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Junge Generation und nationales Erbe | APuZ 37/1967 | bpb.de

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APuZ 37/1967 Junge Generation und nationales Erbe Nationalismus als pädagogisches Problem in Deutschland

Junge Generation und nationales Erbe

Herbert Eichmann

Nationales Erbe: Schwierigkeiten der begrifflichen Klärung

Es gibt ohne Zweifel viele junge Menschen in der Bundesrepublik, die auf der Suche nach einem neuen nationalen Selbstbewußtsein sind Der beachtliche, wenn auch manchmal dramatisierte Zulauf zu einer neuen rechtsextremen Partei, die oft heftigen Abwehrreaktionen gegen Personen und Kräfte, die weiterhin eine politische Selbstreinigung unseres Staates von einflußreichen ehemaligen Nationalsozialisten fordern, sowie schließlich das starke Drängen politisch interessierter junger Männer und Frauen nach einer konstruktiven und konkreten Deutschlandpolitik — solche und andere Symptome lassen dies deutlich erkennen. Die Träger der politischen Bildungsarbeit tun recht daran, an dieser Entwicklung nicht vorbeizugehen, sondern sie frühzeitig ins Auge zu fassen und zu analysieren. Dazu gehört auch eine klare Stellungnahme zu dem häufig verwandten, aber nichtsdestoweniger höchst problematischen Begriff „nationales Erbe", dessen Konturen im Nebel nationalistischen Wortüberschwangs nicht gerade gestochen scharf zu erkennen sind. Zu welcher Mystifikation sich auch heute noch anerkannte Gelehrte versteigen, mag das folgende Beispiel belegen:

Hans Freyer schreibt in seiner Weltgeschichte Europas: „Die Geschichte besteht aus harten, einmaligen und entschiedenen Tatsachen, und auch, was sie hinterläßt, ist von dieser Art." Das ist eine klare, nur zu unterstreichende Feststellung! Aber dann fährt er fort: „Doch diese Tatsachen sind anvertraute Geheimnisse, sind Erbe, die den Erben suchen." Was soll ein vernünftiger Mensch mit solchen Formeln anfangen? Muß man, wenn man als politischer Erzieher historisch arbeitet, das Geschäft der Orakeldeutung betreiben? Oder hat man Freyer so zu verstehen, daß es des Genius einzelner bedarf, das von der Geschichte anvertraute „Erbe der Tatsachen" zu erkennen und daraus die historisch angemessenen Folgerungen zu ziehen? Damit käme man in eine sehr bedenkliche Nähe faschistischen Seher-und Führerkults. Ähnliches gilt hinsichtlich der oft verwandten und schon fast poetischen Reihung der Worte „Erbe und Auftrag". Man findet sie als Titel von Lesebüchern ebenso wie als Leitmotive auf Parteitagen, deren Veranstaltern man ansonsten nicht gerade Neigung zu Lyrizismen nachzusagen pflegt. Damit verbindet sich, der romantischen Staatsphilosophie entstammend, die Vorstellung, daß eine Nation als eine Art Überperson verstanden werden muß, mit unverwechselbaren und nicht ersetzbaren Charaktereigenschaften, die im geschichtlichen Prozeß bewahrt und weitergetragen werden müssen. Zugleich erwirbt diese Uberperson geschichtliche Besitzstände — gebietsmäßige, allgemein machtmäßige und kulturelle —, die die göttliche Vorsehung, in welcher Gestalt auch immer, etwa auch und gerade in der gedanklichen Konstruktion des Hegelschen Weltgeistes, für eben diese Nation so gewollt hat und die gesichert, gegebenenfalls zurückgewonnen und selbstverständlich auch gemehrt werden müssen.

Wir werden im folgenden darauf verzichten, uns mit derartigen Geschichtstheorien noch näher auseinanderzusetzen. Der politischen Geschichte eines Volkes einen spezifischen Sinn zu unterlegen, ist unfruchtbare und wissenschaftlich nicht begründbare Spekulation.

Arnold Toynbee und vor allem Karl Popper haben dies in überzeugender Weise nachgewiesen. So mag der Schluß naheliegen, daß die Behandlung unseres Themas überflüssig geworden ist. Bei genauer Prüfung stellt er sich aber dann als voreilig heraus, wenn man den Begriff des Erbes ins Konkrete, zeitlich eng Umgrenzte wendet. Gerade für die politische Bildung bleibt es sinnvoll, ja notwendig, zu ermitteln, was die junge Generation der Bundes-republik als Hinterlassenschaft der staatlichen Gestalt der deutschen Nation, des deutschen Reiches von 1871— 1945, an für sie bedeutsamen politischen, gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Gegebenheiten vorfindet und wie man ihr helfen kann, damit zurechtzukommen. Das Thema enthält entsprechend einen diagnostischen und therapeutischen Aspekt. Beiden auch nur annäherungsweise gerecht zu werden, dazu noch in einem Aufsatz, ist angesichts des doch sehr diffusen und bisher wenig erforschten Gegenstandes ein mehr als waghalsiges Unterfangen. Wer es dennoch unternimmt, kann sich, wenn überhaupt, nur rechtfertigen mit dem Hinweis auf die wohl immer bestehenbleibende Kluft zwischen den Forderungen der praktischen Vernunft (die in unserem Falle möglichst rasch pädagogische Grundsätze zur Behandlung unserer nationalen Fragen erheischt) und den Geboten der Präsentation wissenschaftlich überprüfbarer, d. h. falsifizierbarer Aussagen.

Passive und aktive Bestandteile des nationalen Erbes

In der trockenen, aber präzisen Sprache der Juristen wird im BGB der Tatbestand der Erbschaft folgendermaßen umschrieben: „Nach dem Tode einer Person geht das Vermögen als Ganzes auf eine oder mehrere Personen über." Und in einem Kommentar heißt es erläuternd: „Vermögen ist auch gegeben, wenn die Passiven die Aktiven übersteigen." Analog kann man das nationale Erbe folgendermaßen definieren: Es ist jener politische und gesellschaftliche Besitzstand (Vermögens-stand), der nach dem Zusammenbruch des Drittenten Reiches auf die Bevölkerung beider Teile Deutschlands übergegangen ist. Zu diesem Besitzstand gehören sowohl aktive wie passive Bestandteile. Selbstverständlich ist das eine simple und zugleich problematische Definition. Aber sie hat doch mindestens den Vorzug, zu einem einigermaßen faßbaren Befund zu verhelfen, auf den die politische Bildung in diesem Bereich dringend angewiesen ist. Dieser Befund sieht etwa so aus: Die großen Passivposten der deutschen Bilanz, soweit sie für die Jugend der Bundesrepublik relevant sind, sind leicht auszumachen:

a) Die Spaltung Deutschlands in zwei Teilstaaten mit stark kontrastierenden Gesellschaftssystemen und Ideologien und mit einer außerordentlichen Erschwerung der Kommunikationsmöglichkeiten der Bevölkerung West-und Mitteldeutschlands. Dazu kommen große faktische Gebietsverluste im Osten, die allerdings völkerrechtlich noch nicht sanktioniert sind.

b) Eine bis heute nicht ausgeräumte Antipathie, gemischt mit Mißtrauen und Furcht gegen das deutsche Volk, als Folge der nationalsozialistischen militärischen Aggressionen und der im Zweiten Weltkrieg verübten Greueltaten. Diese Haltung ist besonders ausgeprägt bei den Völkern Osteuropas, aber man findet sie auch jetzt noch hier und da in Westeuropa, etwa in Holland und in Großbritannien, aber auch in den USA

c) Nicht nur die unter b) beschriebenen Reaktionen und Empfindungen der Außenwelt auf die nationalsozialistischen Gewalttaten und die militärischen Aktionen des deutschen Reiches gehören zur Hinterlassenschaft des deutschen Nationalstaates. Die Erinnerung an die gleichen Vorgänge ist für die Deutschen selbst, zumal für die unbeteiligte Generation, eine weitere Belastung. Hierher gehört auch das Gemenge von Verdrängungskomplexen vieler Angehöriger der mittleren und vor allen Dingen der älteren Generation. Die praktischen Folgen bzw. die Symptome dafür sind bis heute ein nicht zu leugnender Rückzug in das private Leben, ein bedenklicher Mangel an geistiger und moralischer Identifizierung mit dem politischen System der parlamentarischen Demokratie, dokumentiert vor allem durch eine im breiten Umfang vorhandene Aversion gegen die Träger dieses Systems, die politischen Parteien. Hinzu tritt eine überraschende Widerstandsfähigkeit, ja ungebrochene Anziehungskraft von nationalen Rechtfertigungsideologien, mit denen die durch den totalen Zusammenbruch von 1945 diskreditierten Wertvorstellungen wiederbelebt und legitimiert werden sollen.

Die Identifizierung der aktiven Besitzteile ist dann viel schwieriger, wenn man die oben vorgeschlagene Definition allzu wörtlich nimmt:

Die Etablierung der rechtsstaatlichen demokratischen Ordnung der Bundesrepublik;

die damit verbundene, wenn auch noch keineswegs befriedigende Entwicklung der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft;

die engen wirtschaftlichen und, nicht zu vergessen, neugeknüpften kulturellen Verflechtungen mit Westeuropa;

schließlich der sehr leistungsfähige Wirtschaftsapparat — zugleich die wichtigste Komponente des bedeutenden Machtpotentials der Bundesrepublik.

Dies alles ist ja nicht ein von dem deutschen Nationalstaat als Erblasser erwirtschaftetes bzw. vorbereitetes Ergebnis, sondern bedingt und bewirkt durch die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Einflüsse und Faktoren, wobei die Veränderungen der weltpolitischen Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg mindestens auslösende, wahrscheinlich aber unmittelbar wirkende Bestimmungsgrößen waren. Aber es kommt ja auch hier nicht auf eine genetische Erklärung, sondern vielmehr auf die sozialpsychologische Relevanz der gerade aufgezählten Tatbestände an. In diesem Sinne ist ihre Erwähnung hier nützlich, weil die obenerwähnten Tatbestände die Korrekturfaktoren für die negativen Positionen der Hinterlassenschaft darstellen bzw. erst eine Verrechnung beider Seiten der Bilanz ein objektives Bild unserer Situation ergibt.

Nationales Erbe — in welche Konflikte es die junge Generation bringt

Es erscheint mir nun zweckmäßig, an dieser Stelle das hier genannte Erbe daraufhin zu befragen, in welche Konflikte, Zweifel und Besorgnisse es die junge Generation bringt. Denn mit dem Versuch einer Behebung oder zumindest einer Milderung solcher Zweifel oder, viel bescheidener, einem Fähigmachen zu ihrem Durchdenken hat die politische Bildung es ja zu tun. Die folgenden von mir genannten Konfliktbereiche sind keine theoretischen Konstruktionen, sondern beruhen sowohl auf empirischen Untersuchungen wie auf persönlichen Erfahrungen.

Es sind im einzelnen:

Die Unsicherheit, ob es gelingen kann, das prinzipiell sicherlich beträchtliche Verlangen nach staatlicher Einheit mit dem Wunsch nach Aufrechterhaltung des freiheitlichen, stark konsumorientierten Lebensstils in Einklang zu bringen. Hierhin gehört auch die Skepsis, die aus der großen Diskrepanz zwischen dem Wiedervereinigungsanspruch und den seit zwanzig Jahren erzielten Resultaten der Wiedervereinigungspolitik erwächst.

Der Konflikt zwischen dem von vielen Erziehern in der Schule und in der außerschulischen Bildung erhobenen Anspruch nach einer gewissen Haftungsübernahme für das Unrecht, das im Zweiten Weltkrieg im Namen des deutschen Volkes anderen Völkern zugefügt wurde, einerseits und dem verständlichen Streben der jungen Menschen nach einem unbelasteten, voraussetzungslosen Neubeginn andererseits. Der Zwiespalt zwischen dem gerade in jüngster Zeit von größeren Teilen der älteren Generation und von gewissen Führungsschichten der Bundesrepublik ausgehenden Ruf nach einer neuen vorrationalen Bindung an Volk und Vaterland und der Verpflichtung auf die auf rationalen Kategorien beruhende demokratische Grundordnung des jungen Staates der Bundesrepublik.

Das alles kulminiert in einem starken, aber undeutlichen Verlangen nach einem neuen nationalen Selbstbewußtsein, besonders verstärkt durch die Beobachtung eines anscheinend ungebrochenen nationalen Selbstgefühls der jungen Männer und Frauen anderer Völker. Mit diesen Hauptanfragen der jungen Generation an die deutsche Politik und die politische Bildung wird man es in absehbarer Zeit zu tun haben. Ob man darauf überzeugende Antworten geben kann oder nicht, davon wird es wesentlich abhängen, ob zumindest die politisch interessierten jungen Männer und Frauen jenes Maß an Verhaltensstabilität entwickeln, das sie gegen radikale Einflüsse immunisiert. Gibt es ein übergreifendes Prinzip, von dem sich aus Hinweise für eine Lösung solcher Fragen erschließen lassen? Bevor darauf eine Antwort versucht wird, sollen die hier aufgezählten Konflikte im einzelnen analysiert werden.

Die junge Generation und die Deutsche Frage

Beginnt man mit dem Verhältnis der jungen Generation zum Problem der nationalen Einheit, so wird man, geht man empirisch vor, zunächst auf jene Erfolgsziffer des Berichts der Bundesregierung über die Lage der Jugend treffen, „daß rund 80 Prozent aller Jugendlichen die Wiedervereinigung Deutschlands für eine unabdingbare Pflicht halten, auch wenn die Aussichten dafür einstweilen sehr gering und der Weg sehr langwierig sein mag" Leider ist die Originaluntersuchung, aus der dieses Ergebnis entnommen wurde, im Jugendbericht der Bundesregierung nicht genannt. Dann hätte man nämlich prüfen können, auf welche Weise die Ziffer zustande kam. Muß man nicht nachdenklich werden, wenn man anderen Befragungen entnimmt, daß die emotionale Besetzung in der Wiedervereinigungsfrage doch ganz erheblich von der einer gewissen „Sollhaltung" widerspiegelnden Ziffer von 80 Prozent abweicht. Auf die in den Jahren 1961/62 (also nach der Errichtung der Mauer!) gestellte Frage: „Für welche Idee lohnt es sich nach Ihrer Meinung sein Leben einzusetzen?", nimmt die Wiedervereinigungsfrage bei Volksschülern zwar den zweiten Platz, bei Oberschülern aber erst den fünften Platz und bei Studenten gar den sechsten Platz ein. In einer von mir geordneten Tabelle einer Studie des Infratest-Instituts, das diese Ergebnisse ermittelt hat, sieht das im einzelnen so aus

Volksschüler 1.

Freiheit 11 % 2. Forschung und Wissenschaft 70/0 3.

Wiedervereinigung 7 0/0 4. Frieden 50/0 5.

Religion 4 0/0 6. Vaterland 3 °/ü Oberschüler 1.

Freiheit 44 °'o 2. Menschenrechte 9°/o 3.

Demokratie 5% 4.

Forschung 5°/o 5. Wiedervereinigung 4 0/Vaterland 6. 3 ®/o Studenten 1. Freiheit 38 0/0 2.

Religion, Kirche 9% 3. Demokratie 8°/o 4. Menschenrechte 6% 5.

Ideale Ideen 5% 6. Wiedervereinigung und Frieden je 3 °/o Bemerkenswerter noch als die Rangfolge ist das Verhältnis der mengenmäßigen Besetzung der einzelnen Wertkategorien. Bei Oberschülern ist das Verhältnis derjenigen, die sich bereit erklären, für die Freiheit ihr Leben zu wagen, zu denjenigen, die dies für die Wiedervereinigung tun wollen, 10: 1, bei Studenten sogar 13: 1. Auch die Menschenrechte und Religion und Kirche haben bei Oberschülern bzw. Studenten eine ungleich stärkere Bindungskraft als die Nation.

Man wird einwenden, daß diese Zahlen nichts anderes widerspiegeln als die Friedensliebe der jungen Leute. Dies steht aber einerseits im Widerspruch zu den Resultaten der oben aufgeführten Tabelle — bei Oberschülern und Studenten wird der Wert des Friedens nicht besonders stark betont —, zugleich aber hat die gleiche Studie von Infratest ergeben, daß auf die Frage, „wenn die Wiedervereinigung mit allzu großen Nachteilen verbunden wäre, sollte man es dann lieber beim heutigen Zustand belassen oder sollte man sie auf jeden Fall durchführen", nur 54 Prozent der Volks-und Oberschüler und 55 Prozent der Studenten für eine unbedingte Lösung waren. Selbstverständlich ist das Wort „Nachteil" zu pauschal, um diese Antworten präzise würdigen zu können. Immerhin sprechen meine persönlichen Erfahrungen mit vielen Jugendlichen, vor allem den politisch nachdenklichen, dafür, daß die innere Einstellung bei der Mehrzahl nicht der nach außen demonstrierten und teilweise durch Tabuisierung abgeforderten Haltung entspricht. Soweit die jungen Männer und Frauen nicht durch — vor allem familiäre — Tradition einseitig an die Idee der deutschen Nation gebunden sind, sind sie doch sehr unsicher, ob nicht bei einer mit harter Konsequenz, ohne Rücksicht auf bestimmte wirtschaftliche und soziale Besitzstände betriebenen Wiedervereinigungspolitik der von ihnen nun einmal hochgeschätzte freiheitliche Lebensstil, getragen von einem relativ hohen materiellen Komfort, gefährdet würde. Manche geben deshalb dem Konzept der westeuropäischen Integration eindeutig den Vorzug und sind zugleich der Meinung, daß Wiedervereinigung und westeuropäische Integration sich widersprechen. Es ist weder den deutschen Politikern noch der politischen Bildung bisher gelungen, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu weisen. Argumentationen, daß beides durchaus miteinander vereinbar sei, ja daß die westeuropäische Integration eine unabdingbare Voraussetzung der staatlichen Einheit sei, werden mit ungläubiger Skepsis, ja mit Unwillen über derartige gedankliche Zumutungen aufgenommen. Mag sein, daß es in der deutschen Außenpolitik unmöglich ist, langfristige Prioritäten zu setzen oder sie nach außen zu erkennen zu geben:

Der Reflex darauf ist jedenfalls ein beunruhigendes Maß an Unsicherheit auch und gerade bei der jungen Generation. Sie weiß nicht und kann nicht wissen, welche Rollen sie zu lernen hat: Die des westeuropäischen oder gar atlantischen Bürgers, dessen nationale Probleme in einer durch gleiche Wertvorstellungen und gleiche ökonomische und politische Ziele verbundenen Völkergemeinschaft aufgehoben sind, oder die des zähen Streiters für die Wiederherstellung der deutschen Nation in den Grenzen von 1937. Daß ein derartiger Rollenkonflikt nicht lange ausgehalten werden kann, ist nicht schwer zu begreifen. So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß eine schon recht breite Schicht politisch bewußter junger Leute sich nicht allzu sehr für eine Sache engagiert, die seit 20 Jahren ohne sichtbaren Erfolg betrieben wird und, das ist besonders wichtig, ohne daß die politischen Autoritäten bisher sonderlich bemüht gewesen wären, zumindests einigermaßen konkrete Bedingungen aufzuzeigen, die zur staatlichen Einheit zurückführen könnten. Wie oft wird man nach einem präzisen Umriß des Parts gefragt, den die Bundesrepublik selbst dabei zu übernehmen bereit ist, und ebenso, wie man sich denn die gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur eines geeinten Deutschlands vorzustellen habe.

Um das Thema dieses Aufsatzes aufzugreifen: Die Erben müssen wissen und wollen wissen, was sie mit der Erbschaft in konstruktivem Sinne anfangen sollen. Ohne den Mut, die

Kraft und die Phantasie zu realistischen Visionen, um dieses scheinbare Paradox zu verwenden, kommen wir bei der jungen Generation nicht weiter. Sie gibt sich, das wird immer deutlicher, mit abstrakten moralischen und juristischen Ansprüchen auf die staatliche Einheit nicht mehr zufrieden. Sie reagiert darauf:

a) entweder mit einer unverhohlenen Kritik an der Regierung und den führenden politischen Kräften oder b) mit Resignation und Hinwendung zu rein privaten Interessen oder c) mit einer Art nationalistischer Profilneurose. Aufgabe der politischen Führungskräfte und der politischen Erzieher der Bundesrepublik ist es, solche Fehlhaltungen zu korrigieren. Am wirkungsvollsten geschieht dies immer noch durch eine ganz breite und zugleich intensive Beteiligung an Gesprächen über aktuelle -— ich betone aktuelle — Themen der Deutschlandpolitik. Die politische Bildungsarbeit sollte hier einen ganz massiven Schwerpunkt setzen, wobei von vornherein auf jedwede Form von Sprachregelung zu verzichten wäre. Sprachregelungen führen zur Heuchelei und zur Unterdrückung der für einen Dialog unentbehrlichen Spontaneität. Barzels Pläne einer Vorbereitung der Wiedervereinigung durch militärisches Auseinanderrücken der Blöcke, Wehners Idee einer deutschen Wirtschaftsgemeinschaft, die Alternativmodelle des Kuratoriums Unteilbares Deutschland — dies alles sind Einstiege für pädagogische fruchtbare Diskussionen, wie sie wirkungsvoller von politischen Erziehern nicht hätten ausgedacht werden können. Ich persönlich jedenfalls habe mit politischen Planspielen, die von solchen Konzeptionen ausgingen, die besten Erfahrungen gemacht.

Junge Generation in der Schuld-und Haftungsdiskussion

Ebenso unsicher wie gegenüber dem realen Tatbestand der deutschen Teilung ist die junge Generation in ihren Einstellungen zu den sozialpsychologischen Gegebenheiten der bis heute weder im Inland noch im Ausland getilgten Erinnerung an die von den Nationalsozialisten vor und während des Zweiten Weltkrieges verübten Massenverbrechen. Allerdings wird man bei den meisten jungen Leuten zunächst eine nahezu vorbehaltlose Identifikation mit dem Kollektiv „Deutsches Volk" antreffen. Sie erweist sich in der meist aggressiven und robusten Abwehr von Angriffen gegen das Kollektiv — mögen sie nun von außen oder von innen kommen. Der Verfasser hat beispielsweise in den zahllosen Gesprächen, die er mit jungen Leuten zum Thema „Nationalsozialismus" führte, noch nicht eins erlebt, in der die fast zwanghafte Haltung der Aufrechnung der Schuld des eigenen Volkes mit der Schuld anderer Völker fehlte. Fast ebenso stark ist das Schutzargument einer gleichsam naturgesetzlichen und generell in Zeit und Raum verbreiteten Neigung zu Völkermord und Massentötungen. Auch die „Verführungstheorie" bis hin zur Absurdität der Häufung aller Schuld auf den einen Mann: Hitler, wird oft mit Nachdruck vertreten. Nur scheinbar im Widerspruch dazu trifft man schließlich auf die Abneigung, rechtskräftig von deutschen Gerichten verurteilte Beteiligte an den NS-Gewalttaten aus dem Kollektiv auszusondern — man stellt sich in nicht wenigen Fällen schützend vor sie. Das mag man als ein Symptom dafür nehmen, daß die Kräfte, die hinter der Identifikation stehen, in vielen Fällen sehr viel stärker sind als das bei jungen Menschen entwickelte Rechtsgefühl. Ich führe diese Abwehrreaktionen hier an, ohne sagen zu können, welchen präzisen quantitativen Umfang sie im einzelnen und insgesamt haben. Wer darüber etwas Genaueres wissen will, erhält einige Größenvorstellungen durch die Lektüre der bekannten Untersuchung von Rudolf Raasch: „Zeitgeschichte und Nationalbewußtsein" Die Untersuchung ist, vor allem wegen ihrer Schlußfolgerungen, angegriffen worden. Mir scheint jedoch, daß man Raasch mindestens insoweit Unrecht tut, als man die von ihm ermittelten Tendenzen einer stark überwiegenden Abneigung gegen die Fortsetzung der Schuld-und Haftungsdiskussion bestreitet.

Zugleich muß aber auch festgestellt werden, daß die hier beschriebenen Einstellungen nicht ausreichen, um die aus der Identifikation herrührenden Angst-und Schamgefühle zu blokkieren oder gar völlig auszuschalten. Das von Raasch ermittelte Ergebnis, daß rund 75 Prozent aller von ihm befragten Schüler und Schülerinnen einer repräsentativen Stichprobe aus den Oberklassen der Höheren Schulen Niedersachsens und Hessens sich von der Tatsache, daß im Namen des deutschen Volkes Verbrechen begangen worden sind, bedrückt fühlen, ist glaubhaft und trifft, wenn auch sicher mit einem geringeren Prozentsatz, ebenso für Volks-und Berufsschüler zu. Ich möchte hier, um ein sentimentales Wort zu verwenden, den ergreifenden Satz eines jungen Berufsschülers zitieren, der bei einer Befragung zum Komplex des Nationalsozialismus klagte: „Durch das ewige Aufwühlen wird man zwar erinnert, aber man kommt doch immer in Schwermut"

Der in dieser Aussage sehr eindrucksvoll dokumentierte Schmerz, das eigene schuldlose Leben durch die Schatten der Vergangenheit verdüstert zu sehen, könnte viele politische Erzieher guten Gewissens dazu veranlassen, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und zu erwägen, ob nicht die Fiktion einer wohltätigen Stunde Null das mindestens menschlich, vielleicht sogar das politisch-pä-dagogische Angemessenste wäre: Wenn dieser Weg hier abgelehnt wird, so aus folgenden Gründen: Zunächst einmal, weil die als Ausnahme gedachte Leugnung der geschichtlichen Kontinuität oder, soziologisch formuliert, der Verknüpfung der Generationen, möglicherweise die fatale Neigung bei der so geschonten Generation wecken könnte, im sozialen und politischen Bereich die langfristigen Konsequenzen ihres eigenen Handelns, wenn überhaupt, dann nur sehr lasch zu beachten. Mit anderen Worten: Es könnte die nihilistische Verhaltensweise des „nach uns die Sintflut" gefördert werden. Zugleich würde das gesellschaftlich höchst notwendige Wirkprinzip der Solidarität verletzt: Als politischer Erzieher ist man immer wieder betroffen, wenn man sieht, welche starken Spannungen noch heute zwischen den Kriegsteilnehmern und ihren Söhnen und Töchtern in der Frage der Einstellung zur jüngsten deutschen Geschichte vorhanden sind. Das trifft selbstverständlich nicht für die Gesamtheit der Kriegs-und Nachkriegsgenerationen zu, aber doch für viele ihrer Angehörigen, soweit mindestens eine Generation politisch bewußt lebt. Ich meine nun, daß dieser spezifische Generationenkonflikt gemildert, vielleicht sogar bereinigt werden könnte durch die Begründung einer politischen Moral, die es den Söhnen und Töchtern zur Pflicht macht, die Last ihrer Väter (und Mütter) — daß es eine oft lebenslange Last für die Denkenden und Sensiblen unter ihnen ist, ist wohl nicht zu bestreiten — mitzutragen.

Aber nicht nur auf diese, den Vätern und Müttern zugewandte Solidarität kommt es an. Politisch viel wichtiger ist die erkennbare Bereitschaft der jungen Deutschen, jene noch nicht vernarbten psychischen Wunden, die der Nationalsozialismus geschlagen hat, zu heilen und die materiellen Schäden, die noch nicht ersetzt sind, zu ersetzen.

Wenn von Mithaftung gesprochen wird, so ist nichts anderes gemeint als dies. Das hat nichts mit „Büßerhaltung" und „Masochismus", aber alles mit konstruktiver Politik zu tun. Eugen Lemberg, dessen pädagogischen und soziologischen Schlußfolgerungen aus seinen im übrigen sehr verdienstvollen Nationalismusforschungen wir im ganzen entschieden widersprechen müssen, hat mindestens in diesem recht: Jede Großgruppe, also auch ein moderner Staat, braucht als Handlungsrahmen eine integrationsstiftende Gruppenmoral. Unter den vielen, zum Teil bedenklichen Merkmalen einer solchen Gruppenmoral nennt Lemberg die Bereitschaft, Opfer zu bringen. Die Bereitschaft der jungen Generation, im oben definierten Sinne eine Mithaftung für die Geschehnisse vor und im Zweiten Weltkrieg zu übernehmen, wäre als ein solches Opfer zu bezeichnen, das zunächst der Großgruppe des jungen Staates der Bundesrepublik selbst zugewendet würde. Es würde überzeugend klarmachen, daß beim deutschen Volke ein nicht auf eine Generation beschränkter, tiefgehender Gesinnungswandel eingetreten ist, den dann auch Böswillige nicht mehr als Mischung aus Opportunismus und schlechtem Gewissen bezeichnen und diffamieren könnten. Daß hierdurch das Ansehen der Deutschen in der Welt zumindest langfristig gestärkt würde, ist wohl nicht zu bezweifeln. Der Kantsche Satz: „Die wahre Politik kann keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben", ist kein idealistischer Überschwang, sondern ein Prinzip wohlverstandener Realpolitik. Die Mehrzahl der sogenannten engagierten politischen jungen Männer und Frauen in der Bundesrepublik zeigt genau diese Haltung. Jaide hat auf der Grundlage breiter empirischer Untersuchungen dazu folgendes festgestellt: Die engagierten Jugendlichen sind „zwar nicht alle einer Meinung, am wenigstens einer wohlanständig schablonierten. Aber sie identifizieren sich alle mit dem Problem als nachfolgende Generation. Die Zugehörigkeit zum eigenen Volk wird von ihnen gerade im Zusammenhang mit der nationalen Mitschuld, Mitverantwortung, Wiedergutmachung gesehen und erörtert. Sie spüren, daß sie unwiderruflich und unauswechselbar teilhaben an der Geschichte ihres Volkes mit ihren guten und bösen Epochen und Ereignissen, was sie im Hinblick auf die NS-Greuel un-ideologisch bekennen."

Ist eine Neuorientierung der politischen Bildung notwendig?

Wir haben bisher nur in ganz groben Umrissen andeuten können, in welcher komplizierten Lage sich die junge Generation angesichts des nationalen Erbes, so wie es hier verstanden werden soll, befindet. Damit aber nicht genug, wird die junge Generation noch besonders irritiert durch die Tatsache, daß große und zum Teil einflußreiche Teile der mittleren, vor allen Dingen aber der älteren Generation immer häufiger und immer deutlicher eine ausgesprochene Aversion gegen das rationale Modell einer demokratischen Gesellschaft erkennen lassen und im Gegenzug nach einer Reaktivierung der Idee der Nation und nach einer voraussetzungslosen, vorrationalen Bindung an Volk und Vaterland rufen. Es wäre töricht, weil höchst ungeschichtlich gedacht, wollte man dies als eine vermeidbare, nur durch individuellen Starrsinn und Ignoranz verursachte Situation bewerten. Nein, solche Einstellungen sind ein Spezialfall jener Verwerfungen, die die Soziologe Dahrendorf in seinem Buch „Demokratie und Gesellschaft in Deutschland“ so eingehend beschreibt. Das heißt, es sind in unserem Fall Haltungen, die zu ihrer Zeit, wenn nicht berechtigt, so doch durch die Zeit bedingt waren, und die nun in eine andersartige geschichtliche und gesellschaftliche Konstellation hineinragen.

Viele in der Bundesrepublik heranwachsende junge Menschen geraten auf diese Weise in einen Konflikt, der für die politische Wirklichkeit unseres Staates von erheblicher Bedeutung ist. Auf der einen Seite werden ihnen von Vätern und Großvätern, aber auch von älteren Erziehern die hohen Werte des Patriotismus, einer straffen obrigkeitsstaatlichen Ordnung und eines konservativen Gesellschaftsgefüges mit einer klaren, nicht zu durchbrechenden Trennung von oben und unten als einzig erstrebenswert angepriesen. Auf der anderen Seite wird ihnen von jungen Erziehern in der Schule und von den sogenannten „geheimen Miterziehern", also den Massenmedien, demonstriert, wie unzeitgemäß und abgewirtschaftet solche Werte sind. Von der älteren Generation hören junge Leute angeblich auf den Weimarer Erfahrungen beruhende abschätzige Äußerungen über Parteienwirtschaft und sterilen Parlamentarismus, von jungen, für ihre politische Bewußtseinsbildung ebenso wichtigen Erziehern wird die Bedeutung der Parteien und der Parlamente als Zentren kontrollierter Macht ausdrücklich hervorgehoben. Letzte Instanz in diesem Widerstreit wird die politische Praxis der Bundesrepublik selbst sein — innenpolitisch wie außenpolitisch. Man kann und darf nicht behaupten, daß das „Verfahren" schon entschieden ist; dafür liefert die nicht unbeträchtliche Anziehungskraft extremer Strömungen von rechts, aber auch von links, genügend Beweise. Wir können hier nicht alle die Gründe aufzählen, warum die politische Praxis der Bundesrepublik es bisher nicht vermocht hat, den entscheidenden Durchbruch nach vorn zu erzielen. Ein Staat, dessen auswärtige Politik so wenig Spielraum hat, der mit anderen Worten keine deutliche und klar erkennbar souveräne nationale Politik betreiben kann, hat es naturgemäß schwer, bei der Jugend Profil zu gewinnen. Aber wir deuteten es oben schon an, die im Grunde autoritäre Methode, durch Sprachregelungen und durch eine „Politik hinter den verschlossenen Türen" die ganze Schwere der deutschen Situation zu verschleiern, hat entscheidend dazu beigetragen, das Verständnis für die Probleme der deutschen Außenpolitik zu erschweren. Ähnliches gilt auch für den Bereich den Innenpolitik. Auch hier sind die kleinen und großen Versäumnisse Legion und vielleicht unausbleiblich in einem Staatswesen, dessen demokratischer Reifeprozeß noch in vollem Gange ist. Aber es ist doch bei dem Versuch einer Erhellung der labilen politischen Bewußtseinslage der jungen Generation festzuhalten, daß das „große Gespräch" mit der Bevölkerung, das vor einigen Jahren von einem bedeutenden Politiker mit Emphase gefordert wurde, bis heute ausgeblieben ist. Konkret war damit gemeint, die Bürger laufend und ungeschminkt über die Voraussetzungen, Beweggründe und Hintergründe wichtiger außen-und innenpolitischen Entscheidungen zu unterrichten Wie förderlich und notwendig eine derartige Politik des „Einflußnehmens auf die geistige Haltung der Menschen“ (so hat es John Stuart Mill einmal von einer guten Regierung gefordert) gerade für die Jugend ist, liegt auf der Hand. Die oben verzeichnete fatale, weil im Negativen verharrende und unreflektierte Identifikation mit einem Gebilde, das jedenfalls hier und heute keine Realität mehr ist, könnte so abgelöst werden durch eine auf informierter Teilnahme beruhende Solidarität mit einem deutschen Staatswesen, das Realität ist und neue Wirklichkeiten schafft. Leider wird dieser mögliche Weg aber nicht nur durch die hier behandelten allgemeinen Einstellungen erschwert, sondern auch durch gezielte Anstrengungen, die auf ein Umschalten der politischen Bildungsarbeit in der Bundesrepublik in Richtung einer Aufwertung der Idee der Nation (ohne genau zu sagen, was damit gemeint ist) hinauslaufen.

So wird im Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend (erschienen im Sommer 1965) eine beträchtliche Skepsis bezüglich der Zielrichtung und Gestaltung der bisherigen politischen Bildungsarbeit erkennbar, die, wie es dort heißt, „ganz auf Aufklärung, verstandesmäßiges Erfassen, Reflexion und kritische Analyse aus ist". Mit deutlicher Distanzierung wird festgestellt: „. . . so verständlich diese Meinung (nämlich, daß der Schwerpunkt der politischen Bildung in der Befähigung zum vollen Gebrauch des Verstandes in Fragen der Politik liegen müsse) nach den deutschen Erfahrungen dieses Jahrhunderts und vor allem der Diktatur sein mag . . ., sie ist dennoch falsch, jedenfalls in der oft vertretenen Ausschließlichkeit. Eine isolierte, nur die rationalen Kräfte ansprechende Lehre von der Politik ist, wie mehrere Untersuchungen in der Bundesrepublik erwiesen haben (welche das sind, wird nicht gesagt, der Verf.), ziemlich aussichtslos, sie geht nicht unter die Haut" Noch schärfer wendet sich ein im Bereich der politischen Bildung recht angesehener Pädagoge, der schon genannte Eugen Lemberg, gegen die bisherigen Resultate der politischen Bildung. Er schreibt: „Ziel der politischen Bildung war der mündige Mensch und dieser Mensch war das Maß aller Dinge. Das war wiederum als Therapie gegen das vorher herrschende totalitäre Systen notwendig, aber es enthielt die Gefahr, daß eine so erziehende Gesellschaft sich selbst und den Staat, zu dessen Bürger sie ihre Jugendlichen erzog, desintegrierte. Den Nationalismus, den wir als starke bis exzessive Hingabe an die Nation beschrieben haben, zu bekämpfen, hieß gleichzeitig die Hingabefähigkeit gefährden, die doch ein wesentliches Ziel politischer Erziehung darstellt."

Das sind in der Tat staunenswerte Sätze: Daß die Erziehung zum mündigen Bürger einer demokratischen Ordnung desintegrierende Folgen hat, beruht auf einem völligen Mißverständnis des Wesens demokratischer Gesellschaften. Hat die Idee der Genossenschaft freier Menschen keine integrierende Kraft? Weiß Lemberg nicht, daß die demokratischen Gemeinwesen durch den alles übergreifenden Konsensus zusammengehalten werden, Konflikte durch schöpferische Auseinandersetzungen und durch echte Kompromisse zu regeln? Man mag dem Verfasser zugute halten, daß er mit dieser Auffassung nicht allein steht. Die von Ralf Dahrendorf kritisierte „Sehnsucht nach der Synthese" ist auch und gerade bei einem nicht unbedeutenden Teil der Theoretiker politischer Erziehung in Deutschland weit verbreitet. Man mag fragen, ob die hier angesprochene Problematik zu unserem Thema gehört. Die Antwort darauf ist ein klares Ja: Ein plötzliches Umlenken in Richtung einer starken nationalen Indoktrination brächte die Gefahr mit sich, die mühsam entwickelte Orientierungskraft des demokratischen Leitbildes abzubauen, eine Kraft, auf die die junge Generation gerade bei der Verwaltung ihres nationalen Erbes dringend angewiesen ist. Unseres Erachtens ist scharf und unzweideutig herauszustellen, daß die Pflichten und Bindungen, die dem Vaterland geschuldet werden, ihm als Pflichten und Bindungen der Bürger eines demokratischen Staates geschuldet werden, nicht weniger, aber — das ist deutlich zu unterstreichen — auch kein Jota mehr. Nur in dieser Klarheit kann der verhängnisvolle Hang der Auseinanderdividierung von Staat und Nation oder von Staat und Vaterland beseitigt werden.

Die allgemeine Antwort auf die Frage, wie sich trotz der hier beschriebenen belastenden Bestandteile des nationalen Erbes ein vertretbares Maß nationalen Selbstbewußtseins der jungen Deutschen in der Bundesrepublik entwickeln kann und entwickeln läßt, steht noch aus. Vielleicht läßt sie sich am besten durch den Rückgriff auf jenes elementare Verhaltensprinzip erschließen, das heute in den verschiedenartigsten gesellschaftlichen Bezügen gefordert wird und das schon mehrfach erwähnt wurde — kritische Solidarität. An Stelle einer abstrakten Interpretation — was damit in unserem Zusammenhang gemeint ist — möchte ich hier eine imaginäre Antwort auf die imaginäre Frage geben, welche Haltung ich wohl einem jungen Deutschen anraten würde, der mit gleichaltrigen Ausländern zusammentrifft und nicht recht weiß, wie er sich in politischen Gesprächen verhalten soll. Ich würde ihm etwa die folgenden Empfehlungen mit auf den Weg geben:

a) Es würde mit Sicherheit auf die Gesprächspartner einen schlechten Eindruck machen, wenn er sich pauschal von der deutschen Geschichte, von seinem Volk und auch von dem Staat der Bundesrepublik distanzieren würde, was immer auch in der Vergangenheit geschehen ist.

Er sollte dementsprechend bei genauer Kenntnis der Sachlage (kritische Solidarität setzt einen nicht ohne Mühe erreichbaren guten Stand des Wissens von der Geschichte des eigenen Volkes und von dem Staat, in dem man lebt, voraus) unberechtigte Vorwürfe und Angriffe mit Gelassenheit zurückweisen. Sind jedoch bestimmte Vorhaltungen nach seiner eigenen Überzeugung zutreffend, so sollte er sie nachdenklich aufnehmen und sich das leidenschaftliche Wort des Patrioten Albert Camus fest einprägen: „Nein, ich liebte mein Vaterland nicht, wenn Liebe darin besteht, nicht zu tadeln, was am geliebten Wesen ungerecht ist." Wer meint, nationales Selbstbewußtsein erweise sich in der bösen englischen Formel „Right or wrong, my country", ist auf dem Holzweg: Schuld-und Minderwertigkeitskomplexe folgen oft auf dem Fuß.

b) Es ist sein gutes Recht, ja, streng genommen, seine zugleich staatsbürgerliche und weltbürgerliche Pflicht, auf die in der Bundesrepublik nach 1945 eingetretenen positiven Entwicklungen aufmerksam zu machen — ohne bestimmte negative bzw. restaurative Tendenzen zu leugnen oder zu beschönigen: Er kann auf die schon ansehnlich breite Schicht junger Menschen hinweisen, die sich mit wachem Verstand und tätiger Teilnahme der „Sache Demokratie" verschrieben hat, und von der Friedenssehnsucht und der Bereitschaft vieler Männer und Frauen berichten, Hunger und Elend in dieser Welt durch materielle und ideelle Opfer zu mildern. Er sollte den Willen mancher bedeutenden politischen Persönlichkeit in der Bundesrepublik, aber auch und gerade der Jugend unterstreichen, die nationale Identität zugunsten eines größeren und lebenskräftigeren Europas (nicht Klein-Europas) aufzugeben. Er sollte nicht vergessen zu erwähnen, wie ernst bedeutende Gruppen der literarischen und wissenschaftlichen Intelligenz ihre Wächterrolle in dem neu erbauten Gemeinwesen nehmen. Und schließlich, ganz wichtig, sollte er unbezweifelbar klar machen, daß er sein Selbstbewußtsein als Deutscher, ansässig in der Bundesrepublik, nicht von einer Patentlösung der Frage der deutschen Einheit abhängig macht und schon gar nicht erwartet, daß uns die übrige Welt eine solche Lösung schuldig ist. Er sollte statt dessen erklären, daß er und seine Generation bereit sind, geduldig an einer friedlichen und für alle Seiten tragbaren Übereinkunft zu arbeiten, wohl wissend, daß es viele andere genau so schwerwiegende Probleme in der Welt gibt.

Ich weiß nicht, ob solcher und ähnlicher Ratschlag nicht für viele junge Männer und Frauen platte Selbstverständlichkeit ist. Wäre dies so, um so besser: Es würde nichts anderes beweisen, als daß die junge Generation sich anschickt, jenes Maß an nationalem Selbstbewußtsein zu erwerben, das mit ihrem nationalen Erbe verträglich ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Aufsatz ist eine durchgesehene und unwesentlich erweiterte Fassung eines Vortrages mit dem gleichen Titel, den der Verfasser vor der 5. Partnertagung der Bundeszentrale für politische Bildung im Gustav-Stresemann-Institut, Haus Lerbach, am 8. Juni 1966 gehalten hat.

  2. Vgl. Karl R. Popper, Selbstbefreiung durch das Wissen, und Arnold J. Toynbee, Sinn der Sinnlosigkeit, beide Aufsätze in: Der Sinn der Geschichte, hrsg. von Leonhard Reinisch, München 1961.

  3. Vgl. Karl R. Popper, The Poverty of Historicism, London 1966 2

  4. In einem Referat vor dem Kuratorium Unteilbares Deutschland mit dem Titel „Begegnung mit der jungen Generation des Auslandes" wurde dazu gesagt: „Bei der jungen Generation in Osteuropa spielt die deutsche Vergangenheit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dies gilt jedenfalls für die Länder, die von den Ereignissen ganz besonders betroffen gewesen sind, nämlich Polen, Sowjetunion und die Tschechoslowakei. Das heißt, für die Jugendlichen dieser Länder steht die Frage im Vordergrund: Ist dieses neue Deutschland, das nach 1945 entstanden ist, wirklich anders als das alte? Ist eine Wiederholung dessen, was im Zweiten Weltkrieg vorgekommen ist, wirklich unmöglich oder nicht? Können wir davon ausgehen, daß die junge Generation dieses Deutschlands andere Auffassungen hat, als sie zumindestens zu einem gut Teil in der Generation ihrer Väter noch vorhanden ist?“ (Aus einem bisher noch nicht veröffentlichten Tagungsprotokoll einer Tagung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland Ende 1965.)

  5. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe, Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/3515, S. 30.

  6. Vgl. Jugend und Politik, Teil I, hrsg. von infratest, München 1962, Tabelle 26, und: Jugend und Politik, Teil II, ebenfalls Tabelle 26.

  7. Rudolf Raasch, Zeitgeschichte und Nationalbewußtsein, Berlin und Neuwied 1964.

  8. Zitiert bei Walter Jaide, Das Verhältnis der Jugend zur Politik, Neuwied 1964 2, S. 110.

  9. Jaide, a. a. O., S. 21.

  10. Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger will anscheinend auf ähnliches hinaus. In einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ vom 7. 12. 1966 wird berichtet: Kiesinger will dem Volk die Wahrheit sagen. Dann folgt das wörtliche Zitat „Das ist die Voraussetzung meiner Politik. Das halte ich für ganz wichtig, das ist Demokratie. Man muß das Volk mit den Tatsachen bekanntmachen, man darf ihm nichts vertuschen, nichts verbergen, sondern ganz im Gegenteil, man muß ihm begreiflich machen, daß es immer und immer wieder um seine eigene Sache geht".

  11. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend, S. 69.

  12. Eugen Lemberg, Nationalismus II, Soziologie und politische Pädagogik, rowohlts deutsche enzyklopadie, Hamburg 1964, S. 134.

  13. Albert Camus. Briefe an einen Deutschen Freund, in: Fragen der Zeit, Hamburg 1960, S. 10.

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Herbert Eichmann, Dr. rer. pol., geb. am 14. Oktober 1925 in Bad Salzuflen. Studium der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften von 1949— 1955, danach wissenschaftlicher Assistent an der Universität des Saarlandes und wissenschaftlicher Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion. Heute Referent für Politik an einem Fortbildungszentrum der Evangelischen Kirche Deutschlands in Altenkirchen/Westerwald. Veröffentlichungen: Außer zu wirtschaftspolitischen Themen über Fragen der Politischen Bildung, und zwar: Gesellschaftspolitische Aspekte der Düsseldorfer Bücherverbrennung, in: Evangelische Jugendinformation; Hauptaufgaben der Politischen Bildung im Demokratisierungsprozeß, in: Arbeitshilfe für die Evangelische Jugend auf dem Lande; Das Bathurst-Seminar des Deutschen Bundesjugendringes — ein Bericht, in: Deutsche Jugend.