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A. Das Diskussionsprinzip | APuZ 6/1968 | bpb.de

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APuZ 6/1968 Diskussion und Evidenz im parlamentarischen Regierungssystem A. Das Diskussionsprinzip B. Das Offentlichkeitsprinzip

A. Das Diskussionsprinzip

ben, so können diese Verschiebungen sinnvollerweise nur zusammen mit den Auswirkungen auf die anderen Instanzen des Government gesehen werden, soweit nicht umgekehrt Parlamentsentwicklungen Auswirkungen anderswo lokalisierter Änderungen sind. Wenngleich das Parlament das Hauptinteresse beansprucht, soll deshalb unsere Darstellung den Begriff der Diskussion und der Evidenz für den Regierungsprozeß im weiteren Sinne beleuchten.

In einem demokratischen Regierungsprozeß gibt es zwei grundsätzliche Arten des Redens: Die Interpeliationsdiskussion und die Entscheidungsdiskussion (= Dezisionsdiskussion).

Die Interpellationsdiskussion ist jene Art der Debatte, die durch Interpellationen, daß heißt durch Anfragen, entsteht und durch ein Frage-und Antwortspiel den Befragten zwingt, Farbe zu bekennen. Die Interpellation dient der Information und der Kontrolle. Sie ist vor allem bekannt als Fragestunde des Parlaments und als genehmigte Zwischenfrage bei Abgeordnetenreden. Aber auch in allen anderen Gesprächskreisen des Government hat sie ihre Bedeutung. Entscheidungsdiskussionendagegen sind, wie das Wort besagt, jene Gespräche, die Entscheidungen sachlich kristallisieren und sprachlich artikulieren oder zumindest diesen Vorgang vorbereiten. Beide Arten sind für ein auf den Rädern der Checks and balances laufendes Government unentbehrlich, obzwar natürlich der Entscheidungsprozeß als Motor des politischen Geschehens im Vordergrund steht.

Government by discussion bedeutet immer Decision by discussion. Dieser Entscheidungsvorgang ist unser Thema. Die hier zu entwikkelnden Typen und Gedanken sind vor dem Hintergrund jenes Zwangs zur Entscheidung zu sehen, in dem jede Regierung steht. Das Diskussionsprinzip ergänzt sich durch das Evidenzprinzip, denn die Demokratie stellt die Frage: Wieviel von dem, was im Regierungsprozeß gesagt wird — und zwar auf dem Weg zu den Entscheidungen und später zur nachträglichen Begründung der Entscheidungen —, muß so gesagt werden, daß das Volk es hören kann? Manche Gespräche taugen nicht für die Öffentlichkeit, andere aber taugen nicht als Geheimnis.

Fassen wir also unsere Fragen nochmals zusammen: Wie ist die Diskussion im Parlament und in der Regierung heute zu klassifizieren, wo fallen die Entschlüsse? Zum zweiten: Ist das Parlament noch der Ort, an dem das Für und Wider der Entscheidungen öffentlich wird, oder zieht es sich zurück auf eine Arkandiskussion, die nur noch die Abstimmungsmaschinerie sichtbar werden läßt? Ist ein solches „Parlament" noch ein Organ dessen, was man als Parlamentarismus bezeichnen darf? Und die dritte Richtung des Fragens: Wenn sich als Diagnose die Veränderung traditioneller Diskussions-und Offentlichkeitsprinzipien ergeben sollte, ist dann diese Veränderung einem Diskussions-bzw. Öffentlichkeitsschwund oder nur einer Verlagerung der Gewichte gleichzusetzen? Wird im letzteren Fall ein Vorgang des sogenannten „stillen Verfassungswandels" sichtbar, durch den die gelebte Verfassung die traditionellen Normen einer Verfassungskonvention oder Verfassungskodifikation über-formt?

Unsere Untersuchung orientiert sich am parlamentarischen Regierungssystem, speziell am Modell Englands und der Bundesrepublik Deutschland.

I. Prinzipien des Entscheidungsgesprächs

Die Politische Wissenschaft hat Regierungssysteme und Regierungsprozesse unter den verschiedensten Gesichtspunkten behandelt. Eine Analyse unter dem Gesichtspunkt verschiedener Diskussionstypen, der Typenwandlungen und ihrer Auswirkungen wurde jedoch bisher vernachlässigt. Demgegenüber ist es höchst aufschlußreich zu fragen: Wie reden die Leute miteinander, die politische Macht haben oder mittels Durchsetzung ihrer Pläne politische Macht erstreben? Es soll versucht werden, jene Gesetzmäßigkeiten in den Griff zu bekommen, die unter dem Gesichtspunkt verschiedener Diskussionstypen einen Regierungsprozeß aufgliedern.

Zweckmäßiger Ansatzpunkt ist zunächst der Wortkern. „Parlament" kommt — wie oben schon erwähnt — von parlare, parlare heißt sprechen. Aber nicht das Reden gemeinhin bewirkt eine Diskussion; es muß das Argument hinzukommen. Das „Argumentum" hatte seinen Platz vor allem in der römischen Gerichtssprache; später war es schon den frühesten englischen Petitions-und Gesetzgebungsparlamenten als gezieltes, sachliches überzeugen des Meinungsgegners und somit als Basis politischer Verhandlungsgepflogenheit geläufig. Nicht das Fechten mit Worten bringt das Government voran, sondern die Auseinandersetzung sachlich begründeter Meinungen. Erst das Argument ist es, welches das Government by talking zum Government by discussion sublimiert. Ein Zweites ist zu wiederholen: Es interessiert hier nicht der Interpellationsprozeß, sondern der Entscheidungsprozeß. Vor dem Hintergrund des Zwanges zur Entscheidung ist die Aufschlüsselung des Regierungsprozesses unter dem Gesichtspunkt verschiedener Diskussionstypen vorzunehmen. Folgende Prinzipien sind für ein solches Dezisionsgespräch typisch 1. Das symbuleutische Diskussionsprinzip 2. das agonale Diskussionsprinzip 3. das deklaratorische Diskussionsprinzip Symbuleutisch bedeutet, dem griechischen Ursprungswort entsprechend, soviel wie „gemeinsam beratend, und zwar auf ein bestimmtes Ziel zu“. Agonal — vom griechischen Agon — meint eine kampfbetonte Diskussion im Sinne eines Wettbewerbs. Deklaratorisch ist gebildet aus declarare = erklären, bloß deklarieren.

Auf den kürzesten Nenner gebracht, kann man diese Typen wie folgt umschreiben: 1. Die symbuleutische Diskussion meint ein wechselweises lautes Denken der Beteiligten auf ein bestimmtes, gemeinsam zu erreichendes Ergebnis zu. Die Einzeläußerung legt dabei keine Betonung auf Individualität, sondern versteht sich als Beitrag zu einer Lösung, die nach Überzeugung der Beteiligten als eine gemeinsame gilt. 2. In der agonalen Diskussion ist der Äußerung der Wille und die Chance gegeben, einen individuellen Standpunkt gegen andere Auffassungen durchzusetzen; eine notwendig werdende Entscheidung wird herbeigeführt durch argumentierendes überzeugen der Gegner, zumindest aber anderer Beteiligter, soweit diese zu einem Zustimmungs-oder Abstimmungssieg verhelfen können. 3. Zur deklaratorischen Diskussion wird das Wettbewerbsprinzip umgeartet, wenn die Fronten so verhärtet sind, daß hinsichtlich bevorstehender Entscheidungen von vornherein feststeht, daß die Argumente auf die anderen an der Entscheidung beteiligten Meinungsträger ohne Wirkung bleiben; die Diskussion verblaßt zur bloßen Deklaration, bleibt aber ein Evidentmachen der widersprechenden Argumente und ist in ihrer Wirkung gegebenenfalls auf Außenstehende (Publikum, öffentliche Meinung) berechnet.

Diese drei Prinzipien sind allgemeine Typen des Entscheidungsgesprächs und helfen als Koordinaten bei der Diskussionsdiagnose. Zwar werden sich diese Typen an den Randzonen überdecken, im Kern sind sie jedoch grundverschieden. Welche Rolle spielen nun diese Typen im Regierungsprozeß?

II. Die Diskussion im Parlament

Gehen wir vom ältesten und ehrwürdigsten Parlament dieser Erde aus, vom englichsen Unterhaus. Die lange geschichtliche Entwicklung ermöglichte hier die Herausbildung fester Traditionen und lenkt den Blick auf das, was sich modellhaft entwickelt hat. Diese Entwicklung zeigt auf dem langen Weg vom Magnum Concilium zum modernen Fraktionenparlament mit aller Deutlichkeit den allmählichen Übergang des symbuleutischen Prinzips ins agonale und später die Ablösung des agonalen Prinzips durch das deklaratorische. Sir Thomas Smith schreibt in seiner posthum (1583) veröffentlichten Schrift „De Republica Anglorum" in dem Kapitel über das Parlament: Die Abgeordneten sind beisammen, „um sich befragend und orientierend umzusehen und das aufzuzeigen, was gut und notwendig für das Gemeinwohl ist, und um Beratungen darüber zu führen." Die Entscheidung ist dann Ergebnis einer „mature deliberation", einer reiflichen und zur Reife gebrachten Be-ratung. Noch — und gerade — für die Zeit zwischen den großen Wahlrechtsreformen, zwischen den Jahren 1832 und 1867, vertritt Gerhard A. Ritter die Auffassung, das englische Regierungssystem sei am treffendsten als „Parliamentary Government" zu umschreiben, also als System, das die Funktion der vorwiegend agonahm Entscheidungsfällung dem Parlament anvertraut. Parliamentary Government bedeutet demnach decision by Parliament und nicht nur decision in Parliament, wenn man letzteres rein örtlich meint und darunter einen automatischen, ferngesteuerten Abwicklungsprozeß versteht. Das symbuleutische und agonale Diskussionselement gibt dem Parlament die Möglichkeit der Entscheidungsbildung, das deklaratorische Element begrenzt das Parlament auf die Entscheidungsdokumentation.

Unterzieht man die heutige Parlamentsdiskussion einer Betrachtung, so bietet sich folgendes Bild dar: Zwar ist das Unterhaus nach wie vor der Ort großer Redeschlachten. Dies wird allein schon durch die Platzordnung der Abgeordneten visuell unterstrichen, denn die Abgeordneten sitzen, nach Regierung und Opposition getrennt, Gesicht zu Gesicht einander gegenüber. Aber dennoch sind es nicht das sachliche Geschick, die rhetorische Kunst oder die politische Leidenschaft der Redner, welche die Abstimmungsentscheidungen beeinflussen, sondern die Weisungen der Whips, der Einpeitscher. Von der Funktion innerhalb des Parlaments her gesehen, ist die Diskussion heute in der Regel als deklaratorisch zu klassifizieren. „Free vote" gestatten Regierung und Oppositionsführung den Members of Parliament nur in wenigen und relativ unpolitischen Gewissensfragen. In allen andern Fällen hat die Diskussion für den Abstimmungsentscheid selbst keine Bedeutung. Ausschluß von den zahlreichen Pfründen, die der Premier zu vergeben hat, Verlust der Chance innerparteilichen Avancements, Entzug des Ladungsschreibens durch die Fraktion und — seit der zunehmenden Kooperation der lokalen Partei-organisation mit der Fraktion — die Gefahr, bei der nächsten Wahl nicht wieder als Kandidat aufgestellt zu werden, dies sind die Druckmittel, denen sich die Hinterbänkler gegenübersehen. Wilson nahm sich deshalb die Freiheit, der Revolte der über 60 Labour-Backbenchers, welche sich bei der Verteidigungsdebatte der Stimme enthalten hatten, mit den Worten zu begegnen: „Jeder Hund darf einmal beißen, aber eine andere Meinung bekommt man über einen Hund, der dauernd beißt .. . Dann kann es ihm passieren, daß seine Hundemarke beim nächsten Mal nicht erneuert wird." Bereits Max Weber hat in seiner Schrift „Politik als Beruf" gesagt, „daß heute die englischen Parlamentarier mit Ausnahme der paar Mitglieder des Kabinetts (und einiger Eigenbrötler) normalerweise nichts anderes als gut diszipliniertes Stimmvieh sind."

Der Fraktionszwang macht die Abstimmung heute zur Routineveranstaltung. „Die Abstimmungen im Parlament", um mit McKenzie zu sprechen, „sind in gewissem Sinne nichts weiter als ein Ritus zur Erinnerung an die Tatsache, daß die herrschende Partei die letzte Wahl gewonnen hat, und eine Demonstration, daß ihre Mitglieder im Unterhaus das Kabinett nach wie vor — gewöhnlich einstimmig — unterstützen." Die prekäre Mehrheitssituation Wilsons bis April 1966 hat hier nichts geändert: Auch der widerspenstige William Warbey, Parlamentsmitglied für Ashfield, der Wilson immer wieder drohte, er werde bei der nächsten Abstimmung zum Dissenter werden, hat seine Drohung in den entscheidenden Situationen nicht wahr gemacht; auch er hat, wie es im Parteijargon heißt, das Boot nicht geschaukelt. Selbst die Dissenters in der Vietnamdebatte und -abstimmung (Juli 1966) konnten Wilson nicht gefährden; einmal weil die Labourmehrheit inzwischen groß genug geworden war, um einige Schwankungen mühelos zu überdauern, zweitens aber, weil die Meinung der Dissenters nicht zur Opposition hin tendierte, sondern die Extremierung der Position der eigenen Partei verlangte Selbst bei der kürzlich erfolgten Pfundabwertung, die von vielen Abgeordneten der Labour Party als Versagen der Regierung betrachtet und abgelehnt wurde, zeigten sie öffentlich eine unerwartete Einigkeit. Sie wissen, daß nur das Image eines erfolgreichen Premierministers bei den nächsten Wahlen ihre eigenen Sitze garantiert. Alle stimmten für die Pfundabwertung, mit Ausnahme eines Abgeordneten — und dieser trat aus der Fraktion aus Ernst wurde es erst im Januar 1968, als 25 Abgeordnete des linken Flügels das „Sparpaket" Wilsons durch Stimmenthaltung boykottierten. Die Empörung der botmäßigen Hinterbänkler zwang den Premier, die 25 Schwarzen Schafe aus der Fraktion auszuschließen. Das Abstimmungsergebnis war allerdings auch in diesem Fall nicht gefährdet: Die konservative Opposition hatte kurioserweise auf eine Beteiligung an der Abstimmung verzichtet, um die Rebellen der Labour-Fraktion selbst in die Opposition zu locken— die Dissenters entgingen damit wenigstens dem Vorwurf, mit den Konservativen gemeinsam an einem Strick zu ziehen.

Wenige, gelegentliche Ausnahmen bestätigen die Regel: Das Unterhaus kann reden, aber es kann nicht mehr überreden. Selbstverständlich wird die Kritik der Opposition dadurch nicht sinnlos: sie dringt an die Öffentlichkeit und zwingt die Regierung zu Selbstkritik, Selbstkontrolle und gegebenenfalls Selbstkorrektur. Eine Korrektur trägt offiziell immer das Kleid der Selbstkorrektur, nie das der Fremdkorrektur. Der Agon des Unterhauses entscheidet sich erst am Wahltag durch die Wähler. „Die Angriffe der Opposition bezwecken schon lange nicht mehr, das Kabinett durch das Parlament zu stürzen, sie zielen darauf hin, das Kabinett durch die öffentliche Meinung zu stürzen." Eine andere Frage ist, ob nicht die Echowellen, welche die Parlamentsdiskussion in der Öffentlichkeit wirft, dort den agonalen Charakter zurückgewinnen. Innerhalb des Hauses gibt es jedoch „decision by discussion" in der Regel nicht. In dieser Tatsache liegt die Ursache für die Machteinbuße des Unterhauses. Denn Macht verlagert sich dorthin, wo Entscheidungen reifen und Entscheidungen fallen. Früher verliefen Präsenz und Entscheidungsfällung im Unterhaus synchron, heute ist die Entscheidung der Präsenz vorwegorganisiert.

Blicken wir auf den Deutschen Bundestag: Mag man in Deutschland auch verschämt von Fraktionsdisziplin und nicht von Fraktionszwang reden, die Parteien und ihre Führungen verpflichten die Bundestagsabgeordneten kaum weniger streng auf die Parteilinie als in England. Die Große Koalition allerdings läßt gelegentlich einige Schwankungen der Intensität zu. Sie erzeugt gewisse Spannungen zwischen den Kabinettsmitgliedern und den Spitzen der Fraktionen, und von diesen Spannungen profitiert manchmal der eigenwillige Hinterbänkler als lachender Dritter. Dies aber sind Sondersituationen. Gerade an den jetzigen Fraktionsvorsitzenden der SPD knüpft sich ein Beispiel, das zehn Jahre zurückliegt und deutlich Züge der Strenge zeigt. Als Helmut Schmidt 1958, zu einer Zeit also, da die SPD noch ihren „Kampf dem Atomtod" führte, an einer Reservewehrübung teilnahm und so in seiner Wehrfreudigkeit der gegnerischen Partei zu nahe rückte, wählte ihn die Fraktion aus ihrem Vorstand ab

Die Analogie zwischen englischem Unterhaus und Deutschem Bundestag ist berechtigt: Auch das Plenum des Bundestages verhandelt in der Rege] deklaratorisch. Folgende Äußerung Paul Sethes (Oktober 1965) ist bezeichnend: „Niemand darf mehr hoffen, durch rednerische Glanzleistungen im Plenum noch jemand beeinflussen oder gar auf seine Seite ziehen zu können . . . Als darüber beraten wurde, ob die Verjährungsfrist für Gewaltverbrechen verlängert werden sollte, haben tatsächlich einige Abgeordnete ihre Meinung geändert. Aber das geschah nicht im Plenum. Daß Adolf Arndt, anders als ein Vierteljahr vorher, sich für die Verlängerung aussprechen werde, wußte man, ehe der Präsident die Sitzung eröffnet hatte. Nicht Richard Jaeger überzeugte ihn, und Thomas Dehler konnte ihn nicht zurückgewinnen."

Fraktionsdisziplin und gegebenenfalls Fraktionszwang beherrschen auch den Bundestag so weit, daß die Regierung die Gesetze macht, während das Parlament (genauer die Mehrheitsfraktion) sie nur noch bestätigt. So konnte der Fall eintreten, daß sich Ende 1967 die Verwaltung mit Billigung der Regierung bereits auf die geplante Änderung der Rentenversicherungsbeiträge umstellte, ohne daß schon eine Bundestagsentscheidung hierzu vorgelegen hätte Die bis 1966 in Österreich vorhandenen politischen Konstellationen zeigten, daß besonders eine große Koalition es den Fraktionen und dem Parlament insgesamt schwer-macht, einen auch nur bescheidenen Einfluß zu erhalten. Die österreichischen Ministerien formulierten die Gesetze, die dann in den Koa-litionsausschuß zur Einigung gingen. Mit dem Plazet des Koalitionsausschusses war dann die Entscheidung bereits gefallen, über die folgende Abwicklung in Kabinett und Parlament schreibt Koja: „Seine (des Koalitionsausschusses) Entscheidungen wurden im Ministerrat als Beschlüsse der Bundesregierung formalisiert, wozu das Parlament lediglich eine letzte formelle Sanktion gab. Im Sinne Duvergers kann gesagt werden, daß in Österreich von 1945 bis 1966 Parlament und Regierung wie zwei Maschinen arbeiteten, die von demselben Motor angetrieben wurden." Dieser Motor war der Koalitionsausschuß, die technische Zubereitung seiner Produktion oblag der Bürokratie. Diese Beobachtungen am Parlamentarismus zwingen, eine grundsätzliche Frage aufzuwerfen: Ist ein Organ, das fast ausschließlich deklaratorisch verhandelt, überhaupt noch ein Parlamentum, haben wir noch ein parlamentarisches Regierungsystem? Wir müssen hier vor allem auf die Thesen antworten, die Carl Schmitt bereits 1926 zum Problem der Parlamentsdiskussion veröffentlichte und 1961 ergänzte in dem Traktat „Die geistesgeschichtliehe Lage des heutigen Parlamentarismus" Anders als wir fächert Schmitt den Diskussionsbegriff nicht auf, sondern unterscheidet lediglich zwischen einem Reden, das er Diskussion, und einem Reden, das er Nicht-Diskussion nennt. Diskussion umschreibt er als „Meinungsaustausch, der von dem Zweck beherrscht ist, den Gegner mit rationalen Argumenten von einer Wahrheit und Richtigkeit zu überzeugen oder sich von der Wahrheit und Richtigkeit überzeugen zu lassen." Dagegen gehören für Schmitt jene Äußerungen nicht zur Diskussion „im prägnanten Sinne", die dazu dienen, „Interessen und Gewinnchancen zu berechnen und durchzusetzen und das eigene Interesse nach Möglichkeit zur Geltung zu bringen." Diese Vergröberung des komplexen Diskussionsbegriffes mag hier auf sich beruhen. Folgenschwerer sind die Konsequenzen, die Schmitt aus der Rückentwicklung der Diskussion — Diskussion seines Verständnisses — für das Parlament zieht. Er propagiert die Hiobsbotschaft einer flagranten Krise des parlamentarischen Systems katexochen, dessen Sinn und innere Rechtfertigung mit dem Diskussionsschwund verfalle.

Carl Schmitts Schlußfolgerung können wir nicht beitreten. Einmal bedeutet sie eine Bagatellisierung dessen, was dem Parlament verbleibt, auch wenn sich das Parlament — mit Hermann Finer gesprochen — von einer „thought Organization" in eine „will Organization" wandelt Denn nach wie vor legen im Parlament die Parteien ihre Argumente öffentlich dar und treten durch die Abstimmung im Angesicht des Volkes für sie ein. Vor allem aber nimmt Schmitt davon keine Notiz, daß die Diskussion, wie er sie meint, dem Regierungssystem ja nicht verlorengeht, sondern sich nur verlagert. Die Verlagerung der agonalen und symbuleutischen Diskussion in kleinere und kleinste Kreise kreiert zwar Fraktionsdisziplin und Fraktionszwang, vermeidet dadurch aber das größere Übel, eine aktions-und regierungsfähige Mehrheit an eine entscheidungsunfähige oder zumindest für eine Politik auf lange Sicht entscheidungsinkonsequente Abstimmungsmaschinerie zu verlieren.

Mag auch ein Abgeordnetenhaus, das mit dem Willen zur Symbulie und mit aktiver und passiver Überzeugungsbereitschaft an jedes Problem herangeht, ein schönes Ideal des parlamentarischen Regierungsystems sein; es ist jedoch riskant, dieser Idee nachzuhängen, denn sie versucht politische Ordnungsmodelle ohne genügende Rücksicht auf menschliche und politische Realitäten zu verwirklichen.

III. Die Diskussion im Kabinett

Für die Diagnose eines Regierungsystems spielt die Diskussion des ganzen Government eine Rolle, nicht nur die eines einzelnen Organs. Gerade die angedeutete Verlagerung des symbuleutischen und agonalen Diskussionsele-ments in andere Gesprächsinstanzen legt eine Ausdehnung der Betrachtung über das Parlament hinaus nahe. Im Rahmen der außerparlamentarischen Kommunikation ist zu scheiden zwischen intragouvernementalen und extragouvernementalen Organen. Zu den ersteren, auf die sich unsere Arbeit beschränkt, zählen vor allem die Ausschüsse, das Kabinett und jener engste Beraterkreis des Premiers, der in England halboffiziell „Inner Cabinet" genannt wird; auch in der Bundesrepublik taucht gelegentlich schon die Bezeichnung „Inneres Kabinett" auf.

Die Analyse der Diskussion im Kabinett beginnt zweckmäßigerweise wieder beim englischen Modell. Das heutige offizielle englische Kabinett ist durch einen Prozeß der Verdrängung des symbuleutischen Prinzips aus dem Privy Council hervorgegangen. Im Jahre 1714 zählte der Privy Council 52 Mitglieder, 1782 bereits mehr als das Doppelte Karl Loewenstein schreibt dazu: „Der Privy Council war wegen seiner großen Mitgliederzahl zur Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte unter des Königs Leitung durchaus ungeeignet. Statt dessen verlegte sich mit der Zeit das Schwergewicht der Entscheidungsfällung und ihrer Durchführung auf einen engeren Kreis, das Königliche . Kabinett', dem nach französischem Vorbild die Staatsminister und sonstige Vertraute des Monarchen angehörten. . . . Zunächst durchaus formlos, war der Cabinet Council lediglich der Kreis der engsten Berater des Königs." Das Amt des Privy Councillors wurde zu einer bloßen Würde, die Funktion ging an das Kabinett über.

Im 19. Jahrhundert war das britische Kabinett, je nach Anlaß und Umständen, Ort agonaler und symbuleutischer Diskussion. Die neueste politikwissenschaftliche Literatur weist jedoch für die Gegenwart nach, daß sich in der weiteren Entwicklung das symbuleutische Element auch aus dem Kabinett mehr und mehr zurückzog und in neue Gesprächszirkel abwanderte. Ein nicht nur äußerliches Indiz bildet die Größe des Kabinetts. Für Chester hat es mit 18 Mitgliedern die ideale Größe, für Morrison ist mit 20 die Grenze des noch Erträglichen erreicht. Carter schreibt: „It is obvious, of course, that a committee of twenty to twenty-two members is too large to allow effective deliberative action." Das Kabinett Douglas Home hatte jedoch bereits 23 Mitglieder, und die Kabinette Wilsons sind nicht kleiner. Die Größe des Kabinetts und die Fülle der Arbeit drängen zur Förmlichkeit und Routine Aus den zwanglosen Zusammenkünften aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sind deshalb formelle Sitzungen mit straffer, vom Kabinetts-Sekretariat vorbereiteter Tagesordnung geworden. Richard Crossman, wenig später Minister im Kabinett Wilson, schrieb 1964 in der Einleitung seiner Bagehot-Ausgabe: „Over wide fields of policy and administration Cabinet Government lapsed altogether, and the in-formal discussions of policy which had been iss lifeblood now took place exclusively between the Premier and his entourage." Die Flauptaufgabe des Kabinetts liegt nach John P. Mackintosh nicht mehr darin, die Partei zu führen, das Parlament gefügig zu halten oder Politik zu programmieren, sondern in der Koordination der Verwaltung. Die Koordination gegensätzlicher Ressortinteressen, die weder in interdepartementalen Gesprächen noch in Ausschüssen ausgeglichen werden können, bringt das Kabinett in die Situation eines „Court of appeal" und forciert demgemäß das agonale Element zuungunsten des symbuleutischen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Kampfabstimmungen im Kabinett möglichst vermieden werden und daß die kollektive Verantwortlichkeit der internen Spannungen verdeckt.

Somit ist die Entscheidungsdiskussion im britischen Kabinett vorwiegend agonal geworden, das heißt, man versucht die eigene Meinung durchzufechten und das Ressortinteresse zu wahren. Neue politische Impulse anzuregen, Initiativen und Einfälle auf den Tisch zu legen und darüber zu reden — dies geschieht in einem Stadium des Gesprächs, das der Kabinettsdiskussion bereits vorangeht.

Wie auf der Ebene des Parlaments so zeigt auch auf der Ebene des Kabinetts die deutsche Entwicklung zur englischen gewisse Parallelen. Zwar sind die geheimen Kabinettssitzungen dem Zugriff der Politikwissenschaft weitgehend entzogen. Einen Herbert Morrison, der nach seiner Abdankung als Minister solche Interna ohne Scheu in einem Buch offen darlegte und darlegen konnte, gibt es bis heute in Deutschland nicht. Gelegentliche Äußerungen von Kabinettsmitgliedern, meist durch Journalisten verbürgt, lassen jedoch Vergleiche zu England zu.

Schon unter Adenauer blähte der Wunsch führender Mitglieder der Regierungsfraktionen nach Ministersesseln das Kabinett zu immer größerem Umfang auf und machte es als Forum symbuleutischer Diskussion mehr und mehr ungeeignet. Dies und die Notwendigkeit, auch Mitglieder der Koalitionsparteien ins Kabinett aufzunehmen, mochten Adenauer veranlaßt haben, die symbuleutische Diskussion in vertrauterem Kreise zu führen. Die Kabinettssitzungen hatten in erster Linie den Zweck, die Pläne der Ressorts untereinander und mit denen des Kanzlers zu koordinieren. Das Kanzleramt unter der Leitung des Staatssekretärs Globke sicherte den Kanzlerprimat gegenüber dem Gesamtkabinett ab, indem es die Tages-ordnungen der Kabinettssitzungen unter diesem Gesichtspunkt entwarf. Die Minister waren straff an die Tagesordnung gebunden und konnten es nicht wagen, wesentlich in der Diskussion davon abzuweichen und Sonderinteressen zu vertreten Die Diskussionen nahmen demgemäß wesentlich agonalen Charakter an.

Für den Übergang der Regierung an Ludwig Erhard konstatierte Kanzleramtsminister Westrick „einen Wandel vom überbetonten Kanzlerprimat zur Mitbestimmung des Kabinetts" Erhard ließ der Diskussion im Kabinett freien Lauf, die Kabinettsmitglieder konnten auch Themen außerhalb der Tagesordnung anschneiden. Erhard glaubte daran, daß vernünftige Menschen gemeinsam auch zu einem vernünftigen Ergebnis kommen müßten: „Was er sich vorstellt, ist ein Kabinett von gestandenen, unabhängigen Männern, die als Herren zusammenarbeiten." Dem oben Gesagten zufolge schienen damit die idealen Voraussetzungen für eine symbuleutische Diskussion aller zur Entscheidung anstehenden Probleme geschaffen, wenn Erhards Minister tatsächlich ausnahmslos Männer seines Vertrauens gewesen wären. Aber im Gegensatz zu Adenauer hatte Erhard selbst nur geringen Einfluß auf die Zusammensetzung seiner Ministerliste genommen. Erhard hat die Pluralität der persönlichen und gesellschaftlichen Interessenstruktur in ihrer Flärte und Unversöhnlichkeit als unabänderliche Realität in seiner Politik nicht genügend berücksichtigt und deshalb Gegnerschaften verkannt oder verniedlicht. Seine Leitbilder „Volkskanzlertum" und „Formierte Gesellschaft" verstellten ihm die Sicht Erhards Minister aber agierten als Vertreter gegensätzlicher Gruppen und Flügel der Regierungsfraktionen und trugen so alle Meinungsverschiedenheiten in die Sitzungen des Kabinetts. Die Diskussionen verliefen deshalb auch in Erhards Regierungsteam in der Regel agonal.

In der Großen Koalition, dem Regierungsbündnis der zwei großen Fraktionen, trägt die Kabinettsdiskussion notwendig das Zeichen des Wettbewerbs. Sie hat die Aufgabe, die Entscheidungen der Partner aufeinander abzustimmen und bei gegensätzlichen Auffassungen eine Einigung auf mittlerer Linie zu versuchen. Die Grundlinien der Politik wurden von den Partnern schon bei der Regierungsbildung 1966 in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung festgelegt. Gerade die Fixierungen der damaligen Startpositionen sind Musterfälle der Dezisionsdiskussion agonalen Typs.

IV. Der Ort symbuleutischer Entscheidungsdiskussion im modernen parlamentarischen Regierungssystem

Mit der Feststellung, daß das symbuleutische Diskussionselement weitgehend auch aus dem Kabinett abzuwandern gezwungen ist, haben wir jenen entscheidenden Punkt erreicht, wo kommunikationstheoretische Ergebnisse unmittelbare verfassungsrechtliche Bedeutung erhalten. Das symbuleutische Gespräch, also das Otium consilii mit partnerschaftlichen politischen Beratern, ist eine Grundvoraussetzung eines jeden — nicht nur eines demokratischen — Regierungssystems. Die Folge ist, daß das symbuleutische Element, wird es durch die beiden anderen Prinzipien verdrängt, Ausweichinstanzen sucht und gegebenenfalls neue Instanzen schafft. Dies läßt sich als eine allgemeine Regel aufstellen. Bei einer Verdrängung aus dem Parlament und dem Kabinett bieten sich für minder wichtige, zweitrangige Fragen Parlamentsausschüsse, Kabinettsausschüsse oder die Ministerien als Auffangorgane an. Die entscheidenden politischen Beratungen aber schaffen sich neue Einrichtungen. Sie drängen vom Kabinett, aus dem sie emigrieren, gewissermaßen nach oben. Sie entwickeln, selbst verdrängt, neuen Druck. Und hier eben liegt die große Sprengkraft des symbuleutisehen Prinzips auf die Verfassung. Neue personelle Konstellationen von eminenter politischer Bedeutung und oft großer verfassungsrechtlicher Problematik entstehen und kristallisieren sich zu neuen offiziellen oder inoffiziellen Institutionen.

Entscheidungsfreude und Entscheidungssicherheit eines Regenten hängen von ganz persönlichen Faktoren ab. Doch nur der rein charismatische Führertyp dünkt sich selbst genug; das Ergebnis ist dann ein autoritäres oder totalitäres Regime. Der Premier einer Demokratie dagegen wird in besonderem Maß das Gespräch mit Beratern suchen, und zwar nicht aus persönlicher Schwäche, sondern wegen der Verantwortung, die ihm sein Amt auferlegt. Es gibt darüber hinaus auch keinen Grund, allgemein menschliche Regeln nicht auch auf Premiers zu beziehen, daß nämlich Entschlüsse reifen in und nach Gesprächen mit fachkundigen Freunden, in denen auch ein Premier sich nichts vergibt, wenn er Rat sucht, und wo er kein Prestige verliert, wenn er Rat nimmt.

Der einsame „Man al the top" ist ein altes Kommunikationsproblem politischer Geschichte. Doch auch in der modernen englischen Literatur über das Government taucht das Problem des Allein-Seins und des Alleingelassen-Werdens auf. John P. Mackintosh stellt in seinem Standardwerk „The British Cabinet" fest, der Grund für die Entwicklung eines Gebildes, wie es das „Innere Kabinett." ist, liege in „the loneliness of the Premier" und in dessen Wunsch nach Unterstützung. Das Kriterium für die Aufnahme in diesen Kreis sei, daß der Premier in Rat und Wissen der jeweils Beteiligten Hilfe und Unterstützung findet. An anderer Stelle sagt Mackintosh sinngemäß: Die Position eines Premiers ist stark und nahezu unangreifbar. Es kann ihm nur eins passieren, was ihn hilflos macht, daß ihn nämlich seine Berater verlassen.

Was England in der politischen Literatur als warnendes Modell vor Augen rückt, das illustrierte die bundesdeutsche Praxis durch die Ereignisse vom Spätherbst 1966. Das Spiel gnadenlosen Kommunikationsabbruchs, dem der damalige Kanzler nicht gewachsen war, hat Erhard bei wenigen das Mitleid, bei der Überzahl aber den Spott und das „Quod erat demonstrandum" seiner früh propagierten Unfähigkeit eingebracht. Die weichenstellenden Kommunikationsdrähte liefen nicht mehr über seinen Tisch, sondern umstellten ihn wie eine spanische Wand. Der isolierte Kanzler blieb nicht mehr Subjekt des politischen Spiels, sondern ließ sich zum Objekt degradieren.

Die Organisationsformen der symbuleutischen Diskussion um und mit dem „Man at. the top"

tragen im Ablauf der Geschichte viele Gestalten und Namen; sie reichen vom königlichen Kabinett alten Stils über die Kamarilla zu den Brain Trusts, Küchenkabinetten und wissenschaftlichen Beraterteams der Gegenwart. Bevorzugt werden heute vielfach Wissenschaftler, weil man glaubt, von ihnen Fachkenntnisse erwarten zu dürfen, ohne politischen Ehrgeiz befürchten zu müssen. Symbuleutisches Verhalten bedeutet die Bereitschaft, gemeinsam eine Lösung zu suchen, sich dem besseren Argument zu beugen. In dem Augenblick aber, da in einem Beraterkreis dieses Nachgeben als Schwäche ausgelegt oder gar politisch ausgewertet werden kann, ist die Symbulie gefährdet. Symbulie beruht auf Vertrauen. Vertrauen läßt sich aber nicht durch Organisationsformen erzwingen. Das englische sogenannte Innere Kabinett gilt deshalb als ein in der personellen Besetzung nicht festgelegtes, loses und zwangloses Gebilde, wenngleich es nicht, nur aus jenen Personen besteht, mit denen sich der Premier aussprechen will, weil er Vertrauen hat, sondern auch aus jenen, die er befragen muß, weil sie durch ein einflußreiches Ministeramt nicht übergangen werden können. Die Grenzen werden von den konkreten personellen Konstellationen festgelegt und sind theoretisch nicht fixierbar.

Wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Premier berief Harold Wilson am Wochenende des 20 und 21. November 1964 ein Beratergremium nach Chequers, dem Landsitz der englischen Regierung. Geladen waren sechs Minister, der Außen-, Wirtschafts-, Verteidigungs-, Heeres-und Luftfahrtminister, sowie der Schatzkanzler, dazu hohe Militärs und „Berater". Die Tagung diente keinem geringeren Zweck als der Festlegung der britischen Verteidigungspolitik für die Zukunft, im besonderen im Hinblick auf das bevorstehende Gespräch zwischen Wilson und Johnson. Ähnliche Treffen wiederholten sich später häufig. Das Entscheidende daran ist, daß fundamentale politische Weichenstellungen in einer Instanz erfolgen, welche die englische Konventionalverfassung als offizielles Organ nicht kennt: Parlament und auch das Kabinett stehen dabei abseits der Symbulie. England ist weiter als Deutschland in jenem stillen VerB fassungswandel fortgeschritten, den die Expansionskraft des verdrängten symbuleutisehen Prinzips vorantreibt. Und es gibt Stimmen, die dafür plädieren, man möge das latent sich bildende Inner Cabinet in eine offizielle Institution überführen, um seinem Einfluß die entsprechende öffentliche und parlamentarische Verantwortlichkeit zur Seite stellen zu können Das Küchenkabinett der Vereinigten Staaten, wie es vor allem Kennedy um sich scharte, ist unter dem Gesichtspunkt der Kommunikationsentwicklung nicht in unmittelbarer Parallele zu England zu sehen; denn die Bipolarität des amerikanischen Verfassungssystems — hier Kongreß, dort Präsident mit seinem Regierungs-Team — hat einerseits den Brain Trust des Präsidenten hervorgebracht, andererseits aber auch dem Parlament in beiden Häusern symbuleutische und agonale Diskussionselemente erhalten.

Auch in Deutschland gibt es Ansätze von Beratergruppen. Für die zweite und dritte Regierung Adenauer ermittelte Jürgen Domes ein solches Beratergremium, dem im allgemeinen die wichtigsten Minister aus der CDU/CSU (nicht des Koalitionspartners), besonders einflußreiche oder vertraute Abgeordnete aus Adenauers Fraktion, sein Staatssekretär Globke und wechselnde Experten angehörten. Der deutsche NATO-Beitritt 1954 war solch eine Entscheidung, die nicht im Kabinett fiel

Des weiteren sei an den nicht recht vorangekommenen Plan eines Kanzler-Tees zu Beginn der Ära Erhard erinnert und an die auf dem Karlsruher Parteikongreß geäußerte Absicht der SPD-Führung, im Falle eines Wahlsiegs Männer der Wissenschaft zur Regierungsberatung heranzuziehen. Sogleich haben freilich die Verfassungsdogmatiker ihr Veto angemeldet; politische Entscheidungshilfe dürften ausschließlich die Minister leisten. Ernst. Wollgang Böckenlörde erklärte nicht ohne gewichtige verfassungsrechtliche Argumente, auch die Staatssekretäre und die ganze Ministerialbürokratie seien politisch nicht beratungsbefugt, denn sie seien ex officio subordiniert und dürften die Schranken der ausführenden Unterordnung nicht übersteigen. Nur reine Fachberater seien zu akzeptieren. Wie verhält sich hierzu die Praxis? Enthalten nicht selbst unbedeutende Sachfragen oft einen politischen Entscheidungskern? Das angeführte Beispiel des Beratergremiums in Chequers zeigt, daß es heute eben so etwas wie „politische Fachberater" gibt. Jürgen Habermas schreibt, hierzu: „Anstelle einer strikten Trennung zwischen den Funktionen des Sachverständigen und des Politikers tritt . . . ein kritisches Wechsel Verhältnis, das die bislang nur ideologisch stabilisierte Ausübung von Herrschaft nicht etwa nur einer unzulässigen Legitimationsbasis entkleidet, sondern im ganzen der wissenschaftlich angeleiteten Diskussion zugänglich macht, und dadurch substantiell verändert."

Auf dieses verfassungsrechtliche Problem soll hier nicht weiter eingegangen werden. Eine allgemeine Bemerkung erscheint jedoch angebracht. Gustav Radbruch sagte einmal, ein Gesetz — und damit auch ein Verfassungsgesetz — könne und müsse klüger sein als seine Väter Der Klugheit der Verfassung entspräche demnach die gelebte Verfassungswirklichkeit, das, was die Gesetzesväter verbal in den Verfassungstext hineinlegten, wäre die positive Verfassungslage. Eine Verfassung kann aber nur klüger werden, wenn sie sich entwickeln kann. Wenn sich schon ein echtes Bedürfnis nach neuen Beratungskonstellationen ergibt, dann kann nicht allein die Feststellung genügen, daß diese oder jene neue Institution in der Verfassung nicht, vorgesehen sei, um ein Nein zu begründen; dann kann das Kriterium doch wohl nur das sein, ob eine Vereinbarkeit mit.den Grundprinzipien der Verfassung gegeben ist, die da sind: Rechtsstaatlichkeit und demokratisch-repräsentatives System. Politische Ordnung ist uns nicht gegeben, sondern als Aufgabe gestellt. Sie erwächst niemals aus Starrheit. Politische Ordnung wächst, vielmehr nur aus stetiger Regeneration der fundamentalen Prinzipien in neue Formen.

In der Bundesrepublik ist die Verlagerung der symbuleutischen Entscheidungsdiskussion in den Beraterkreis um den Kanzler noch nicht endgültig vollzogen, und zwar deshalb, weil hier die Kanzlerdemokratie als Prinzip nicht eindeutig festliegt. Die Ämter des Parteiführers, des Fraktionsvorsitzenden und des Kanzlers sind institutionell getrennt und lediglich personell — teilweise — kulminierbar. Diese Trennung beruht auf der Erbmasse des konstitutionellen Denkens. Der frühere Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Heinrich Krone, rechtfertigte deshalb die Existenz seines Amtes mit dem Hinweis auf die „Selbständigkeit des Parlaments und damit auch der Fraktion von der Exekutive" Zudem stellt das Verhältniswahlrecht neben den Kanzlerkreis und die Spitze seiner Fraktion noch das Führungsgremium des Koalitionspartners als drittes Entscheidungszentrum. Die wechselnden Konstellationen im Mitspracheanspruch haben wechselnde Inszenierungen der Entscheidungsfindung zur Folge. Jeder Kanzler ist immer von neuem vor die Aufgabe gestellt, die Nebenzentren zu überspielen. Einem starken Kanzler wie Adenauer konnte das gelingen, weil zudem die politischen Zeitumstände dafür günstig waren. In der Ära Adenauer war die Verfassungswirklichkeit eine Kanzlerdemokratie, vergleichbar dem britischen Prime Ministerial Government. Einem entscheidungsschwachen Kanzler wie Erhard oder einem Regierungschef wie Kiesinger, der einen mächtigen Koalitionspartner neben sich hat, wird dagegen der Durchmesser seines Entscheidungsspielsraums erheblich verkürzt.

Die Führungskrise der Regierung Erhard war im Grunde eine Krise der symbuleutischen Diskussion. Einmal suchte Erhard die symbuleutische Diskussion dort, wo er sie nicht fand: im Kabinett. Das Kabinett war — aus oben dargelegten Gründen — vorwiegend Schauplatz agonaler Auseinandersetzung und damit ein Ort, wo Deliberation oder gar Rat-Suchen als Schwäche galt. Man kann nicht Standpunkte suchen wollen in einem Kreis, der sich zu einer Instanz entwickelt, in der man Standpunkte hat, verteidigt oder durchsetzt. Einen intimeren Beraterkreis baute Erhard nicht auf, jedenfalls keinen von politischem Gewicht. Erhard hatte in entscheidenden Phasen eine Umgebung, aber er hatte zu wenig Freunde um sich. Nicht selten wurde ihm deshalb die Revision seiner Enscheidungen aufgezwungen; die Frage der Kriegsopferrenten und die Telefongebührenerhöhung sind Beispiele, die seinerzeit Schlagzeilen machten. Für lange Zeit wird Erhard das Paradeexempel sein, das in politik-wissenschaftlichen Vorlesungen als Illustration „kommunikativer Aushungerung" zitiert wird. Solange Westrick dem Bundeskanzleramt vorstand, hatte Erhard wenigstens einen Mittler: „Was der Kanzler will, erfahren die anderen von ihm, was die anderen vom Kanzler fordern, sagt ihm Westrick" Wer sich aber zu sehr mediatisieren läßt, emigriert in die Isolation. Jede Partei ist ein Geflecht von persönlichen und machtpolitischen Spannun45) gen. „Partei" in diesem Sinn war Erhards Sache nicht, und diese kühle Distanz wirkte sich nach beiden Seiten aus. Westricks Weggang und die vergebliche Suche nach einem Nachfolger waren symbolisch. Hier begann Erhards Alleingang zur Gletscherspalte. Nicht daß man nicht auf ihn eingeredet hätte, — aber doch mehr, um mögliche leise Warner zu übertönen. Goethe schrieb 1774: „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten." Bei Erhard war es umgekehrt.

An den Auswirkungen auf die symbuleutische Entscheidungsdiskussion gemessen hat die Große Koalition mit der Regierung Erhard manche Schwierigkeiten gemeinsam. Auch hier ist die Verlagerung des symbuleutischen Prinzips vom Kreis um den Kanzler auf mehrere verfassungsrechtlich nachgeordnete Instanzen unverkennbar. Diesmal freilich nicht durch die Führungsschwäche des Kanzlers bedingt, sondern durch den Zwang, sich mit einem starken Koalitionspartner zu arrangieren. Wiederholt betonte Vizekanzler Brandt in letzter Zeit, daß in der Großen Koalition die Richtlinienkompetenz des Kanzlers nur cum grano salis gelte:

„Die Praxis zwischen zwei gleich großen Partnern sieht anders aus. Da kann nicht der Vorsitzende der einen Partei dem Vorsitzenden der anderen Partei Richtlinien erteilen." Die symbuleutische Diskussion findet deshalb, soweit das heute erkennbar ist, außer in der Runde von CDU/CSU-Politikern um den Bundeskanzler auch in der SPD-Spitze um Brandt und Wehner sowie in den Ministerien und in Kreisen um die Fraktionsvorsitzenden Barzel und Schmidt statt.

Die in intrafraktionellen Gesprächen festgelegten Ziele der beiden Koalitionspartner müssen danach ausgeglichen werden. Diese interfraktionelle Kompromißdiskussion erfolgt, wie oben dargestellt, im Kabinett und in Kabinettsausschüssen. Die Einigung zwischen den Koalitionspartnern will mit zunehmender Dauer der Koalition immer schwerer gelingen. Der Druck der Fraktionsmitglieder, der Interessenverbände und der Parteimitglieder sowie der Wunsch, gegenüber den Wählern das Profil der Partei zu wahren, stehen entgegen. Wo aber ein Kompromiß nicht möglich ist, bleibt es beim bisherigen Zustand Entscheidungsarmut und Erstarrung im Status quo können als Folgen einer Großen Koalition

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diesen Ausdruck übernehme ich von Steffani, a. a. O., S. 20.

  2. Die Darstellung dieser Typen habe ich versucht in „Politik und Kommunikation", Mainz 1967, S. 13 ff. Ich übernehme aus dieser Abhandlung einige Materialien und Textstellen.

  3. Sir Thomas Smith, De Republica Anglorum (1583), ed. L. Alston, Cambridge 1906, S. 48.

  4. Gerhard A. Ritter, Regierung und Parlament in Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert, in: Politische Vierteljahresschrift 5 (1964) S. 25.

  5. David Wood, in: The Times, London, Late Edition, Nr. 56 880 vom 3. 3. 1967, S. 1.

  6. Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, hrsg. v. J. Winckelmann, Tübingen 19582, S. 534.

  7. R. T. McKenzie, Probleme der englischen Demokratie, in: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft (hrsg. v. R. Löwenthal), Berlin 1963, S. 57.

  8. Gerhard A. Ritter weist auf die Tatsache hin, daß die Parteimitglieder in den Wahlkreisen mehr und mehr von sich aus gegen parlamentarische Rebellen vorgehen. Sie dulden zwar die Abweichung eines Parlamentsmitglieds in Richtung auf eine stärkere Extremposition, aber die Neigung hin zur gegnerischen Fraktion bleibt ohne Nachsicht. (Gerhard A. Ritter, Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft vom 23. bis 25. April 1963 in Heidelberg, in: Politische Vierteljahresschrift 5 [1964] S. 54).

  9. Dieter Schröder, in: SZ Nr. 279 vom 22. Nov. 1967, und Nr. 284 vom 28. Nov. 1967.

  10. Ernst Fraenkel, Parlament und öffentliche Meinung, in: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 125 f.

  11. Der Spiegel, Nr. 50 vom 4. 12. 1967, S. 44.

  12. Sethe, a. a. O., S. 5.

  13. SZ Nr. 284 vom 28. Nov. 1967 und Nr. 285 vom 29. Nov. 1967.

  14. Friedrich Koja, Der Parlamentarismus in Österreich, in: Zeitschrift für Politik 14 (1967) S. 336.

  15. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 19613, Zitate

  16. Hermann Finer, Theory and Practice of Modern Government, Revised Edition, New York 1949, S. 503.

  17. Karl Loewenstein, Der Britische Parlamentarismus — Entstehung und Gestalt, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 69, Anm. 10.

  18. Ebenda S. 56 und 59.

  19. Byrum E. Carter, The Office of Prime Minister, London 1956, S. 339.

  20. Vgl. Hans Daalder, Cabinet Reform in Britain 1914 to 1963, London 1964, S. 244 f.

  21. Einleitung zu Walter Bagehots „The English Constitution", ed. R. H. S. Crossman, London 1964, S. 49.

  22. John P. Mackintosh, The British Cabinet, London 1962, S. 382 ff.

  23. Herbert Morrison, Government and Parliament — A Survey from the Inside; deutsche Ausgabe: Regierung und Parlament in England, München 1956.

  24. Vgl. hierzu Jürgen Domes, Bundesregierung und Mehrheitsfraktion — Aspekte der Verhältnisse der Fraktion der CDU/CSU im zweiten und dritten Deutschen Bundestag zum Kabinett Adenauer, Köln-Opladen 1964, S 50 ff.

  25. Günter Gaus, Bonn ohne Regierung? — Kanzler-regiment und Opposition. Bericht, Analyse, Kritik; München 1965, S. 55.

  26. Zit. bei Gaus, a. a. O., S. 46.

  27. Westrick über das Kabinettsideal des Kanzlers; zit. bei Gaus, a. a. O., S. 53.

  28. Vgl. hierzu Erwin K. Scheuch, Verplante Freiheit oder die Zukunft des Pluralismus — Zur Kritik der „formierten Gesellschaft", in: Die Mitarbeit 15 (1966) S. 395 ff.

  29. Mackintosh, a. a. O., S. 452.

  30. D. J. Heasman, The Prime Minister and the Cabinet, in: Parliamentary Affairs XV (1962) H. 4, S. 482.

  31. Domes, a. a. O., S. 164 f.

  32. Ernst Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, Berlin 1964, S. 187 ff.

  33. Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung, in: Humanität und politische Verantwortung, Erlenbach-Zürich und Stuttgart. 1964, S. 59.

  34. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. v. E. Wolf, Stuttgart 19565, S. 211.

  35. Zit. nach Domes, a. a. O., S. 16.

  36. So Erhard-Berater Johannes Gross, Erhard triumphans, in: Der Monat 17 (1965) H. 207, S. 19.

  37. Der Spiegel, Nr. 48 vom 20. 11. 1967, S. 27; vgl.: „Die SPD will mehr Profil zeigen", in: SZ Nr. 274 vom 16. 11. 1967, S. 2; „SPD-Führung zu. stärkerem Einfluß in der Koalition gedrängt", in: FAZ Nr. 267 vom 16. 11. 1967.

  38. Das gaben Bundeskanzler und Minister schon öfters unumwunden zu; so auch Helmut Schmidt am 18. 11. 1967 im Bayer. Rundfunk in der Sendung „Bayern fragt Bonn".

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