gesetzgeber auf Erlaß von Gesetzen bestimmten Inhalts herleiten.

Die Verpflichtung des Gesetzgebers zu sozialer Aktivität wirft aber noch eine andere Frage auf, nämlich inwieweit die vom Gesetzgeber einmal geschaffene oder in Zukunft zu schaffende sozialstaatliche Ordnung institutionell garantiert und daher nicht mehr revisibel ist. Ich bin der Auffassung, daß nur diejenigen gesetzlichen Regelungen im Bereich der Sozialordnung institutionell verbürgt sind, die nach den Prinzipien des Sozialstaats unerläßlich sind. Hierunter fallen m. E. die öffentliche Fürsorge, die im wesentlichen durch das Bundessozialhilfegesetz ihre gesetzliche Ordnung gefunden hat, und diejenigen Sozialbereiche, die im Grundgesetz erwähnt sind. Hierzu gehören vor allem die Sozialversicherung, die Kriegsopferversorgung und die Flüchtlingsfürsorge.

Wenn die Sozialstaatsklausel auch in erster Linie den Gesetzgeber verpflichtet, so darf ihre Bedeutung für die beiden anderen Säulen staatlicher Gewalt nicht außer acht gelassen werden. Verwaltung und Rechtsprechung sind infolge der unmittelbaren Geltung der Sozialstaatsklausel zu einer verfassungskonformen Auslegung aller Gesetze im Sinne der Sozial-staatlichkeit verpflichtet. Die Verwaltung hat selbst bei Ermessensentscheidungen die grundlegenden Wertentscheidungen der Verfassung, wozu auch die Sozialstaatlichkeit zählt, zu berücksichtigen.

Die Sozialstaatlichkeit als Anspruchsgrundlage

Die unantastbare Würde des Menschen und die freie Entwicklung der Persönlichkeit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip stellen ein verfassungsmäßiges Wertsystem dar, von dem die freiheitliche Sozialordnung bestimmt sein muß.

Welche Rechtsstellung gibt dieses verfassungsmäßige Wertsystem dem einzelnen Staatsbürger hinsichtlich seiner sozialen Sicherheit? Erwirbt der einzelne schon aus dem Sozialstaatsprinzip allein oder zumindest in Verbindung mit dem vorgenannten verfassungsmäßigen Wertsystem einen Rechtsanspruch gegen den Staat auf öffentliche Leistungen, den er vor den Sozialgerichten oder den allgemeinen Verwaltungsgerichten durchsetzen kann? Oder steht ihm ein solcher Rechtsanspruch erst dann zu, wenn das Sozialstaatsprinzip in einem einfachen Gesetz konkretisiert ist?

Es ist unbestritten, daß nicht jede durch ein Gesetz objektiv-rechtlich begründete Begünstigung ein subjektives Recht begründet. Vielmehr können Begünstigungen auch nur Reflexe der objektiven Rechtsordnung darstellen, ohne daß der Begünstigte die Verwirklichung des ihn begünstigenden objektiven Rechts gegenüber der Verwaltung im Wege der Klage durchsetzen kann. Aber auch in diesem Bereich hat sich das sozialstaatliche Denken unter dem Einfluß des Grundgesetzes immer mehr durchgesetzt. Der Bürger soll nicht lediglich Gegenstand staatlichen Handelns sein; er wird vielmehr immer mehr als selbständige, sittlich verantwortliche Persönlichkeit und daher als Träger von Rechten und Pflichten anerkannt. Das beste Beispiel für diese sozialstaatliche Wandlung des Rechtsdenkens bildet das Fürsorgerecht:

Vor der Geltung des Grundgesetzes begründeten die den Träger der Armenfürsorge gegenüber dem Staat obliegenden Pflichten kein subjektives Recht des Begünstigten. Diese Objektstellung des Fürsorgebedürftigen ist jedoch mit den Leitgedanken des Grundgesetzes, d. h. mit dessen grundsätzlichem Wert-system, nicht vereinbar, wie das Bundesverwaltungsgericht im Jahre 1954 anerkannt hat. Infolgedessen gelangte das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung (BVerwGE Bd. 1 S. 159) zu dem Ergebnis, daß dem in der Fürsorgepflichtverordnung Begünstigten ein echter Rechtsanspruch gegen den Träger der Fürsorge zustand. Inzwischen hat das Bundessozialhilfegesetz aus dem Jahre 1961 den Rechtsanspruch des Hilfebedürftigen ausdrücklich anerkannt und seine Rechtsstellung darüber hinaus wesentlich verbessert.

An diesem Beispiel wird deutlich, daß sich sozusagen als ungeschriebenes soziales Grundrecht aus der Sozial-und Rechtsstaatsklausel des Grundgesetzes dem Grunde nach ein Anspruch auf ein gewisses Mindestmaß wirtschaftlicher Sicherung ergibt und der Gesetzgeber gehalten ist, diesen verfassungsmäßig begründeten Anspruch durch entsprechende gesetzliche Bestimmungen zu konkretisieren.

Dabei hält sich der Gesetzgeber zweifellos im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Befugnisse, wenn er auch Grenzen für seine Tätigkeit auf diesem sozialen Gebiet setzt und wenn er eine Reihenfolge der sozialen Bedürfnisse und Anliegen festlegt. Ich habe für meine Person z. B. nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich es für die erste Pflicht des Gesetzgebers auf sozialpolitischem Gebiet halte, für diejenigen, die in der Vergangenheit weitergehende Opfer gebracht haben als die Allgemeinheit, soweit wie möglich einen Ausgleich zu schaffen. Erst wenn diese Aufgabe im Rahmen des Möglichen und Vertretbaren gelöst ist, darf sich der Gesetzgeber anderen sozialpolitischen Anliegen, einer auf die Zukunft gerichteten Sozialpolitik zuwenden.

Diese Aufgabe des Gesetzgebers bezieht sich auf alle Lebensbereiche. Sie muß den ständigen Wandel der sozialen Struktur, die Entwicklung der Technik und der Wirtschaft so-wie die verschiedenen zwischenstaatlichen Beziehungen im europäischen und im außereuropäischen Raum, nicht zuletzt aber auch die Sicherheit des Staats in allen Krisensituationen berücksichtigen. Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß es der Bundesrepublik gelingen möge, nach dem Abschluß der bereits erwähnten Sozialenquete trotz aller entgegenstehenden Schwierigkeiten eine in sich geschlossene Sozialordnung zu schaffen, die der Idee des modernen sozialen Rechtsstaats soweit als irgend möglich Rechnung trägt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ewald Bucher, Dr. jur., Rechtsanwalt, geb. 19. Juli 1914 in Rottenburg/Neckar, seit 1953 Mitglied des Bundestages, seit 1956 Mitglied des Bundesvorstandes der FDP, 1956 bis 1961 parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, November 1963 bis März 1965 Bundesminister der Justiz, seit 1964 stellvertr. Bundesvorsitzender der FDP.