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Chinas Weg in die Krise. Das Vorspiel | APuZ 20/1967 | bpb.de

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APuZ 20/1967 Artikel 1 Die Rote Garde und die „Lin-Piao-Linie" Chinas Weg in die Krise. Das Vorspiel Militärpolitische Aspekte der chinesischen Kulturrevolution. Snows Urteil über Lin Piao

Chinas Weg in die Krise. Das Vorspiel

Joachim Glaubitz

Anfang 1966 erhielt der Leser der chinesischen Presse den Eindrude, daß die Parteiführung in Peking mit der Intelligenzia des Landes sehr unzufrieden ist. Das war an sich nichts Bemerkenswertes. Diese Unzufriedenheit besteht ja allenthalben und nicht nur in kommunistisch regierten Ländern. China bildete also keine Ausnahme, zumal die Auseinandersetzung der Parteiführung mit ihren intellektuellen Kritikern — selbst in den eigenen Reihen — sich bis in die ersten Jahre der kommunistischen Herrschaft zurückverfolgen läßt.

So wurde die seit Mitte 1964 zu beobachtende wachsende Kritik an der chinesischen Intelligenz von den China-Beobachtern als eine der üblichen Auseinandersetzungen zwischen der Parteiführung und einzelnen gesehen, die sich dem totalen Herrschaftsanspruch der Partei nicht widerspruchslos unterordnen wollten. Diese Kritik war der Sache nach — wie wir heute rückblickend erkennen können — das Vorspiel zur „Großen Proletarischen Kulturrevolution", die im Frühsommer 1966 proklamiert wurde.

Wir können hier nicht im einzelnen diese frühen Angriffe gegen die chinesische Intelligenz behandeln. Als Beispiel sollen nur zwei wichtige Personen herausgegriffen werden, die in der politischen Publizistik der Hauptstadt eine große Rolle gespielt haben: Wu Han und Teng To.

Wu Han, 58 Jahre alt, Historiker, Publizist und — in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert — Stellvertretender Bürgermeister von Peking, hatte 1961 nach mehrfacher Umarbeitung ein historisches Drama veröffentlicht, das den Titel trägt: „Hai Jui wird seines Amtes enthoben". Im Herbst 1965, also vier Jahre nach Erscheinen des Stückes, hielt die Parteiführung seine schonungslose Verdammung für angebracht. Das Urteil lautete in chinesischer Manier: „Das Stück ist keine wohlriechende Blume, sondern ein giftiges Unkraut. Unterläßt man es, das Drama zu diskutieren, so wird dies der Sache des Volkes Schaden zufügen."

Die umfangreiche Auseinandersetzung mit Wu Hans Drama, aus der das soeben zitierte Urteil stammt, erschien am 10. November 1965 in der Schanghaier Zeitung Wen Hui Pao. Heute können wir sagen, daß dies der Startschuß für die „Kulturrevolution" war. Der ersten Kritik folgte eine Kette heftigster Angriffe gegen den Historiker, die sich über Monate erstreckte und Ende April 1966 auf andere Akademiker und renommierte Parteileute ausgedehnt wurde. Was hat Wu Han in seinem Drama geschrieben, das die Partei zu solch heftiger Reaktion veranlaßte? In dem Stück klagt das Volk über die Willkürherrschaft der Beamten. Trotz der historischen Kostümierung — es spielt im 16. Jahrhundert — ist der Bezug auf die gegenwärtigen Verhältnisse in China mit Händen zu greifen.

Man stelle sich vor: Die brutalen Maßnahmen der Partei zur Errichtung der Volkskommunen sind bei der Bevölkerung noch in frischester Erinnerung, da läßt (1961) Wu Han in seinem Drama die Worte sprechen:

„Gemeindebeamte und örtliche Despoten haben dem Volk das Land weggenommen und es seiner Existenzgrundlage beraubt. Dem Gesetz entsprechend ist das auf diese Weise enteignete Land zurückzugeben. Alle Verstöße gegen diesen Befehl werden geahndet."

Und dann folgt die Regieanweisung: „Die Menge hört schweigend zu und bricht dann in Hochrufe aus."

Das Drama ist in doppelter Hinsicht interessant: Erstens enthüllt Wu Hans Stück eine tief-greifende prinzipielle Unzufriedenheit mit der Führung Chinas durch Mao Tse-tung; denn Kritik an der Kollektivierung und Kommuni-sierung des Landes ist gleichbedeutend mit einer Kritik an den zentralen Maßnahmen der Partei unter Mao Tse-tung zur Umgestaltung der Gesellschaft.

Zweitens begegnen wir damit der Form des Widerstandes, die seit zweitausend Jahren in China üblich ist. Herrscher, mit deren Maßnahmen man nicht einverstanden ist, kritisiert man in verschlüsselter Form: in Parabeln, Gleichnissen, Anekdoten — und später dann in Dramen. Eine institutionalisierte Opposition hat es in China nie gegeben, und auch heute existiert sie weder inter Mao Tse-tung noch unter Tschiang Kai-schek. Die Intensität, mit der die Parteiführung es für nötig hielt, sich mit Wu Han auseinanderzusetzen, und die rasche Ausweitung der Angriffe auf Hunderte von namhaften chinesi-

schen Intellektuellen mit zum Teil hohen Funktionen in der Partei beweist, daß Wu Han kein Einzelfall war, sondern Symptom einer möglicherweise gefährlichen Opposition gegen die Parteiführung. Diese Führung hatte sehr genau erkannt, worauf Wu Han hinauswollte. In dem gegen ihn gerichteten Anklageartikel hieß es: „Genosse Wu Han forderte die anderen unmißverständlich auf, von seinem Hai Jui zu lernen. Was sind das am Ende für Dinge, die wir von ihm lernen können? Die Rückgabe des Landes? Auf unserem Land ist das sozialistische System des Kollektiveigentums verwirklicht und sind große Volkskommunen gegründet worden ... Soll es etwa besagen, daß die 500 Millionen Bauern, die entschlossen den sozialistischen Weg weitergehen, aufgefordert werden sollten, diese Rückgabe des Landes zu lernen?"

Nicht weniger beziehungsreich waren die Veröffentlichungen von Teng To, der wie Wu Han dem Stadtparteikomitee von Peking angehörte.

Der 55jährige Teng To war Chefredakteur der theoretischen Zeitschrift des Komitees. Er hatte damit eine führende Stellung in der ideologischen und kulturellen Arbeit der Stadtverwaltung inne. Seine Essays „Abendgespräche am Yenshan“ erschienen bald nach Wu Hans Drama im März 1961. Auch er kleidete seine gezielte Kritik an der Parteiführung in historische Allegorien, was ihm fünf Jahre später als „Sturm auf die Generallinie der Partei" vorgeworfen wurde.

Teng To trat zum Beispiel in einem hintergründigen Gedenkartikel über einen historischen „Kriegssekretär" unmißverständlich für den 1959 abgesetzten Verteidigungsminister Peng Te-huai ein. Er griff in einem Essay unter dem gefälligen Titel „Wie man Freunde gewinnt und Gäste unterhält" die Politik Mao Tse-tungs gegenüber der Sowjetunion an. Er sagte darin: „Wir sollen uns freuen, wenn ein Freund stärker ist als wir." Und in einer anderen Veröffentlichung schreibt er: „Wenn ein aufgeblasener Kerl meint, er habe das Einmal-eins erlernt und es werde auch weiterhin leicht gehen und seinen Lehrer hinauswirft, wird er überhaupt nie etwas lernen." Damit spielte er natürlich auf den von China provozierten Abzug der sowjetischen Techniker an

Kampf gegen die meinungsbildende Intelligenz

Die Attacke gegen Wu Han, die sich über sechs Monate hinzog, war der Auftakt zu umfassenden Angriffen gegen Schriftsteller, Filmskriptautoren, Dramatiker, Essayisten, leitende Redakteure von Zeitungen und Zeitschriften — kurz gegen alle diejenigen, die in maßgebenden Positionen die Mittel der Meinungsbildung in der Hand hatten. Diese Angriffe auf verschiedene Ziele begannen im April 1966. Daß sie selbst die ranghöchsten Verantwortlichen im Bereich der Propaganda und Kultur nicht verschonten, nämlich Lu Ting-ji, den Chef der Propaganda-Abteilung beim ZK der Partei, und Tschou Jang, seinen Stellvertreter, der für die Bereiche Literatur und Kunst zuständig war, ließ erkennen, daß es diesmal um mehr als nur eine begrenzte Korrektur ging.

Mao Tse-tung, der in seinen innenpolitischen Maßnahmen immer größten Wert auf die Umformung des Denkens, auf die Umerziehung gelegt hatte, mußte erkannt haben, daß weite Bereiche des Propagandaapparates nicht mehr zuverlässig waren. Umbesetzungen in den Re-daktionen, ja, die Schließung einer Reihe von Zeitungen und Zeitschriften waren die Folge dieser Erkenntnis. Seit Beginn der Kulturrevolution haben von 60 im Ausland beziehbaren Zeitungen und Zeitschriften 19 ihr Erscheinen einstellen müssen! Darunter sind auch die beiden Organe des kommunistischen Jugendverbandes und die Zeitung des Gewerkschaftsbundes. Die Nachrichtenagentur Hsinhua wechselte bereits zweimal ihren verantwortlichen Chef!

Im Lichte dieser Angriffe auf die meinungsbildende Intelligenz erhält ein Wort Mao Tse-tungs besondere Bedeutung, das am Anfang des ZK-Beschlusses zur Kulturrevolution vom August 1966 zitiert wird:

„Um eine politische Macht zu stürzen, ist es immer notwendig, vor allem die öffentliche Meinung zu schaffen und in der ideologischen Sphäre zu arbeiten. Das gilt für die revolutio-näre Klasse genauso wie für die konterrevolutionäre."

Der alte Revolutionär weiß genau, welche Bedeutung der Propagandaapparat für ihn wie für seine Gegner hat; er wird auch weiterhin alles versuchen, um dieses wichtige Instrument der Beeinflussung fest in der Hand zu halten. Trotz der bis in die Gegenwart andauernden Umbesetzungen in den Redaktionen der Provinz-zeitungen scheint es bisher keiner Mao-feindlichen Gruppe gelungen zu sein, einen Sender oder ein Presseorgan völlig in die Hand zu bekommen. Die in Schanghai erscheinenden Zeitungen „Wen Hui Pao" und „Chiefang jih-pao" müssen zeitweilig in den Händen der Mao-Gegner gewesen sein, denn Mitte Januar dieses Jahres wurde ihre Rückeroberung bekanntgegeben und von Mao Tse-tung als außerordentlich wichtig bezeichnet.

Man muß geradezu von einer Ironie der Ereignisse sprechen, wenn ausgerechnet das Blatt in die Hände der „Parteifeinde" gefallen sein soll, das einmal die Attacke gegen Wu Han angeführt hat.

Immerhin waren in der Nachrichten-Politik des letzten Jahres Unregelmäßigkeiten zu beobachten, wie es sie seit der Machtübernahme durch die Kommunisten nie in China gegeben hatte: Der erste Angriff auf Wu Han erschien am 10. November 1965 in der Zeitung Wen Hui Pao. Die Pekinger „Volkszeitung" — das Organ des Zentralkomitees — druckte diesen wichtigen Artikel mit dreiwöchiger Verspätung am 30. 11. nach. Das große Schwimmen mit Mao Tse-tung im Jangtse soll am 16. Juli 1966 stattgefunden haben. Die Zeitungen berichten erstmals über das gewaltige Ereignis unter Bezug auf dieses Datum mit neuntägiger Verspätung. Die Pekinger „Volkszeitung", die Rundfunkstationen und eine kommunistische Zeitung in Hongkong meldeten am 11. August in großer Aufmachung, daß Mao Tse-tung am Vorabend in Peking mit den revolutionären Massen zusammengetroffen sei. In Peking aber wurde die „Volkszeitung" mit dieser Meldung wieder eingezogen und eine neue Ausgabe gedruckt, die diese Meldung nicht mehr enthielt. Auch der Rundfunk erwähnte das Ereignis in seinen Nachmittagssendungen nicht mehr.

Macht über die Instrumente der Meinungsbildung ist politische Macht, und um politische Macht geht es heute in China. Die Angriffe gegen die Intellektuellen mit Funktionen im Propaganda-und Informationsapparat sind daher ein Wesensmerkmal der Kulturrevolution.

Kampf gegen die „Parteifeinde" im Sommer 1966

Ein weiteres wichtiges Charakteristikum dessen, was sich in China unter der Bezeichnung „Kulturrevolution“ abspielt, sind die Auseinandersetzungen um die politische Linie in der Führungsspitze der Partei. Die Umbildung des Stadtparteikomitees von Peking Anfang Juni 1966 war ein Ausdruck dieser Richtungskämpfe. Die Maßnahme richtete sich gegen Peng Tschen, den Vorsitzenden des Stadtparteikomitees und ersten Bürgermeister von Peking, der seit 1951 Mitglied des Politbüros des ZK ist und an neunter Stelle in der Parteihierarchie rangierte. Nun wurde schlagartig offenbar, warum sich die Angriffe ausgerechnet auf Wu Han und Teng To konzentriert hatten: Wu Han war einer der Stellvertreter Peng Tschengs und Teng To war ebenfalls Mitglied des Stadtparteikomitees und galt als Ratgeber Pengs. Die darauf folgenden Umbesetzungen im hauptstädtischen Parteiapparat zeig-ten, daß dieser mit Leuten durchsetzt war, die der Politik Maos mindestens kritisch gegenüberstanden. Inzwischen — und das ist kennzeichnend für die unstabile Situation — ist auch Li Hsüe-feng, der Nachfolger Peng Tschens, wieder abgelöst worden.

Die Umbildung des Stadtparteikomitees von Peking leitete die dramatischen Ereignisse des Sommers 1966 ein, deren Verlauf der stets ausgezeichnet informierte Tanjug-Korrespondent in Peking, Bogunovic, aus vielen an Ort und Stelle beobachteten Details zu einem Gesamtbild zusammengefaßt hat. Wir geben im folgenden ein kurzes Resümee seiner Darstellung: Am Abend des 27. April 1966 verbreitete sich unter den Korrespondenten in Peking die Nachricht, Peng Tschen sei verhaftet worden. Am folgenden Tag erwies sich jedoch die Information in dieser Form als unzutreffend. Der Oberbürgermeister von Peking war in der üblichen Begleitung von zwei Wachsoldaten in blauer Uniform gesehen worden. Vor seinem Amtssitz aber, dem Stadtparteikomitee, standen nun plötzlich mehr als ein Dutzend Solda-B ten der Armee in ihren Khaki-Uniformen. Sie hatten die Aufgabe, Peng das Betreten seines Amtssitzes zu verwehren.

Allmählich bestätigten sich Gerüchte, wonach sich das Zentralkomitee in ein Schanghaier ZK unter Mao und Lin Piao und in ein Pekinger ZK unter Liu Schao-tschi gespalten habe.

Die Aktion gegen Peng Tschen, der dem Politbüro angehörte, war eine Aktion des Schanghaier ZK gegen das Pekinger. Der Oberbürgermeister von Peking schien seine Amtsgeschäfte von seiner streng bewachten Residenz aus weiterzuführen, da er seinen Amtssitz nicht mehr betreten durfte. Man beobachtete, daß häufig Personen die Residenz besuchten und verließen.

Anfang Juni gelang es der Mao-Lin-Gruppe, mit Hilfe der Armee die Umbildung des Stadtparteikomitees zu erzwingen und gewaltsam die Informationsmittel „Jen-min Jih-pao" (Volkszeitung), Radio Peking und Hsinhua-Nadirichtenagentur unter ihre Kontrolle zu stellen ’).

Trotz des Verlustes des Propaganda-Apparates gaben Liu und Peng Tschen nicht auf. Sie versuchten nun im Stile des Sturzes von Chruschtschow eine Sondersitzung des ZK-Plenums zustande zu bringen, auf der Mao Tse-tung überstimmt werden sollte. Zur Verwirklichung dieses Planes war es aber notwendig, den einflußreichen Generalsekretär der Partei, Teng Hsiao-ping, zu gewinnen. Der dazu eingesetzte Erste Sekretär des Stadtparteikomitees, Li Hsüe-feng, diente — wie sich später herausstellte — als Vermittler.

Peng Tschen reiste zusammen mit Jang Schang-kun, Mitglied des ZK-Sekretariats, nach Nordwest-China und danach allein weiter nach dem Südwesten des Landes, um die ZK-Mitglieder dieser Regionen zu gewinnen. Der Erfolg seiner Bemühungen scheint beachtlich gewesen zu sein: Peng kehrte in Begleitung des Ersten Sekretärs des Südwest-Büros und Jang in Begleitung des Ersten Sekretärs des Nordwest-Büros des ZK nach Peking zurück.

Liu Schao-tschi konnte Anfang Juli berechtigte Hoffnung auf ein Gelingen seines Planes haben. Von den ersten Julitagen an trafen nacheinander die Mitglieder des ZK in Peking ein. Die prominentesten wurden in den Häusern von Liu und Peng untergebracht.

Auf Grund der sich in Peking versammelnden ZK-Mitglieder sagte der Tanjug-Korrespondent am 8. Juli in einer Meldung voraus, daß das 11. Plenum wahrscheinlich bald zusammentreten werde. (Drei Wochen später fand die Sitzung tatsächlich statt.

Am 15. Juli waren 51 Vollmitglieder (von insgesamt 90) und 38 (von 88) Kandidaten in Peking. Dabei fiel auf, daß die meisten ZK-Mitglieder aus Ost-China und aus der Region Mitte-Süd nicht gekommen waren. Offenbar hielten sie zum ZK von Schanghai. Der Südwesten und Nordwesten war fast vollzählig vertreten. Jedoch alle Mitglieder, die gleichzeitig über militärische Macht verfügten, waren der Einladung nicht gefolgt

Gerüchten zufolge sollte das Plenum am 21. Juli zusammentreten. Die Tage vom 17. bis 20. waren voller dramatischer Spannung: Am 17. Juli war plötzlich die Bahnverbindung zwischen Peking und Tientsin unterbrochen. Auf Anfrage der Korrespondenten hieß es, die Züge seien ausgebucht, man werde aber Nachricht geben, sobald wieder Fahrkarten zur Verfügung stünden.

Am Abend des gleichen Tages war das Gelände um den Bahnhof Peking abgesperrt und Passanten wurden von Soldaten zurückgewiesen. Am folgenden Morgen, also am 18. Juli, verbreitete sich die Nachricht, Lin Piao habe ein starkes Kontingent Truppen von Zentral-China nach Peking verlegt. Die Korrespondenten wurden einzeln telefonisch angewiesen, sich vorübergehend ausschließlich im Peking-Hotel aufzuhalten; mit anderen Worten: ihre Bewegungsfreiheit, die für einen Umkreis von 10 km bestand, war vorübergehend aufgeho-ben worden. Ein sowjetischer Diplomat, der am 19. Juli nach der Sowjetunion zurückfliegen wollte, wurde auf der Fahrt zu dem im Westen der Stadt gelegenen Pekinger Flughafen von Militärkontrollen angehalten und zurückgeschickt.

In den Vorstädten von Peking lagen Lin Piaos Einheiten in Bereitschaft. Ein Teil davon kam ins Stadtgebiet und nahm Lo Jui-tsching, den Generalstabschef, fest. Andere Verbände setzten sich in Richtung der Provinz Schansi in Marsch, von wo Truppen im Anmarsch auf Peking waren, um sich den Einheiten Lin Piaos entgegenzustellen. Der Kommandeur des Militärbezirks von Sinkiang und ZK-Mitglied Wang En-mao hatten auf Befehl des inzwischen festgenommenen Generalstabschefs Lo Jui-tsching eine in Schensi stationierte Division in Richtung Peking in Marsch gesetzt.

Der Divisionskommandeur aber fügte sich einem Telegramm von Mao, Lin und Jang Tscheng-wu, dem neuen Generalstabschef, nicht weiterzumarschieren. Er beugte sich diesem Befehl unmittelbar vor einem kritischen Zusammenstoß, der Bürgerkrieg bedeutet hätte.

Am Morgen des 18. Juli soll Mao Tse-tung alle Mitglieder des Zentralkomitees informiert haben, daß er in den nächsten Tagen nach Peking zurückkehren werde, um an einer Plenarsitzung teilzunehmen; ohne ihn dürfe keine ZK-Sitzung stattfinden. Liu Schao-tschi aber blieb bei der den ZK-Mitgliedern bereits mitgeteilten Absicht, die Sitzung am 21. Juli ohne Mao Tse-tung stattfinden zu lassen.

Die Entscheidung fiel in der Nacht vom 20. zum 21. Juli: Im letzten Moment zeigte sich Teng Hsiao-ping geneigt, dem Befehl Mao Tse-tungs zu folgen. Der plötzliche Gesinnungswechsel ließ es Liu Schao-tschi möglich erscheinen, eine Mehrheit gegen Mao zustande zu bringen. Die geplante Sitzung fand nicht statt.

Soweit die Darstellung des Tanjug-Korrespondenten Bogunovic Zweifellos ist der Bericht dort, wo er nicht auf unmittelbaren Beobachtungen des Korrespondenten beruht, hypothetisch. Solange es aber keinen überzeugenderen Rekonstruktionsversuch der Vorgänge gibt, besteht kein Grund, ihn einfach zu verwerfen. Die Tanjug-Darstellung ist inzwischen durch viele Details gestützt worden. Eine Bestätigung fand sich kürzlich in einer Pekinger Wandzeitung, in der Liu Schao-tschi und Teng Hsiaoping angeklagt wurden, vor einem Jahr eine Verschwörung zum Sturze Mao Tse-tungs geplant zu haben. Dies war die erste Anklage gegen beide, in der ihnen eine persönliche, direkte Beteiligung an einer Verschwörung gegen Mao Tse-tung vorgeworfen wurde Auf die jüngsten Angriffe gegen Liu kommen wir noch zurück.

Mao konnte nun, nachdem Teng Hsiao-ping sich auf seine Seite gestellt hatte, nach Peking zurückkehren. Das ZK tagte vom 1. bis 12. August unter Maos Vorsitz — wie es hieß — und veröffentlichte einen Beschluß zur Kulturrevolution und ein Kommunique. Beide Dokumente beweisen, daß es Mao noch einmal gelungen war, eine Mehrheit für seine Linie zu gewinnen. Schließlich bestätigte das Kommunique die bisher einschneidendste Veränderung in der Führungshierarchie: Lin Piao, der Verteidigungsminister, dessen Name als einziger neben Maos genannt wurde, war zur Nummer zwei in der Führungsspitze aufgestiegen. Der Staatspräsident Liu Schao-tschi hatte diesen Platz räumen müssen. Die dann folgenden Mammutveranstaltungen in Abwesenheit von Mao Tse-tung unterstrichen die enge Verbindung zwischen ihm und Lin. Lin Piao sprach wiederholt ausdrücklich im Namen Maos.

Die Rote Garde in Aktion

Nun trat die von beiden ins Leben gerufene Rote Garde in Aktion. Chinas Schulen hatten ihre Tore geschlossen und die Jugend ging auf die Straße, um die alte Welt zu zerstören. Sie mußte sehr bald ermahnt werden, weniger fortschrittlich Denkende nicht mit Fäusten, sondern mit Argumenten von der Notwendigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen.

Die westliche Presse betonte in unangemessener Weise gerade diese kurze Episode der Kulturrevolution und beklagte, daß unermeßliche Schätze der chinesischen Kultur vernichtet worden seien, was nach kompetenten Berichten aus Peking nicht stimmt. Kennzeichnend für diese Zeit war vielmehr, daß Rotgardisten in Privathäusern von „bürgerlichen Elementen" eindrangen, die Bewohner demütigten und quälten und beträchtliche Mengen an Gold, Silber und Bargeld Wegnahmen — eine erzwungene Staatsanleihe.

Von August bis Dezember 1966 strömten aus allen Provinzen Rotgardisten in die Hauptstadt, um Mao Tse-tung, dem chinesischen Übermenschen, zuzujubeln. Acht Großveranstaltungen — die letzte Ende November — hatten die Initiatoren der Kulturrevolution zu diesem Zweck organisiert. Elf Millionen Jugendliche sollen nach offiziellen chinesischen Angaben an diesen gigantischen Demonstrationen teilgenommen haben. Das ohnehin unterentwickelte Verkehrsnetz wurde durch den Transport von Millionen Rotgardisten überbelastet. Widerstand gegen die halbstarken Revolutionäre, die teilweise die Produktion empfindlich störten, brach in der arbeitenden Bevölkerung hervor.

Dieser Widerstand muß zuweilen sehr gefährliche Formen angenommen haben: So wurde Mitte November in der Presse ein chine-sicher Soldat als Vorbild herausgestellt, der im letzten Augenblick eine von — wie es hieß — Saboteuren quer über die Schiene gelegte Bohle zur Seite riß und damit einen mit Rotgardisten voll besetzten Zug vor dem Entgleisen bewahrte. Er selbst kam dabei ums Leben Das war ein vielsagendes Beispiel, mit dem das Vorhandensein eines aktiven Widerstands gegen die Rote Garde zugegeben wurde. Aber die Rote Garde selbst war kein geschlossenes Ganzes. Sehr bald traten einander widerstreitende Gruppen in Erscheinung, wie sich Wandzeitungen und Flugblätter entnehmen ließ.

In einem Flugblatt ruft eine Rotgardisten-Gruppe dazu auf, einer anderen keine freie Verpflegung mehr auszuhändigen, sondern sie fortzujagen, denn es handele sich um Kinder von „Grundherren, Kulaken, Konterrevolutionären, schlechten Elementen und Rechten“ — um Kinder nichtproletarischer Herkunft also.

Ein anderes Flugblatt wendet sich gegen die „jungen feinen Herren und Damen der Grundbesitzer und bourgeoisen Klasse“ mit den Worten: „Ihr dachtet, ihr könntet euch der vorübergehend bestehenden bourgeoisen Erziehung bedienen, um die Leiter höher emporzuklettern und weiße Experten zu werden, um in die Universität zu gelangen und mit Professoren und Experten zusammenzukommen. Euer Herz hing an einem kleinen Auto, einem kleinen modernen Haus, einem weißen Mantel, einem Laboratorium . . ., am Genuß des Komforts, am Reichtum, an einem guten Ruf, an einem guten Gehalt. Ihr dachtet, . . daß ihr vielleicht sogar ein kleines politisches Kapital aufbauen und etwas Macht erlangen könntet. Daß dann die friedliche Umwandlung käme und ihr wieder obenauf wäret und eure ruhmreichen Vorfahren ehrtet."

Hier tritt der Gegensatz zwischen den Kindern der unterprivilegierten Masse und den Söhnen und Töchtern der neuen oder wiedererstar-kenden Mittel-und Oberschicht offen zutage. Mao Tse-tung muß diesen Klassengegensatz gekannt und bei der Schaffung der Roten Garde bewußt mit seiner Verschärfung gerechnet haben. Es scheint so, als habe er Millionen von Jugendlichen das Ersatzerlebnis einer Revolution geben und damit dem Schwinden des revolutionären Bewußtseins in der jungen Generation — seine große Sorge — entgegenwirken wollen.

Die so ressentimentgeladenen, abenteuer-freudigen Halbstarken griffen — gesteuert und instruiert von der Armee — die Handvoll von „Hartnäckigen in der Parteiführung, die den kapitalistischen Weg gehen", in Wandzeitungen öffentlich an. Im Dezember konzentrierten sie ihre Kritik auf Liu Schao-tschi, den Staats-präsidenten, und auf Teng Hsiao-ping, den Generalsekretär der Partei.

Die offizielle Partei-und Armeepresse aber enthielt sich bis heute jedes namentlichen Angriffs gegen so hohe Staats-und Parteifunktionäre. Ist die „Handvoll von Parteifeinden" doch noch zu mächtig? Hat die Rotgardisten-Aktion das gehalten, was sich der Führer der „Kulturrevolution" von ihr versprach?

Unruhe unter Arbeitern und Bauern

Wir wissen nur, daß um die Jahreswende 1966/67 die Dinge eine für die Maoisten wenig Hoffnung erweckende Entwicklung genommen haben. Als im Dezember die Kulturrevolution entgegen früher geäußerten Absichten in die Industriebetriebe und die Volkskommunen getragen wurde, reagierten die Arbeiter und Bauern mit heftiger Opposition. Denn nun mischten sich Leute in den Produktionsprozeß, die von jeder Sachkenntnis ungetrübt waren. So kam es in Schanghai zu Zusammen-stoßen zwischen Mao-treuen Revolutionären und Arbeitern.

Die Gegner Maos in leitenden Stellungen in den Betrieben und im Stadtparteikomitee riefen die Arbeiter zum Streik auf und veranlaßten Abgeordnete aus den Betrieben und dem Hafen, nach Peking zu fahren, wo sie ihre Klagen über die von der Kulturrevolution verursachte Störung in der Produktion und Forderungen nach höheren Löhnen vorbringen sollten. Reise-und Unterhaltskosten* zahlten die Betriebskassen, wobei auch Gelder angegriffen wurden, die für die Produktionsfinanzierung bestimmt waren. Das Beispiel der Studenten und Schüler, die monatelang auf Staatskosten durchs Land gereist waren, begann Schule zu machen.

Bald wurden ähnliche Ereignisse auch aus anderen Städten und vom flachen Land gemeldet. Die offizielle, das heißt Mao-treue Presse sprach von einer „neuen konterrevolutionären Attacke des Feindes", und ein dringender Appell an die Bevölkerung folgte auf den anderen. Unterzeichnet sind diese Appelle von „Revolutionären Rebellen-Organisatio-nen", die teilweise mit Rotgardisten-Gruppen identisch zu sein scheinen. Sie machen den Stadt-bzw. Provinzparteikomitees sowie Betriebs-und Kommunenleitungen den Vorwurf des „Ökonomismus", das heißt durch materielle Vergünstigungen das Entlohnungs-und Versorgungssystem sowie die Staatsfinanzen in Unordnung gebracht zu haben

Sie hätten die Bauern zum Widerstand gegen die Übererfüllung der Produktionsziele aufgewiegelt und versucht, einen freien Markt auf dem Lande zu schaffen. Sie hätten ferner einen großen Teil der öffentlichen Fonds und das für das Kollektiv der Produktionsbrigaden bestimmte Getreide verteilt nach der Devise „alles essen — alles verteilen". In einer Sendung des Inlandsdienstes von Radio Peking vom 20. Januar heißt es: „Es gelang ihnen, den schwarzen Wind des Ökonomismus über den ländlichen Gebieten wehen zu lassen. Sie wiegelten eine große Zahl von Bauern auf, ihre Produktionsstätten zu verlassen und in die Stadt zu ziehen, um unvernünftige Forderungen nach wirtschaftlichen Vergünstigungen zu stellen."

Das ist im Grunde nichts weniger als das Eingeständnis von Bauernaufständen — ein seit ältester Zeit in China probates Mittel, bestehende Mißstände zu beseitigen. Inzwischen ist die Armee eingesetzt worden. Zum erstenmal in der kurzen Geschichte der Chinesischen Volksrepublik gibt die Parteiführung zu, daß es nötig ist, auf die Armee zur Wiederherstellung der Ordnung zurückzugreifen. Aber kann sich Mao Tse-tung auf sie verlassen? Nachdem der Generalstabschef und mit ihm wenigstens sieben Generäle, ein Marschall und ein Admiral kritisiert wurden und die Armeezeitung am 12. Januar erstmalig von einer „kleinen Clique von Kapitalisten an der Macht und einer sehr kleinen Zahl von hartnäckigen, reaktionären bürgerlichen Elementen in der Armee“ sprach, sind oppositionelle Gruppierungen auch hier nicht mehr einfach auszuschließen.

Die Organisation der Partei vom Provinzparteikomitee abwärts scheint sich in einem desolaten Zustand zu befinden. Die Befehls-kette von oben nach unten soll nun über die Mao-treuen Revolutionären Rebellen-Komitees laufen. Aber läßt sich eine neue Organisation so hastig funktionsfähig machen? Und werden die unruhig gewordenen, unzufriedenen Bauernmassen gehorchen? Was geschieht mit den außer Funktion gesetzten Parteikadern?

Die Ereignisse seit Mitte Februar brachten nur teilweise Antworten auf diese Fragen. Da die Maoisten sämtliche Presse-und Propaganda-mittel in der haben, wird verständlich, Hand daß immer und immer wieder die Erfolge der Kulturrevolution herausgestellt werden. Wären diese Erfolge in Wirklichkeit so groß, dann müßte die „Handvoll" von Parteifeinden längst ausgeschaltet sein. Doch ist noch immer von ihr die Rede, und die „Konterrevolutionäre'setzen immer wieder zum „Gegenangriff" an. Wir dürfen also annehmen, daß der Einfluß der meisten mit formelhaften Wendungen bezeichneten Mao-feindlichen Kräfte sehr viel stärker ist als offiziell zugegeben wird.

Erst kommt das Essen . ..

Die Frühjahrsfeldbestellung rückte in den vergangenen zweieinhalb Monaten mehr und mehr in den Mittelpunkt und zwang die Veranstalter der Kulturrevolution dazu, beträchtlich zurückzustecken. Am 11. Februar rief ein Leitartikel der „Volkszeitung" zum Frühjahrs-pflügen auf und forderte, daß der revolutionäre Enthusiasmus aus der Kulturrevolution nun für die Feldarbeit nutzbar gemacht werden solle; denn „die Landwirtschaft ist die Grundlage der Volkswirtschaft. Eine reiche oder magere Ernte wirkt sich direkt auf die Volkswirtschaft und das Leben des Volkes aus und beeinflußt die große proletarische Kultur-revolution unseres Landes".

Eine alte Wahrheit konnte nun wieder nüchtern ausgesprochen werden. Sie wurde bald vom Zentralkomitee der Partei in Form eines besonderen Dokuments sanktioniert, in dem auch »jene Genossen, die Fehler gemacht haben", aufgerufen werden, bei der Frühjahrsbestellung mitzuarbeiten Die im Januar im Anschluß an die „Machtübernahme durch die revolutionären Rebellen" in Schanghai in einigen Teilen des Landes vorgenommene Entmachtung der alten Funktionäre in den Stadtparteikomitees und den Kommunen-leitungen hat sich sehr rasch als Pyrrhus-Sieg erwiesen: die neuen Besen kehrten nicht. Der bedeutsame Artikel im theoretischen Organ der KP Chinas, der „Roten Fahne", unter der vielsagenden Überschrift „Richtige Behand-sung der Kader unbedingt erforderlich" weist unmißverständlich auf diese Fehler hin: „An manchen Stellen fordert eine Minderheit von Leuten: . Alles was sich Leiter nennt, ist zur Seite zu schieben'. Eine solche Forderung entbehrt jeder Klassenanalyse und stellt die Massen in Opposition zu allen Kadern, und dadurch wird die Speerspitze des Angriffs nicht auf eine Handvoll Machthaber, die den kapitalistischen Weg gehen, sondern auf die Masse der Funktionäre gerichtet."

Die Masse der Funktionäre in Institutionen der Partei und Regierung sei gut, heißt es In dem Artikel weiter. Bei Funktionären, die Fehler begangen haben, müsse man sowohl ihre Fehler als auch ihre Leistungen sehen ... und eine sachliche Einschätzung vornehmen.

Daraus spricht nichts anderes als Pragmatismus. Die in Organisation und Führung erfahrenen Leute werden ganz einfach gebraucht, um den Apparat nicht im Chaos versinken zu lassen.

„Die richtige Behandlung der Kader ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt das entscheidende Problem, um in der Frühjahrsfeldbestellung gute Arbeit zu leisten."

Kulturrevolution als Freizeitbeschäftigung

Der deutlich realistische Kurs beschränkt sich nicht nur auf die Landwirtschaft. Dem Brief des ZK vom 20. Februar an die Bauern folgte am 18. März ein Brief an die Arbeiter, der jede kulturrevolutionäre Tätigkeit in die Freizeit verweist: „Ihr müßt in Übereinstimmung mit den Anordnungen des ZK der Partei fest am achtstündigen Arbeitstag festhalten und die Kulturrevolution während der Zeit außerhalb der acht Arbeitsstunden betreiben. Während der Arbeitsstunden ist es nicht gestattet, sich ohne triftigen Grund von seinem Produktions-und Arbeitsplatz zu entfernen... Es ist notwendig, das Personal, das aus der Produktion abkommandiert ist, beträchtlich zu verringern und den Arbeitsnutzen zu steigern." Am Ende des Briefes wird den Ar-heitern ausdrücklich empfohlen, das Dokument „während ihrer Freizeit" zu diskutieren. Auch im Bereich der Erziehung werden seit Mitte Februar andere Töne angeschlagen. Für die Grund-und Mittelschüler — für die Pflichtschuljahrgänge also — sind die schönen Tage mit freier Reise landauf und landab vorüber. Lehrer und Schüler wurden zurück in die Schulen beordert. Der Unterricht hat wieder begonnen. Es läßt sich noch nicht sagen, ob und wieweit die Forderung der Kulturrevolution, das Erziehungswesen von den Einflüssen der Bourgeoisie zu säubern, als erfüllt angesehen werden kann. Da China auch vor der Kultur-revolution nicht über genügend Lehrkräfte verfügte, um alle Schulpflichtigen zu unterrichten, ist kaum damit zu rechnen, daß am Lehrkörper größere Abstriche vorgenommen werden können. Einem Bericht von Radio Peking zufolge herrscht jedenfalls eine „neue, revolutionäre Atmosphäre in den Schulen“. Die erste Unterrichtsstunde war der Beschäftigung mit den Aussprüchen Mao Tse-tungs und dem Studium des 16-Punkte-Beschlusses vom August 1966 gewidmet. Aber auch der Unterricht in Rechnen, naturwissenschaftlichen und anderen Fächern sei wieder ausgenommen worden

Tschou En-lai — Mann der Mitte

Es ist interessant, daß mit der Rückkehr zu gemäßigteren, mehr den Erfordernissen der Realität entsprechenden Methoden Tschou En-lai, der Staatsratsvorsitzende und Ministerpräsident, stärker in Erscheinung trat. Auf einer Versammlung für arme Bauern in Peking am 19. März sprach Tschou „im Namen Mao Tse-tungs und seines engen Waffengefährten Lin Piao, im Namen des ZK der Partei, des Staatsrates, der Kommission für militärische Angelegenheiten und der Gruppe der Kultur-revolution“. Damit repräsentierte Tschou bei dieser Veranstaltung die wichtigsten Führungsgremien Chinas. In gleicher Eigenschaft sprach Tschou En-lai auch am 22. März auf einer Konferenz der Revolutionären Arbeiter Pekings und drei Tage danach auf dem Kongreß der Roten Garden der Pekinger Mittel-schulen. Die Kulturrevolution ist ohne Zweifel unter dem Zwang der wirtschaftlichen Erfordernisse in eine gemäßigtere Phase eingetreten. Dodt Voraussetzung dafür war, daß Männer in entscheidenden Positionen die eigentlichen Initiatoren der Kulturrevolution von der Notwendigkeit eines gemäßigteren Kurses überzeugen konnten. Die dringliche Frühjahrsfeldbestellung war dafür ein starkes Argument. Maßgeblicher Repräsentant der nüchtern denkenden Führungsgruppe ist Tschou En-lai.

Die Rolle der Armee

Der Einfluß des Militärs (und damit Lin Piaos) ist deshalb aber keineswegs zurückgedrängt. Die Armee ist angewiesen worden, die Bauern bei der Feldbestellung energisch zu unterstützen. Diese Direktive läßt jedoch erkennen, daß es der Kommission für Militärische Angelegenheiten beim ZK nicht in erster Linie auf den Einsatz der Soldaten in der Feldarbeit ankommt, sondern vielmehr darauf, Kontrollfunktionen auszuüben. Die Direktive fordert die einzelnen Wehrbezirke auf, in der Hauptsache den örtlichen Führungsorganen und den Organen auf Provinz-, Sonderdistrikt-, Stadt-und Kreisebene und den Volkskommunen bei der Veranstaltung von Zusammenkünften über die Frühjahrsfeldbestellung zur Seite zu stehen, so daß die Pläne für die Feldbestellung auf einer soliden Grundlage entworfen werden können. Die Truppen werden ferner aufgerufen, ihre „Wachsamkeit gegenüber der Aktivität des Klassenfeindes" zu erhöhen

Die Direktive erschien drei Tage nach dem Brief des ZK an die Bauern. Wollte sich Lin Piao damit seinen Einfluß in einem lebenswichtigen Bereich sichern? Oder ist die Kontrolle der Bauern durch die Armee unerläßlich? Möglicherweise ist die unsichere Situation auf dem Lande, auf die bereits hingewiesen wurde, für den Verteidigungsminister ein willkommener Anlaß, seine Kontrollbefugnisse zu erweitern.

Die „Machtübernahme" in einigen Provinzen und Städten aus den Händen der Mao-Feinde erfolgte ohnehin mit Hilfe der Armee. Häufig kam es dabei zu Rivalitäten zwischen den zahlreichen Mao-freundlichen revolutionären Gruppen. Die Vokabel „Anarchismus" tauchte in diesem Zusammenhang auf, da offenbar unter den Revolutionären die Auffassung an Boden gewonnen hatte, „alles auszuschließen und alles niederzuschlagen". Der Aufruf zur Bildung einer „revolutionären Dreierverbindung" als provisorisches Machtorgan — von der am 5. Februar ins Leben gerufenen Schanghai-Kommune ist keine Rede mehr — versucht den rivalisierenden Gruppen entgegenzutreten. Diese Allianz soll sich aus „Verantwortlichen der wirklich die breiten Massen vertretenden revolutionären Massenorganisationen, Vertretern der Garnison der Volksbefreiungsarmee und revolutionären führenden Funktionären" (der Partei) zusammensetzen. Auch hier spielt die Armee eine bedeutende, wahrscheinlich die entscheidende Rolle:

„In den Institutionen, wo die Machtentreißung notwendig ist, ist, von den oberen bis zu den unteren Ebenen, die Mitwirkung der Vertreter der Armee oder der Volksmiliz bei der Bildung der „Dreierverbindung" unbedingt erforderlich ... Die Entsendung von Armeever-tretem in alle Stellen auf Kreisebene oder höher und die Delegierung von Vertretern der Volksmiliz in alle Volkskommunen und alle ihnen unterstellten Abteilungen sind eine ausgezeichnete Sache."

Der Hauptfeind in der Partei

Die kritischen Stimmen, die im März hörbar wurden, ließen erkennen, daß die „Dreierverbindung" zum Teil auf „beträchtlichen Widerstand“ stößt. In einigen Fällen bestehe sogar die Gefahr, wie es heißt, daß die Handvoll von Personen an der Macht, die den kapitalistischen Weg einschlagen, sich einen Weg in die Führungsgruppe der „Dreierverbindung" bahnen und diese in ein Werkzeug zur Wiederbelebung von Konterrevolutionären und die Wiedereroberung der Macht verwandelten Die Gefahr, auf die hier wieder angespielt wird, läßt uns die Frage aufwerfen, wie mächtig diese „Handvoll" tatsächlich ist und durch welche Personen sie verkörpert wird.

Die Beobachtungen des Tanjug-Korrespondenten Bogunovic, über die berichtet wurde, lassen Liu Schao-tschi als die zentrale Figur des Widerstandes gegen Mao Tse-tung erscheinen. Die Konzentration der Angriffe in jüngster Zeit in den offiziellen Organen der Partei scheinen diese Auffassung zu bestätigen. Unter dem Titel „Patriotismus oder nationaler Verrat" erschien der bisher schärfste Angriff auf den chinesischen Staatspräsidenten. Dem Artikel, als „Kommentar zu dem reaktionären Film , Die innere Geschichte des Ching-Hofes'" bezeichnet, wurde eine besondere Bedeutung gegeben, was darin zum Ausdruck kam, daß er vom 31. März bis 3. April täglich von Radio Peking in vollem Wortlaut verlesen wurde.

Der Film, der schon 1950 in China lief, sei damals von Mao Tse-tung und seiner Frau Tschiang Tsching als „nationaler Verrat" verurteilt worden. Konterrevolutionäre Revisionisten aber hätten sich Maos Ansicht widersetzt. Sie seien dabei von dem „größten Macht-haber in der Partei, der den kapitalistischen Weg geht", gestützt worden. Daß damit Liu Schao-tschi gemeint ist, der übrigens an keiner Stelle namentlich genannt wird, geht aus vielen Details des Artikels hervor, schließlich auch aus der vorwurfsvollen Frage, warum er 1962 seine „absurde Schrift über die Kultivierung des Selbst, das große giftige Unkraut" wieder veröffentlicht habe Im September 1962 aber erschien die zweite, überarbeitete Auflage von Lius Buch „Wie man ein guter Kommunist wird".

In die gleiche Richtung zielt ein Artikel in der Pekinger „Volkszeitung" vom 2. April, der die Zurückweisung der „Person an der Macht in der Parteispitze" fordert und sich mit dem schädlichen Einfluß beschäftigt, den das Buch dieser Person über die Kultivierung des Selbst angerichtet hat.

Ob es den Maoisten gelingen wird, Liu auszuschalten und seine Anhängerschaft zu isolieren? Es sieht nicht danach aus, als handele es sich dabei um eine relativ kleine Gruppe, vielmehr erwecken die Vorgänge den Eindruck eines alle Organisationen durchziehenden Widerstandes gegen die utopische Politik Mao Tse-tungs.

Nach all dem, was sich im letzten Jahr in China ereignet hat und nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge ist ein voller Sieg der Maoisten ausgeschlossen. Vieles spricht dafür, daß ein Kompromiß zustande kommt, daß die Maoisten mit den oppositionellen Kräften werden leben müssen, wenn sie nicht ihr Land dem wirtschaftlichen Chaos überantworten wollen. Aber schon ein solcher Kompromiß dürfte den Realisten in Peking mehr Einfluß als bisher auf die Führung des Landes bringen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. S. Ost-Probleme, 18. Jg., 1966, Nr. 18, S. 558.

  2. S. „Der reaktionäre Charakter der . Abendgespräche am Yänschan'und der . Notizen aus dem Dorf der drei Familien'", Chiehfang jih-pao und Wen Hui Pao, 10. Mai 1966; dt. in: Die Große Sozialistische Kulturrevolution in China (1), Peking 1966, S. 90 und 87.

  3. Ost-Probleme, a. a. O., S. 561.

  4. Ost-Probleme, 19. Jg. 1967, Nr. 4, S. 101. Dies soll Mao im Herbst 1962 auf der 10. Plenarsitzung des ZK gesagt haben. Möglicherweise fiel damals grundsätzlich die Entscheidung, gegen die Kritiker der Partei energischer vorzugehen.

  5. Bezeichnenderweise erscheint die „Volkszeitung“ seit 2. Juni in veränderter Aufmachung, ohne lateinschriftlichen Titel und ohne den üblichen Datumskasten in der rechten oberen Ecke, statt dessen stehen dort jetzt Mao-Zitate.

  6. Hier ist eine Unklarheit in Bogunovics Bericht. Er vermerkt, daß Ulanfu nach Peking gekommen sei. Dieser aber ist sowohl Erster Sekretär des Parteikomitees Innere Mongolei als auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte dieses Gebietes.

  7. Vgl. Survey of China Mainland Press, Hongkong, Nr. 3855, 9. 1. 1967.

  8. New York Times, 17. 2. 1967.

  9. Jen-min Jih-pao, Peking, 17. 11. 1966, „Tsai Yang-hsiang, mit ganzem Herzen Kämpfer für einen allgemeinen Kommunismus“.

  10. China News Analysis, Hongkong, Nr. 636, 11. 11. 1966.

  11. S. Joachim Glaubitz, „Ökonomismus“ — die Waffe gegen Mao, in: Ost-Probleme, 19. Jg. (1967), Nr. 4, S. 98— 101.

  12. Brief des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas an die ehemaligen armen Bauern und unteren Mittelbauern und an die Funktionäre jeder Ebene in allen Volkskommunen auf dem Lande. In: Peking Rundschau 1967/9, S. 6.

  13. Hungtschi (Rote Fahne), 1967/4.

  14. Hungtschi, 1967/4, S. 51.

  15. Brief des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas an die revolutionären Arbeiter und Leiter und die revolutionären Kader in Industrie-und Bergwerksbetrieben des ganzen Landes. In: Peking Rundschau, 1967/13, S. 5— 6.

  16. Radio Peking, 6. 3. 1967.

  17. Direktive der Kommission für militärische Angelegenheiten beim ZK vom 23. 2. 1967; in: Chieh-fangchün-pao (Zeitung der Befreiungsarmee), 25. 2. 1967.

  18. „Uber die revolutionäre . Dreierverbindung'", Hungtschi 1967/5; deutsch in: Peking Rundschau 1967/12, S. 18.

  19. Chiehfangchün-pao, 17. 3. 1967.

  20. Hungtschi 1967/5.

Weitere Inhalte

Joachim Glaubitz, Dr. phil., Studium des Chinesischen und Japanischen, 1962— 65 Leiter des Goethe-Instituts in Tokio, seit 1965 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln.