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B. Das Offentlichkeitsprinzip | APuZ 6/1968 | bpb.de

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APuZ 6/1968 Diskussion und Evidenz im parlamentarischen Regierungssystem A. Das Diskussionsprinzip B. Das Offentlichkeitsprinzip

B. Das Offentlichkeitsprinzip

drohen. Dies zeigte mitunter das österreichische Beispiel. Um die Absprachen zwischen den Partnern zu erleichtern, fordert Helmut Schmidt seit neuem die Verkleinerung des Kabinetts und die Bildung eines „Inneren Kabinetts", dem nur die führenden Minister angehören sollen Eine ähnliche Runde existiert bereits im Kreßbronner Kreis (so benannt nach dem Urlaubsort des Bundeskanzlers, an dem sich im August 1967 die führenden Männer der Koalition trafen).

Der parlamentarischen Regierungsform ist es systemimmanent, daß das Ja oder Nein in politischen Grundfragen an einer Stelle reift, in deren Zentrum der Regierungschef steht.

Denn er hat die Politik gegenüber Volk und Parlament zu verantworten. Große Koalitionen scheinen aber mit schwachen Regierungen gemeinsam zu haben, daß die obersten Instanzen vom agonalen und deklaratorischen Prinzip überwuchert werden, das heißt, daß hier die Selbstdarstellung nach außen sowohl wie auch die Einigung im Koalitionsinnern einen erheblichen zusätzlichen Kraftaufwand der führenden Regierungspolitiker verlangen, der — wie der Engländer sagt — dem symbuleutischen Nachdenken über die „long-term-policy" verlorengeht. Dies ist ein Preis, der beim Abwägen des Für und Wider einer Großen Koalition sehr hoch in Rechnung steht.

I. Der Ort parlamentarischer Diskussion

Für die Untersuchung der Kommunikation in Parlament und Regierung ist die Art des Diskutierens im Zusammenhang zu sehen mit der Manifestierung des Gesagten gegenüber dem Volk. Die symbuleutische und die agonale Entscheidungsdiskussion findet weitgehend in vertraulichen Kreisen statt. Die deklaratorische Diskussion dagegen hat nur einen Sinn, wenn sie im Urteil einer außenstehenden Instanz ihren Agon zurückerhält. Diese Schiedsinstanz ist das Volk. Es ist der Richter in der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition; der Wahltag ist der Tag der Volkssouveränität. Uber die Politik von Regierung und Opposition zu entscheiden, setzt voraus, diese Politik zu kennen. Das Diskussionsprinzip wird deshalb in der Demokratie erst durch das öffentlichkeits- oder Evidenz-prinzipsinnvoll.

Wenn der Deutsche Bundestag auf die deklaratorische Diskussion beschränkt ist, so müssen seine Gespräche zugleich „Fensterreden" sein, die das Ohr des Volkes erreichen. Kritiker stellen jedoch fest, die Diskussion des Bundestages ziehe sich mehr und mehr in exklusive Gesprächszirkel zurück oder werde als Inter-viewkrieg außerhalb der verfassungsmäßig vorgesehenen Institution geführt. Wenn dies zutrifft, erfüllt dann das Parlament noch seine Funktion in unserem Regierungssystem?

Wir möchten auch hier drei Diskussionstypen einführen. Jene oben genannten Typen umschrieben das Wie der Diskussion, diese das Wo. Die drei Typen sind folgende: 1. Intern-Diskussion 2. Intim-Diskussion 3. Extern-Diskussion.

Intern-Diskussion bedeutet: die Diskussion findet dort statt, wo sie den Regeln nach hingehört. Im Verfassungsstaat sind diese Regeln die Verfassungsnormen. Das Grundgesetz zusammen mit der Geschäftsordnung des Bundestages weist dem Bundestag ein gewisses Maß — thematisch wie quantitativ — an Diskussion zu.

Intim-Diskussion bedeutet: die Diskussion zieht sich aus dem zuständigen Gremium zurück in das intime Arkanum kleinerer Zirkel, in Fraktionszimmer, nichtöffentliche Ausschüsse, Kabinette und Cliquen.

Extern-Diskussion heißt: die Diskussion wird zwar geführt von institutionell zuständigen Personen, aber in der Öffentlichkeit eines institutionell nicht vorgesehenen Rahmens. Die richtigen Redner reden also in der falschen Öffentlichkeit.

II. Die Funktion des Deutschen Bundestages: Ausschuß-oder Diskussionsparlament?

Die Beobachter des Deutschen Bundestages kritisieren fast einhellig den Mangel an Intern-Diskussion; im Vergleich zum britischen Unterhaus komme der Bundestag dieser Aufgabe nur sehr ungenügend nach Hennis beantwortet die Frage, ob der Bundestag faul sei, mit einem klaren Ja. Nicht arbeitsfaul, aber diskussionsfaul, argumentationsfaul, und damit evidenzarm. Und in der Tat, der Deutsche Bundestag hat nicht nur die Macht eingebüßt, Entscheidungen zu fällen, er hat auch die Fähigkeit oder den Willen zurückentwickelt, diese Entscheidungen im Angesicht der Öffentlichkeit darzulegen, zu begründen und zu kritisieren. Der Auftrag des Artikels 42 des Grundgesetzes: „Der Bundestag verhandelt öffentlich", entspricht nicht der politischen Wirklichkeit. Es wird viel abgestimmt im Plenum, aber relativ selten werden Gründe, Gegengründe und Hintergründe erläutert: „Was der Bundestag zu den Gesetzen zu sagen hatte, hält keinem Vergleich stand mit dem, was frühere deutsche oder vergleichbare ausländische Parlamente zu den von ihnen verabschiedeten Gesetzen vorbrachten oder vorbringen."

Ernst Fraenkel hat den Kongreß der USA den Idealtyp einer durch Ausschußarbeit profilierten Legislative, das englische Unterhaus den Idealtyp einer diskutierenden Legislative genannt Winfried Steffani hat diese Typologie weiterentwickelt und den Bundestag als Mischform eingestuft. Rausch ordnet den Deutschen Bundestag mehr dem amerikanischen als dem britischen Typus zu, sieht seine vordringlichste Aufgabe in der fachlichen Arbeit und legt das Schwergewicht auf die Gesetzgebungstätigkeit der Ausschüsse.

Tatsächlich decken sich gegenwärtig Selbstverständnis und Arbeitsweise des Bundestages weitgehend mit dieser Auffassung. Dennoch ist zu fragen, ob damit den politischen Gege-benheiten in Deutschland und den Notwendigkeiten unseres Regierungssystems Rechnung getragen ist.

Im präsidentiellen Regierungssystem der USA hat die horizontale Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament (wie sie einst in der konstitutionellen Monarchie bestanden hatte)

dem Parlament die Selbständigkeit gegenüber dem Präsidenten und damit das Recht zur freien Entscheidung bewahrt. Die aufgelockerte und nicht auf unbedingte Linientreue ausgerichtete Parteistruktur macht agonale und symbuleutische Diskussion auch zwischen Mitgliedern verschiedener Fraktionen sinnvoll und damit erst ein Ausschußparlament („Arbeitsparlament") möglich. In den USA stellen die Parteien keine geschlossenen Organisationen mit einheitlicher Willensbildung dar. Bei der Aufstellung der Kongreßkandidaten in den Vorwahlen sind Parteimitgliedschaft und Treue zum Parteiprogramm weder der Kandidaten noch der Bürger, durch die sie ausgestellt werden, klar definiert. Dabei haben die Interessenverbände und ihre Mitglieder maßgeblichen Einfluß auf die Nominierung; sie unterstützen diejenigen Kandidaten, von denen sie sich die tatkräftigste Förderung ihrer Ziele erhoffen, gleichgültig welcher Partei der einzelne Kandidat angehört. Die meisten Interessengruppen sind deshalb in den beiden großen Parteien gleichzeitig vertreten, so daß häufig nicht der Gegensatz zwischen den beiden Parteien entscheidend ist, sondern welchem Flügel man angehört; ein liberaler Demokrat steht einem liberalen Republikaner näher als einem konservativen Demokraten. Deshalb bilden aus beiden Fraktionen diejenigen Mitglieder, welche gleiche Interessen vertreten, sogar gemeinsame „blocks", die in den Ausschüssen Zusammenarbeiten und gemeinsam abstimmen. Die Fraktionsbindung spielt also eine untergeordnete Rolle; der Abgeordnete wird vielmehr von seinem Wahlkreis und den dahinterstehenden Interessengruppen kontrolliert. Auch gegenüber dem Präsidenten ist er insoweit unabhängig, als die Wahl des Präsidenten und die der Abgeordneten getrennte Vorgänge sind und Sieg oder Niederlage des Präsidenten in der Regel keinen Einfluß auf den Wahlerfolg eines Abgeordneten haben. Die zahlreichen Kritiker von Präsident Johnsons Vietnampolitik in der Demokratischen Partei sind ein Exempel dieser Freiheit der Abgeordneten. So finden sich je nach Interessenbereich wechselnde Mehrheiten im Kongreß. Erst dieses Fehlen eines Fraktionszwanges macht aber eine agonale und symbuleutische Diskussion möglich

Im parlamentarischen Regierungssystem, wie es in Großbritannien modellhaft entwickelt ist, hat das Unterhaus, wie gezeigt, die Entscheidungsgewalt über wesentliche Fragen eingebüßt. Eine agonale oder symbuleutische Diskussion zwischen Fraktionen des Parlaments ist durch den Fraktionszwang so gut wie beseitigt. Der Prime Minister kontrolliert das politische Avancement und kann auch bei der Kandidatenaufstellung im Normalfall ein Wort mitreden, wenn er will zudem kann kein Abgeordneter seinen Premier desavouieren, da seine eigene Wahl von dessen Erfolg abhängt. Das britische Unterhaus ist deshalb seiner wichtigsten Funktion nach Diskussionsparlament. Welche Stellung nimmt der Deutsche Bundestagein? Ähnlich wie in England ist auch in Deutschland die Fraktionsdisziplin so streng, daß eine Zusammenarbeit von Mehrheitsfraktionfen) und Opposition in Grundfragen ergebnislos bliebe. Die unumgängliche Lösung der Notstandsfrage wurde deshalb Gründungskomponente der Großen Koalition. Die Abstimmungen im Parlament beweisen, wie nah hier der Bundestag dem Unterhaus und wie fern er dem Kongreß steht Die Gründe für die Fraktionsdisziplin im Bundestag sind weitgehend dieselben wie in England. Im Gegensatz zu Amerika, wo die Abgeordneten auch durch die Tätigkeit im Kongreß und besonders in den Ausschüssen zu hohem Ansehen gelangen können, sind im Bundestag gerade die prominenten Fraktionsmitglieder gehorsam, um nicht die Aufstiegschancen zu verspielen. Und eine Zusammenarbeit der Fraktionen wird durch die Parteienstruktur erschwert; denn anders als in den USA haben die deutschen Parteien noch immer spürbare Züge weltanschaulicher Prägung und vertreten jeweils ganz bestimmte Interessengruppen.

Die agonale und symbuleutische Diskussion wird aber nicht nur durch die Fraktionsdisziplin gehemmt, sondern auch durch die Machtlosigkeit sowohl des Plenums als auch der Ausschüsse. Die überwältigende Mehrzahl der Gesetzesinitiativen, vor allem der wichtigen Gesetze, geht nicht vom Parlament, sondern von der Bundesregierung aus Während beinahe alle Entwürfe der Regierung verabschiedet werden, bleibt der größere Teil der vom Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfe ohne Erfolg; die Opposition hat geringe Chancen, einen Entwurf durchzubringen. Wo heute der Zugang zur entscheidenden Stelle zu finden ist, macht der Lobbyismus der Verbände und Firmen deutlich: Von 1949 bis 1958 gingen durchschnittlich 82, 8 0/o aller förmlichen Eingaben des Bundesverbandes der Deutschen Industrie an Ministerien und Bundesämter, an Bundestag und Bundesrat zusammen dagegen nur 7 0/0 Gewiß laufen nicht sämtliche Gesetz-entwürfe unverändert durch die Ausschüsse, aber das sind Änderungen am Detail, nicht an den entscheidenden Grundintentionen. Denn selbst die Ausschüsse sind nur sehr bedingt der Ort agonaler oder gar symbuleutischer Entscheidungsdiskussion über wesentliche politische Probleme. Und die Opposition bleibt in den im Proporz zum Plenum besetzten Ausschüssen eben die Opposition, deren Anregungen man hier — unter Ausschluß der Öffentlichkeit — gelegentlich gern in eigene Taten übersetzt. Doch auch in diesem Bereich sind die Grenzen eng: Die Fraktionsdisziplin der Regierungspartei läßt sich in der Regel nur die positive Mitarbeit am Detail gefallen Das hat dann viel Ähnlichkeit mit Beschäftigungstherapie, welche von unbequemer Gegnerschaft ablenken soll.

Wir sahen, der Deutsche Bundestag diskutiert heute im allgemeinen deklaratorisch, und er kann bei den politischen Voraussetzungen in Deutschland auch nicht anders als deklaratorisch diskutieren. Wenn sich der Bundestag trotzdem mehr als Ausschußparlament denn als Diskussionsparlament versteht, so erliegt er einerseits einer Selbsttäuschung über das ihm verbliebene geringe Maß an Entscheidungsgewalt, andererseits aber vernachlässigt er jene Funktion, die ihm als die wichtigste verblieb. In unserem Zusammenhang muß nicht mehr die Bedeutung der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem erläutert werden: Dieses lebt nach der britischen Konkur-renzlehre überhaupt nur von der Existenz einer Oppositionspartei; erst deren sachliche und personelle Alternative zwingt die Regierung zur Bemühung um ein bonum commune. Die Opposition ist lür den Wähler jedoch bloß existent, wenn sie evident wird. Sichtbar und hörbar ist sie nicht in den Ausschüssen, sondern im Plenum. Die Opposition ist nirgends in der Lage, die Regierung zu überstimmen: „Was ihr übrigbleibt ist, das Parlament als die Tribüne zu benutzen, von der aus sie an die öffentliche Meinung appellieren kann." Der Bundestag hat deswegen in unserem Regierungssystem die Funktion eines Diskussionsund Evidenzparlaments nicht zu vernachlässigen; er ist der Ort, an dem die Ziele der Regierung und die Alternativen der Opposition sichtbar werden müssen.

III. Der Schwund parlamentarischer Intern-Diskussion

Welches sind die Ursachen für den so häufig kritisierten Evidenzverlust des Bundestages? Zuallererst sind es die materiellen Gründe einer ungenügenden Interpretation des Parlaments und seiner Aufgaben: Es stellt sich der Eindruck ein, daß sich der Bundestag leider, wenngleich historisch verständlich, zu sehr als Gesetzgebungsmaschinerie betrachtet denn als Forum politicum nationale, als politische Selbstdarstellung der Nation. Das englische Unterhaus packt alle aktuellen Politika mit einer Art Heißhunger an. Unser Bundestag dagegen hüllt sich zu oft in bequemes Schweigen oder argumentiert erst, wenn die Spatzen die Argumente bereits von allen roten oder schwarzen Dächern pfeifen. Dabei spielt die im Vergleich zu England dürftige Tradition des deutschen Parlamentarismus eine Rolle. Es ist weder allen Bürgern noch allen Abgeordneten immer klar, daß das Parlament — und in erster Linie das Parlament — der Ort des Evident-Werdens der kontrastierenden Argumente ist, gewissermaßen der Ort der permanenten politischen Buchführung der Nation, die das Volk jederzeit überprüfen kann. Diese materiellen Gründe sind nur schwer einer Korrektur zugänglich. Dennoch ist und bleibt gerade die Parlaments-Evidenz ein Fundament auch des Verfassungsauftrags nach Art. 21 des Grundgesetzes: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit."

Der Vorwurf eines falschen Selbstverständnisses wurde vor allem gegen jene Fraktion erhoben, die bis zum November 1966 in der Opposition stand wenngleich es nur allzu verständlich ist, daß eine große Partei, die nahezu zwei Jahrzehnte von der Gestaltung der Politik ausgeschlossen blieb, an ihrem Auftrag irre wurde. In den fünfziger Jahren war der Bundestag das bedeutendste politische Forum in Deutschland; was er zu sagen hatte, berührte und erregte die deutsche Öffentlichkeit.

Dennoch mußte die SPD immer größere Wahl-niederlagen hinnehmen. Diese Mißerfolge waren nicht nur im mangelnden Verständnis der Deutschen für die Funktion einer Opposition begründet, sondern auch in der Tatsache, daß diese in den großen Lebensfragen eine von einer beachtlichen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnte Auffassung vertrat. Die Anpassung an die von der Regierung seit 1949 geschaffenen Realitäten durch die SPD, eine Reform, die im Godesberger Programm 1959 ihren sichtbaren Ausdruck fand, ermöglichte dann einen Konsens aller Parteien über die Grundpositionen der Bundesrepublik. Der Wunsch der Opposition, durch eine Große Koalition eine Regierungsbeteiligung zu erreichen, mündete in die Tendenz, Übereinstimmung auch dort zu demonstrieren, wo Konflikte zwar bestanden, aber nur nicht ausgetragen wurden. „Zunehmend wurden die großen Fragen tabuisiert. Schlafende Hunde nicht zu wecken, gilt als hohe diplomatische Kunst . . .", schrieb Wilhelm Hennis Einer Regierungspartei muß solch ein Burgfrieden natürlich gelegen kommen, weil er sie von Kritik verschont und Schwächen verdeckt. Mit Zuspitzung hat Fritz Rene Allemann die Entwicklung folgendermaßen gezeichnet: „Noch ein Franz-Josef Strauß verdankte den Aufstieg, der ihn in jungen Jahren zuerst ins Atom-Ministerium und dann ins Verteidigungsministerium führte, nicht zuletzt dem Brio, mit dem er in einer memorablen parlamentarischen Redeschlacht dem versagenden Kanzler zu Hilfe geeilt war. Heute gilt das Umgekehrte: Wer die Diskussion am wirksamsten verhindert und die Meinungsverschiedenheiten am eindrucksvollsten verwedelt, gilt nun als der kommende Mann." Die Betonung der Gemeinsamkeiten ließ die ursprüngliche Funktion des Parlaments, rhetorische Kampfstätte zu sein, immer mehr in den Hintergrund treten. Die Opposition beschränkte sich darauf, in stiller Sachverständigenarbeit in Detailfragen sich nützlich zu zeigen — mehr dem künftigen Koalitionspartner als der öffentlichen Meinung. Das Plenum wurde zum Vortragssaal stundenlanger Fachmonologe, welche der Mehrheit der Abgeordneten und der Bevölkerung unverständlich waren und deshalb ohne Evidenz blieben. Manfred Friedrich gab auf seine Frage „Opposition ohne Alternative?" die Antwort, daß im modernen Daseinsvorsorgestaat eine Alternative grundsätzlich keine ausreichenden Angriffsflächen mehr finden könne, die Opposition also dauernd erfolglos bleibe und der bisherige Parlamentarismus deshalb durch eine gemeinsame Regierung der Parteien abgelöst werden solle. Heute überzeugt uns ein Blick in die Zeitungen von einer anderen Situation: Auf vielen politischen Gebieten herrscht ein starker sachlicher Dissens. Die Große Koalition kann nicht verbergen, daß es nach wie vor mehr als genug sachliche Meinungsverschiedenheiten gäbe. Nur können sie nicht mehr nach parlamentarischem Ritus ausgetragen werden; Friedrichs vormalige Frage „Opposition ohne Alternative?" wandelt sich heute in Opposi die Feststellung: Alternativen ohne -tion.

Eine Partei, welche die Regierungsbeteiligung einem Kampf um die alleinige politische Macht auf die Dauer vorzöge, würde nicht nur den Staat der Opposition berauben, sondern auch sich selbst um die Chance des Sieges bringen. Für die parteipolitisch nicht gebundenen Wechselwähler, die häufig die Wahl entscheiden, zählt vor allem der Glanz, der auf den Kanzler fällt. Der Anteil des Juniorpartners an der Arbeit der Koalition wird für sie wenig sichtbar. Die Stimmenverluste der SPD in den Länderwahlen seit der Bildung der Großen Koalition sind keineswegs nur lokal bedingt; die Sorge der führenden Männer um ein deutliches Profil der SPD beweist, daß sie das nun selbst erkannt haben Waldemar Besson schreibt: „Das große Herrschaftskartell, die oppositionelle Demokratie, ist eine verborgene, selten offen zugegebene Zielvorstellung vor allem der durchschnittlichen Parteipolitiker, die in besonderem Maße den Druck der Interessenverbände verspüren." Wenn die SPD solch ein immerwährendes Herrschaftskartell nicht anstrebt — und man täte ihren Führern sicher unrecht, wenn man ihnen diese Absicht unterstellen wollte —, hat sie nur eine Chance: Das Parlament wieder zu einem öffentlichen Forum zu machen und dort zum Kampf um Sieg oder Niederlage anzutreten.

Auch die bauliche Ausgestaltung des Verhandlungsraumes leistet der Diskussionsmüdigkeit der Fraktionen Vorschub: Hier gibt der Vergleich von Deutschem Bundestag und englischem Unterhaus ebenfalls Anlaß zu kritischer Gewissenserforschung. Von der Platzanordnung war bereits die Rede: Die Parteien sitzen in England Gesicht zu Gesicht einander gegenüber; das Parlament spricht dort gewissermaßen zu sich selbst. Im Bundestag bilden die Abgeordneten einen halbkreisförmigen Block, der geschlossen auf die Regierungsbank, das Präsidium und gegebenenfalls auf die Ministerialbürokratie hinüberblickt — eine demonstrative Reminiszenz an das alte Gewaltenteilungsschema Montesquieuscher Tradition. In England ist jeder Platz eines jeden Abgeordneten Ort des Redens. In Bonn muß der Sprecher gewissermaßen aus dem „Parlament" (d. h.dem Block der Abgeordneten) heraustreten, um von der Rednerkanzel aus zu ihm zu sprechen Hier ist der Sprecher, der die „Bütt" besteigt, bewußt exponiert, der Abgeordnete muß in eine andere Richtung sprechen als hören, während in England der Redende nicht minder im Parlament integriert bleibt als der Hörende. Das Unterhaus kennt weder den Exponierungseffekt einer Bühne noch den Mediatisierungseffekt eines unmittelbar vorgesetzten Mikrophons noch die Eintönigkeit der Manuskriptreden, und zwar schon deshalb nicht, weil jede Vorrichtung zum Darauflegen eines Manuskripts fehlt. Ferner: Das Unterhaus ist ein vergleichsweise kleiner Raum, der bei vollzähliger Anwesenheit der Abgeordneten den Eindruck der Überfülltheit macht, aber auch bei schlechter Besetzung nicht das ungute Gefühl der Leere weckt. Der Bonner Plenarsaal ist das Muster des Gegenteils.

Als deutsche Bomben das Unterhaus im Zweiten Weltkrieg zerstörten, gab Winston Churchill am 28. Oktober 1943 für den Wiederaufbau folgenden Rat: „Das . . . Charakteristikum einer nach den Richtlinien des Unterhauses geformten Kammer ist dies, daß sie nicht groß genug sein darf, um alle ihre Mitglieder zugleich ohne Überfüllung aufzunehmen, und daß es nicht in Frage kommt, daß jedes Mitglied einen eigenen, ihm vorbehaltenen Platz hat . .. Wenn das Haus groß genug ist, um alle Mitglieder zu fassen, so gehen neun Zehntel seiner Debatten in der bedrückenden Stimmung eines fast leeren oder doch halb leeren Hauses vor sich. Für die Auseinandersetzungen im Unterhaus ist wesentlich: der Gesprächston, die Möglichkeit zu raschen, formlosen Zwischenrufen und Wechselreden. Große Reden von einer Tribüne aus wären ein schlechter Ersatz für den Stil des Gesprächs, in dem sich ein so großer Teil unserer Geschäfte abwickelt." In dieser Rede prägte Churchill auch jenen Satz, der das Problem brennpunkt-haft zusammenfaßt: „Wir gestalten unsere Bauten, und danach gestalten unsere Bauten uns." Natürlich liegt in diesem Satz kein Rezept, das für sich allein erwünschte Änderungen brächte. Aber die Gestaltung eines Raumes ist ohne Zweifel doch immerhin eine Komponente für das, was sich an menschlicher Tätigkeit in diesem Raum entwickelt. Die Karyatiden des parlamentarischen Genius loci sind nicht nur die Halbgötter der Fraktionen, sondern auch die Säulen aus Stahlbeton und die Balken aus gewöhnlichem Holz.

Wie der Ort der Plenardiskussion dem Zweck unangemessen ist, so wird auch bei der Reihenfolge der Redner und der Zeitzumessung der Gegensatz zwischen Regierung (mit Regierungsfraktionen) und Opposition nicht berücksichtigt „Bekanntlich gilt nach herrschender Auffassung noch immer die Opposition im Rahmen des Gesamtparlamentes als eine Fraktion neben anderen, so daß sie bei der Reihenfolge der Redner nicht als gesonderte Größe in Erscheinung tritt, sondern wie alle anderen Fraktionen gemäß ihrer Stärke zu Wort kommt, immer unter Beibehaltung der Fiktion, daß die Stellung des Parlaments der Regierung vorgetragen wird. Da diese wiederum verfassungsrechtlich jederzeit in der Lage ist, in die Debatte einzugreifen, wird das Übergewicht der Mehrheit noch weiter verstärkt." So kann es geschehen, daß ein Entwurf vom zuständigen Minister begründet wird, der Bundeskanzler, ein anderer Minister und ein Redner der Mehrheitsfraktion nacheinander sprechen, bevor überhaupt der erste Oppositionsredner zu Wort kommt. Die Sprecher der Opposition erscheinen darum nicht als Regierungsalternative, „sondern als disharmonische Abweichler im Chor einer überwältigend harmonisch gestimmten Mehrheit."

IV. Die Interviewdemokratie: Das Massenkommunikationsmittel als Parlamentsersatz

Das Offentlichkeitsprinzip ist als Reaktion auf das Arkanverhalten des Absolutismus entstanden. Die Vorstellung, daß Publizität, öffentliches Aussprechen der Wahrheit, zu größerer Gerechtigkeit im Staat führe, erhob im Vor-märz die „Preßfreiheit" zur gleichrangigen Forderung neben dem Verlangen nach einem Parlament. Die Presse sollte nach Görres „der Mund des Volkes und das Ohr des Fürsten sein" parallel dazu nannte Feuerbach das Parlament „das wodurch Organ, das Volk zum Thron sprechen kann, durch welches die Nation ihr Wollen, Wünschen und Begehren vor dem Throne ausspricht . . ." Lothar Bucher erklärte deshalb 1855 polemisch: „Parlamentaris70) mus und Pressefreiheit, Pressefreiheit und Parlamentarismus gehören nach der orthodoxen Vorstellung zueinander wie die himmlischen Zwillinge."

In der Gegenwart scheint diese Brüderschaft etwas problematisiert durch eine gewisse Konkurrenzsituation, wenn nämlich Politiker die sogenannte Flucht nach vorne antreten, die Flucht in die Publizität der Telekratie, der Illustrierten und der Boulevard-Presse. Heye, Adenauer, Gerstenmaier, Katzer — die Kernfrage dieser und zahlreicher anderer „Fälle" war doch stets: Degradiert die Öffentlichkeit der Kommunikationsmittel das Parlament zu einem Vakuum des Schweigens oder der Belanglosigkeiten? Oder anders gesagt: Ist das Parlament heute noch Ort der Öffentlichkeit, wo die Res publicae evident werden? Und wenn nein, können wir dann noch von Parlamentarismus sprechen?

Heute kann ein Reporter hosten, aus einem Abgeordneten im Interview mehr herauszubekommen als aus dem Monolog seiner Bundestagsrede — vorausgesetzt, daß er überhaupt eine hält. Und ein Parlamentarier oder Wehr-beauftragter kann hoffen, durch einen Artikel in der Bildzeitung, in Quick oder Stern mehr Aufsehen zu erregen als durch eine Bundestagsrede — vorausgesetzt, daß die Fraktion ihn überhaupt als Redner bestimmt. Die Extern-Diskussion verspricht mehr Publizität und mehr Effekt als die Intern-Diskussion. So können die Publikationsmittel heute teilweise daran gehen, die politische Diskussion der Parlamentarier in eigene Regie zu nehmen. Funktioniert nicht der Tisch vor der Fernsehkamera, um den die Fraktionsführer der großen Parteien sitzen, in den Augen vieler als Miniaturparlament, reduziert auf die zentralen Meinungsexponenten? Auch die paar Hundert schweigender Hinterbänkler sind mit dabei — zu Hause, als Zuschauer vor dem Bildschirm. Das Studio ersetzt den Plenarsaal, die Fernseh-Illustrierte das Ladungsschreiben zur Debatte. Dem Plenum verbleibt ja immer noch die Abstimmung. Ein freundliches Bild des technischen Fortschritts? Oder eine gefährliche Selbstentfremdung?

Es geht nicht um die Frage, ob die politische Diskussion der Konimunikationsmittel gut ist. Sie ist mehr als das, sie ist lebenswichtig. Es geht aber um die Frage, ob sie in Form der Extern-Diskussion, also als Ersatz der Intern-Diskussion des Parlaments akzeptabel ist. Und hier ist die Antwort: Nein, nicht im Rahmen eines funktionierenden Parlamentarismus. Karl Jaspers schreibt in seinem bekannten Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?": „Demokratie heißt Selbsterziehung und Information des Volkes. Es lernt nachdenken. Es weiß, was geschieht. Es urteilt. Die Demokratie befördert ständig den Prozeß der Aufklärung." Die Institution, welche nach Walter Bagehots nun hundert Jahre alter Darstellung der englischen Verfassung die Aufgabe des „Ausdrückens, Lehrens und Informierens" („expressive, teaching, informing function") zu erfüllen hat, ist das Parlament Denn das Parlament ist der einzige Ort, an dem die politische Problemgeschichte des Volkes in den Argumenten der Parteien permanent zur Darstellung kommt; hier haben die sachlichen und personellen Alternativen der Politik aufeinanderzu77) stoßen und sich in der Diskussion zu bewähren. Wenn ein Problem wie der Atomsperrvertrag am Parlament vorbeigeht, dann leidet das parlamentarische Regieren Schaden. Der Abgeordnete wird als Parlamentsabgeordneter gewählt und nicht als Interviewgeber oder Zeitungsschreiber. Nicht den Kommunikationsmitteln ist ein Vorwurf zu machen. Sie versuchen vielmehr, die schwindende Evidenzkraft des Parlaments durch ihre Evidenzkraft auszugleichen. Sie versuchen, den Wucherungen der Intim-Diskussion entgegenzuwirken. Aber es muß doch bevzußt bleiben, daß sich das Parlament nicht ersetzen läßt, ohne den Parlamentarismus zu zerstören. Nicht der Parlamentarier gehört in die Redaktionsstube oder ins Studio, sondern das Studio gehört ins Parlament. In England ist die Parlamentsberichterstattung in Presse, Rundfunk und Fernsehen viel ausführlicher und besser; und sie stößt auf das lebendige Interesse der Bevölkerung. Bereitschaft zur parlamentarischen Auseinandersetzung und Kommunikationsqualität des Parlaments geben den Anreiz dazu.

Allen, die vor ihm über das Problem der Parlamentsentwicklung nachdachten, gibt Rausch zur Belehrung: „Ebensowenig wie der maßgeschneiderte Anzug des Jünglings dem Manne paßt, sind Ausformungen und Ausprägungen einer früheren Zeit anwendbar auf spätere Erscheinungsformen ..." Indes ist das Problem des stillen und offenen Verfassungswandels eine der allgemein diskutierten Grundfragen der Staats-und Politikwissenschaft. Doch sind die Möglichkeiten des Wandels nicht unbegrenzt, solange eine Institution begriffsidentisch mit sich selber bleiben soll. Wer heute Walter Bagehots Äußerungen über den Parlamentarismus zitiert, handelt nicht allein schon deshalb mit Antiquitäten, weil diese Thesen hundert Jahre zählen. Die Engländer reden viel von Reformen des Unterhauses, aber sie ändern wenig, offenbar weil sie mit ihrer Tradition doch gut gefahren sind. Die parlamentarische Evidenz der Opposition zusammen mit ihrem Echo in der Öffentlichkeit kann einem Premier das Leben sehr sauer machen, auch wenn er die Abstimmungen im Parlament zahlenmäßig beherrscht. Das Murren des Volks, provoziert und geschürt durch das Parlament, vermag dem Regierungschef ein bestimmtes Tun in höherem Maße aufzuzwingen als die sogenannte Kontrolle der Ausschußarbeit. Wilson weiß ein Lied davon zu singen.

Vom Wandel der Diskussion im Parlament war oben die Rede: Das symbuleutische und das agonale Gesprächsprinzip hat sich zur de-klaratorischen Meinungsdemonstration verhärtet. Entscheidungen werden nicht mehr vorbereitet, sondern nur mehr begründet und zusammen mit diesen Begründungen dokumentiert. Die Meinungsdokumentation ist aber jene unterste Grenze, bis zu der der Begriff Parlament in einem parlamentarischen Regierungssystem herabreicht. Nicht mit Vorliebe zitiert man Heinrich v. Treitschke als Autorität des Parlamentarismus; in einem aber hat er recht: „Den Verhandlungen des Plenums fällt doch zum allermindesten die hochwichtige Aufgabe zu, das Parlament mit der Nation in geistigem Verkehre zu erhalten; sie sollen das Haus vor der öffentlichen Meinung rechtfertigen, ihr den dialektischen Prozeß erklären, der die Beschlüsse des Parlaments entschieden hat."

An sich ist die Gefahr gering, hier offene Tore einzurennen. Wenn es dennoch dem einen oder anderen gelingt, liegt es am Eifer. Niemand will im Parlament viele statt gute Reden, und niemand will im Ernst die Aktualität der Presse-und Rundfunkinformationen aus Rücksicht auf die nachhinkende Parlamentsevidenz hemmen Banal ist der Vorwurf: „Es wird einfach übersehen, daß durch Rundfunk und Fernsehen andere Ausdrucksformen vorhanden sind, als sie dem klassischen Parlamentarismus jemals denkbar waren." Das einzige, was hier übersehen wird, ist die — gleichfalls banale — Tatsache, daß es dieselben Massenmedien auch in London gibt und daß das Parlament dort dennoch eine andere Evidenz-kraft besitzt als in Bonn.

Auch zur Zeit der Großen Koalition in der Bundesrepublik ist es dagegen eine schwerwiegende Verkennung, die Presse als „die eigentliche Opposition" zu bezeichnen. Gouvernementale Opposition ist untrennbar personelle und sachliche Opposition. Die personelle Alternative entfällt bei der Presse ohnehin. Die Presse hat kein Schattenkabinett und kein Alternativteam zur Ablösung der Regierung.

Journalisten sind auch nicht gewählte Repräsentanten des Volks. Doch selbst in sachlicher Hinsicht ist ein Parlamentsersatz nicht möglich. Der Grund liegt im Vorbehalt der Unverbindlichkeit, auf den die Presse zu Recht pocht.

Die Kommunikationsmittel berichten, was sie berichten wollen. Die Presse übernimmt öffentliche Aufgaben, aber sie übernimmt sie freiwillig, in eigener Regie und mit eigenem Kapital. Freiheit der Presse bedeutet in diesem Fall fehlende Verpflichtung. Die Checks and balances sind zu sehr die Basis unserer politischen Existenz, als daß man die Evidenz der Alternative aus der Verpflichtung verfassungsmäßiger Institutionen entlassen dürfte. Zwar werden heute für den, der auf das Rauschen des pluralistischen Blätterwalds insgesamt lauscht, die meisten Argumente irgendwo — das eine hier, das andere dort — hörbar sein; das ändert nichts daran, daß das Schweigen das gute Recht eines jeden Blattes ist. Demgegenüber gewinnen Ordnung und Klarheit im politischen Leben der Nation Außerordentliches, wenn das Parlament der Ort der Verbindlichkeit bleibt. Das Parlament ist der Schicksals-spiegel, in dem das Volk sich in seiner politischen Problemgeschichte wiedererkennt. Die Regie dieser Spiegelung liegt in Händen der Opposition. Drei Merkmale sollten die Parlamentsevidenz charakterisieren: Authentizität der Argumente, problemgeschichtliche Zuverlässigkeit und Unmittelbarkeit der Darstellung durch die Fraktionen. Das parlamentarische Regierungssystem hat im Kabinett und in der Ministerialbürokratie bereits zwei Arkaninstrumente. Das Parlament muß hier die Gegen-instanz der Evidenz bleiben.

V. Ein Parlament im Geheimen?

Das Gespräch im Parlament wird keineswegs nur durch die Extern-Diskussion in Frage gestellt; die Intim-Diskussion birgt die größere Gefahr, weil sie sich in den Raum des Arkanums zurückzieht, unhörbar und unkontrollierbar möglicherweise auch in jenen Fällen, in denen sie hörbar und kontrollierbar sein sollte. Orte und Gelegenheiten der Intim-Diskussion sind zahlreich und fluktuierend. „Vertrauliche" Absprachen werden oft zu unerkannten Weichenstellern parlamentarischer Arbeit. Daneben existieren offizielle Institutionen der Intim-Diskussion innerhalb des Parlaments. Von ihnen greifen wir zwei Gruppen heraus: die Ausschüsse und die Fraktionen. Die ersteren sind aus den Abgeordneten aller Parlamentsparteien proportional aufgeschlüsselt; in der Fraktion dagegen ist die Partei unter sich. Gemeinsam ist beiden die Nicht-Offentlichkeit (abgesehen von den Untersu-chungsausschüssen, in denen die Beweiserhebung öffentlich durchgeführt werden kann

In der Vorbereitung der Intern-Diskussion des Plenums liegt die durch Legaldefinition festgelegte Aufgabe der Parlamentsausschüsse. Aktivierung des Sachverstandes und Arbeitsteilung sind Elemente der Industriegesellschaft, auf die auch das Parlament nicht verzichtet und nicht verzichten kann. Unleugbar erfordern heute zahlreiche Gesetze den Sachverstand von Spezialisten, die zur Entlastung des Hauses Ausschüsse bilden. „Sachfragen sind wichtig", räumt Arnd Morkel ein, „aber in jeder Sachfrage schlummern politische Entscheidungen, mag es sich nun um Straßenbau, Gewässerschutz oder landwirtschaftliche Fragen handeln." Das Problem des Bundestages ist heute, daß die Abgeordneten in der sachlichen Detailarbeit aufgehen. Paul Sethe nannte den Bundestag ein Parlament im Geheimen, weil er sich auf die Ausschußarbeit zurückzieht Ein Ausschußparlament ist definierbar als Reservoir von gewählten Parteigängern, mit denen man Ausschüsse besetzt. Nicht nur die Zurückhaltung der Oppositionspartei bei grundsätzlicher Kritik, sondern auch die im modernen Daseinsvorsorgestaat unvermeidliche Gesetzesschwemme führte dazu, daß bei den Lesungen der Gesetzentwürfe die Fachmonologe von Spezialisten für Spezialisten auch im Plenum fortgesetzt werden. Der Bundestagsabgeordnete Dichgans, seit Jahren einsamer, doch unerschrockener Missionar der Debattenreform, hat dies immer wieder beklagt. Die Vorschläge Heinz Josef Varains und Thomas Ellweins, welche die Ausführungs-und Verwaltungsbestimmungen der Gesetze ganz der Exekutive und den Ausschüssen überlassen, dem Plenum aber nur den politischen Entscheidungskern eines Gesetzes zur Diskussion vorlegen möchten, versuchen hier einen Ausweg zu bieten

Man sollte auch darangehen, dem Beispiel des amerikanischen Senats folgend, die Ausschußverhandlungen teilweise öffentlich durchzuführen oder doch wenigstens von der Möglichkeit vorangehender öffentlicher Informationssitzungen häufiger Gebrauch zu machen. Das allgemeine Interesse und die ausführlichen Berichte in den Zeitungen über die jüngsten Hearings zur Notstandsgesetzgebung und zur Bildungspolitik sollten den Bundestag dazu ermuntern. Sie können ihm beschämend vor Augen führen, daß die Öffentlichkeit durchaus noch bereit ist zu hören, vorausgesetzt, daß Wesentliches im Parlament evident wird.

Die fraktionsinternen Zusammenkünfte — in welcher Form und in welcher Besetzung (Voll-oder Vorstandsversammlung, Arbeitskreise) sie auch immer stattfinden — geben im allgemeinen die Chance, jene Auffassungen symbuleutisch und agonal auszudiskutieren, die dem Plenum deklaratorisch vorgelegt werden. In der Großen Koalition halten sich zudem auch die erforderlichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden großen Fraktionen im Arkanum; interfraktionelle Zirkel sind die Stellen, in denen Kompromisse zu schwarzroter Einigkeit heranreilen. Anschließende deklaratorische Diskussion im Plenum über die verbliebenen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Fraktionen ist nur noch in homöopathischen Dosen gestattet. Das rhetorische Feuer wird abgedeckt; der frische Luftzug grundsätzlicher Auseinandersetzung könnte das so mühsam über Kompromissen errichtete Gebäude der Koalition in Asche legen. „So wird der Bundestag", nach den Worten K. D. Brachers, „die Stätte zur Verlesung feierlicher Bekenntnisse oder unverständlicher Expertenberichte. Die eigentliche politische Auseinandersetzung, die Interesse wecken und den demokratischen Prozeß veranschaulichen könnte, verschwindet hinter den verschlossenen Türen der Ausschüsse und Ministerien. Dem Volk bleibt der Eindruck, daß etwa die gemeinsamen Entschließungen zur Wiedervereinigung, die beschwörenden Hinweise auf die Schwere der jeweiligen Stunde schon Politik seien ..."

Wie oben schon festgestellt, einigen sich in einem parlamentarischen Regierungssystem die Fraktionen in der Regel auf eine geschlossene Willenskundgabe bei der Abstimmung. Für die Regierung ist die Gefolgschaft der Fraktion eine Grundbedingung ihrer Tätigkeit. Mit der Willenskundgabe braucht keineswegs die Meinungskundgabe identisch zu sein. Freilich, die Parteiwirklichkeit will es ganz anders: Obwohl es höchst einfältig und unrealistisch ist zu glauben, daß bei rund 500 Abgeordneten die Meinungsgrenzen perpetuierlich haarscharf entlang den Fraktionsgrenzen verlaufen, und obwohl man oft das Gegenteil anzunehmen Grund genug hat, wird die Fiktion der Meinungskonformität nicht nur von den Parteien gepflegt, sondern auch vom En-bloc-Denken des Publikums verlangt. Beides steht wahrscheinlich sogar im Verhältnis von Wirkung und Ursache. Der Grund ist, daß gemeinhin als Gesinnungslump gilt, wer im konkreten Einzelfall anders meint als votiert. Dabei wird übersehen, daß man durchaus dem Gewissen folgen kann, ohne der eigenen Meinung zu folgen, weil die Solidarität der Partei einen Wert von Selbstgewicht darstellt, der das Gewissen zu binden vermag. Es ist ein merkwürdiger und folgenreicher Irrtum, daß man, spricht man von Gewissensentscheidung, das Gewissen immer auf die jeweils anstehende Einzelfrage verpflichtet, nicht aber auf das oft höherwertige Ziel, die Einheitlichkeit und Stabilität jener Partei zu erhärten, mit der man sich in hundert anderen Fragen einig weiß. Die Meinung als solche verliert jedoch damit keineswegs ihr Evidenzrecht. Seltsam, wie viele gute Demokraten in diesem Punkt die Offenheit nicht ertragen können.

Der Fraktionszwang dehnt sich deshalb auch auf die Meinungskundgabe aus. Die Fraktionsführungen nennen nicht nur diejenigen Redner, welche die offizielle Haltung der Fraktion erläutern, sondern sie bestimmen (über Ältestenrat und Bundestagspräsidium) praktisch alle Sprecher, die im Hause zu Wort kommen. Wie streng auch immer in England der Zwang in der Abstimmung sein mag, auf Verlauf und Inhalt der Diskussionen erstreckt er sich dort nicht mit gleicher Konsequenz. Die Abgeordneten, die gerade zur Argumentation etwas beitragen möchten, erheben sich von ihrem Platz, machen sich dem Speaker bemerkbar. Dieser gibt dem Abgeordneten das Wort, von dem er sich im Augenblick eine Bereicherung der Diskussion verspricht. So kommen bei den (jährlichen!) Regierungserklärungen des House of Commons etwa 100 Redner zu Wort — gegenüber 10 bis 20 bei den Debatten zur Regierungserklärung alle vier Jahre in der Bundesrepublik. MdB Dichgans hat darum wiederholt eine Beschränkung der Redezeit gefordert, damit mehr und verschiedene Meinungen zur Wort kämen. Kürzlich nahm er im Bundestag dazu Stellung.

Er beklagte, daß bei der großen außenpolitischen Debatte nachmittags nur dreißig Abgeordnete im Saal gewesen seien, und fuhr dann fort: „Wir können die Präsenz nur verbessern, wenn die Debatten lebhafter werden und wenn auch die individuellen Abgeordneten, die nicht die Meinung ihrer Fraktion, sondern eine eigene Meinung vortragen, eine Chance haben, zu Wort zu kommen. . . . Meine Damen und Herren, ich stelle mir die Frage: Brauchen wir wirklich soviel Grundsatzreden? Sollten wir hier nicht mehr neue Gesichtspunkte, neue Informationen, neue Überlegungen hören? Es ist erfahrungsgemäß nicht ganz einfach, auch nur 15 Minuten mit wirklich neuen Überlegungen zu füllen." Man wird dem streitbaren Abgeordneten Beachtung schenken müssen. Wenn neben dem konformen Ja zum Fraktionswillen auch das Ja zur abweichenden Meinung im Plenum seinen Platz hätte, so kämen nicht nur die zwei oder drei offiziellen Parteiauffassungen zur Evidenz, sondern das gesamte Bild würde reicher, und die parlamentarische Evidenzchance könnte der paraparlamentarischen Meinungsemigration vorbeugen.

Wir fassen zusammen: Das Parlament ist heute nicht mehr der Ort, an dem die großen Lebensfragen der Nation entschieden werden. Die agonale und die symbuleutische Diskussion haben sich in andere Zirkel verlagert. Ein weitergehender Diskussionsschwund darf aber nicht einfach nur registriert und hingenommen werden. Denn das Parlament hat nach wie vor als wichtige Funktion zu erfüllen: die Entscheidungen in deklaratorischer Diskussion vor der Öffentlichkeit darzulegen, zu begründen und zu kritisieren.

Es wurde festgestellt, daß unser Bundestag dieser Aufgabe nur ungenügend nachkommt; er zieht es vor, an Detailfragen zu feilen, statt über Grundentscheidungen zu diskutieren. Und die großen Parteien neigen dazu, sich die Regierungsgewalt zu teilen, statt in parlamentarischer Debatte Alternativen evident zu machen, die dem Volk den letzten Rest der Volkssouveränität belassen würden: den Schiedsspruch am Wahltag.

Fussnoten

Fußnoten

  1. SZ Nr. 244 vom 12. 10. 1967 und Der Spiegel, Nr. 43 vom 16. 10. 1967, S. 32; FAZ Nr. 250 vom 27. 10. 1967.

  2. SZ Nr. 206 vom 29. 8. 1967; NZZ vom 1. 9. 1967; Der Spiegel, Nr. 37 vom 4. 9. 1967, S. 21; Der Spiegel, Nr. 50 vom 4. 12. 1967, S. 27; SZ Nr. 292 vom 7. 12. 1967; SZ Nr. 296 vom 12. 12. 1967; SZ Nr. 297 vom 13. 12. 1967, S. 2, 4.

  3. So z. B. Sethe, a. a. O.; Wilhelm Hennis, Haben wir ein faules Parlament?, a. a. O.; ders., Der Deutsche Bundestag 1949— 1965. Leistung und Reform-aufgaben, in: Der Monat 18 (1966) H. 215, S. 26 ff. u. v. a.

  4. Hennis, Haben wir ein faules Parlament?, a. a. O„ S. 125.

  5. Fraenkel, Parlament und öffentliche Meinung, a. a. O., S. 125.

  6. Steffani, Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag, a. a. O.

  7. Heinz Rausch, Parlamentsreform — Tendenzen und Richtungen, a. a. O.; ders., Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1967, bes. S. 96.

  8. Vgl. Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem — Eine politische Analyse, Köln-Opladen 1960, bes. S. 55 ff., 74 ff.

  9. Vgl. Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staats-praxis von Großbritannien, Berlin-Heidelberg-New York, Bd. I, S. 176 f.

  10. Siehe die Tabellen über die Abstimmungen im Kongreß, im Unterhaus und im Bundestag in: Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, a. a. O., S. 67 f„ und Domes, a. a. O., S. 121 ff.

  11. Vgl. Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Köln-Opladen 19652, S. 610 f.

  12. Wilhelm Hennis, Verfassungsordnung und Verbandseinfluß — Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang im politischen System der Bundesrepublik, in: Politische Vierteljahresschrift 2 (1961) S. 23 ff., bes. S. 25 f.

  13. Thomas Ellwein, Entmachtung des Parlaments — Verantwortung des Parlaments, in: Die Mitarbeit 15 (1966) S. 193 ff., bes. S. 199.

  14. Hennis, Der Deutsche Bundestag 1949- 1965. Leistung und Reformaufgaben, a. a. O., S. 30.

  15. Fraenkel, Parlament und öffentliche Meinung, a. a. O., S. 125.

  16. Ebenda.

  17. Fritz Rene Allemann, Bonn ist nicht Weimar — Zehn Jahre danach, in: Der Monat 17 (1965) H. 200, S. 7 ff., das Zitat S. 16.

  18. Manfred Friedrich, Opposition ohne Alternative? — über die Lage der parlamentarischen Opposition im Wohlfahrtsstaat, Köln 1962.

  19. Hans Reiser, Die Koalitions-Bilanz der SPD, in: SZ Nr. 274 vom 16. 11. 1967; Die SPD will mehr Profil zeigen, ebenda; Fraktionsmanager Helmut Schmidt auf der Suche nach dem verlorenen Profil der SPD, in: Der Spiegel, Nr. 50 vorn 4. 12. 1967, S. 34 ff.

  20. Waldemar Besson, Regierung und Opposition in der deutschen Politik, in: Politische Vierteljahresschrift 3 (1962) S. 225 ff., das Zitat S. 238.

  21. Uber einen diesbezüglichen Reformversuch s. „Geänderte Geschäftsordnung zur Belebung der Bundestagsdebatten", in: SZ Nr. 298 vom 14. 12. 1967.

  22. Zitate und Übersetzung nach Sir Ivor Jennings und Gerhard A. Ritter, Das Britische Regierungssystem, Köln-Opladen 1958, Quellenbuch S. 104 f.

  23. Joseph v. Görres, Die teutschen Zeitungen, in: Rheinischer Merkur, Nr. 80 vom 1. 7. 1814, S. 2, Spalte 1.

  24. Rausch, Parlamentsreform - Tendenzen und Richtungen, a. a. O., S. 275.

  25. Wilhelm Hennis, Therapie für parlamentarische Schwächen, in: Die Zeit, Nr. 13 vom 25. 3. 1966.

  26. Siehe § 33 GeschO BT.

  27. Anselm v. Feuerbach, Uber teutsche Freiheit und Vertretung teutscher Völker durch Landstände (1814), abgedruckt in den „Kleinen Schriften vermischten Inhalts", Nürnberg 1833, S. 112 ff.

  28. Lothar Bucher, Der Parlamentarismus wie er ist, Berlin 1855, S. 280.

  29. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1966, S. 140.

  30. Bagehot, a. a. O., S. 152.

  31. Rausch, a. a. O., S. 263.

  32. Zit. nach Theodor Schieder, Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 126.

  33. Deshalb hat auch England die sog. Fortnight-Rüle längst aufgegeben.

  34. Rausch, a. a. O., S. 277.

  35. Rausch, a. a. O., S. 280.

  36. Vgl. Th. Maunz und G. Dürig, Grundgesetz — Kommentar, Bd. I, München-Berlin 1966, Art. 44 III, 2 a.

  37. Arnd Morkel, Das Parlament als öffentliches Forum, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 40/66, v. 5. 10. 1966, S. 15 f.

  38. Paul Sethe, Ein Parlament im Geheimen, a. a. O.

  39. Heinz Josef Varain, Hat der Bundestag noch eine Chance?, in: Die Mitarbeit 15 (1966) S. 30 ff.; Ellwein, Entmachtung des Parlaments — Verantwortung des Parlaments, a. a. O., S. 202; ders., Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, a. a. O., S. 236.

  40. § 73 GeschO BT.

  41. K. D. Bracher, Wird Bonn doch Weimar?, in: Der Spiegel, Nr. 12 vom 13. 3. 1967, S. 68.

  42. Walter Henkels, Vom Grundrecht, Unsinn zu reden, in: FAZ Nr. 250 vom 27. 10. 1967; vgl. SZ Nr. 256 vom 26. 10. 1967, Nr. 276 vom 18. /19. 11. 1967, Nr. 285 vom 29. 11. 1967.

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