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Die Rote Garde und die „Lin-Piao-Linie" | APuZ 20/1967 | bpb.de

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APuZ 20/1967 Artikel 1 Die Rote Garde und die „Lin-Piao-Linie" Chinas Weg in die Krise. Das Vorspiel Militärpolitische Aspekte der chinesischen Kulturrevolution. Snows Urteil über Lin Piao

Die Rote Garde und die „Lin-Piao-Linie"

Karl A. Wittfogel

Man braucht nicht aus dem „Westen" zu kommen, um sich über die Unruhen zu wundern, die in jüngster Zeit das kommunistische China erschütterten. Die „Rote Garde" hatte die chinesischen Städte überflutet, drückte Straßen-namen, Geschäften, Häusern, Schulen und Colleges den Stempel einer neuen „Kulturrevolution" auf und veranstaltete Riesenkundgebungen, von denen die gewaltigste in Peking stattfand, an der Dutzende von hohen kommunistischen Würdenträgern teilnahmen und die von dem Vorsitzenden Mao Tse-tung — der wohlwollend lächelt, aber schweigt — und dem Verteidigungsminister, Lin Piao, der „im Namen des Vorsitzenden Mao und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei" spricht, geleitet wurde.

Berichte über diese Massenkundgebungen sind in ganz China und in der ausländischen Presse erschienen. Sie haben über die Bedeutung dieser „Revolution" für die innenpolitische Lage Rotchinas und seine Beziehungen zu anderen Ländern viele Fragen aufgeworfen und viele Erklärungen veranlaßt.

Drei Tatsachen können mit Leichtigkeit festgestellt werden: 1. Die Riesenkundgebungen, die soviel Publizität erhalten, haben die „Kulturrevolution" nicht hervorgerufen, und die „Rote Garde" ist erst in einem späteren Stadium dieser neuen „Erhebung" in Erscheinung getreten; 2. Lin Piaos Aufstieg begann bereits vor Jahren, aber er beschleunigte sich, als die Kulturrevolution Auftrieb erhielt; 3. diese Vorgänge spielten sich unter einem autokratischen Regime ab, und in einem autokratischen Regime muß die Rolle des Autokraten verstanden werden. Mao Tse-tung hat seit 1935 an der Spitze der Chinesischen Kommuni-stischen Partei gestanden. Seit 1949 ist er der oberste Beherrscher des chinesischen Festlands. Und die Fäden der Macht laufen noch immer in Maos Büro zusammen, ganz gleich, ob er sie selber bewegt oder nicht. Lin Piaos Karriere, die „Kulturrevolution“ und die Rote Garde müssen alle innerhalb dieses Rahmens betrachtet werden.

1. Ist Mao nicht gesund?

Abbildung 1

Chruschtschow erklärte 1960, daß Mao ein „Verrückter" sei. Es liegen in der Tat Beweise dafür vor, daß zu dieser Zeit (und früher) Maos Benehmen bereits einen irrationellen Zug aufwies. Die Beweise zeigen ebenfalls, daß die Verschärfung dieses Trends mit der Verschlechterung von Maos physischem Zustand zusammenfiel und möglicherweise zusammenhing.

Mao fühlt sich seit einigen Jahren nicht wohl; und dies hat seine politische Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. In den fünfziger Jahren hielt er noch öffentliche Reden, obwohl es selten lange Reden waren. Auf dem Achten Parteikongreß (im September 1956) wurde das politische Hauptreferat von Liu Schao-tschi gehalten, der damals allem Anschein nach der Thronerbe war. Und während Mao in der Folge noch einige lange Reden in geschlosse-nen Sitzungen gehalten hat, wurden die wichtigen öffentlichen Reden von einigen wenigen ihm nahestehenden Menschen gehalten, unter denen die prominentesten Liu Schao-tschi, Tschou En-lai und Teng Hsiao-ping waren. Lin Piao hielt zum erstenmal im September 1965 eine derartige Rede.

Hielt Mao es unter seiner Würde, eine Aufgabe zu erfüllen, die Lenin und Stalin sich vorbehalten hatten, solange es ihnen ihre Gesundheit erlaubte? Oder hielt er nicht die strategischen öffentlichen Reden, weil er dazu nicht länger fähig war? Hatte exzessives Kettenrauchen sein Opfer gefordert? Wie dem auch sei, eine ernste Verschlechterung von Maos physischem Zustand scheint in den letzten Jahren stattgefunden zu haben.

Nachdem er von November 1965 bis Mai 1966 nicht in der Öffentlichkeit gesehen worden war, entstanden Gerüchte über seine schwache Gesundheit, und die Begleitumstände bei seiner vielgepriesenen Schwimmleistung vom 16. Juli 1966 machten die Skeptiker nur noch skeptischer. Auf den letzten Photographien ist sein Blick glasig, sein Körper aufgeschwommen. Und während Berichten zufolge Mao gelegentlich einige Worte gesagt haben soll, hat er keihe öffentlichen Reden gehalten. Lächelnd, mit der Hand winkend, Beifall klatschend, steht er neben Lin Piao, der die Worte spricht, die aus dem Munde des höchsten Herrschers des Landes kommen sollten.

Die Verschlechterung von Maos Gesundheit scheint seine Wirksamkeit über das Reden-halten hinaus eingeschränkt zu haben. Diese Tatsache, die unter anderen Umständen wenig Bedeutung haben könnte, ist zu einer weiteren Gefahr für sein Regime geworden, das seit Jahren unter ernsten Schwächen gelitten hat. Die Verteidigungsmaßnahmen, die Maos Anhänger ergriffen haben, zeigen, daß sie sich völlig der politischen Bedrohung bewußt sind, die diese Schwächen für Mao und sein Regime darstellen.

2. Maos Stellung ist nicht gesichert

Als Mao 1965 beschloß, daß die wichtigste Erklärung über Pekings globale Politik von Lin Piao und nicht von Liu Schao-tschi, Tschou En-lai oder Teng Hsiao-ping abgegeben werden sollte, wählte er nicht nur einen Genossen aus, der sein Vertrauen genoß, sondern denjenigen, der den kompaktesten Machtapparat im kommunistischen China leitete. Tschous Macht — als Ministerpräsident — war zersplittert. Lius Kontrolle über die Gewerkschaften war schwach; weder ihm noch Teng war es gelungen, die Parteiorganisation ihren persönlichen Zwecken dienstbar zu machen, wie dies Stalin getan hatte, als er Trotzki und andere Rivalen beseitigte. Lin Piao schien 1965 nicht prominenter als andere Spitzenführer zu sein. Seitdem hat er sie alle überflügelt, offensichtlich im Einklang mit Maos Wünschen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war Mao imstande, alle entscheidenden Machthebel in seinen Händen zu halten und alle potentiellen Oppositionsnester ohne Schwierigkeit zu zerstören. Aber in den letzten Jahren hat er dies anscheinend nicht mehr tun können. In einem autokratischen Staat kann ein starker Herrscher allein regieren. Aber wenn der Herrscher aus dem einen oder anderen Grunde schwach ist und keinen tüchtigen Helfer (Wesir, Kanzler u. ä.) hat, vermögen Leiter widitiger untergeordneter Machtzentren ihre Kontrolle genügend auszudehnen, um den Herrscher zu stürzen. Dies ist das institutioneile Schema des Staatsstreichs unter den Bedingungen totaler Macht

Sprecher des Pekinger Regimes beschuldigten 1966 führende Parteimitglieder, einen Staatsstreich geplant zu haben. Diese Behauptung ist bisher nicht bewiesen worden. Aber es mag etwas Wahres daran gewesen sein. Was bekanntgeworden ist, zeigt, daß prominente Parteimitglieder, die die jüngste Politik des Regimes mißbilligten, die Herrschaft über wichtige Sektoren des kommunistischen Machtapparates gewonnen hatten. Sie konzentrierten ihre Kritik hauptsächlich auf zwei strategische Bereiche: das Dorf und die Armee.

3. Hai Juis Gespenst: Maos gefährliche Bauernpolitik

Seit den Tagen der Kollektivierung hatte Mao Tse-tung eine Agrarpolitik verfolgt, die die Bauern frustrierte und die Produktion niedrig hielt. Im Janüar 1959 war der damalige Verteidigungsminister Peng Te-huai sehr beunruhigt über die Krise auf dem Lande, die mit der Kollektivierung (1954/55) begonnen hatte und ihren Höhepunkt mit der Errichtung der Kommunen (1958) erreichte. Zuverlässigen Berichten zufolge lehnte Peng diese Agrarpolitik entschieden ab. Er wurde aber im August 1959 auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees der Partei in Luschan von Mao und seinen Anhängern geschlagen.

Peng wurde abgesetzt; Lin Piao ersetzte ihn im September 1959. Aber die Agrar-„Schwierigkeiten" verschwanden nicht. Realistisch eingestellte Parteimitglieder kamen zu der Auffassung, daß Maos Konzessionen an die Bauern völlig ungenügend waren und daß die Agrarkrise nur durch die Rückgabe des Landes an die Bauern und die Wiederherstellung der bäuerlichen Familienwirtschaft überwunden werden konnte.

Pekings Führer datieren heute den Beginn der „proletarischen Kulturrevolution" von November 1965 an, als ein Schanghaier Literatur-kritiker den stellvertretenden Bürgermeister von Peking, Wu Han, verurteilte, weil er die Agrarpolitik des Regimes in einem Drama, das den Titel „Hai Jui wird seines Amtes enthoben" trug und Anfang 1961 aufgeführt worden war, angegriffen hatte.

Wu Han hatte bereits vorher in einer Erzählung Hai Jui, einen Beamten des 16. Jahrhunderts, gepriesen, weil er schlechte Regierungspraktiken und ungerechte Beamte bekämpft hatte. Diese Erzählung war am 16. Juni 1959 veröffentlicht worden, einige Wochen vor der Konferenz in Luschan, auf der Peng Te-huai für eine radikale Änderung der Agrarpolitik eintrat. Wenige Wochen nach dieser Konferenz schrieb Wu einen Artikel, in dem er Hai Juis Bemühungen um die „Rückgabe des Landes an das Volk", das heißt die Bauern, denen man es rücksichtslos geraubt hatte, ausdrücklich erwähnte. Wu Han fügte hinzu, daß „einige Leute von sich selber als Hai Juis und als zur Opposition’ gehörend sprechen".

Aber während sich Wu in diesem Artikel demonstrativ von den „Rechten" distanzierte, lieferte er ihnen bald neue Munition mit seinem Drama „Hai Jui wird seines Amtes enthoben", das Hais Kampf gegen die Tyrannei und für die Rückgabe des Landes verherrlichte. Wu Han gab im Dezember 1965 nach heftigen Angriffen auf ihn zu, daß die politischen Auswirkungen seines Dramas „sehr schlecht und ernst" gewesen seien, weil 1961, als es zuerst aufgeführt worden war, der „Wind der individuellen Bauernwirtschaft" geweht habe und sich laute Stimmen erhoben hätten für ein „Wiederaufnahmeverfahren in den Fällen, wo Fehlurteile gefällt worden waren", für die „Wiedergutmachung von Unrecht" und für die „Rückgabe des Landes"

Was der historische Hai Jui erreicht hatte, war bescheiden. Die Wiederherstellung des bäuerlichen Eigentums, die er durchsetzte, hatte nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit der Umwandlung des Kollektivlandes in private Bauernstellen. Aber Hai Jui hatte für die Rückgabe des Landes gekämpft. Im China der Nach-kommunen-Zeit war diese Tatsache höchst bedeutsam. Hai Juis Gespenst geistert noch immer über Maos China, eine grimme Erinnerung daran, daß es eine schleichende Krise auf dem Lande gibt und daß politisch wichtige Persönlichkeiten sie auf „Hai Juis Weise" überwinden möchten.

4. Die Bedeutung des Sturzes von Lo Jui-tsching: Maos gefährliche Armeepolitik

Ein anderes Angriffsobjekt der „rechten" Opposition ist die Art, wie Mao die Armee aufgebaut und eingesetzt hat. Wie das wirtschaftliche Hauptproblem, dem sie verwandt ist, ist auch diese Frage mit schweren Konsequenzen verknüpft. Sie berührt in der Tat die Sicherheit des Regimes so unmittelbar, daß sie nur von hohen kommunistischen Würdenträgern erwähnt wird, welche spezifische Erklärungen über die mangelhafte Ausrüstung und Ausbildung oder die nachteiligen Auswirkungen der schlechten Verhältnisse auf dem Lande auf die Moral der Soldaten sorgfältig vermeiden.

Ein Stoß von 29 zwischen dem 1. Januar und 26. August 1961 verteilten vertraulichen militärischen Bulletins, die in amerikanische Hände fielen, zeigt deutlich, daß diese Würdenträger die Probleme, um die es ging, sehr wohl verstanden hatten. Der Verteidigungsminister Lin Piao erwähnte sie jedoch nur nebenbei; er beschäftigte sich in der Hauptsache mit der Indoktrinierung der Soldaten mit der „Lehre von Mao Tse-tung".

Wie Lin, so erwies auch sein Stabschef Lo Juitsching Maos Lehre servile Reverenz, und er pries ebenfalls Lin Piaos Handhabung der Armee. Anfang der sechziger Jahre sagte Lo noch nicht, nach dem Armee-Bulltin zu urteilen, was Peng Te-huai im geschlossenen Parteikreis unmittelbar vor seiner Absetzung gesagt hatte. Aber er erklärte ganz deutlich, daß die Armee nicht das sei, was sie eigentlich sein sollte. Nach einer Inspektionsreise berichtete er, daß die Moral der Armee infolge der „Zustände in den Heimen vieler Soldaten'gesunken sei. Nachdem er das Fehlen einer „fröhlichen, forschen Stimmung'bedauert hatte, kam er zu folgender Schlußfolgerung: „Eine Armee, deren Angehörige mit gerunzelter Stirn und unglücklichem Gesicht und von schwerer Sorge bedrückt herumgehen, kann keine Kampfkraft besitzen."

Peng Ten-huai wollte selbstverständlich nie, daß die Armee entpolitisiert würde. Er war ein Kommunist und wollte eine kommunistische Armee haben. Aber er wollte ebenfalls eine verläßliche, kampffähige Armee haben. Pekings Behauptung, daß Peng im Namen einer starken Verteidigung eine „bürgerliche" Militärpolitik förderte, ist genauso entstellt wie die Behauptung, daß diejenigen, die die Rückgabe des Landes an die Bauern forderten, den Kapitalismus wiederherzustellen hofften.

Aber es ist nicht überraschend, daß das Regime diese Behauptungen aufstellte, um Peng politisch zu diskreditieren, noch ist es überraschend, daß es sie wiederholte, um Lo Jui-tsching und seine engen Mitarbeiter nach Los Verschwinden aus den Augen der Öffentlichkeit im November 1965 zu diskreditieren (er wurde erst Mitte Sommer 1966 offiziell durch einen neuen Stabschef ersetzt).

Auch von Lo wurde behauptet, er habe eine „bürgerliche" statt eine „proletarische“ Armee aufzubauen versucht, die nicht nur eine Streitmacht ist, sondern auch studiert, sich mit Landwirtschaft beschäftigt, Fabriken betreibt und Massenarbeit leistet „Bürgerliche“ Militärführer waren im Stande, ihre Posten so lange zu bekleiden, weil ihre demonstrativ zur Schau getragene Loyalität ihren Kampf gegen Maos Politik verbarg.

Hatten Lo und seine Freunde tatsächlich geplant, die Kontrolle über die Armee zu gewinnen? Sie mögen dies erwogen haben, falls die Dinge sich nicht besserten, und wahrscheinlich hatten sie Verbündete in nichtmilitärischen Parteikreisen. Offizielle Quellen behaupteten, daß sowohl die Armee als auch hohe nicht-militärische Parteimitglieder einen Staatsstreich planten, durch den die „bürgerlichen“ Revisionisten die maoistische Führung ersetzen würden. Das Zentrum dieser Verschwörungspläne war zweifellos das Pekinger Parteikomitee, dessen Vorsitzender, Peng Tschen, einer der engsten Kampfgefährten Maos bis 1965 gewesen war.

5. Das Pekinger Parteikomitee: die Gefahr eines Anti-Mao-Zentrums

In der Sowjetunion erlangten zwei regionale Parteiorganisationen zeitweilig eine überragende Bedeutung: die Leningrader und die Moskauer. Das Pekinger Parteikomitee kombinierte in sich die Bedeutung beider. Aber es war wie das Moskauer Komitee ernstlich dadurch behindert, daß sein Sitz ebenfalls der Sitz der Zentrale der Gesamtpartei und der politischen Polizei war.

Wie konnte dann Peng Tschen so viel Macht ausüben? Peng hatte in den dreißiger Jahren zusammen mit Liu Schao-tschi gefährliche Parteiarbeit geleistet. Die aus jener Zeit datierende Freundschaft war ihm Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre gut zustatten gekommen, als er versteckte Angriffe auf Maos Politik duldete und vielleicht sogar ermutigte. Diese Freundschaft erklärt weitgehend, warum Peng Tschen so lange unbehelligt blieb. Sie erklärt auch — wenigstens teilweise —, warum Liu Schao-tschi 1965, in dem Jahr, in dem Mitglieder des Pekinger Komitees offen angegriffen wurden, aufhörte, Maos bevorzugter Mitarbeiter zu sein.

Dieses Komitee hatte bereits 1958/59 Leuten mit „rechten“ Neigungen Zuflucht geboten.

Wie bereits erwähnt, war Wu Han stellvertretender Bürgermeister von Peking, als er über Hai Jui zu schreiben begann. Teng To schloß sich Pengs Kreis 1958 an, im Jahre des „Großen Sprungs" und der Kommunen, nachdem er seinen Posten als Chefredakteur des Zentral-organs der Partei, „Jen-min Jih-pao", verloren hatte. Von 1958 an war Teng ebenfalls der Redakteur der lokalen Halbmonatszeitschrift „Frontlinie"; er schrieb eine Anzahl satirischer Essays, die später wegen ihrer wgiftir gen" Anspielungen scharf angegriffen wurden. In einem 1961 veröffentlichten Artikel machte sich Teng To über die Leute lustig, die, nachdem sie ihr Denkvermögen verloren haben, „dumm und verrückt" zu sein scheinen. Subversive Ideen? Die Redakteure der führenden Tageszeitungen des kommunistischen China glaubten es, als sie am 8. und 9. Mai die Formel „dumm und verrückt“ unter ihren Beweisen für Tengs Feindseligkeit gegenüber der Partei und dem Sozialismus anführten. Lang gehegte Ideen? Die maoistischen Getreuen glaubten es, da sie sie bis zu den Jahren 1960/61 und in Wu Hans Fall bis zum Jahre 1959 zurückverfolgten und dazu bemerkten, daß diese Übeltäter schon viel früher* hätten entlarvt werden müssen. Politisch gestützte und orientierte Ideen? Maoistische Kritiker erklärten 1966, daß Teng, Wu und ihresgleichen zu dem revisionistischen „Königreich" gehörten, das sich um das Pekinger Parteikomitee herum entwickelt habe. Sie warnten, daß dieses Königreich tief verwurzelt und weit verzweigt sei.

Im November 1965 wurde Wu diskreditiert (wie jetzt erklärt wird: „unter Maos persönlicher Führung"). Am 8. Mai 1966 (zur selben Zeit, da Mao wieder in der Öffentlichkeit erschien) wurden Teng To und anderes „giftiges Unkraut" gebrandmarkt. Ende Mai wurde Peng Tschen aus dem Amt entfernt (ein neuer Bürgermeister von Peking wurde am 3. Juni ernannt). Aber nach Ansicht der Säuberer hatten diese Maßnahmen nicht das Anti-Mao-Königreich zerstört. Gab es einen Meisterkopf hinter den Kulissen, einen gefährlicheren „Monarchen" als der scheinbare „König", Peng Tschen?

Den Maoisten zufolge gab es ein sich über das ganze Land erstreckendes Netz von Personen, die mit Peng sympathisierten, Personen, die beherrschende Stellingen in der Partei und Regierung sowie im Erziehungswesen und in Literatur und Kunst bekleideten. Zu diesen Personen gehörten der Leiter des Propaganda-büros der Partei und der Erziehungsminister. Ein derartiges Netz stellte in der Tat eine Gefahr für Mao und sein Regime dar. Durch hohe Parteikadei in den Universitäten und Colleges konnten revisionistische Ideen vielen politischen Aktivisten in der akademischen Welt, Lehrern wie Studenten, übermittelt werden, und dies war offensichtlich auch geschehen.

Wer konnte nun den Angriff auf diese weit-verbreitete Verschwörung gegen Maos Politik wirksam führen? Welche Massenkräfte konnten zu diesem Zweck mobilisiert werden? Die Antwort auf die erste Frage ist einfach. Seit 1965 war Lin Piao Maos Vordermann gewesen. Die Antwort auf die zweite Frage ist komplizierter. Die wichtigste, sicherste Unterstützung kam natürlich von der Armee, die Lins direktes Werkzeug war. Die Maoisten konnten sich offenbar auch auf die Sicherheitsorgane und auf einige (aber keineswegs alle) strategisch placierte Parteisekretäre verlassen. Aber sie mobilisierten außerdem noch eine neue Massenorganisation junger Kämpfer, die „Rote Garde".

6. Lin Piao

Der Aufstieg Lin Piaos zur Spitze der chinesischen kommunistischen Hierarchie ist faszinierend, ob er nun siegen oder unlergehen mag. Seit Ende der zwanziger Jahre gehörte er zu den Freunden Maos. Das waren aber andere auch. Im Krieg gegen Japan und im Bürgerkrieg gegen die Nationalisten hatte er sich ausgezeichnet. Das hatten andere auch getan. Die Ursache seines Aufstieges ist eine andere. Man sagt von Lin, er habe sich 1958, in dem Jahr, in dem die Kommunen geschaffen wurden, in den Auseinandersetzungen mit Verteidigungsminister Peng Te-huai auf die Seite Maos gestellt. Und er unterstützte demonstrativ Mao, als es im Jahre 1959 durch die Kommunen verursacht zu Hungersnöten kam. Durch beides hat sich Lin nicht nur an eine Person gebunden, sondern an eine politische Linie, eine Linie, die eine riskante Armee-und Bauernpolitik und eine gewagte und gefährliche internationale Politik einschloß.

Die gewagte internationale Politik wurde in dem vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas am 14. Juni 1963 herausgegebenen Dokument „Ein Vorschlag zur Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung" niedergelegt. Dieses Datum ist nicht ohne Bedeutung. 1963 wurde das Pekinger Regime noch eindeutig von Mao geführt, und Lin Piao rangierte noch hinter Liu Schao-tschi und Tschou En-lai. So blieb es auch bis zum Frühjahr oder Sommer 1965. Dann traten aber einige wichtige Veränderungen ein. Am 3. September veröffentlichte Lin den Artikel: „Es lebe der Sieg im Volkskrieg". Der „Volkskrieg", den er meinte, war der revolutionäre Kampf vieler unterentwickelter Agrarländer gegen die „imperialistischen" Industrieländer. In seinem Artikel vertrat Lin die Ansicht, die Ereignisse der letzten Jahre würden es dem „Weltdorf" ermöglichen, die „Weltstadt“ zu erobern. Das war dieselbe Strategie, die Mao so erfolgreich während des Kampfes um die Macht in China angewandt hatte. Diese Strategie könne unter den neuen Gegebenheiten nun weltweit angewandt werden.

In dieser Weltstrategie sind die Befreiungskriege die entscheidende Form des revolutionären Kampfes. Die sowjetischen Führer, die Ihre Politik der friedlichen Koexistenz über alle anderen Erwägungen stellten, wurden heftig (und demagogisch) angegriffen, weil sie überhaupt kein Verständnis für die Befreiungskriege zeigten. Die chinesische Auffassung wurde von Lin in seinem. Artikel vom 3. September 1965 eindrucksvoll dargelegt. Aber war Lin der Vater dieser Idee? Viele Beobachter glauben dies, und daher finden wir oft Hinweise auf die „Lin-Piao-Linie". Richtig beantwortet werden kann diese Frage aber nur, wenn man zu diesem Komplex gehörende Erklärungen, die vor September 1965 abgegeben wurden, untersucht — unter ihnen und von größter Wichtigkeit der obengenannte „Vorschlag" des Zentral-komitees der Chinesischen Kommunistischen Partei vom 14. Juni 1963.

Lins Artikel hat die in dem „Vorschlag" vorgetragenen strategischen Überlegungen durch die Einführung der Begriffe „Weltstadt" und „Weltdorf" bereichert. Diese Begriffe sind an sich nicht neu. Sie sind bereits von dem jungen Lenin benutzt worden. Sie sind auch, in etwas anderem Sinne, von Bucharin verwendet worden, vor allem 1926 und 1927, als er der Vorsitzende der Kommunistischen Internationale war. 1965 hat sie Lin in einem wiederum neuen Sinne gebraucht, nämlich in Verbindung mit dem neuen strategischen Begriff des Volkskrieges. Dieser Begriff wurde aber, wie bereits oben festgestellt, vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas unter Führung von Mao geprägt, als Lin Piao noch nicht zu den engsten Mitarbeitern Maos zählte. Lin ist daher eifrig bemüht gewesen, sein wichtigstes Argument auf den Beschluß des Zentralkomitees von 1963 zu stützen. So wie es das Zentralkomitee damals tat, so stellte auch Lin 1965 die wachsende Bedeutung der revolutionären Bewegung in Asien, Afrika und Südamerika heraus. Und er wiederholte wortwörtlich den Kernsatz des „Vorschlags", daß heute „das Schicksal des internationalen proletarischen Kampfes vom Ausgang der revolutionären Kämpfe der Völker dieser Gebiete, die die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung stellen, abhängig ist."

Daraus folgt, daß die angebliche „Lin-PiaoLinie" von 1965 im wesentlichen die von Mao im Juni 1963 verkündete „Generallinie“ war. Mao handelte überlegt und folgerichtig, als er die Fortentwicklung der Generallinie Lin übertrug, von dem, nachdem er seine Innenpolitik rückhaltlos unterstützt hatte, erwartet werden konnte, daß er auch die internationale Politik Maos rückhaltlos unterstützen werde. Dieses Vertrauen war gerechtfertigt. Lin identifizierte sich vollkommen mit der zweiteiligen Politik Maos. Verständlicherweise wurde er Maos engster Kampfgefährte und sein erster Stellvertreter.

7. Die Rote Garde

Diese Umstände genügten, um aus Lin den neuen Kronprinzen zu machen. Das reichte jedoch nicht aus, um die vielen „Rechten", die den Sturz von Jui-tsching und Peng Tschen überlebt hatten, auszuschalten. Lins Aufstieg sicherte der Mao-Lin-Gruppe auch nicht automatisch die Loyalität aller Zweige des Partei-und Staatsapparates.

Der Versuch, diese beiden ernsten Probleme zu lösen, hat zu den spektakulären Ereignissen geführt, die die ganze Welt vor Rätsel stellen. War die Mao-Lin-Gruppe zu ungeduldig, um sich jener schleichenden und halblegalen Methoden zu bedienen, mit denen Stalin so geschickt alle seine offenen und heimlichen Feinde zur Strecke gebracht hatte? Oder war die Methode der Mobilisierung der Massen, die Mao bereits vorher so wirksam gefunden hat, erfolgversprechender? Auf jeden Fall entschlossen sich die Strategen der Mao-Lin-Gruppe, zur Niederringung ihrer Gegner sich der neuen Massenbewegung der „Roten Garden" zu bedienen. Ihre Entstehungsgeschichte wird uns helfen, ihren Charakter und ihr Vorgehen zu verstehen.

Entstehung: Die Forderung nach radikalen Reformen und einer Kulturrevolution tauchte schon lange vor 1966 auf. 1966 wurde sie aber mit besonderem Nachdruck erhoben. Die Pro-Mao-Führer wandten sich zunächst hauptsächlich an die „gesinnungstreuen* Intellektuellen, Universitätsprofessoren, Lehrer und Studenten. Im Juni 1966 begann man jedoch, sich auf andere Gruppen zu konzentrieren, möglicherweise, weil man eine gefährliche „parteifeindliche" Haltung unter den Studenten festgestellt hatte. Man nahm an, daß die Oberschulen vom „parteifeindlichen* Gift noch nicht zersetzt worden seien. Die offene und oft brutale Verfolgung der Gegner wurde von den Strategen der Mao-Lin-Gruppe daher in erster Linie den Schülern der oberen Klassen der Oberschulen und anderen Jugendlichen in etwa dem gleichen Alter anvertraut Der Begriff „Rote Garden* soll zuerst im Juni 1966 auf die Schüler einer zur Tsinghua-Uni-versität gehörenden Mittelschule angewandt worden sein, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Regierung alle höheren Schulen schloß und Neueinschulungen auf die Dauer von sechs Monaten untersagte. Angeblich war dies durch die „proletarische" Reorganisation des höheren Schulwesens, die in der Tat ein integraler Teil der „proletarischen Kulturrevolution" von Mao ist, notwendig geworden. Aber nach der Entbindung dieser jungen Menschen von ihren Schulpflichten war es einfach, sie zur Teilnahme an der revolutionären Tätigkeit zum Ruhme Maos zu bewegen. Nachdem ihnen in der ersten Hälfte des Sommers von 1966 erlaubt worden war zu „kämpfen", erließ das Zentralkomitee der Partei am 8. August einen aus 16 Punkten bestehenden „Beschluß über die große proletarische Kulturrevolution". Auf einer Massenkundgebung am 18. August wurden die jungen Kämpfer offiziell als „Rote Garde" anerkannt. Um ihnen einen amtlichen Anstrich zu geben, erhielten sie Armbinden mit dieser Aufschrift.

Sozialer Charakter: Eine proletarische Kultur-revolution sollte sich, wenn irgend möglich, auf die Arbeiterklasse stützen. Nach den Lehren Lenins können aber Nichtproletarier die Führung übernehmen, wenn nicht genügend Arbeiter zur Verfügung stehen oder wenn der Arbeiterschaft das politische Bewußtsein fehlt. Angeblich stellen in der neuen „proletarischen" Revolution Pekings Arbeiter und andere Werktätige die Hauptmacht. In dem „Beschluß" vom 8. August heißt es: „Die Masse der Arbeiter, Bauern, Soldaten, Intellektuellen und der revolutionären Kader sind die Hauptmacht dieser großen Kulturrevolution" (Punkt 2). Der offene Kampf sollte jedoch durch die „jungen Revolutionäre" geführt werden (Punkt 2). Diese „Wegbereiter", wie sie genannt werden, sind gesellschaftspolitisch eine undefinierbare „Masse". Sie treten in „kulturrevolutionären Gruppen, Komitees und anderen Organisationsformen auf, die durch die Massen in vielen Schulen und anderen Einrichtungen gebildet wurden". Sie sollen „hauptsächlich aus Vertretern der revolutionären Studenten bestehen“. Aber, und dieser Punkt gewinnt heute immer mehr Bedeutung, es heißt auch, daß die neuen kulturrevolutionären Organisationen „nicht nur für Universitäten, Schulen und andere Organisationen, sondern ganz allgemein auch für Fabriken, Bergwerke, andere Unternehmen und Dörfer geeignet sind' (Punkt 9; vom Vers, hervorgehoben).

Ziele: Der Tätigkeitsbereich der „Roten Garden" ist vielfältiger, als es die Formel „Kulturrevolution" vermuten läßt. Es gibt tatsächlich ein kulturelles Ziel, das nicht übersehen werden sollte. Aber das Hauptziel ist unzweifelhaft politisch: Der eigentliche Sinn der „großen proletarischen Kulturrevolution" ist, „jene sich im Amt befindenden Personen zu bekämpfen und zerschmettern, die den kapitalistischen Weg eingeschlagen haben" (Punkt 1). Das wird noch folgendermaßen präzisiert: „Konzentriert alle Kraft zum Schlag gegen die Handvoll von ultrareaktionären, brügerlichen Rechten und gegenrevolutionären Revisionisten, enthüllt und kritisiert ihre Verbrechen gegen die Partei, gegen den Sozialismus und gegen die Gedanken Mao Tse-tungs" (Punkt 5).

Wer sagt den jungen Revolutionären, wie sie diese Verbrecher gegen die Partei identifizieren sollen? Natürlich die Partei. Ihre so-genannte Massenerziehung erhalten sie „unter der Führung der kommunistischen Partei" (Punkt 9). In der Tat verlangt das Zentralkomitee „von den Parteikomitees auf allen Ebenen", daß sie die „richtige Führung" bei der Mobilisierung der Massen und bei der Entscheidung, wie die einzelnen politischen Angriffsobjekte behandelt werden sollen, übernehmen (Punkt 3).

Aus naheliegenden Gründen erwähnt der „Beschluß" nicht ausdrücklich die Parteimitglieder in der Armee. Aber die Erfahrung zeigt, daß die Genossen in Uniform die Führung übernehmen, wo immer die zivilen Genossen als nicht vertrauenswürdig betrachtet werden.

Aufgaben: Die „parteifeindlichen antisozialistischen Rechten" müssen zerschmettert werden. Jene, die nur „etwas Falsches gesagt oder getan haben, schlechte Artikel oder andere schlechte Werke geschrieben haben", müssen anders behandelt werden. Die Parteiführung muß sich „fest auf die revolutionäre Linke" stützen. Die reaktionären Rechten müssen völlig isoliert werden. „Die Mitte muß gewonnen und auf die Seite der großen Mehrheit gezogen werden, so daß nach Beendigung des Kampfes über 95 Prozent der Kader und über 95 Prozent der Massen auf unserer Seite stehen" (Punkt 5).

Methoden: Die Methoden, die dabei angewandt werden, müssen hart sein. „Habt keine Angst vor Unruhen. Vorsitzender Mao hat uns oft gesagt, daß eine Revolution nicht sehr vornehm, sanft, gemäßigt, nett, höflich, zurückhaltend und großmütig sein kann." Personen, die eine „schwarze“ Vergangenheit haben, müssen rauh angepackt werden. Die öffentlichen Demütigungen und die vielen Morde und Selbstmorde, die berichtet worden sind, sind das logische Ergebnis dieser Direktiven.

Aber jene Personen, die zu der großen Gruppe der „Mitläufer" gehören — in der kommunistischen Terminologie die „Grauen" •—, müssen anders behandelt werden. Genossen, die bereit sind, ihre Fehler einzugestehen, müssen dazu mit Kritik ermuntert werden. Debatten mit ihnen sollen „mit logischer Argumentation und nicht unter Anwendung von Zwang oder Gewalt geführt werden" (Punkt 6). Gewisse Personen von hohem Rang, wie Madame Sun Yat-sen und Tschou En-lai, wurden zwar „aus erzieherischen Gründen" verwarnt, treten aber weiterhin als prominente Mitglieder der Hierarchie auf.

Die „graue" Behandlung solcher „grauen" Elemente erfolgt also nicht, weil die Führer zögern, sondern weil sie überzeugt sind, daß ein gelegentlicher Schlag auf die Wange genügt, solche Elemente zur Generallinie zurückzuführen. Dabei liegen die Grenzen nicht immer fest. Und sicherlich machen die Roten Garden und ihre Mentoren auch Fehler. Vor allem erklärt die „graue" Behandlung nicht die Situation von Liu Schao-tschi und Teng Hiao-ping, die offensichtlich unter eine andere Kategorie fallen.

Wie dem auch sein mag, Kenntnis von der „grauen" Zone sollte uns davon abhalten, die Politik der Mao-Lin-Gruppe zu simplifiziert zu sehen. Erstens hat diese Politik zwei Hauptziele, und zweitens liegt ihr, trotz ihrer irrationalen Züge, ein ganz bestimmtes Programm und eine ganz bestimmte Richtung zugrunde.

8. Die wirkliche Bedeutung der Mao Lin-Linie

Wir können hier nicht die irrationalen Züge von Maos „proletarischer Kulturrevolution" behandeln. Die vielen Exzesse haben den irrationalen Trend, der die Innen-und Außenpolitik Pekings seit Mitte der fünfziger Jahre kennzeichnet, weiter verstärkt. Dieser Trend ist es auch, der Maos Regime nicht nur von der nichtkommunistischen Welt, sondern auch von großen Teilen der kommunistischen Welt, und vor allem von der UdSSR, unterscheidet. Auf innenpolitischem Gebiet ist Maos Agrarpolitik durch die erheblichen Konzessionen gemildert worden, die den Bauern zugestanden werden mußten, als die katastrophalen Folgen der Kommunen offensichtlich wurden. Obwohl die Lage seit 1962 besser geworden ist, ist Peking noch immer gezwungen, Lebensmittel zu rationieren und Getreide einzuführen. Es hat noch immer nicht den Mangel an Arbeitskräften überwunden, der die chinesische Landwirtschaft seit der Kollektivierung erheblich behindert hat.

Wichtige Teile der derzeitigen „Reform des Erziehungsweses" sind offensichtlich dazu bestimmt, der Landwirtschaft neue Arbeitskräfte zuzuführen. Nach Punkt 10 des „Beschlusses" vom 8. August soll die „Dauer des Schulbesuchs verkürzt" werden. Und während dieser kürzeren Dauer sollen die Schüler nur einen Teil ihrer Zeit dem Lernen widmen. Die übrige Zeit soll für „Arbeit in der Industrie, in der Landwirtschaft und für die militärische Ausbildung" verwendet werden. Diese Politik wird unter dem Schlagwort „Zur Hälfte Schule — Zur Hälfte Arbeit" verwirklicht. Dadurch erhält natürlich die Landwirtschaft mehrArbeitskräfte, die Industrie mehr Lehrlinge. So wie es geplant ist, wird aber das Studium in der Schule erheblich darunter leiden. Das schafft wiederum Hindernisse für die Ausbildung qualifizierter Fachkräfte.

Die „Schwierigkeiten" auf dem flachen Lande hatten, wie bereits erwähnt, seit den fünfziger Jahren nachteilige Auswirkungen auf die Ausbildung und die Moral der Armee. Im August 1966 wiederholte die chinesische Befreiungsarmee die Aufforderung, daß sich die Soldaten an „produktiver Arbeit", vor allem in der Landwirtschaft, beteiligen sollten. Dieses System, das bereits seit zehn Jahren betrieben wird, unterstreicht die Dauerkrise in der Landwirtschaft. Das erklärt auch zum Teil, warum Peking so zögert, sich selbst in einen kleinen, lokal begrenzten Krieg einzulassen (Beweis ist der Abbruch des Grenzkrieges mit Indien) und warum es bis jetzt die Viet-cong nur begrenzt unterstützt hat.

Die Kreml-Herrscher, die viele Möglichkeiten haben, sich ein Bild von der Lage im kommunistischen China zu machen, zeigen sich von der militärischen Macht Pekings wenig beeindruckt, wie Chruschtschows deutliche — vielleicht zu deutliche — Bemerkungen gezeigt haben. Trotz einiger Truppenbewegungen an der Grenze mit China haben sie wenig Grund, ihre Ansicht zu ändern. Pekings atomare Erfolge mögen einigen der engsten Nachbarn einen Schrecken einjagen. Für die Wirtschaft Chinas stellen sie aber eine gewaltige Belastung dar. Sie machen aus China keine Atommacht. Der Gedanke, daß das kommunistische China die Sowjetunion in einen ernsten bewaffneten Konflikt verwickeln könnte, ist sowohl vom Technischen wie vom Politischen her absurd. Nur ein total verrückter Mao oder ein ebenso verrückter Nachfolger würde einen Krieg anzetteln, der sehr wohl das Ende der maoistischen Herrschaft bringen könnte.

Es ist völlig unrealistisch, die innenpolitischen Auswirkungen der Mao-Lin-Linie zu übersehen oder zu erwarten, daß Moskau sich dem Westen annähert, weil es sich durch die militärische Stärke Pekings bedroht fühlt. Es ist ebenso unrealistisch, die außenpolitischen Konsequenzen der Mao-Lin-Linie — Pekings Entschlossenheit, Befreiungskriege in den Entwicklungsländern Südostasiens, Afrikas und Südamerikas auszulösen — außer acht zu lassen. Die Tatsache, daß in vielen Fällen der chinesische Einfluß durch sowjetischen Einfluß abgelöst worden ist, hat die maoistischen Führer nicht veranlaßt, auf die Verfolgung dieses Hauptziels ihrer globalen Politik zu verzichten. Die Tatsache, daß in Indonesien ihre Parteigänger vernichtet wurden, hat offensichtlich nur ihre Entschlossenheit verstärkt, den Krieg in Vietnam in Gang zu halten. Ein Waffenstillstand, der den Krieg unentschieden ließe, würde es den Kommunisten nur ermöglichen, überall in Südostasien „Befreiungskriege" auszulösen und Pekings Aktion „Ausbluten und Schwächen" in noch größerem Maßstabe fortzuführen.

Wir sollten auch nicht erwarten, daß die Aktion „Ausbluten und Schwächen" dann aufhört, wenn die gegenwärtigen Machthaber des kommunistischen China schließlich stürzen sollten. Im Augenblick sind sie dabei, ihre Kontrolle über die regionalen Parteikomitees und durch diese über die staatlichen Verwaltungsorgane zu verstärken. Offensichtlich beherrschen sie auch die ausschlaggebenden Massenmedien. Ihre überlegene strategische Position kann der Sieg ihrer politischen Linie bedeuten. Aber falls sie siegen sollten, werden die ungelösten inneren Schwierigkeiten zu neuen Versuchen ermutigen, sie zu stürzen. Sollte aber die „revisionistische" Opposition siegen, wird es höchstwahrscheinlich einschneidende Änderungen in der Innenpolitik und, früher oder später, eine Wiederherstellung guter Beziehungen mit Moskau geben.

Sollte dies eintreten, so würde die Industrialisierung Chinas erneut durch sowjetische Fachleute und sowjetische Kredite beschleunigt werden. Allerdings zu einem Preis: der Unterordnung Chinas unter die Sowjetunion. Moskaus Herrschaft über das kommunistische Lager, so lose diese auch organisiert sein mag, wäre dann wieder unbestritten.

Durch die Sowjetunion besitzt dieses Lager eine Waffe, die sich in China noch im ersten Entwicklungsstadium befindet: eine erstklassige nukleare Bewaffnung, die jede Möglichkeit für einen atomaren Überraschungsangriff und für atomare Erpressung bietet. Der Besitz dieser Waffe vervielfacht die Wirkung zweier anderer Waffen im kommunistischen Arsenal:

neuer ideologischer Argumente und neuer Formen des Befreiungskrieges.

Die ideologische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus rührt an Probleme solchen Ausmaßes, daß man sich auf die Erwähnung eines einzigen beschränken kann. Während die maoistischen Chinesen sich heute scheuen, ausländische Intellektuelle und Meinungsbildner in ihrem Sinne zu beeinflussen, setzen sich die Ideologen Moskaus und ihre intellektuellen Mitläufer und Freunde mehr und mehr in einer freien Welt durch, die ihrer Ideen und Werte immer unsicherer wird. In einem Augenblick, da das Scheitern von Kerngedanken der kommunistischen Lehre (Auffassungen, die den russischen „Sozialismus", die Bürokratie als herrschende Klasse und die leninistische These vom Imperialismus betreffen) die Tür zu einem Durchbruch an der ideologischen Front geöffnet hat, mißachten unsere politischen Sachverständigen (und Meinungsbildner) diese Möglichkeit, weil sie das große Erbe unserer Ideen mißachten, auf die sich ein solcher Durchbruch stützen müßte. Unwissenheit ist kein Argument. Auch Selbsttäuschung ist keines. Der Glaube, daß die sowjetische Form des Befreiungskrieges weniger gefährlich wäre als der maoistische Typ, wird durch das Verhalten der Sowjetunion zum Beispiel im Nahen Osten und in Südamerika widerlegt. Moskaus Rolle bei den jüngsten Ereignissen im Nahen Osten ist bezeichnend, seine Rolle in Südamerika noch aufschlußreicher. Die sowjetischen Delegierten bei der sogenannten Konferenz der drei Kontinente in Havanna im Januar 1966 vermieden die Terminologie und das Geschrei der Maoisten, während sie sich für die maoistische Methode des Partisanenkrieges einsetzten. Ihr Verhalten ist kennzeichnend für eine Weltpolitik, die unter dem Deckmantel der „friedlichen Koexistenz" auf eine Unterminierung der freien „Weltstadt“ durch Durchdringung und Unterwanderung des unterentwickelten und ruhelosen „Weltdorfes" abzielt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Wittfogel, Die orientalische Despotie, Köln 1962, S. 148 f„ 422.

  2. Jen-min Jih-pao vom 30. Dezember 1965.

  3. Tätigkeitsbericht 1961, Nr. 7. Siehe: „The Politics of the Chinese Army", Veröffentlichungen der Hoover-Institution, 1966, S. 203.

  4. Tageszeitung der Befreiungsarmee vom 1. August 1966.

Weitere Inhalte

Karl A. Wittfogel, Dr. phil., Direktor des Forschungsprojektes für chinesische Geschichte an der Washington-Universität in Seattle und Professor für chinesische Geschichte an der Columbia-Universität in New York, 6. geb. September 1896 in Woltersdorf b. Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 1924; Sun-Yat-sen, 1927; Chinesische Wirtschaft und Gesellschaft, 1931; New Light on Chinese Society, 1938; History of Chinese Society (Hrsg. u. Mitautor), 1949; Oriental Despotism, 1957 (deutsch: Die orientalische Despotie, Köln 1962); in Vorbereitung: China und Rußland (eine Untersuchung des Hintergrundes der gegenwärtigen Krise im kommunistischen China und in den sowjetisch-chinesischen Beziehungen).