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Nationalismus als pädagogisches Problem in Deutschland | APuZ 37/1967 | bpb.de

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APuZ 37/1967 Junge Generation und nationales Erbe Nationalismus als pädagogisches Problem in Deutschland

Nationalismus als pädagogisches Problem in Deutschland

Kurt Fackiner

Labiles Verhältnis zum Phänomen Nation

Die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland hat ein extrem labiles Verhältnis zum Phänomen Nation. Selbst nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft blieben nationalistische Tendenzen bei uns virulent. Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Prosperität allerdings verschwanden sie aus dem publizierten Bewußtsein unserer Öffentlichkeit in dem Maße, wie sich unsere gesamte Gesellschaft bis in die Parteien hinein im Sog des steigenden Sozialprodukts entpolitisierte. Nur gelegentlich erscheinende Zeichen, Hakenkreuze an Synagogen, umgestürzte Grabsteine, erregten unsere Öffentlichkeit jeweils für einen Moment und forderten die Bewältigung der Vergangenheit durch die Jugendlichen, die in dieser Beziehung nur mit der Erkenntnis hätten fertig werden müssen, daß ein Teil ihrer Eltern offenbar einmal politisch wenig klug gehandelt hatte. In der Analyse der Bedingungen der Politik der ausgehenden Weimarer Zeit hätte der Blick geschärft werden können für die Probleme der Gegenwart und der Zukunft unserer Gesellschaft. Leider hat sich unsere Öffentlichkeit zu leicht damit zufrieden gegeben, diese Aufgabe, sich selbst entlastend, den Bildungsinstitutionen zu übertragen, die dafür wenig vorbereitet waren und die auch bei guter Vorbereitung überfordert sind, wenn sie allein gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit erziehen sollen.

Der Unterricht in Zeitgeschichte — über den Nationalsozialismus und die Weimarer Republik — mußte zunächst von Lehrern gegeben werden, die während der NS-Zeit oder davor studiert hatten und deren geschichtlich politisches Verständnis bei aller persönlichen Inte-grität und allem guten Willen durchschnittlich mit Urteilskriterien arbeitete, die letztlich nicht positiv mit der Aufgabe übereinstimmten, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen und zu sichern.

Die Sozialkunde-und Geschichtsbücher, die bei uns für diesen Unterricht benutzt werden, sehen die politischen Ereignisse zumeist als Handlung einzelner Personen, beurteilen sie mit individualpsychologischen Kategorien und verdecken damit die Interessen der gesellschaftlichen Gruppen, die auf diese Handlung drängten Die mögliche Handlungsfreiheit des Individuums wird durch solche Darstellung nahezu unbegrenzt. Mit der Handlungsfreiheit hat es dann allerdings auch die alleinige Verantwortung und enthebt uns, die gesamte Gesellschaft, jeglicher Anstrengung zur Sicherung gesellschaftlicher Freiheit, da es ja für uns handelt. Diese personalisierende und nicht die gesellschaftlich verflochtenen Interessen analysierende Darstellung hat den einzelnen Menschen in unserer Gesellschaft kaum ermutigen können, sich selbst für seine eigenen Interessen in der Zukunft zu engagieren. Sie hat das darin sich verfestigende dichotomische Bewußtsein bestärkt, daß „die oben" ihr Süppchen allein kochen und man doch keinen Einfluß habe. Der autoritäre Führungsstil unserer demokratischen Anfangs-jahre hat diese Einstellung eher zu festigen als ihr zu widersprechen vermocht. Auch kann eine große Koalition in der Rückkopplung ihrer Politik auf das politische Bewußtsein eine Haltung fördern, der Einigkeit als politischer Wert mehr gilt als die kritische Auseinandersetzung.

Aufwertung des Nationalen

Seit einiger Zeit fordern bei uns einige Pädagogen und Politiker, daß das Nationale wieder aufgewertet werden müsse, daß wir nicht immer in Sack und Asche gehen könnten, daß unsere Jugend durch die Vergangenheit nicht ewig belastet werden dürfe, daß es darum gehen müsse, unsere nationalen Belange zu vertreten — wie das allen anderen Nationen selbstverständlich zugestanden sei. Nur uns sei dieses Recht auf Selbstbestimmung verweigert. Anthropologisch wird es so formuliert: Wenn den „Einzelmenschen" nicht die Möglichkeit gegeben wird, sich an eine nationale Ordnung hinzugeben oder zu engagieren, dann verfehle sein Leben seinen Sinn, weil es ihn nur in der Hingabe an diese überindividuelle Ordnung erfahre. Erfolge sie nicht, werde sie verweigert, bleibe der einzelne auf seinen Egoismus beschränkt, werde eigentlich nicht Mensch. Das Nationale müsse als eine das Individuum transzendierende Bindekraft bejaht werden, weil es ohne sie kein sinnvolles Leben gebe

Außerdem fühle unsere Jugend national, und man dürfe ihr dieses Gefühl nicht weiter verketzern, weil sie sonst noch weniger zum politischen Engagement bereit sei, als das heute schon beklagt werde, und sich dann eines Tages radikalisiere. Es gelte nur zwischen einem übersteigerten Nationalismus, wie ihn der Nationalsozialismus dargestellt habe, und einer Ablehnung alles Nationalen die rechte Mitte zu finden. Daß man die Bindung an die Nation auch überstrapazieren könne, sei kein Beweis gegen diese Bindung überhaupt.

In der letzten Zeit mehren sich die Stimmen, die für eine „richtige" Mitte zwischen den Extremen eintreten und einen gemäßigten Nationalismus auch als Inhalt politischer Bildung empfehlen Wie dieser Inhalt aussehen soll, ist noch nirgends dargestellt worden — im Unterschied zu den zwanziger Jahren, in denen sich die Pädagogen mehr oder weniger bewußt um eine nationale Bildung bemühten und nationale Bildung zum Zentrum der allgemeinen Bildung zu machen suchten

Gegen diese Thesen von der „richtigen" Mitte erheben sich andere Stimmen, die jeden neuen Nationalismus, wie gemäßigt er auch vorgetragen wird, einer demokratischen Entwicklung entgegenwirken sehen Sie sagen, man könne nicht ein bißchen Nationalismus machen; fange man damit an, verstärke er sich notwendig weiter und wirke antidemokratisch, wie aller Nationalismus in Deutschland immer antidemokratisch gewesen sei. Bei der völligen Inhaltslosigkeit der Vokabeln Ordnung, richtige Mitte, Hingabe usw.sei keine Aussicht, daß sich dieser neue Nationalismus in Deutschland wesentlich von seinen Vorgängern unterscheiden werde, sondern die Wahrscheinlichkeit groß, daß er sie fortsetze.

Stellenwert der Nation in der politischen Bildung

In dieser „Pluralität" vollzieht sich bei uns heute politische Bildung. Es spricht vieles dafür, daß die nationale Position in einer „mittleren" Schattierung, vor allen in nicht publizierten Einstellungen, mehr oder weniger unbewußt die häufigste ist. Durch die heutige Nationalismusdiskussion wird sie sicher erheblich verstärkt.

Die für Jahre angenommene oder tatsächliche Tabuierung „nationaler Werte" — im Effekt das gleiche — scheint eine wirkliche Auseinandersetzung mit den nationalen Positionen für viele Menschen bei uns verhindert zu haben und heute das Bedürfnis zu verstärken, ein bisher unterschwelliges nationales Selbstverständnis wieder zuzulassen und es aus Gründen der Selbstrechtfertigung zu forcieren.

In dieser Situation ist es nicht gleichgültig, wie politische Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland verstanden wird. Besonders diejenigen, die bei uns politische Bildung betreiben, werden sich entscheiden müssen, welcher Stellenwert dem nationalen Element in der politischen Bildung zugemessen werden muß oder ob es überhaupt keine relevante Zielsetzung politischen Unterrichts bei uns sein darf.

Eine Analyse der Bildungspläne kann Auskunft geben, wie bisher bewußt und unbewußt der Stellenwert des Nationalen in der politischen Bildung gesehen wurde. Das Ergebnis dieser Analyse kann allerdings nur einen Teil des gesellschaftlichen Selbstverständnisses über den Stellenwert des Nationalen in der politischen Bildung belegen, kann einen Status quo erkennen helfen, der noch durch andere Analysen sichtbarer werden müßte. Mit diesen Ergebnissen wäre aber noch nicht die Frage beantwortet, welcher Stellenwert dem Nationalen in der Zielsetzung zukommen müßte, wäre noch nichts über die Kriterien ausgemacht, nach denen der Stellenwert des Nationalen in der politischen Bildung überhaupt bestimmt werden könnte.

Die Lage wäre nicht so mißlich, wenn sich wenigstens bestimmen ließe, was wir unter politischer Bildung insgesamt zu verstehen haben. Eine Analyse der Lehrpläne kann uns auch hier helfen, den Status quo zu erkennen, hilft uns aber nicht zu definieren, was politische Bildung für unsere Gesellschaft sein müßte; auch sie liefert uns keine Kriterien, wenn wir nicht stillschweigend annehmen, daß alles, was geschieht, gut oder richtig ist. Aber dann brauchten wir auch keine Überlegungen, wir könnten das Maß des Handelns von Gestern und Heute getrost für Morgen übernehmen. Doch es ist unsere Erfahrung, daß wir in einer sich wandelnden Welt leben, daß seit der ersten Phase der Aufklärung nicht allein das Befolgen des „Tradierten" eine sinnvole Handlung für Morgen verspricht.

Nun wäre es allerdings denkbar, daß die Pläne der politischen Bildung in unserer Gesellschaft schon davon ausgehen, daß die jungen Menschen heute dafür erzogen werden müssen, unter sich weiter verändernden Verhältnissen in einigen Jahren gesellschaftlich und politisch sinnvoll zu handeln. Aber — um es kurz zu machen — es gibt bisher nur wenige Lehrpläne, die überhaupt auf eine dauernde Wandlung der Verhältnisse vorbereiten wollen. Auch eine Didaktik der politischen Bildung, die uns die Kriterien für den Stellenwert des Nationalen liefern könnte, ist bei uns noch nicht voll entwickelt, Wir haben lange gebraucht, um uns vom Schock des Nationalsozialismus zu erholen und den Blick auf die zukünftigen Aufgaben nicht nur über die zu bewältigende Vergangenheit zu richten.

So stehen wir heute, nachdem sich die Wirkung des Schocks mehr und mehr löst, vor der Aufgabe, die uns eigentlich schon seit langem gestellt ist: Wir müssen die Zielsetzung der politischen Bildung ganz konkret bestimmen für die Erfordernisse der Entwicklung unserer Gesellschaft. Ein Aspekt der Überlegungen dazu kann die Bestimmung des Stellenwertes der Nation, eines nationalen Engagements sein.

Das heißt nicht, daß bis heute die politische Bildung in unserer Gesellschaft völlig blind betrieben wird, heißt nicht, daß das Nationale darin keinen Stellenwert gehabt hätte. Allein die systematische Reflexion auf die Zielsetzung der politischen Bildung hat erst zögernd eingesetzt und war anfangs stark von dem „nie wieder", von der Erfahrung des Nationalsozialismus bestimmt In dieser Lage ist der Stellenwert des Nationalen vielfach durch europäisch oder international ersetzt worden, ohne daß das ganze gesellschaftliche Bezugssystem geändert worden wäre.

Funktionen des Nationalen in der deutschen Geschichte

Für unseren Zweck wird es ausreichend sein, knapp die Funktionen zu beschreiben, die das „Nationale" gehabt hat, und zu analysieren, welche es heute hat und wie sich eine Verlängerung des status quo oder eine bewußte Erneuerung nationaler Orientierung zukünftig gesellschaftlich und politisch auswirken kann. Ist ein nationales Wertesystem für unsere Gesellschaft wichtig, muß es einen entsprechenden Platz in der Erziehung der Jugendlichen haben, wenn Erziehung dem Anspruch gerecht werden will, den einzelnen für die Aufgaben in der Gesellschaft vorzubereiten.

Wenn bei uns gesagt wird, daß der einzelne Mensch seinen Sinn verfehle ohne ein Engagement an die Nation, die nationale Gruppe oder Ordnung, aus der er sein Leben rechtfertigen könne, dann müssen wir zu sehen versuchen, welche Art der Gruppenbildung unter Nation zu verstehen ist, müssen fragen, welche Inhalte eine solche Ordnung hat, in deren Dienst der einzelne sein Leben rechtfertigt.

Der Geläufigkeit des Wortes Nation entspricht bei uns offenbar die Ungenauigkeit seines Inhaltes. Es hat viele Schattierungen, je nachdem wer es braucht und zu welcher Zeit er es braucht, und sicher bedeutet es durchschnittlich im Angelsächsischen nicht ganz dasselbe wie im Französischen; und dort hat es ganz andere Bedeutungsakzente als Im deutschen oder im mittel-oder osteuropäischen Bereich; und alle sind wieder verschieden von der Bedeutung eines Nationalismus der Entwicklungsländer. Diese „Nationalismen" sind beschrieben und analysiert worden und es ist notwendig, sich der Verschiedenheit der Inhalte bewußt zu sein. Sie erlaubt in der inhaltlichen Verschiedenheit der Nationalismen keine Argumentation, die mit dem Nationalismus der anderen die Notwendigkeit einer eigenen nationalen Werthaltung begründet. Wir müssen für eine Begründung des nationalen Stellenwertes der politischen Bildung davon ausgehen, was Nation in unserer Gesellschaft bedeutet hat und bedeutet.

Wir Deutschen, heißt es, seien eine verspätete Nation. Wir hätten unsere nationalen Probleme, besonders die der Zusammenfassung in einen einheitlichen Staat, erst recht spät und nur unvollkommen zu Wege gebracht, in einer Zeit, in der die anderen Nationalstaaten sich mit ganz anderen Problemen beschäftigen konnten. Und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir — nach der Selbstdarstellung politisch führender Gruppen in der Bundesrepublik — immer noch dabei, dieses Ziel der nationalen Einigung endlich zu erreichen, in einer Zeit, in der sich gezeigt hat, daß eine grande nation zu klein ist, um die wirtschaftlichen Probleme in ihrem Bereich allein sinnvoll regeln zu können, und in der die internationale Entwicklungstendenz (trotz einiger retardierender Momente) auf immer größere Zusammenschlüsse drängt.

Für Deutschland war 1870/71 mit der kleinen Lösung nationaler Einigung zwar die Einführung eines recht modernen • Wahlrechts für den Reichstag verknüpft. Nur hatte dieser Reichstag keine Möglichkeit, seine politische Meinung in eine politische Handlung umzusetzen, da er aus seinen Reihen keine Regierung bilden konnte — oder die Regierung ihm verantwortlich gewesen wäre. Die deutsche nationale Einigung hat einen Staat hervorgebracht, der von oben, von Gottes Gnaden, nach unten regierte, bei dem der Regierende nach seinen Worten zwar dem allerhöchsten Herrscher verantwortlich war, nicht aber dem Parlament oder dem Volk. Als in Frankreich die Kassenlage den Souverän zwang, die Stände-vertretung einzuberufen, erklärte der dritte Stand unter Berufung auf seine Bedeutung für die Erwerbskraft des Landes allein die Nation zu sein und gab sich eine republikanische Verfassung. Trotz aller Zwischenspiele ist in diesem Land Nation ein Begriff, der von dem der Republik und der Volkssouveränität nicht zu trennen ist, gleichviel wie im einzelnen Volkssouveränität interpretiert wird. Tendenziell ist die französische Republik seit der Revolution der Staat des dritten Standes. Die sich zu ihm zählen, konnten sich in der Nation repräsentiert fühlen. Sogar die Angehörigen des ehemals vierten Standes hatten in manchen Phasen der Entwicklung die Möglichkeit; auch ihre Interessen teilweise zur Geltung zu bringen, wenn auch bisher weniger erfolgreich als der dritte Stand.

„Gemeinwohl" gegen Interessenkonflikte

Unser Nationbegriff hat sich in seiner Selbstdarstellung durch die Regierenden um so kleine ökonomische Probleme nie gekümmert. Er charakterisiert sich treffend in dem Satz Wilhelms II., daß er keine Parteien (mehr) kenne, sondern nur noch Deutsche. Alle Konflikte, alle gegensätzlichen Interessenlagen werden einem Gemeinwohl geopfert, das in Wirklichkeit einer kleinen Gruppe dient, die ihre Interessen für die der gesamten Gesellschaft ausgeben darf, weil diese auf eine wirksame Kontrolle der Regierung verzichtet hat. In Deutschland ist die Nation nicht von der Aufklärung her (oder von der empirischen Philosophie) begründet worden, ist sie nicht hervorgegangen aus dem Selbstbewußtsein des Bürgers. In Deutschland wurde sie gemacht im Interesse der Erhaltung und Stärkung eines patriarchalischen Systems. Auf eine romantische Staatsphilosophie und eine noch längere Tradition berief man sich, wenn man sagte, daß in der großen Familie des Staates jeder seinen (vor) bestimmten Platz auszufüllen habe, und alles in Unordnung gerate, wenn plötzlich ein Schuhmacher anfange, Politik zu machen. Dem deutschen Sprichwort zu Folge hat er bei seinen Leisten zu bleiben.

Sicher nicht zufällig hat die politische Bildung bei uns noch 1945 größtenteils damit begonnen, das politische Geschehen am Beispiel der Familie zu erklären. Da die Familie im Gegensatz zu Staat und Gesellschaft tatsächlich eine Gruppe ist, die zum Teil auf organischen Bindungen beruht, in der die einzelnen Rollen-positionen nur begrenzt vertauschbar sind, gibt sie noch dazu im traditionellen Sinne ein sehr schlechtes Modell für eine demokratische Gesellschaft ab, in der jeder einzelne Chancen für alle Rollenpositionen haben müßte; dieses Modell wäre für eine gesellschaftliche Erziehung im Bismarckschen Deutschland sicher weit gemäßer gewesen, als es das für uns sein darf.

In wenigen Worten ist der Inhalt unseres Nationbegriffs nicht zu klären. Doch es kann deutlich werden, daß er wenig mit den unmittelbaren Interessen der Bürger zu tun hatte und daß er nicht mit demokratischen Zielsetzungen verbunden ist. Vielmehr wurden mit ihm jeweils Stärke, Einigkeit und Macht verbunden, die der Herrschende oder die herrschenden Gruppen gesellschaftlich unkontrolliert für ihre eigenen Interessen nutzen konnten. Stärke, Macht und Einigkeit waren jeweils mit einer Aktivität nach „außen" gerichtet. Der „innere" Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Gruppen hatte nicht nur vor dem „äußeren" Konflikt zurückzustehen, sondern war im nationalen Wertesystem Vaterlandsverrat. Sicher hatten auch andere Länder in der gleichen Phase der industriellen Entwicklung ähnliche Probleme — aber sie wurden nicht wie bei uns durch eine Feudalaristokratie gelöst, die in der Durchsetzung ihrer Interessen als denen des Staates ihr Wertesystem zu erhalten verstand. Es wird heute bei uns nicht mehr ernsthaft darüber zu sprechen sein, daß dieser Begriff von Nation keine Bedeutung für die Zielsetzung der politischen Erziehung ha-ben darf, außer der, in seiner Analyse einen Teil der Vergangenheit der eigenen Gesellschaft begreifen zu lernen und zu sehen, daß dieser Weg zurück nicht eben sinnvoll ist.

Nun läßt sich argumentieren, eine gemäßigte nationale Einstellung müsse nicht unbedingt an den Inhalt des Nationbegriffs unserer Vergangenheit gebunden sein; es stehe uns frei, ihn für uns neu zu gebrauchen, ihm einen anderen Inhalt zu geben. Verzichten könnten wir solange nicht auf eine nationale Erziehung, solange noch nationale Gemeinschaftsaufgaben zu leisten seien.

Ist die Wiedervereinigung eine nationale Aufgabe?

Wieweit es in unserem Belieben steht, den Begriff Nation mit einem neuen Inhalt zu versehen und ihn zu gebrauchen, ohne seine alten Wertzusammenhänge mit zu mobilisieren, muß noch überlegt werden. Zuvor aber ist noch zu sehen, welche „nationalen" Aufgaben heute zu lösen sind.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang gern von der deutschen Wiedervereinigung, offenbar in Erinnerung daran, daß sich Nation bei uns sehr stark als eine staatliche Einigung der Menschen gleicher Sprache verstand, und wohl auch deshalb, weil zum Selbstverständnis der etwa über dreißig Jahre alten Menschen in unserer Gesellschaft und sicher auch einiger jüngerer zur Nation früher auch das andere Deutschland östlich von Werra und Elbe gehört. Daß man sich bei uns einmal darüber stritt, ob Osterreich auch zur deutschen Nation gehöre oder nicht, ist seit Hitlers großdeutscher Lösung offenbar endgültig historisch geworden.

Sehen wir es als nationale Aufgabe, die beiden Teile Deutschlands zu vereinigen, ist es zweckmäßig, über die Möglichkeiten nachzudenken, die für eine solche Wiedervereinigung gegeben sind. Die „DDR" hat sich im Machtbereich der UdSSR gebildet, die Bundesrepublik in dem der Westmächte. Beide Teile Deutschlands spiegeln heute mit einigen wesentlichen Brechungen tendenziell die gesellschaftlichen Verhältnisse der sogenannten ehemaligen Besatzungsmächte wider.

Die Bundesrepublik Deutschland hat in der Selbstdarstellung ihrer verantwortlichen Politiker versucht, die Wiedervereinigung durch den Beitritt zur westlichen Allianz zu erreichen, hat im Sinne traditioneller Machtpolitik geglaubt, wenn der eine hinreichend stark sei, müsse der andere nachgeben. Nicht kalkuliert wurde dabei offenbar, daß die heutigen Waffensysteme die alte Machtpolitik nur noch als Selbstmord zulassen, wenn der vermeintliche Gegner über ein gewisses Maß technischer Entwicklung hinausgewachsen ist. Andererseits wird mit einer solchen Politik internationale Spannung erhalten und erzeugt; sie verbietet es dem jeweiligen Lager, Produktionsbasen aufzugeben, wenn nicht wesentliche Vorteile dafür eingetauscht werden können. So gibt es kaum einen Staat, der an einer blockfreien Neutralität eines wiedervereinigten Deutschlands interessiert sein könnte, das einen neuen Faktor der Instabilität in die augenblickliche Weltlage brächte. Es ist also kaum zu sehen, was in dieser Weise eine nationale Erziehung im traditionellen Sinne, die in einer emotionalen Identifikation mit einer historischen Gruppe besteht, zur Lösung der „deutschen Frage" sinnvoll beizusteuern vermöchte.

Eine dauernde Betonung der Wiedervereinigung als nationale Aufgabe unter den augenblicklich praktischen Voraussetzungen, der Gutwillige folgen, kann deren mögliches Engagement überhaupt nicht realisieren, weil die praktischen Möglichkeiten nicht gegeben sind. Allerdings wird mit der dauernden Verkündung einer solchen Politik ein nationales Bewußtsein stimuliert, das sich vielleicht eines Tages realisieren möchte, für das aber nur der Weg bleibt, die Wirklichkeit den eigenen Vorstellungen mit Gewalt anzupassen. Sicher ist ein nicht geringer Teil des gegenwärtigen Rechtsruckes in der Bundesrepublik auf dieses Konto zu buchen. Man möchte endlich einen Weg finden, die dauernden Proklamationen in die Wirklichkeit umzusetzen. Nachdem über dem nationalen Anliegen der deutschen Wiedervereinigung soviel Zeit verstrichen ist, wird es notwendig, zu bemerken, daß dieses andere Deutschland nicht mehr das gleiche ist, wie es das vor zwanzig Jahren war. Es hat sich nicht nur ein Wiederaufbau unter schwierigeren Bedingungen als in der Bundesrepublik vollzogen, sondern es hat sich dabei ein anderes gesellschaftliches Normen-system entwickelt. So stellen Reisende oder Handbücher für die politische Bildung verwundert oder schulmeisternd fest, daß man „drüben" unter dem gleichen Wort etwas ganz anderes verstehe, daß es sich aber dabei aus propagandistischen Gründen um eine Verfälschung des echten Begriffes handele, der bei uns gebraucht werde. Der Begriff Freiheit hat andere Inhalte, je nachdem, ob ich ihn bürgerlich, liberal oder im Sinne des Diamat defiB niere — und sicher ist die gesellschaftliche Wirklichkeit noch eine ganz andere Sache;

und ihre Anlayse wird eine unterschiedliche Realität möglicher Freiheit ergeben, hüben wie drüben. Das gesellschaftliche Bewußtsein in der Bundesrepublik ist auf das Erkennen solcher Unterscheidungen nicht eingestellt. Auch die demokratiefreundliche liberal-bürgerliche Einstellung, die in der Paulskirchenbewegung gern ihren Vorläufer sieht, hat in ihrem Gesellschaftsbewußtsein kaum realisiert, daß es neben der Paulskirchenversammlung in Frankfurt auch einen Gesellentag gab — und demokratische Freiheit durchaus nicht für alle in der Gesellschaft gleiches bedeutetet. Unsere Geschichtsbücher, nach denen die Jugendlichen sich über die Vergangenheit ihrer Gesellschaft informieren, kennen mit ganz geringen Ausnahmen solche Unterscheidungen nicht. Sarkastisch könnte man sagen, daß die Gesellschaft in Deutschland nicht diese beiden Traditionen ihrer Entwicklung nebeneinander zu denken vermochte. Da sie nationale Einigkeit wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in zwei getrennte Gruppen zu teilen. Eine Hinwendung zu einer Politik der Wiedervereinigung wäre nur möglich, wenn wir das gesellschaftliche Selbstverständnis der Bundesrepublik und der „DDR" zu analysieren vermöchten und es als gesamtdeutsche Realität zur Gesprächsgrundlage machten. Eine solche Art nationaler Aufgabe ist zwar für uns aus manchen Gründen notwendig anzugehen; sie hätte aber einen Inhalt, den man im deutschen Sprachgebrauch kaum unter national fassen kann.

Will die politische Erziehung unserer Gesellschaft nützen, hat es wenig Sinn, zu propagieren, daß die Bundesrepublik immer die rechte Wahrheit besitze, es sei denn, sie wolle dazu beitragen, ein Verständnis zwischen beiden deutschen Gruppen weiter zu verhindern. Auch wenn die Hauptweichen für eine mögliche Wiedervereinigung in Moskau und Washington gestellt werden, haben wir uns mit den inzwischen entstandenen Wirklichkeiten auseinanderzusetzen, wenn wir sie auch nicht mögen. Das bedeutet allerdings, daß die politische Bildung bei uns gesellschaftliche Probleme stärker zu differenzieren suchte, sie in ihren Bedingungen zeigte und auch die Relativität der eigenen Positionen aufdeckte. Sicher ist das nicht alles, was politische Bildung in diesem Zusammenhang bewirken müßte, aber es geht hier zunächst nur darum, notwendige Zielsetzungen anzudeuten.

Zunehmende Beschränkung der nationalstaatlichen Souveränität

Der Begriff Nation war im deutschen Sprachgebrauch bisher eigentlich nur außenpolitisch relevant. Man wollte Einigkeit im Inneren, um nach außen stark zu sein. Es ist die Frage, ob dieser Nationbegriff noch taugt, außenpolitische Probleme unserer Tage verstehen zu können. Zum Selbstverständnis der Nation gehörte ihre Souveränität. Das scheint für viele heute noch unverändert. Abgesehen davon, daß die Bundesrepublik im Nostandsbereich einen Souveränitätsdefekt hat, zeigt sich auch in unserer Welt, daß die Souveränität der nationalstaatlichen Epoche dahin ist. Die Tendenz geht unter dem Zwang der Waffentechnik und der Vorherrschaft zweier Weltmächte dahin, daß der Krieg keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mehr sein kann, wenn über einen Sachverhalt keine Verhandlungseinigkeit zweier oder mehrerer Partner zu erreichen ist. Wie in der Individualsphäre bei divergierenden Interessen Recht nicht mehr durch Fehde, sondern durch Rechts-institutionen auf Grund von gesetzten Normen gefunden wird, werden die Nationen mehr und mehr Rechtssubjekte. Einen Teil ihrer Souveränität geben sie zugunsten einer allgemeinen größeren Rechtssicherheit auf. Sicher muß diese Entwicklung noch weitergehen, wenn eine größere Friedenssicherheit auf der Welt erreicht werden soll. Das bedeutet aber, daß der nationale Staat immer mehr seine Rechte an internationale Institutionen delegieren muß, ähnlich wie nach der Theorie des Gesellschaftsvertrages das Individuum Teile seiner Souveränität an die Regierung delegiert hat. Damit wird zwar die Souveränität der einzelnen Nation noch nicht negiert, sie wird aber rationalisiert und faktisch dezentralisiert. In der Verflechtung aller Interessen wird sie die delegierte Souveränität weniger und weniger zurückrufen können, wie sich der einzelne nur noch in großen Ausnahmesituationen seine delegierten Rechte zurückholen kann (Widerstandsrecht).

Zumindest die Kuba-Krise hat gezeigt, daß auch die beiden Weltmächte nur noch begrenzte Souveränität im alten Sinne haben. Auch die nationale Verfügung über Atomwaffen macht diese Entwicklung nicht rückläufig. Im Gegenteil haben erst die Atomwaffen die Möglichkeit zur Ausübung der vollen Souveränität im alten Sinne gebracht. Nationale Außenpolitik wandelt sich, weil sich die internationale Rolle der Nationen wandelt und umgekehrt. Das Bewußtsein, das daran ge-knüpft war, ein Engländer oder ein Deutscher zu sein, hat mehr und mehr seinen Gegenstand verloren. Sicher kann es aber noch produziert werden und in der Konsequenz die friedliche Entwicklung der menschlichen Verhältnisse hemmen. Ein deutsches Nationalbewußtsein, das die Nation wiederherstellen will, wird deshalb gefährlich, weil es wegen dieser Wiederherstellung den außenpolitischen Status quo ändern muß, weil es territoriale Ansprüche anmeldet und der internationalen Entwicklung entgegenläuft. Das wird sich mit den Jahren eher verstärken als abbauen. Es ist kaum eine Frage, daß wir mit einem solchen in der Konsequenz notwendig aggressiven Nationalbewußtsein den Interessen unserer Gesellschaft nicht dienen.

Die Nation hatte offenbar einmal die Größe, daß für den gegebenen technischen Entwicklungsstand über sie die meisten der Menschen institutionalisiert werden -konn ten. In ihren Grenzen bildeten sich bestimmte Wertordnungen aus, von denen man glaubte, daß sie besser seien als die der anderen Nationen.

Heute ist die Frage, wie weit die Nation, der Nationalstaat, bei der dauernd fortschreitenden Arbeitsteilung, bei der immer größeren industriellen Konzentration in der Auswirkung der internationalen wirtschaftlichen Konkurrenz überhaupt noch diese Funktion haben kann, die Interessen ihrer Bürger institutionalisieren zu können. Der Abbau der außenpolitischen Souveränität, die formelle oder faktische Delegation auf internationale Institutionen oder Gruppen hat auch von innen her die Souveränität der einzelnen Nationen angezehrt. Und beides, die Einschränkung der äußeren wie der inneren Souveränität, zeigt sich schließlich als derselbe Vorgang. Käme bei uns eine politische Gruppe auf die Idee — und nehmen wir an, sie hätte die parlamentarische Macht dazu —, alle Großunternehmen in der Bundesrepublik zu verstaatlichen, so würden nicht nur die ausländischen Interessenten diesen Schritt wirksam zu verhindern suchen, sondern unserer Wirtschaft würde kaum noch Kapital zufließen, um wirksam zu investieren; Stillstand und Rückgang der Produktivität, Absinken des Lebensstandards wären die Folge.

Gesellschaftliche Interessenkonflikte offen ausgetragen

Etwas mehr Einfluß als auf eine mögliche Änderung des sozialen Systems hat der nationale Staat etwa bei der Stabilisierung des Geldwertes, bei Fragen der Alters-und Krankenversicherung, obgleich auch die bei einer Freizügigkeit der Arbeitskräfte auf dem europäischen Markt nur in Absprachen gelöst werden können. Im Bereich der Wissenschafts-und Bildungsförderung, die in allen Ländern auf unterer Ebene verwaltet werden, sind noch relativ souveräne Entscheidungen möglich. Bei dieser Entwicklung ist zu fragen, welchen inhaltlichen Gegenstand eine nationale Erziehung noch hat, wo es sich kaum darum handeln kann, die in den Industriegesellschaften verzahnten ähnlichen Probleme nach einer spezifisch nationalen Wertordnung zu lösen, die es nicht mehr gibt — wenn es sie außer in den jeweiligen Selbst-und Fremdvorstellungen je gegeben hat —, sondern nach sozialen Gesichtspunkten. Von daher kann nationale Erziehung inhaltlich, wenn sie nicht beim Schlagwort bleibt oder bewußt auf ein Zurückdrehen der Verhältnisse, das heißt letztlich auf ein Rückgängigmachen der Industrialisierung gerichtet ist, nur eine Erziehung sein, die dem einzelnen hilft, gesellschaftliche Probleme zu erkennen und innerhalb der Gesellschaft seinen Interessen gemäß zu handeln.

In unserer Gesellschaft wird ein Handeln nach der eigenen Interessenlage nicht in allen Bereichen gern gesehen. Obgleich zwar beispielsweise unser Wirtschaftssystem auf dem individuellen Gewinnstreben basiert, wird gewerkschaftlicher Lohnforderung in einer breiten Öffentlichkeit mit Unmut begegnet. Erkennen der eigenen Interessenlage, das zu tun, was dem eigenen Leben von Vorteil ist, scheint bei uns etwas zu sein, das man zwar tut, worüber man aber nicht spricht, obgleich man den, der seinen Interessen offenbar gut gedient hat, viel Geld verdient, bei uns erfolgreich nennt.

Dennoch ist ein Handeln nach der eigenen Interessenlage kein Erziehungsziel, weil die Erziehungsziele offenbar von der gesellschaftlichen Ideologie, dem herrschenden Selbstverständnis bestimmt worden sind und kaum von einer kritischen Analyse der Realität. Es ist hier nicht zu untersuchen, warum das bei uns so ist, warum das Mehr-Haben-Wollen bei uns entschieden unfeiner ist als das Schon-Besitzen, obgleich beides zeitlich verschiedene Aspekte einer Sache sind. Nur die Beziehung des Verfolgens eigener Interessen zum Nationalismus soll hier in den Blick gerückt werden.

Der politischen Erziehung von 1945 bis heute ist vorgeworfen worden, daß sie einen falschen Ansatz genommen habe: Sie sei vom Individuum ausgegangen, anstatt von der Gemeinschaft. Aus einer Regression auf den Egoismus sei keine politische Erziehung zu entwickeln, weil der Einzelmensch sich aus dem Dienst an der Gemeinschaft rechtfertige Die Nation wird als die Gruppe oder Gemeinschaft gesehen, an die sich der einzelne binden müsse, wenn er nicht dem Egoismus verfallen wolle. Nach unseren bisherigen Überlegungen wird es schwer, einen realen Inhalt in diesem Begriff zu finden, an den diese Bindung erfolgen soll, außer sozialen Problemen, die aber nie der Inhalt dessen waren, was bei uns unter Nation verstanden wurde.

Obgleich es sicher wichtig ist, sich für die sinnvolle Lösung sozialer oder — anders — gesellschaftlicher Probleme zu engagieren, weil sie letztlich die eigenen Lebensmöglichkeiten mitbestimmen, ist kaum zu sehen, daß sie den Sinn unseres Lebens ausmachen. Es sieht vielmehr so aus, daß bei uns das Verhältnis einzelner und Gruppen kaum entspannt pragmatisch, sondern oft leicht hysterisch metaphysisch gesehen wird. In der säkularisierten Welt wird eine neue Konstante gesucht; historisch gesehen hat der Nationalstaat tatsächlich eine säkularisierte religiöse Funktion erfüllt.

Problematisch ist schon die denunzierende Trennung von „Einzelmensch" und Gruppe. Soweit bekannt ist, traten Menschen immer in Gruppen auf, soweit sie nicht Eremiten waren oder unfreiwillig wie Robinson lebten. Sprechen lernen ist ein Sozialisierungsprozeß. Wir linden uns als Sprechende schon immer gesellschaftlich vor. Man kann zwar momentan allein sein, aber man ist es immer nur in den Formen und Möglichkeiten unserer Gesellschaft. Individuum und Gesellschaft stehen nicht notwendig in einem sich ausschließenden Gegensatz. Begreifen sie sich so gegensätzlich, ist das Verhältnis zwischen beiden gestört, und es ist nach den Gründen zu fragen. In Deutschland haben bisher bestenfalls immer nur kleine Gruppen der Gesellschaft die Möglichkeit einer begrenzten Selbstbestimmung gehabt. Die politische Möglichkeit einer Selbstbestimmung der gesamten Gesellschaft gab es potentiell in der kurzen Spanne der Weimarer Republik und seit der Gründung der Bundesrepublik. So ist es wenig verwunderlich, daß bei uns die Verhaltensformen weit niedriger bewertet werden, die auf die Darstellung und Durchsetzung eigener Interessenlagen gerichtet sind, als jene, die vorgeben, dem Ganzen zu dienen oder das Gemeinwohl zu fördern. In der patriarchalischen Staatsverfassung entschied der Staat, die herrschende Gruppe, vorgeblich neutral über den Parteien stehend, zu seinen Gunsten und dabei zumeist für die mit seinen Interessen verbundenen Interessen der Oberschicht. So waren von den Machtverhältnissen her nur die Interessen der politisch und wirtschaftlich herrschenden Gruppe legitim; „national" wurden sie genannt, um die gesamte Gesellschaft in ihren Dienst zu stellen.

Es ist eine Aufgabe für die politische Erziehung in unserer Gesellschaft, zunächst dieses schlechte Gewissen bei der Vertretung eigener Interessen abzubauen und ein gesellschaftliches Bewußtsein fördern zu helfen, das die eigene Interessenlage im Zusammenhang mit den anderen zu sehen vermag und damit Willkür in der Durchsetzung eigener Interessen vermeidet.

In Gesellschaft, dem einzelnen -einer die Frei heit zur Selbstbestimmung seines Lebens gibt, besteht das Gemeinwohl unter den Bedingungen der Wettbewerbsgesellschaft zunächst darin, daß es von keiner Gruppe allein feststellbar ist und der Konflikt der Interessen offen ausgetragen werden kann. Ohne ein Engagement an diesen gesellschaftlichen Prozeß ist nur eine recht eingeschränkte Selbstbestimmung des eigenen Lebens möglich. In dieser Weise ist ein Engagement als Ergebnis politischer Bildung zu fordern. Aber wiederum sieht auch dieses Ergebnis inhaltlich anders aus wie das, das früher unter einer Bindung an nationale Ordnung verstanden worden ist.

Nationale Werthaltungen sind nicht angeboren

Nun wird bei uns gesagt, daß eine solche Ausübung des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls für die Machtinteressen einer Gruppe durchaus nicht dieses Zusammengehörigkeitsgefühl als solches abwerten müsse. Jede Gesellschaft lasse sich in ihren Vorstellungen manipulieren. So könne man auch das Nationalgefühl mißbrauchen, das jedem Menschen innewohne. Eine Untersuchung an Jugend-liehen,die nach 1945 aufgewachsen und nicht national erzogen wurden, zeige deutlich, daß hier ein Nationalgefühl vorhanden sei, das durch die Gesellschaft teils verketzert werde, teils leerlaufe und nicht für eine Erziehung über den Egoismus hinaus benutzt werde Lasse man dieses Nationalgefühl brachliegen oder verketzere es gar, verhindere man ein politisches Engagement der Jugendlichen oder mache sie in der Reaktion schließlich für nationale Radikalismen anfällig. Die jüngste politiche Entwicklung in der Bundesrepublik macht ein einfaches Abweisen solcher Argumentation unmöglich. Es gibt in unserer Gesellschaft heute offenbar Neigung zu nationalistischer Radikalität und Jugendliche, die nationale Einstellungen haben, und es gibt Menschen, die nationale Einstellungen für dumm oder verbrecherisch halten. Sicher bedeutet ein Für-Dumm-Gehalten-Werden für den Betreffenden eine Frustration, zumal wenn der Urteilende eine gesellschaftliche Machtposition innehat. Und Frustrationen schlagen in Aggressionen um, wenn sie nicht rationalisiert werden.

Diese nationalen Einstellungen bei Jugendlichen sind ein Problem für die politische Erziehung in unserer Gesellschaft. Es ist alles andere als klug, sie lächerlich zu machen oder sie gar zu verketzern. Das hat eine Reihe von Gründen, die kurz dargestellt werden müssen. Bestimmt läßt sich sagen, daß diese nationalen Einstellungen, die wir bei Jugendlichen finden, nicht angeboren sind und nicht zum Wesen des Menschen, zur Grundlage seiner Psyche gehören, wie es im Rückgriff auf eine wissenschaftlich überholte Psychologie gesagt wird. Aber auch gelernte Einstellungen — und es gibt nur solche — sind Einstellungen, die man bei der Erziehung ernst nehmen muß, wenn wir überhaupt Menschen erziehen wollen. Wichtig für den Umgang mit solchen Einstellungen in der politischen Bildung, überhaupt im Gesamtbereich der Erziehung, ist zunächst ein Aufschluß über ihre Herkunft. Woher beziehen Jugendliche, die in einem publizierten antinationalen politischen Klima aufgewachsen sind, die über die Untaten Hitlers unterrichtet sind, nationale Werthaltungen, wenn sie schon nicht angeboren sein sollen? Handelt es sich um jugendliche Protestreaktionen gegen die Erwachsenenwelt — wie manchmal vermutet wird? Mögen auch Protest-haltungen hineinspielen, die Ursachen liegen doch recht unkompliziert offen, aber vielleicht eben dadurch verborgener zugleich.

Geschichtsunterricht reaktivierte emotionale Einstellungen

Obgleich sich unsere politische Bildung nach 1945 gesamteuropäisch, ja international und antinational verstanden hat oder zu verstehen vorgab, hat sie wahrscheinlich in einem erstaunlich großem Maße zur Erhaltung und Reaktivierung emotionaler Einstellungen beigetragen. Das änderte sich zwar in den letzten Jahren in einigen Bereichen der politischen Bildung, ist aber dadurch nicht rückgängig zu machen.

Ablesen läßt sich dieser Vorgang der indirekten und unbewußten Effekte der nationalen Stimulierung an vielen Stellen. Am schnellsten ist er vielleicht am Problem des zeitgeschichtlichen Unterrichts, der Behandlung der Zeit von 1917— 1945, zu verdeutlichen. Außerdem spielte und spielt dieser zeitgeschichtliche Unterricht an vielen Stellen unseres Bildungssystems eine zentrale Rolle für die politische Bildung. Zumal dort, wo der sozialkundliche Unterricht noch nicht recht vorangekommen ist. Das hängt damit zusammen, daß der Geschichtsunterricht traditionell die Vorform der politischen Bildung an den Schulen ist, wie sich die Politikwissenschaft und zum Teil die Sozialwissenschaft erst an der Historiographie entwickelten. Geschichtsunterricht hatte und hat bei uns vorwiegend politische Geschichte im Blick, die in unserer Tradition unter einem Aspekt vom Staat her, von der Bildung der Nationalstaaten und ihrer Konflikte, verstanden wurde. Der Blick auf das Geschehen wurde und wird dem Schüler jeweils von oben oder vom Ganzen auf die Teile gerichtet. Wirtschaftliche und technische Entwicklungen standen und stehen weitgehend ganz am Rande der Behandlung. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft wird kaum dargestellt. Wenn es jedoch hin und wieder geschieht, ist es zumeist durch die Interessen der Gruppen gesehen, die sich mit dem Staat identifizieren und nicht von Gesellschaft, sondern von Gemeinschaft sprechen. Als Instrument für die Analyse der deutschen Misere wird dabei also kurioserweise das benutzt, was diese Misere des politischen Bewußtseins in Deutschland selbst in erheblichem Maße mit produziert hat.

Dieser Verhalt muß differenzierter dargestellt werden, weil es auch in der deutschen Geschichtsschreibung Positionen gab, die sich gegen diesen allgemeinen Trend stellten; aber sie sind für die Geschichtsbetrachtung in den Schulen erst sehr langsam und bis heute sehr begrenzt wirksam geworden. Unsere Geschichtsbetrachtung konnte eine Analyse der politischen Entwicklung in Deutschland, besonders dieses Jahrhunderts, nur sehr begrenzt leisten, weil sie damit zunächst sich selbst zum Gegenstand der Fragestellung hätte machen müssen. Das geschieht zwar inzwischen in immer stärkerem Maße, hat auch schon auf einige Schulgeschichtsbücher eingewirkt, sie aber bis heute noch nicht grundsätzlich verändert.

Einem Schüler, der nicht gelernt hat, politische Probleme in ihren gesellschaftlichen Bedingungen zu sehen, sich aber unbewußt mit dem Staat, dem „Ganzen" identifiziert, klingt es sehr plausibel, daß Hitler nur die Schmach von Versailles beseitigte und berechtigte deutsche Interessen endlich wieder zur Geltung brachte.

Sein ganzer Fehler war dann, den Krieg anzufangen und die Juden so hart anzufassen.

Nun interessieren sich die Jugendlichen heute wohl durchschnittlich nicht mehr sehr für diese Vergangenheit. Geschichte hat als Fach gegenüber früher sehr an Beliebtheit verloren.

Für das Bewußtsein vieler Jugendlicher ist Weimar und Hitler längst vergangene Zeit.

Was aber aus solcher Betrachtung unbewußt bleibt, wenn sonst auch vieles vergessen wird, aind die allgemeinen Urteilskategorien. Wenn der Nationalsozialismus unter den Kategorien nationalistischer Machtpolitik des 19. Jahrhunderts gesehen worden ist, kann er kaum als regressive Ideologie gesellschaftlicher Gruppen im Übergang vom feudalen agrarischen System zu einer mobilen Industriegesellschaft verstanden worden sein.

Der Versailler Vertrag erscheint als ein Friedenschluß, der sich von früheren eigentlich nur durch die großen Belastungen unterschied, die Deutschland trafen. Es wird in das Bewußtsein der Schüler zu bringen versucht, welche Gebiete Deutschland abtreten mußte, wie hoch die Reparationsleistungen waren, daß Deutschland wegen seiner Wehrlosigkeit die Alleinschuld anerkennen mußte und überhaupt nur durch sein Vertrauen auf Wilson in diese kritische Lage gebracht worden ist. Kaum analysiert wird dabei die wirkliche Rolle der deutschen Politik zu Beginn des Krieges, nicht die deutschen Kriegsziele, kaum die Kriegsschlußbedingungen gegenüber Rußland (Brest-Litowsk), nicht die Verschuldung Frankreichs und Großbritanniens durch den Krieg und die daraus resultierenden Interessenlagen der Bevölkerung und Regierungen der Entente-Länder, nicht der Umstand, daß auch das deutsche Reich der Krieg viel Geld kostete und welche Folgen das hatte, und nicht, wieweit ein moderner Krieg in seinen Entscheidungen von den produktiven Kapazitäten abhängt, und vieles mehr.

Über die Weltwirtschaftskrise ist nach Ausweis vieler Geschichtsbücher für die Schüler ausreichend zu wissen, daß es auf Grund übertriebener Spekulationen in der Wallstreet einen Schwarzen Freitag gab und daß die Krise auf Deutschland Übergriff und viele Millionen von Arbeitslosen zur Folge hatte. Selten gehen einige Andeutungen darüber hinaus, die dem Schüler verstehen helfen könnten, wie wirtschaftliche Verflechtung heute wirkt und wie sie notwendig ist, um Produktivität und damit Lebensstandard zu steigern, und wie Hitlers wirtschaftliche Zielsetzung von Anfang an regressiv war und politisch aggressiv werden mußte, wenn sie nicht revidiert wurde.

Außenpolitische Fakten sind den Schülern bekannt. Sie wissen von Rapallo und Locarno, das gern als Vorgeschichte der europäischen Einigung bemüht wird; nicht analysiert ist, wieso im deutschen Reichstag zuletzt keine demokratische Mehrheit zustande kam, welche gesellschaftliche Gruppen aus welchen Gründen keine demokratischen Einstellungen hatten.

Ohne diese Analysen, in den Kategorien der traditionellen Gesichtsbetrachtung bleibend, muß eine Beschäftigung mit dieser Vergangenheit ihrer Gesellschaft auf junge Menschen frustrierend wirken. Politisches Geschehen muß für sie schicksalhaft bleiben, der rationalen Veränderbarkeit durch Parteinahme auch in Zukunft entzogen; und das Bezugssystem allen Geschehens, das Ordnungsgefüge, bleibt die Nation, der Nationalstaat, wenn er auch mit seiner Politik kein Glück hatte, nur negativ erscheint. Aus der Verhaltensspychologie wissen wir, daß auch negative (sekundäre) Erfahrungen ein Verhalten nicht auslöschen, vergessen lassen, sondern es durchaus verstärken können.

Die einzige Möglichkeit, alte Verhaltensweisen und Verstehensmöglichkeiten ohne Zwang zu ändern, besteht darin, neue aufzubauen und einzuüben. Das aber ist im Zeitgeschichtsunterricht kaum geschehen. Da er sich zumeist gesellschaftlich kaum differenziert mit dem Geschick der ganzen Nation beschäftigt, hat er diesen Bezugsrahmen durchaus für das Verständnis der Gegenwart zu konservieren vermocht. An der Darstellung des nationalsozialistischen Systems in unseren Geschichtsbüchern läßt sich das noch eingehender belegen, wie es sich an der Darstellung aller Geschichtsepochen überhaupt zeigen läßt.

Gegenwärtiges gesellschaftliches Wertsystem stützt nationalkonservative Positionen

Das Problem wäre nicht so gravierend, wenn es für den Geschichtsunterricht allein zuträfe.

Daß unsere Deutsch-Lesebücher in der Darstellung einer agrarischen Welt stehen geblieben sind, ist bekannt, wenn auch inzwischen die Bemühungen, das zu ändern, fortgeschritten sind. Daß aber mit dieser agrarischen Welt eben Gesellschaftsbilder — gesellschaftlich wirksame Werthaltungen — dauernd weiter vermittelt werden, die den Aufbau eines demokratischen Bewußtseins hindern, die Wert-bezüge des Geschichtsunterrichts allerdings weitgehend bestätigen, ist bisher wenig bemerkt worden. Schließlich leistet ein großer Teil des kulturkritischen Vokabulars, das der Sprachunterricht unter entsprechenden Themen für die Besinnungsaufsätze pflegt, gleichen national-konservativen Dienst. Das gesellschaftlich unreflektierte Fadi-und Wissenschaftsverständnis vieler Deutschlehrer auf allen Bildungsstufen soll als Problem nur noch erwähnt werden. Der Unterricht in der politischen Bildung, der hier Gegengewichte setzen könnte, wird in bedeutenderem Maße erst in der letzten Zeit wirksam.

Die Institutionenkunde, von den Intimgruppen abgeleiteten Wertorientierungen gesellschaftlichen Verhaltens in Großgruppen waren nahezu bruchlos in das traditionelle Gemeinschaftsverständnis einzubauen, das sich politisch am Nationalstaat orientierte, wenn es auch Vereinigte Staaten von Europa oder Atlantische Gemeinschaft sagte. Für den außenpolitischen Gegner, dem gegenüber man sich in der eigenen Gruppe überlegen fühlen konnte, war durch diesen Vorgang der angestrebten Bildung einer neuen Großnation gesorgt. Man kann auch umgekehrt sagen, daß das propagierte Bewußtsein, einem unbarmherzigen Feind ausgeliefert zu sein, diese Allianzbestrebungen förderte. Und schließlich hat auch unsere Politik durch ihr propagiertes Verhältnis zum Oder-Neiße-Problem und der deutschen Wiedervereinigung den alten nationalstaatlichen Bezugsrahmen bei aller offiziellen Ablehnung nationaler Politik aktuell zu erhalten vermocht.

Problematischer ist noch, daß die Wertvorstellungen gesellschaftlichen Verhaltens in unserem Land großenteils die national-autoritären Positionen stützen, liberale, demokratische dagegen kaum verstärken. Soziale Unzufriedenheit, der Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen, mehr Freizeit, ist für das gesellschaftliche Bewußtsein vieler Menschen bei uns ein Verstoß gegen den Anstand, weil es nicht nur unverschämt ist, seine Interessen zu zeigen, sondern auch gegen die Ordnung, seine Position verbessern zu wollen. Zumal in einer wirklichen, gefürchteten oder interessehalber forciert propagierten Krisensituation geraten solche Folgerungen in den Verdacht der Gefährdung nationaler Sicherheit. Die Formen der bei uns zumeist üblichen Unterordnung lassen für das eigene Verhalten Anpassung erfolgreicher erscheinen als eine Darstellung der eigenen Position. So laufen auch die Arbeitsprozesse bei uns recht glatt und geräuschlos, wie sie von oben eingestellt werden. Allerdings vollzieht sich dadurch die dauernd notwendige Veränderung des über den isolierten technischen Arbeitsprozeß hinausgehenden Verhaltens kaum mit. So kann sich ein gesellschaftliches Verhalten restaurieren, das dem der Einzelentscheidungsmöglichkeit am Arbeitsplatz strukturell nicht entspricht, dafür aber der Herrschaftsstruktur, die sie weiter verstärkt.

Solange man die hier entstehenden Aggressionen in scheinfreies Konsumverhalten kanalisieren kann, das dann seinerseits das ganze System weiter festigt, bleiben sie neutralisiert. Stört man den Kreislauf, werden sie sich auf den vermeintlichen Störenfried richten, einen Sündenbock finden, weil die gelernten Verhaltensmodelle die eigene Situationsanalyse nicht erlauben. Daß auch der Betrieb unserer Bildungsinstitutionen in Methode und Inhalt noch weitgehend diesem Strukturmodell entspricht, ist bedauerlich, weil hier die Verhaltensänderung über die Reflexion eingeleitet, und durch sie dauernd verstärkt, am leichtesten erreicht und in der Folge multipliziert werden könnte. Eine entscheidende Änderung des gesellschaftlichen Wertsystems in Deutschland (1945) wäre nach Meinung führender Sozialpsychologen durch eine Neubesetzung der Rollenpositionen und eine Veränderung des Rollensystems möglich gewesen, die das gesellschaftliche Wertverhalten bestimmen Daß das nicht geschehen ist, verbindet uns zwar bruchloser mit unserer Vergangenheit, macht den Weg in eine demokratische aber gebrochener.

Weckung des demokratischen Bewußtseins als nationale Aufgabe

Sicher wäre es falsch, aus dem bisher Gesagten folgern zu wollen, daß es keine Aufgaben gäbe, die in ihrer spezifischen Art besonders unserer Gesellschaft gestellt wären. Im Gegenteil: Wenn sich die besonderen Bedingungen, die besonderen Hemmnisse des Prozesses der Umsetzung formaler Verfassungsdemokratie in gelebte Wirklichkeit für unsere Gesellschaft beschreiben lassen, modifizieren sich damit auch die uns gestellten Probleme gegenüber denen anderer Gruppen bürgerlicher Industriegesellschaft. Anders ausgedrückt bedeutet dies, daß es heute nationale Aufgaben für uns zu lösen gibt, daß also auch in den Bildungsinstitutionen eine Vorbereitung der Jugendlichen auf diese Probleme erfolgen müßte, wenn Erziehung nicht an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbeigehen will. So hätten denn die recht, die eine nationale Erziehung fordern, um die Wirklichkeit des „deutschen Menschen“ nicht zu verfehlen?

Es liegen die verschiedenen Inhalte offen, die unter national verstanden werden. In der bewußten Zuspitzung der Positionen, die die Tendenz am leichtesten zeigt, versteht es sich einmal traditionell mit dem gesamten konservativ-autoritären Gesellschaftsgefüge, das notwendig dazugehört und in dem es sich zeitweilig gut leben läßt, wenn man oben sitzt oder auch nur oben zu sitzen meint; die außenpolitischen Konflikte, die sich (notwendig) produzieren, dann als schicksalhaft erduldet oder für die eigenen Interessen kalkuliert. Im anderen Fall wäre unter nationaler Aufgabe eine Verbesserung der Bedingungen der Demokratie in unserem Lande zu verstehen. Sie wird im Sinne Renans ein tägliches Plebiszit. Sie rückt aus der irrationalen Schicksalhaftigkeit in den Bereich der Kalkulation der Realisierungsmöglichkeit konkreter Freiheiten.

So könnte gesagt werden, daß die nationale Aufgabe in Deutschland in der Anstrengung zur Auflösung dessen besteht, was traditionell unter national verstanden wird.

Gebraucht man das Wort national für die Aufgabe, den Inhalt der traditionellen Vorstellungen von nationaler Ordnung bei uns abzubauen und ein Gesellschaftsbewußtsein aufzubauen, in dem nicht der einzelne von vornherein der Gemeinschaft zu dienen hat, in dem er aber nur gesellschaftlich zu begreifen ist, weil er sich gesellschaftlich realisiert, müssen alle inhaltlichen Verschiedenheiten dieses Begriffes, muß die völlig andere Tendenz des Prozesses gesellschaftlicher Wertvorstellungen immer zugleich mitvollzogen werden. Geschieht das nicht, werden zumindest im unreflektierten Gebrauch die traditionellen gesellschaftlichen Wertsysteme mobilisiert, die das Wort national assoziativ anspricht und im Gebrauch verfestigt. Auch in der Absicht vorgetragen, gesellschaftliche Mobilität zu fördern, wird es durchschnittlich das Gegenteil bewirken. Denn unsere Sprache wird leider bis heute vielfach nur von denen „instrumental" gebraucht, die sich über den propagierten (pseudoreligiösen) Tiefsinn etymologischer Ableitungen ihre Gefolgschaft zu sichern suchen.

Auch im Bereich der allgemeinen Bildung hat es bei uns nicht nur die Aufklärung schwer gehabt, auch der Nominalistenstreit wird heute noch oft für die Etymologie entschieden. Auch das zu ändern, ist für uns eine Aufgabe, Freiheit für den einzelnen konkret zu erweitern. Solange nicht der instrumentale Gebrauch der Sprache bei uns vorherrscht, ist es besser, nicht von nationalen Aufgaben zu sprechen, wenn spezifische Probleme unserer Gesellschaft gemeint sind, weil das mit Wahrscheinlichkeit Mechanismen auslöst, die unsere demokratische Entwicklung hemmen. Das kann nur wenigen nützen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für einen Teil der Sozialkundebücher liegt eine Analyse von V. Nitzschke vor (Band 4 der Forschungsberichte der Max Traeger Stiftung).

  2. E. Lemberg, Nationalismus als Problem der politischen Erziehung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 10/65 v. 10. März 1965.

  3. E. Gerstenmaier, Neuer Nationalismus?, Stuttgart 1965.

  4. Am akzentuiertesten vielleicht bei H. Richert: Die deutsche Bildungseinheit und die Höhere Schule, Tübingen 1920.

  5. Dazu K. Sontheimer, Die Wiederkehr des Nationalismus in der Bundesrepublik, in: Tribüne, Heft 18/66.

  6. Ein knapper Bericht über die Entwicklung der politischen Bildung in der Bundesrepublik im Band 3 der Forschungsberichte der Max Traege Stiftung, jetzt auch überarbeitet unter dem Titel „Erziehung durch Anpassung", Frankfurt-1967.

  7. Lemberg, a. a. O„ S. 6.

  8. R. Raasch, Zeitgeschichte und Nationalbewußtsein, Neuwied 1964.

  9. Hartly and Hartly, Einführung in die Sozial-psychologie, S. 238

  10. W. Schultze in Raasch, a. a. O., S. XI.

Weitere Inhalte

Kurt Fackiner, Dr. phil., Oberstudiendirektor, Leiter des Studienseminars Gießen, geb. 11. Januar 1929 in Kassel. Veröffentlichungen: Zeitschriftenaufsätze zu Fragen der politischen Bildung.