Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Russen und Deutsche | APuZ 29/1965 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 29/1965 Russen und Deutsche Die deutsch-sowjetischen Beziehungen im Jahre 1964/65

Russen und Deutsche

Walter Laqueur

In dieser Ausgabe wird die Reihe der Beiträge zum Deutschlandbild fremder Völker ergänzt durch eine Studie zum russisch-deutschen Verhältnis. Wenn es auch nicht möglich war, einen geeigneten russischen Beitrag zu finden, so kommt hier zumindest ein neutraler Beobachter zu Wort. Walter Laqueur beschäftigt sich bereits seit langem mit dem Problem der deutsch-russischen Beziehungen. Der Ertrag seiner Studien liegt seit kurzem in einem Buch vor, das bei Weidenfeld & Nicolson in London erschienen ist und im September dieses Jahres unter dem Titel „Deutschland — Rußland" im Propyläen Verlag, Berlin, herauskommt. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um die Übersetzung eines Aufsatzes, der auf der Grundlage des Buches für die Londoner Monatszeitschrift ENCOUNTER geschrieben und im April-Heft 1965 abgedruckt worden ist.

Ergänzt wird dieser Beitrag durch eine Arbeit über die regierungsamtlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion in der jüngsten Zeit, die sich auch eingehend mit der besonderen völkerrechtlichen Problematik des deutsch-sowjetischen Verhältnisses im Hinblick auf die Teilung Deutschlands befaßt.

Alexej Adshubej, der frühere Chefredakteur der Iswestija, stellte nach seinem Besuch in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr fest, Russen und Deutsche hätten „mehr gemeinsam", als er bisher angenommen habe. So seien zum Beispiel beide „zum Weinen fähig" (im Gegensatz zu jenen unmenschlichen Engländern, die ihren Gefühlen — falls sie überhaupt welche hätten — keinen freien Lauf lassen könnten). Der Redakteur war in Bonn gewesen, um seinem Schwiegervater, dem früheren sowjetischen Regierungschef, den Weg zu bereiten; ob er ein erfahrener und kundiger Beurteiler des deutschen National-charakters ist, möge dahingestellt bleiben. (Jedenfalls schien er nicht zu wissen, daß das angelsächsische Tabu auf das Weinen verhältnismäßig neu ist und von Pitt und Fox bis zu Curzon, Churchill und Gaitskell nicht beachtet worden ist.) Aber nicht nur er hat die gemeinsamen Charaktereigenschaften, die Bande der Interessen und Empfindungen und die allgemeine geistige Verwandtschaft zwischen Germanen und Slawen betont. Jede Erörterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland während der letzten 200 Jahre, die den gewaltigen deutschen Einfluß auf Ruß-land und die merkwürdige Faszination unberücksichtigt läßt, die Rußland auf so viele Deutsche ausgeübt hat, ist unvollständig und irreführend. Beide Länder haben einander sehr viel Wohlwollen, Freundschaft, ja sogar Bewunderung entgegengebracht, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und Adolf Hitler überlebt haben. Ebenso unrealistisch wäre es jedoch, das tiefe Mißtrauen und die Feindseligkeit zu verkennen, die im Bewußtsein der Russen wie der Deutschen fest eingewurzelt sind. Die Beziehungen zwischen Gruppen sind noch verwickelter als zwischen einzelnen Menschen, die sich gleichzeitig lieben und hassen, bewundern und verachten können. Zu sagen, daß zwischen Moskau und Berlin seit langem eine „Haß-Liebe" besteht, heißt lediglich, etwas feststellen, was auf der Hand liegt; dennoch ist diese Feststellung eine der Grund-tatsachen der modernen Geschichte, die zum Ausbruch zweier Weltkriege beigetragen hat und auch heute noch die Weltlage immer wieder verschärft. In der Vergangenheit wurden die Spannungen zwischen beiden Ländern häufig von echten Konflikten ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen . hervorgerufen. Mindestens ebenso stark aber haben Vorurteile, Angst und Mißverständnisse die Beziehungen der beiden Nationen beeinflußt.

Stolz und Vorurteil

Im Jahre 1902 veröffentlichte eine amerikanische Zeitschrift einen Aufsatz mit dem geheimnisvollen Titel „Die russische Schlacht von Dorking", in dem die Überraschung und der wachsende Zorn eines russischen Rip van Winkle geschildert wird, der im Dezember 1897 eingeschlafen und nach 30 Jahren aufgewacht war und nun feststellen mußte, daß sein Land inzwischen unter die Herrschaft der Deutschen geraten war. Es hatte ein Krieg von sechs Wochen stattgefunden, in dem die Deutschen auf Grund ihrer eindeutigen Überlegenheit — besonders auf technischem Gebiet — die Russen einfach erdrückt hatten. Die Zaren waren verschwunden, Bessarabien und Finnland gehörten nicht mehr zu Rußland, die Hauptstadt war nach Nishni-Nowgorod verlegt worden, übriggeblieben war ein deutscher Satellitenstaat, in dem fast überall die Juden die örtliche Selbstverwaltung (Semstwos) leiteten. In allen russischen Landen waren die Einwohner zu einem Volk von Holzfällern und Wasserziehern herabgesunken.

Phantasien dieser Art waren damals nichts Ungewöhnliches und spiegelten die echte Angst wider, die viele Russen seit langem beherrschte, daß ihr Land eines Tages in irgendeiner Form unter deutsche Herrschaft fallen könnte. Es wäre sinnlos, zu behaupten, daß diese Befürchtungen nicht auf Tatsachen beruhten; die Reformmaßnahmen Peters des Großen im 18. Jahrhundert hatten viele Ausländer nach Rußland gebracht und mit ihnen die deutsche Sprache und deutsche Sitten eingeführt. Einige Jahrzehnte später wurde Ruß-land tatsächlich von den Birons, Münnichs und Ostermanns und anderen deutschen Höflingen, wenn auch nur auf kurze Zeit, beherrscht. Trotzdem ist die Bironowschlschina nicht nur als besonders brutale und korrupte Episode der russischen Geschichte, sondern geradezu als Symbol fremder Herrschaft und Ausbeutung in Erinnerung geblieben. Ob die russische Verwaltung vor-oder nachher weniger willkürlich und korrupt war (wie manche behaupten), ist unwesentlich, denn es war offensichtlich weniger ärgerlich, von den eigenen als von fremden Tyrannen unterdrückt zu werden. In diesem Groll gegen die deutschen Eindringlinge und Usurpatoren, der vom alten Adel und von der neuen Oberschicht im gleichem Maße geschürt wurde, äußerte sich der russische Nationalismus zum erstenmal. So entstand das russische Nationalbewußtsein aus der Opposition gegen das Vordringen der Deutschen.

Die Deutschen waren zwar unbeliebt, wurden aber dennoch als Techniker, Kaufleute, Hauslehrer und vor allem in Armee und Verwaltung gebraucht. Die höheren Posten gingen meist an die Balten, während Lehrer, Techniker und Handwerker häufiger Neuankömmlinge aus dem eigentlichen Deutschland waren. Der russische Adel und die allmählich entstehende Intelligenzschicht waren wenig geneigt, in die Verwaltung zu gehen — diese Stellen waren weder besonders einträglich noch genossen sie hohes Ansehen. Manche Zaren (z. B.

Nikolaus I.) zogen sogar Deutsche vor, weil sie sich naturgemäß eher als seine eigenen Untertanen dazu hergaben, Unterdrückungsmaßnahmen und unpopuläre Handlungen durchzuführen. Selbst in den achtziger Jahren, als sich die panslawistische Propaganda auf dem Höhepunkt befand, waren etwa 40 v. H.

der höheren Ränge in der russischen Armee von Offizieren deutscher Herkunft besetzt. Im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten sowie in einigen anderen Behörden waren die Deutschen sogar in der Mehrheit!

Die Deutschfeindlichkeit äußerte sich in verschiedenen Formen. Beim Adel wurde der „unterwürfige, gehorsame Deutsche" verachtet. Turgenjew vergaß nie, wie sein Vater einen deutschen Hauslehrer, der seinen Unwillen erregt hatte, aus einem Fenster im ersten Stock einfach hinauswarf. Der unbeholfene, schwerfällige deutsche Lehrer (oder Handwerker oder kleine Beamte) ist in der russischen Literatur von Fonwisin bis Gogol und noch später stets eine Witzfigur gewesen.

Fonwisin, selbst Sproß einer vollständig assimilierten deutschen Familie, hatte 1784 nach einem Besuch in Mittel-und Westeuropa geschrieben, „daß bei uns alles besser ist und wir ein größeres Volk sind als die Deutschen ...". Das ist wahrscheinlich eine der ersten Äußerungen der Verachtung, die die russische Großzügigkeit (schirokaja natura)

für das deutsche Philistertum (meschtschanstwo) empfindet. In den Augen des russischen Beobachters mangelte es dem Deutschen an Wärme, Menschlichkeit, Gemüt und Herz. Seinem Charakter und seinem Temperament fehlte eine ganze Dimension: er lebte nicht wirklich. Die Franzosen wurden in Rußland noch bewundert, als Moskau 1812 brannte, während man den deutschen Mangel an savoir vivre auch dann noch mit verächtlichem Spott betrachtete, als Rußland und Preußen enge Verbündete waren. Die Russen bewunderten Goethe, Heine und besonders Schiller mehr als alle anderen Völker, waren aber der Ansicht, daß diese großen Dichter „der ganzen Menschheit" gehörten, daß heißt, nichts „speziell Deutsches" an sich hatten. Johannes Kohl, Verfasser eines Baedeker-ähnlichen Reiseführers, besuchte Moskau im Jahre 1840 und berichtete von einer Unterhaltung mit dem Dichter Polewoi. Von Goethe und Schiller sprach Polewoi mit größter Begeisterung ebenso wie von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, einem Buch, das offenbar jeder gebildete Russe kannte. Aber als die Rede auf das damalige Deutschland kam, schlug er die Hände überm Kopf zusammen und rief: „Mein Gott, wo hält sich der geniale Geist Deutschlands versteckt!" Bakunin (und mit ihm mancher andere russische Besucher Deutschlands) ärgerte sich vor allem über das Philisterhafte, das so viele Deutsche an den Tag legten. „Von ihrem kulturellem Erbe ist nicht einmal ein Zehntel in ihr Leben übergegangen!" Das Schild eines Berliner Schneiders fiel ihm auf, das unter dem preußischen Adler über seiner Werkstatt-tür hing: „Unter deinen Flügeln kann ich ruhig bügeln." Iwan Kirejewski, ein früher Slawophile, der in den fünfziger Jahren aus Deutschland schrieb, verglich das Land mit einem Gefängnis, einem Sarg, in dem die Menschen lebendig begraben seien. „Es gibt kein Volk auf der ganzen Welt, das so langweilig, so seelenlos, so ärgerlich wie die Deutschen ist — verglichen mit ihnen sind die Bulgaren Genies!" Ähnliche Bemerkungen konnte man Jahre später von russischen Juden über ihre deutschen Glaubensgenossen hören. Chaim Weizmanns Erinnerungen sind in dieser Hinsicht aufschlußreich, über die Ballins und Warburgs schrieb Weizmann: „Der übliche Typ der , Kaier-Juden', deutscher als die Deutschen, unterwürfig, überpatriotisch, eifrig die Wünsche und Pläne der Herren Deutschlands vor-wegnehmend ..." Die deutschen Juden hielten ihrerseits nicht viel von den Ostjuden — schlampige, lärmende, liederliche Leute, die die Nächte durchschwätzten und am Tage nichts schafften. Ich habe hier die Meinung eines frühen Slawophilen über Deutschland zitiert, aber sie wurde auch von vielen westlich orientierten Russen geteilt, wenn auch aus anderen Gründen. Radikale russische Schriftsteller wurden immer wieder daran erinnert, daß der Leiter der „Dritten Abteilung" (die in erster Linie als politische Polizei und Zensurabteilung fungierte) Benckendorff und sein Nachfolger Dubbelt hießen. Für Alexander Herzen war der hohe deutsche Beamte ein Symbol für die Einengung, für alles, was in Rußland reaktionär und tyrannisch war — für „l’empire knouto-germanique", wie Bakunin es ausdrückte. Da so viele Deutsche bereit waren, der zaristischen Autokratie zu dienen, zogen Herzen und viele seiner Zeitgenossen den irrigen Schluß, Autokratie sei im Grunde „unrussisch" und lediglich aus Deutschland importiert.

Der „unvermeidliche Krieg“

Die Tatsache, daß so viele Deutsche hohe Stellungen innehatten, rief zwar bis zu den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts Verstimmung hervor, wurde aber nicht eigentlich als tödliche Gefahr angesehen, denn niemand stand hinter diesen heimatlosen Männern. Deutschland war damals ein „geographischer Begriff", aber keine Großmacht. Die Lage änderte sich 1870, als das zweite Reich fast über Nacht als beherrschende Kraft in Europa und als potentieller Feind Rußlands hervortrat. Das Gleichgewicht des ganzen europäischen Kontinents war gestört; in Petersburg fürchtete man, Deutschland werde die baltischen Provinzen fordern und ein unabhängiges Polen wiederherstellen. „Jeder, bis hinauf in die allerhöchste Gesellschaft, ist gegen uns", schrieb von Schweinitz aus der russischen Hauptstadt gegen Ende des deutsch-französischen Krieges. Die russischen Industriellen fühlten sich nun bedroht von ihren deutschen Konkurrenten, die leistungsfähiger waren und länger im Geschäftsleben standen. Die russischen Landwirte beklagten sich über die hohen Zölle, mit denen Berlin die Einfuhr von russischem Getreide belegte. Die Panslawisten erklärten feierlich, nur das Schwert könne sie von dem unheilvollen Einfluß des ränkevollen Eindringlings erlösen. Ein Kampf zwischen Germanen und Slawen sei unausweichlich. Das Ringen werde lang, blutig und schreckensvoll sein. Äußerungen dieser Art füllten jahrelang die Spalten großer Teile der russischen Presse. Liest man die russischen und deutschen diplomatischen Berichte aus dieser Zeit, so könnte man meinen, der Erste Weltkrieg wäre nie ausgebrochen, wenn es keine Presse gegeben hätte. Gelehrte, die sich mit der Vorgeschichte des Krieges befaßt haben, haben einen großen Teil des Schriftwechsels zwischen Botschaftern, Außenministern und Kaisern veröffentlicht. Der öffentlichen Meinung und vor allem dem Einfluß der Presse ist jedoch viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Was tatsächlich geschah, ist — kurz zusammengefaßt — folgendes: Da konnte zum Beispiel eine Moskauer Zeitung einen sensationell aufgemachten Artikel über „Die Organisation der deutschen Spionage in Europa" bringen, in dem Fürst Bismarck das Streben nach der Weltherrschaft Deutschlands vorgeworfen wurde.

Bald danach taten andere russische Zeitungen, die von ihrem Konkurrenten nicht überflügelt werden wollten, das gleiche. Inzwischen hatte vielleicht ein russischer General einer der revanchistischen Zeitungen in Paris ein Interview gegeben oder eine Broschüre veröffentlicht, in der er ausführte, wie erwünscht ein russisch-französisches Bündnis zur Bezwingung Deutschlands wäre. Kurze Zeit später ließ die deutsche Presse einen Gegenangriff vom Stapel und wies auf Rußlands militärische Vorbereitungen in Polen und anderwärts hin. Russische Diplomaten in Berlin sowie ihre deutschen Kollegen in der russischen Hauptstadt verwandten viel Zeit darauf, solche Artikel zu kommentieren, zu dementieren oder zu erklären. Jedenfalls beschäftigten sie sich auf die eine oder andere Weise ständig mit der Presse. Zu dieser Dauerspannung kam alle zwei bis drei Jahre eine Kriegspanik größeren Ausmaßes. Viele Leute, auch solche in hohen Stellungen, redeten sich selbst ein, daß ein Krieg zwischen den beiden Ländern „vor der Tür" stehe. Nach einiger Zeit beruhigten sich die Gemüter allmählich wieder und eine vorübergehende Entspannung trat ein, bis eine neue sensationelle Veröffentlichung das ganze wieder in Gang brachte. Dieser Zeitungskrieg dauerte fast ohne Unterbrechung vierzig Jahre. Der deutsche Botschafter in Rußland in den siebziger und achtziger Jahren, von Schweinitz, schrieb in seinem Tagebuch, nie und nirgendwo habe die Presse einen so negativen Einfluß auf die Außenpolitik gehabt wie in Ruß-land. In anderen Ländern war sie nur einer der Faktoren, die die öffentliche Meinungsbildung beeinflußten; in Rußland aber war sie der einzige, und die Regierung tat nur selten etwas dagegen. Die deutsche Presse, so muß man übrigens hinzufügen, war nicht viel besser, ja die Zeitungen der Alldeutschen waren noch ein bißchen schlimmer. Aber warum soll man der Presse die Schuld geben? Schließlich kamen die Angriffe nicht von ungefähr. Die Zeitungen druckten nur, was die Öffentlichkeit nach ihrer Meinung gerne lesen wollte oder, in einigen Fällen, wofür sie bezahlt wurden.

Von etwa 1880 an wäre ein Krieg gegen Deutschland in Rußland populärer gewesen als gegen jedes andere Land (mit Ausnahme natürlich von Österreich). Aber nicht alle waren blind gegenüber der Gefahr. Außenminister Giers sagte 1888, jeder, der die bestehende Ordnung stürzen wolle, sei für den Krieg.

Aber er übertrieb. Weder die Sozialrevolutionäre noch die Menschewiki und schon gar nicht die Bolschewik! können für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht werden. Sicher richtig ist allerdings, daß das besonders seit 1905 gebrauchte Argument erzkonservativer Kreise, Rußland könne sich keinen Krieg leisten, weil dieser den Sturz der Romanows und den Sieg der Revolution bedeuten würde, auf die öffentliche Meinung nur wenig Eindruck machte. Wie konnte irgend jemand den Krieg tatsächlich wollen?

Wir vergessen leicht, daß die Russen und Deutschen, die zu der Überzeugung gelangt waren, der Krieg sei „unvermeidlich", in Begriffen der Jahre 1853 oder vielleicht 1870 dachten. Sie hatten nicht die blasseste Ahnung, was der Krieg bedeuten und daß er das Ende der Welt, wie sie sie kannten, bringen und eine Kettenreaktion auslösen würde, von der der sogenannte „große Krieg" nur das erste Glied war. Charakteristisch für die Sorglosigkeit, um nicht zu sagen Frivolität, mit der die „Unvermeidbarkeit" eines Krieges zwischen Russen und Deutschen ins Auge gefaßt wurde, ist ein unveröffentlichter Bericht über eine kleine Begebenheit, die sich im November 1910 in Potsdam zutrug, als der Zar Deutschland besuchte. Es handelte sich um einen anonymen Deutschen, wahrscheinlich einen verhältnismäßig hohen Offizier, und einige Mitglieder der Umgebung des Zaren, zweifellos ebenfalls Militärs, die sich in den frühen Morgenstunden (wahrscheinlich in einem bekannten Berliner Restaurant) unterhielten. Die Russen behaupteten, es bestünden wirtschaftliche Konflikte, die nicht auf friedlichem Wege gelöst werden könnten; Deutschland sei im Grunde ein Industrieland, das die Junker künstlich zu einem Weizen und Kartoffeln erzeugenden Agrarland gemacht hätten. „Wir Russen müssen Ihre Industrieerzeugnisse kaufen, aber Sie verschließen Ihre Grenzen für unsere Getreideeinfuhr. Da Ihre Presse in den Händen der Juden liegt, ist sie nahezu einstimmig antirussisch ..." Das war ein verzerrtes, aber offenbar überall akzeptiertes Bild. „Schade", antwortete der Deutsche. „Wenn das richtig ist, rückt der Krieg jetzt in den Bereich der Möglichkeiten. Beide Seiten werden ihre Pflicht tun. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, nach dem Kriege im Ritz in Paris ein sehr gemütliches Besammensein zu veranstalten, und wir können uns dann erzählen, wie es hüben und drüben war." Ob diese Zusammenkunft im Ritz jemals stattgefunden hat, ist nicht bekannt, und ich zweifle auch daran. Wenn sie stattgefunden hat, so waren zweifellos alle Teilnehmer inzwischen viel klüger und viel trauriger geworden.

Seit einigen Jahren ist es in Rußland Mode geworden, den herrschenden Schichten in Deutschland vorzuwerfen, daß sie „seit dem Mittelalter alles Russische hassen und verachten ..." Verallgemeinerungen dieser Art sind von zweifelhaftem Wert, besonders wenn sie auf eine Zeit zurückgreifen, in der praktisch kein Kontakt zwischen den beiden Völkern bestand. Im 19. Jahrhundert jedenfalls war die offizielle preußische Politik durchaus für eine Freundschaft mit Rußland. Als Nikolaus I. starb, erklärte die erzkonservative Kreuzzeitung: „Unser Kaiser ist gestorben . . ." Die Russenfeindlichkeit fand sich damals hauptsächlich bei den Linksliberalen, die stark mit den Polen sympathisierten und dem Land feindlich gegenüberstanden, das sich zum großen Bollwerk des Despotismus in Europa, zur tragenden Säule der Heiligen Allianz entwickelt hatte. Deutsche Linksnationalisten betrachteten Rußland (nicht ohne guten Grund) als das Haupthindernis für die Einigung ihres Landes und proklamierten die Notwendigkeit eines heiligen Krieges gegen Rußland. Das war die Zeit, in der Freiligrath sein berühmtes Gedicht über die zwei Lager schrieb, in die die Welt geteilt sei:

Zwei Lager zerklüften heute die Welt Und ein hüben, ein drüben nur gilt.

Jeder müsse aufstehen und sich zählen lassen; in einer letzten entscheidenden Schlacht würden die freien Völker des Westens die Sklaven des Ostens besiegen. Aber das war die Stimme der deutschen Opposition, nicht der herrschenden Kreise. Bei dieser Gegenüberstellung zwischen dem „revolutionären Westen" und dem „reaktionären Osten" neigten die deutschen Demokraten dazu, die Zarenherrschaft mit dem russischen Volk gleichzusetzen, denn eine öffentliche Meinung in Rußland, die sich von der zaristischen Politik distanziert hätte, war im Westen kaum vernehmbar. Unter den frühen Feinden der zaristischen Autokratie hielten viele die „polnische Frage" für einen Familienstreit zwischen slawischen Brüdern; westliche Demokraten hegten den Verdacht, daß beide in Wirklichkeit kaum verhohlene Panslawisten seien, die ganz Europa erobern wollten. Selbst als Radikale (wie Herzen und Bakunin) in der polnischen Frage eindeutig Stellung bezogen, ließen sich Männer wie Karl Marx und Friedrich Engels dadurch nicht beruhigen. Die Ereignisse von 1848 hatten sie gelehrt, daß die Russen ein konterrevolutionäres Volk seien. In ihren Augen besaßen diese „aggressiven westlichen Chinesen" (wie der zionistische Sozialist Moses Hess sich ausdrückt) alle Fehler, aber keine der Vorzüge primitiver Menschen"; sie seien „Barbaren", deren Sieg „ewige Nacht über Europa bringen" werde; eine slawische Invasion würde die „Zerstörung aller Zivilisation und Kultur" bedeuten. Der Haß gegen Rußland sei, so schrieb Engels an Bakunin, „die erste revolutionäre Leidenschaft der Deutschen". Die russische Geschichte wurde von Marx in sehr ungünstigem Licht gesehen. Was könne man erwarten von einem Volk, dessen Charakter durch den Jahrhunderte währenden Despotismus der Mongolen, Tataren und Zaren geprägt worden sei, von einer Nation, die territoriale Eroberungen weit über ihre natürlichen Grenzen hinaus gemacht habe? Diese Äußerungen bereiten — wie kaum gesagt zu werden braucht — den heutigen orthodoxen Marxisten russischer Provenienz große Verlegenheit. Gewiß, die Haltung der deutschen Linken wurde gegen Ende des Jahrhunderts durch die Entstehung einer starken revolutionären Bewegung in Rußland beeinflußt, aber der Zarismus blieb der gefährlichste Feind des Sozialismus. Engels, ebenso wie August Bebel und Karl Liebknecht, erklärte immer wieder, ein revolutionärer Krieg gegen Rußland sei gerechtfertigt. Erst mit der Revolution von 1905 zeichnete sich der Sturz des zaristischen Absolutismus als deutliche Möglichkeit ab. Ihr Scheitern überraschte jedoch kaum. Die meisten deutschen Sozialisten hielten von ihren russischen Genossen nicht viel. Mit ihren ewigen internen Streitereien waren sie für die ganze internationale Bewegung eine Quelle der Sorge und Verlegenheit. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, bekannte sich die deutsche Sozialdemokratie fast ohne eine abweichende Stimme zu der, wie ihr Sprecher sich ausdrückte, Verteidigung der deutschen Kultur gegen die Korruption durch das primitive Rußland. Im Namen des Fortschritts und einer höheren Kultur schlossen sich die Sozialdemokraten dem Kampf gegen den zaristischen Despotismus an, der in ihren Augen mit den Interessen des internationalen Proletariats zusammenfiel. Nicht alle Russenfeinde in Deutschland vor 1914 gehörten der Linken an. Es gab noch eine kleine, aber sehr einflußreiche Gruppe, die die Vorstellung, die sich die Deutschen vom Rußland des 20. Jahrhunderts machten, entscheidend beeinflußte: die Deutsch-Balten. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung handelte es sich dabei nicht nur um „Barone"; in vieler Hinsicht ein anziehendes Volk mit hohen kulturellen und ethischen Maßstäben, waren die Balten zweifellos kultivierter als ihre Standesgenossen im Reich. Aber sie hatten seit langem einer bevorzugten Minderheit angehört und viele von ihnen waren dadurch arrogant und überheblich geworden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden ihre Vorrechte zum erstenmal in Frage gestellt; ihre Autonomie auf dem Gebiet von Kultur, Religion und Erziehung wurde von der zaristischen Regierung immer mehr beschnitten. Die Verbitterung der Balten, die schon früher nicht viel von der russischen Regierung und Verwaltung gehalten hatten, wurde nun noch stärker. Als Antwort auf Äußerungen eines panslawistischen Führers wies ihr Sprecher den russischen Anspruch auf eine „Weltsendung" empört zurück. Zugegeben, die Russen seien ein sehr begabtes Volk, aber Ernst, Mäßigung, Ausdauer gehörten nicht zu ihren Tugenden. Sie seien Stimmungen und Gefühlen unterworfen, es fehle ihnen an Disziplin. Ob es noch ein anderes Volk gebe, das so blind gegenüber der gewaltigen Diskrepanz zwischen seinen Wünschen und seinen tatsächlichen Fähigkeiten sei?

Unter den Balten, die später in das Reich übersiedelten (um dort den Kern der deutschen Rußlandexperten zu bilden!), war Victor Hehn, der mehr als jeder andere eine fast systematische „Theorie der Russophobie" entwickelte und damit einen ernormen Einfluß auf den Gang der neueren deutschen Geschichte gewann. Daß Hitler auch nur von der Existenz dieser Theorie wußte, ist unwahrscheinlich; der „Führer" bezog seine Ansichten über russische Dinge von Alfred Rosenberg, aber was Rosenberg zu diesem Thema zu sagen hatte, war reiner Hehn — häufig sogar in wörtlichen Zitaten. Victor Hehn, Naturwissenschaftler und Historiker, ist heute nur noch als Verfasser einer sehr gelehrten Geschichte der „Haustiere im Römischen Reich" sowie einiger anderer Monographien bekannt. Hier interessiert uns ein posthum erschienenes Werk mit dem Titel De Moribus Ruthenorum (Ein Beitrag zur Charakterisierung der russischen Volksseele: Tagebuchblätter 1857 bis 1873). Hehn hatte als junger Mann viele Jahre in verschiedenen Teilen Rußlands zugebracht und nichts dort gefunden, was ihm Bewunderung entlockt hätte. Das berühmte kritische Werk des Marquis de Custine liest sich im Vergleich zu Hehn wie der Prospekt eines Reisebüros, das sich bemüht, das sonnige, faszinierende Rußland dem restlichen Europa zu „verkaufen". Auch andere zeitgenössische Schriftsteller kritisierten die russische Regierung und die herrschenden Schichten, aber Hehn gelangte zu der Überzeugung, daß auch an der Legende des angeblich unverdorbenen einfachen Mannes nichts sei. Dem Russen, so betonte er immer wieder, fehle Idealismus und Tiefe der Empfindung und des Gemüts. Sogar der begabte Puschkin ahme nur nach; seine Werke, denen es an moralischer Tiefe fehle, seien durch einen Schuß Frivolität verdorben.

Der uralte Despotismus habe diese „westlichen Chinesen", die weder Gewissen noch Humor besäßen, entnervt und korrumpiert. Sie hätten keine Ausdauer und seien die größten Lügner der Welt; sie seien unbegabt und hätten noch keinen einzigen Staatsmann von Format hervorgebracht. Es fehle ihnen die einfache Fähigkeit, zwei und zwei zusammenzuzählen; in jeder Notlage verlören sie den Kopf. So bringe es zum Beispiel kein Russe fertig, Lokomotivführer zu werden. Die äußere Erscheinung der Russen gefiel Hehn ebenso wenig wie ihr Charakter, und er verbreitete sich ausführlich über ihre brutalen Gesichter, ihre stumpfe leblose Haut und andere körperliche Merkmale. Die mangelnde Sauberkeit, die überall vorhandenen Flöhe, Unkenntnis der Hygiene — alles brachte ihn zur Verzweiflung. Die Russen, schreibt er an einer Stelle, seien nur in Gegenwart anderer zivilisiert. Sie hätten keine Erfindungen gemacht; man könne sie von der Liste der zivilisierten Nationen ohne jeden Verlust für die Menschheit streichen.

(Das ist nur eines seiner obiter dicta, das bei Rosenberg und Hitler immer wieder vorkommt.) Weder schöpferisches Genie noch Seele noch Phantasie sei ihnen eigen und sie zeigten die „furchtbare Unfähigkeit eines Volkes, das sich geistig nicht über das Stadium eines deutschen Volksschülers hinaus entwickeln könne".

Auch der gebildete Russe sei ein elendes Geschöpf und zugleich eine große Gefahr für Europa, denn schließlich gebe es so viele von diesen Slawen. Vielleicht werde eines Tages eine neue Schlacht auf den Katalaunischen Feldern stattfinden: Die Mongolen seien einst bis Schlesien vorgedrungen, warum sollten die Russen nicht eines Tages bis zum Atlantik kommen? Für die russische Freude an geistigen Moden fand Hehn nur sarkastische Worte: Natürlich begeisterten sie sich für jede neue Idee, wie zum Beispiel den Sozialismus, denn sie hätten weder Tradition noch Wurzeln noch eine eigene Kultur, auf die sie zurückgreifen könnten; ihr gesamter geistiger Besitz sei vom Ausland eingeführt worden. In einem interessanten Abschnitt befaßt er sich mit der „Zukunft des Sozialismus in Rußland". Sozialismus und Kommunismus, schrieb Hehn, setzten einen sehr hohen Grad sozialer und kultureller Entwicklung voraus, deshalb sei Ruß-land am allerwenigsten geeignet, ein solches Experiment erfolgreich durchzuführen. Nur barsche Befehle und die Knute könnten den Russen dazu bewegen, Heldentaten zu vollbringen. Hier handele es sich um eine bemerkenswert gestaltlose Masse, die darauf warte, von strengen Herren geformt zu werden — seien es nun die Waräger oder deutsche Korporale. Wie könne Freiheit und Menschlichkeit in diesem moralischen Klima wachsen?

Und so geht es weiter und immer weiter mit dem, wie man rückblickend sagen würde, Gefasel eines Wahnsinnigen, eines deutschen Rassenfanatikers und Chauvinisten. Hehn war jedoch nichts dergleichen, jedenfalls nicht, als er sein Tagebuch schrieb, denn seine Kritik beruhte weitgehend auf seiner Opposition zur zaristischen Autokratie. Auch er hatte zu den verdächtigen revolutionären Elementen gehört, die irgendwann einmal von der „Dritten Abteilung" verhaftet worden waren. Auch über die Rolle, die seine deutschen Landsleute in Rußland spielten, machte er sich keine Illusionen. In den Augen des russischen Volkes stünden sie, so schrieb er, auf der Seite der blutrünstigen Herrscher, des korrupten Hofes und der obskurantistischen Kirche; sie hätten kein Herz für die Leiden des russischen Volkes. Hehn lebte in einer Zeit, in der „Kultur und Zivilisation" mehr galten als „Rasse"; der gewaltige kulturelle Abstand zwischen den Deutschen und den Slawen trotz ihrer rassischen Verwandtschaft verwirrte ihn immer wieder. Gewiß, er hat von der „russischen Degeneriertheit" viel hergemacht, aber er war nicht der einzige, der das tat. Das waren dunkle Jahre in der russischen Geschichte, als Tschernyschewski sein Land als die „erbärmliche Nation, eine Nation von Sklaven von oben bis unten — alles Sklaven" bezeichnete. Wenn es um die Analyse der russischen Gesellschaftsstruktur ging, war der Unterschied zwischen Hehn und den russischen Radikalen gar nicht so groß. Der Unterschied lag in der Prognose, denn Hehn sah überhaupt keine rettenden Eigenschaften und keine Aussicht auf Veränderung und Besserung.

Hehns Ansichten waren klassische, wenn auch extreme Erscheinungsformen der deutschen Russophobie. Es wäre ermüdend, die Äußerungen seiner Nachfolger im einzelnen zu erörtern. Manche, wie die Alldeutschen, ließen sich in erster Linie von dem Gedanken an eine deutsche Expansion nach Osten bis zum Saratowgebiet leiten; andere wie Paul Rohr-bach nannten sich Liberale und befürworteten die „Zerlegung des russischen Kolosses" in seine natürlichen historischen und volksmäßigen Bestandteile. Rußland, so behauptete Rohrbach, könne man wie eine Apfelsine ohne Schnitt und ohne Wunde aufteilen, und es werde, anders als Deutschland oder Frankreich, dennoch am Leben bleiben. Ein früher Sexualforscher namens Stern veröffentlichte zwei riesige Bände über das, was sich während des langen Winters hinter den Ofen in den „isbas" der russischen Dörfer abspiele und lieferte damit denen Munition, die glaubten, Europa ende bei Ostrowo und Augustowo. Während des Ersten Weltkrieges gab es in Deutschland einen neuen Ausstoß von Schriften dieser Art, sowohl auf literarischer wie auf politischer Ebene, dem in russischen Zeitschriften das Schlagwort „Von Kant bis Krupp" entsprach. Die Literaten versuchten, wie Politiker zu schreiben, während die Politiker sich wie Dostojewski-Jünger gerierten. Es wurde viel von den Imponderabilien der „russischen Seele", von der tiefen instinktiven „Ablehnung der romanisch-germanischen Kultur" geredet und von der nebelhaften folie de grandeur, die jeder Russe angeblich im Blute habe. Niemand erklärte, was das alles heißen solle, außer daß es sich um etwas Aggressives, Zerstörerisches und Gefährliches handele.

Viele dieser halbausgegorenen Ideen wurden später von nationalsozialistischen Schriftstellern übernommen und vereinfacht. Ihr einziger neuer — von H. S. Chamberlain entliehener — Beitrag war der Begriff des „Rassenmischmasches": Irgendwie hatte sich Rußland auf Grund seiner minderwertigen Rassenmischung selbst in diese unglückliche Lage hineinmanövriert. Die Russophobie blieb, nur die ideologische Rechtfertigung wurde abgewandelt. Die „kulturelle" Sendung Deutschlands von 1914 wurde 1941 zu einer „rassischen" Sendung.

Die Roten und die Braunen

In den meisten europäischen Ländern gab es und gibt es auch heute Philosophen, Historiker und Dichter, die heftige, von persönlichen Abneigungen gefärbte Ansichten über ihre Nachbarn hegen. Entscheidend war (und ist) nur, wie groß war ihre Bedeutung? Im wilhelminischen Deutschland spielten sie tatsächlich eine Rolle. Schiemann, Hehns Schüler und Herausgeber seiner Werke, war zugleich der engste Berater des Kaisers in russischen Fragen. Als Wilhelm II.den Thron bestieg, erklärte er, er wolle keinen Krieg mit Rußland, „nur um hundert verrückte Junker zufrieden-zustellen". Aber in seinen späteren Jahren war er immer mehr davon überzeugt, daß der Krieg zwischen Slawen und Germanen unvermeidlich und nur eine Frage der Zeit sei. Zu diesem wachsenden Gefühl der Unvermeidbarkeit trugen die deutschen Russophoben wesentlich bei. Ihre Saat ging auf unter Adolf Hitler, als der Zusammenstoß zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus dem uralten Konflikt zwischen Germanen und Slawen eine neue Dimension hinzuzufügen schien.

Dazwischen lag ein hoffnungsvollere Zeit. Während der Weimarer Republik waren die Beziehungen zwischen den beiden Ländern freundlicher als je zuvor oder danach. Gewiß, Deutschland war noch immer kapitalistisch, aber es besaß die beste und stärkste kommunistische Partei der Welt. Versailles hatte, wie einige Rechtsstehende sich ausdrückten, Deutschland auf den Status „einer proletarischen Nation ... ganz ähnlich wie Sowjetrußland" herabgedrückt. Was lag näher, als eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Völkern? Das Ergebnis war Rapallo — ein bedeutungsschwerer Name bis auf den heutigen Tag (obwohl seine eigentliche politische Bedeutung gering war, ähnlich wie ein Ehevertrag, der nur zum Teil vollzogen wird). Deutschland blieb nicht lange eine Proletarier-oder Parianation. Wenige Jahre später wurde die „Ostorientierung" in den Augen der meisten deutschen Außenpolitiker zu einer Belastung. Stalin jedenfalls konnte Stresemann nicht zu dem verhelfen, was er von London und Paris haben wollte. In Deutschland entwickelte sich Widerstand gegen eine Annäherung an Moskau. Die Sozialdemokraten grollten im Gedanken an das, was ihren Genossen in der Sowjetunion geschehen war, und die ständigen Angriffe der Kommunisten gegen sie machten sie nicht zur größeren Freundlichkeit geneigt. Die Kirchen fühlten sich vom sowjetischen Atheismus abgestoßen. Deutsche Industrielle machten sich Sorgen um ihre Gewinne und um die Zukunft der kapitalistischen Gesellschaftsordnung im allgemeinen. Allerdings bestand eine enge Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee, und auch die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern blühten. Eine neue Welle der Rußland-Begeisterung erfaßte die deutschen Intellektuellen;

der Film Panzerkreuzer Potemkin, der Fünf-Jahres-Plan, Prokofieffs „Die Liebe zu den drei Orangen", alles wurde begierig ausgenommen und diskutiert. Karl Radek schrieb für erzkonservative Zeitungen wie das „Berliner Tageblatt". Viele sowjetische Romane wurden gleich nach ihrem Erscheinen in Moskau ins Deutsche übersetzt und fanden, ebenso wie sowjetische Filme und Theaterstücke, begeisterte Aufnahme. Der sowjetische Handel mit Deutschland war sehr viel ausgedehnter als der wirtschaftliche Austausch der Sowjetunion mit jedem anderen Land. Aber wieviel guten Willen erzeugte er? Eifrige Exporteure behaupten auch heute, der Außenhandel steigere die Aussichten für den Weltfrieden. Ich habe jedoch den Verdacht, daß er in dieser Hinsicht ungefähr soviel leistet wie internationale Fußballspiele. Der Handel zwischen Rußland und Deutschland ist am stärksten gewesen am Vorabend eines Krieges oder einer ernsten internationalen Krise — 1913/14, 1932 und 1940/41. Absit omen!

Die russischen Kommunisten hatten, wie Lenin einmal sagte, zu Deutschland eine besondere Beziehung. Schließlich waren Marx und Engels Deutsche. Vor 1914 hatten die Russen zur deutschen kommunistischen Partei als der fortschrittlichsten in der Internationale aufgeblickt. Die Sowjetführer mochten zwar die deutschen Sozialdemokraten späterer Zeiten nicht und versuchten, wo es ging, lieber mit rußland-freundlichen Konservativen zu verhandeln. Das war von ihnen aus gesehen sinnvoll, denn ein Graf Brockdorff-Rantzau würde ihnen keine Lektionen über die Vorzüge der Demokratie und die Notwendigkeit der Freiheit in einer sozialistischen Gesellschaft erteilen. Was Hitler und den Nationalsozialismus betrifft, so haben die Russen anscheinend erst viel zu spät begriffen, worum es eigentlich ging. Im Jahre 1930 waren sie fest überzeugt, Hitler sei „erledigt" (die Bourgeoisie brauche ihn nicht mehr und habe sich seiner Dienste entledigt, oder so ähnlich hieß es in der Großen Sowjet-Enzyklopädie). Zuerst bezeichneten sie den Nationalsozialismus als „eine radikale kleinbürgerliche Bewegung", später als die „Prätorianergarde des Monopol-Finanzkapitalismus". Selbst ein so erfahrener Beobachter wie Radek glaubte nicht, daß Hitler wirklich Erfolg haben könne; seine Reden enthielten „keine Tatsachen und Zahlen", sondern nur „hemmungslose Gefühle". Das könne doch nicht gut genug sein für so differenzierte, gebildete Leute wie die Deutschen! Die Sowjet-führer spürten nie die enorme Anziehungskraft eines auf die Spitze getriebenen Nationalismus und konnten nicht begreifen, daß Hitler niemandes Schutzmann, Diener oder Werkzeug war. Selbst als Moskau erkannte, daß Hitler nichts Gutes im Schilde führe, gelang es den Sowjetführern überhaupt nicht, das, was sie den „deutschen Faschismus" nannten, realistisch einzuschätzen; sie glaubten, es handele sich um eine neue, modernisierte Ausgabe des wilhelminischen Imperialismus. In der UdSSR wurden zahlreiche marxistisch-leninistische Arbeiten über weit entlegene Länder veröffentlicht, in denen es kaum eine Arbeiterklasse, geschweige denn eine kommunistische Partei gab, wollte man aber ein sowjetisches Buch nennen, das sich mit einer Analyse des Nationalsozialismus befaßte, so geriete man in Schwierigkeiten. Stalin gab seinen Ideologen keine Anleitung und griff Hitler persönlich nie an; auch in bezug auf den Nationalsozialismus war er merkwürdig zurückhaltend. Nach Abschluß des deutsch-russischen Abkommens von 1939 mußten antinationalsozialistische Filme und Bücher aus dem Handel gezogen werden, was die Verwirrung nur erhöhte, über das neue Reich wußten die Russen so gut wie nichts. Die Deutschen kannten sie schon seit langem — ein nüchternes, fleißiges, wenn auch ein wenig langweiliges Volk. Während des Ersten Weltkrieges hatten Teile von Rußland eine deutsche Besatzung gehabt — aber das war kein besonders schreckliches Erlebnis gewesen. Auf das, was nun kam, waren die Russen psychologisch und politisch völlig unvorbereitet. Wenn Stalin Hitler falsch einschätzte, so hegte Hitler die phantastischsten Vorstellungen vom „jüdischen Bolschewismus". Natürlich glaubte er keinen Augenblick an den ganzen Unsinn über Sozialismus, Wirtschaftsplanung, historischen Materialismus, Klassenkampf und Kollektivierung. Das waren für ihn Phrasen, ein Rauchschleier, der das wahre Motiv und die treibende Kraft verdecken sollte — nämlich die gigantische Verschwörung des „rassischen Abschaums der Menschheit" gegen die „arische" Rasse. Die nationalsozialistische Presse lieferte dazu das nötige Material. Aus der Leiche des Bischofs von Woronesch sei Suppe gekocht worden, und die Tscheka habe die Mönche des dortigen Klosters gezwungen, sie zu essen. Ein Denkmal sei zu Ehren von Judas Ischariot errichtet worden. Fünfzig bis ziebzig Prozent der kommunistischen Führer litten an Syphilis. Trotzki sei ein Denunziant der zaristischen Polizei und später Direktor eines Möbeltransportunternehmens in Petrograd gewesen. Stalin sei früherer Hafenarbeiter in Tiflis gewesen

Gelegentlich nahm Hitler den Bolschewismus ernster. In einer Rede im Jahre 1932 sagte er voraus, die kommunistische Weltanschauung werde allmählich die ganze Welt erschüttern und sie, wenn man ihr nicht in den Weg trete, ebenso vollständig ändern, wie es das Christentum getan habe. Es handele sich dabei nicht nur um verschiedene „Produktionsmethoden". „Wenn die Bewegung sich weiter entwickelt, wird Lenin in 300 Jahren nicht nur als einer der Revolutionäre von 1917, sondern als Gründer einer neuen Weltlehre angesehen und vielleicht ebenso angebetet werden wie Buddha ..." Aber diese apokalyptischen Gesichter dauerten nie lange und wichen bald Hitlers üblicheren selbstsicheren Verwirrungen. In gewisser Hinsicht bedauere er den Sieg des Bolschewismus in Rußland nicht (so sagte er), denn dadurch sei es leichter, die große Aufgabe, die das Schicksal des deutschen Volkes sei, auszuführen — nämlich die Ausdehnung nach Osten. Der Bolschewismus werde, wenn ihm einmal eine überlegene politische und militärische Macht-entgegentrete, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Die Sowjetunion sei eine Verlängerung der deutschen kommunistischen Partei, und er, Hitler, werde sie ebenso leicht besiegen, wie er diese vernichtet habe. Einige nationalsozialistische Führer, darunter auch der junge Goeb-bels und die Gebrüder Strasser, teilten diese Ansicht über Rußland nicht und setzten sich zeitweise für ein deutsch-russisches Bündnis gegen den Westen ein. Joseph Goebbels hatte 1925 in einem kleinen Buch Die Zweite Revolutiongeschrieben: „Rußland ist ein Verbündeter, den die Natur uns gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens gegeben hat .. Er habe nicht die geringste Absicht, sich dem Chor der bürgerlichen Lügner und Nichtwisser, die Sowjetrußland diffamierten, anzuschließen. Zum Schluß siegten aber, wie üblich, Hitlers Wünsche und Visionen. Die nationalsozialistische Presse brachte täglich Meldungen über den bevorstehenden Sturz des Sowjetregimes auf Grund seiner Un-tüchtigkeit, Korruption und selbstzerstörerischen Haltung. Die nationalsozialistische Sowjetologie hatte nur eine einzige Aufgabe — die jüdische Abstammung aller bolschewistischen Führer nachzuweisen. Bei Karl Marx war das nicht besonders schwierig, aber der Fall Wladimir Iljitsch Lenin war schon komplizierter und bei Dshugaschwili-Stalin und den meisten seiner Handlanger wurde das Unternehmen außerordentlich schwierig. Aber diese Leute waren erfinderisch. Kerenski war ein Jude (Kirbis) und wenn man den Namen Lunatscharski ins Deutsche „zurückübersetzte", so lautete er „Mondschein"!

Insgesamt war Rußland also ein Land, das vom „rassischen Abschaum" beherrscht wurde und deshalb zum Untergang verurteilt war. Den Nazis stand 1941 eine große Überraschung bevor.

Hindernisse auf dem Wege zur Verständigung

So hat auf den deutsch-russischen Beziehungen ein Fluch gelegen. Manche sagen, Nikita Chruschtschows Bemühungen, ihn zu lösen, seien verfrüht gewesen. Jetzt ist, wie man kaum zu sagen braucht, die Zeit günstiger als je zuvor. Zwar haben die Kriegsjahre den Russen einen tiefen Schock versetzt, aber das ist zwanzig Jahre her und die Russen sind schlechte Hasser. Sie sehen allmählich ein, daß ihre Voraussagen über das Nachkriegsdeutschland sich nicht erfüllt haben; der Nationalsozialismus ist nicht wieder aufgelebt; der „revanchistische Angriff auf den Osten" hat nicht stattgefunden. Was die militärische Stärke der Bundesrepublik, die Stärke eines Kleinstaates, betrifft, so sind die Reaktionen der Russen — vielleicht verständlicherweise — durch die beinahe erlittene Niederlage von 1941 bedingt. ‘Sie haben die militärische Bedeutung des neuen Deutschland im Zeitalter der nuklearen Super-Mächte lächerlich übertrieben. Erst seit kurzem beginnen sie einzusehen, daß Rußland und Deutschland seit 1945 sich machtpolitisch in verschiedenen Größenordnungen bewegen und daß es für Bonn keine Möglichkeit des Aufstiegs gibt; militärisch wie politisch ist die Bundesrepublik keine Großmacht mehr.

Die westdeutsche Einstellung zu Rußland ist, glaube ich, in den letzten zwei Jahren freundlicher geworden. Dr. Adenauer wußte, daß Rußland „kein Freund des Westens" ist; im übrigen zog er es vor, ein Thema, das ihn im Grunde nicht interessierte, zu ignorieren. Für seine Landsleute war Rußland mehr denn je ein finsteres, in geheimnisvolles Dunkel gehülltes Rätsel. Millionen Deutsche waren während des Krieges in Rußland, und die Armut und das Elend, das sie dort sahen, erweckten den Eindruck, als seien die nationalsozialistischen Schlagworte vom slawischen „Untermenschen" wohl fundiert. Dennoch ließ sich nicht leugnen, daß die Russen heldenhaften Widerstand leisteten, große Fähigkeiten zur Improvisation an den Tag legten und sogar Waffen entwickelten, die manchmal besser waren als alles, was der Wehrmacht zur Verfügung stand. Die Ereignisse der Nachkriegszeit machten die Russen in Deutschland nicht beliebt; außerdem bestand das Problem der restlichen Kriegsgefangenen und vor allem das des geteilten Deutschlands.

Wir wollen gegen Konrad Adenauer nicht ungerecht sein; zu Zeiten von Stalins Ruß-land hätte es nicht viel ausgemacht, ob sein Verständnis für die „russische Frage“ feiner entwickelt gewesen wäre. Mitte der fünfziger Jahre setzten jedoch gewisse Veränderungen in der Sowjetunion ein, die die deutsche Öffentlichkeit bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit ganz und gar außer acht gelassen hat. Denn in Westdeutschland bedeutet „Bolschewismus" oder das „kommunistische Regime" tast immer die ostdeutsche DDR oder, wie sie lieber sagen, die „Sowjetische Besatzungszone". Was dort geschieht, überschattet in deutschen Augen alles, was sonst im kommunistischen Machtbereich vor sich geht. Das mag eine verständliche Reaktion sein, aber sie ist nicht geeignet, zu einer ausgewogenen Meinung über die politische Lage in Europa und in der Welt zu führen.

Ostdeutschland ist, darüber sind sich alle einig, der ärgerlichste der osteuropäischen Satellitenstaaten. Die wirtschaftliche Lage hat sich gebessert, aber es sind, anders als in allen osteuropäischen Ländern, keine Konzessionen an die Bedürfnisse und die Meinung des Volkes gemacht worden. Statt dessen kam die Mauer — geradezu ein Symbol des Scheiterns. Ulbricht und seine Genossen werden infolgedessen jetzt als „harte Stalinisten" angesehen. Aber trifft das wirklich genau zu? Unter günstigeren Verhältnissen hätte er sicher versuchen können, die Rolle eines Novotny oder Georgiu Dej, wenn nicht eines Janos Kadar zu spielen. Aber diese Verhältnisse bestehen nicht; drei Viertel Deutschlands liegen außerhalb seines Machtbereichs und üben eine ungeheure Anziehungskraft auf die große Mehrheit der Angehörigen seines Staates aus. Unter diesen Umständen muß die kommunistische Herrschaft in Ostdeutschland entweder eine Unterdrückungsherrschaft sein oder sich auflösen. Ulbricht und seine Mitarbeiter haben sich bitter beschwert über die Kritik, die seine osteuropäischen Genossen, in deren „revisionistischen" Augen er zu einer immer stärkeren Belastung geworden ist, an seiner Politik geübt haben. Sie können sich wohl liberale Gesten leisten, aber wie soll er in seiner exponierten Lage „die Hauptlast einer kapitalistischen Durchdringung" ertragen? Das ist die offizielle Psychologie Ost-Berlins. Ostdeutschland bleibt also das große Hindernis auf dem Wege zu jeder „russisch-deutschen Annäherung". Manche westliche Beobachter (und natürlich auch die Chinesen) haben erklärt, Chruschtschow sei bereit gewesen, „im Rahmen einer umfassenderen Lösung" Ostdeutschland aufzugeben. Das gleiche wurde damals von Stalin und 1953 von Berija gesagt. Ich glaube, die Behauptungen sind nachweislich falsch. Angesichts der chinesischen Bedrohung wollte Chruschtschow die Lage in Mitteleuropa „normalisieren". Aber konnte er das um diesen Preis? Die deutsche Frage betrifft alle europäischen Nachbarn Deutschlands. Ein geeintes Deutschland — selbst wenn es neutral oder sogar kommunistisch wäre! — wäre in den Augen Polens und der Tschechoslowakei eine starke Bedrohung. Chruschtschows Nachfolger befinden sich in ungefähr dem gleichen Dilemma.

Eine noble Vision

Wie wird das Ganze wahrscheinlich ausgehen? Jedenfalls wird es kein neues „Tauroggen", kein neues „Rapallo" geben, denn es gibt keinen gemeinsamen Feind, gegen den sich Ruß-land und Deutschland heute verbünden könnten. Die Westdeutschen sind immer noch überzeugt, daß die Vorstellung eines geteilten Vaterlandes zwar unerträglich sein mag, gar kein Vaterland zu haben aber noch schlimmer wäre. Das beste, was man in dieser neuen Phase deutsch-russischer Beziehungen erhoffen kann, ist also eine Übereinkunft, in Berlin die Dinge ruhen zu lassen oder einen neuen modus vivendi zu finden, der für beide Seiten annehmbar ist. Ulbricht, der bald in den Ruhestand versetzt werden dürfte, wird in absehbarer Zukunft durch einen Erich Honecker oder Willi Stoph ersetzt werden. Wieviel wird sich dann ändern? Der Handel zwischen beiden Teilen des Landes könnte ausgedehnt und einige kleinere Fragen könnten frucht-bringend besprochen werden. Aber für ein Manövrieren in den Hauptfragen besteht nicht viel Raum. Breschnjew mag, wie Jupiter, von sich sagen: Me quoque fata regunt (sein Vorgänger hätte wohl ein erdgebundeneres ukrainisches Sprichwort dem Vers Ovids vorgezogen!). Gibt es kein Entrinnen vor diesem Schicksal? Sind die Russen und die Deutschen dazu verurteilt, ebenso wie in der Vergangenheit auch in Zukunft Feinde zu sein, wobei die verschiedenen Gesellschaftssysteme dem alten Konflikt neue Schärfe verleihen? Auf lange Sicht betrachtet, sind die Aussichten weniger schwarz, als man auf den ersten Blick meinen könnte, denn der Ablauf der Zeit trägt manchmal zur Lösung auch der schwierigsten Probleme bei oder sorgt wenigstens dafür, daß sie überschaubarere Proportionen annehmen. Wenn Deutschland und Frankreich das uralte und immer wieder blutbefleckte Kriegsbeil begraben haben, könnten neue weltumfassende Spannungen und Konflikte den Streit in den zentralen und östlichen Teilen des europäischen Subkontinents ebenso kleinlich und sinnlos erscheinen lassen. Werden eines Tages die Mauern fallen und neue Generationen von Russen und Deutschen, unbelastet durch die bitteren Erinnerungen an die Vergangenheit, „auf der Suche nach einer besseren Welt" zusammenarbeiten? Das ist, so glaube ich, eine noble Vision, die nicht nur auf Phantasie beruht. Heute allerdings sind diese neuen Horizonte leider noch nicht einmal sichtbar. Es wird bestenfalls eine sehr langwierige Entwicklung sein, bestenfalls wird man hoffen können, daß die ersten kleinen und zögernden Schritte in dieser Richtung getan werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Aufstieg Josef Stalins bereitete den Rassen-fanatikern einige Schwierigkeiten — denn hatte Stalin nicht die Juden aus der höchsten Führung entfernt? Hier begriffen die Nationalsozialisten, daß sie, wenn sie ihre Äußerungen über Rassenfragen fortsetzten, ihre gesamte Einstellung zum Kommunismus ändern müßten. Das konnten sie aus verschiedenen Gründen nicht; daher der Entschluß, ihren antikommunistischen Feldzug fortzusetzen ohne Rücksicht auf das, was Stalin seinen jüdischen Rivalen angetan hatte.

  2. Louis Fischers vor kurzem erschienene Biographie Lenins enthält eine kritische Bewertung des gesamten Beweismaterials über Lenins Großvater mütterlicherseits, eines Arztes namens Blank, der wahrscheinlich die Grundlage für die Geschichte über Lenins „jüdische Abstammung" bildet.

Weitere Inhalte

Walter Laqueur, geb. 1921 in Breslau, ist Herausgeber der Londoner Vierteljahres-zeitschrift „Survey. A Journal of Soviet and East European Studies" und seit einiger Zeit Direktor der Wiener Library in London, die er zu einem Institut für zeitgeschichtliche Studien ausbaut. Neben zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen hat er die Bücher „Communism and Nationalism in the Middle East", „Die Deutsche Jugendbewegung", Köln 19624, und „Heimkehr", Köln 1964, geschrieben.