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Amerika im technetronischen Zeitalter | APuZ 22/1968 | bpb.de

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APuZ 22/1968 Amerika im technetronischen Zeitalter Ist die Lücke technisch?

Amerika im technetronischen Zeitalter

Zbigniew Brzezinski

Neue Fragen unserer Zeit

John Diebold Ist die Lücke technisch?......................... S. 15

Die Ära der herkömmlichen Revolutionen ist vorbei; wir betreten eine neue Entwicklungsstufe in der Geschichte des Menschen. Die Welt steht am Vorabend einer Metamorphose, deren historische und menschliche Auswirkungen dramatischer sein werden als die der französischen und der bolschewistischen Revolution. Aus weiter Perspektive betrachtet, haben diese berühmten Revolutionen nur die Oberfläche des Menschendaseins gekratzt. Sie änderten die Verteilung von Macht und Besitz innerhalb der Gesellschaft, rührten aber nicht an den Kern der individuellen und sozialen Existenz. Das Leben — das persönliche wie das organisierte — ging im großen und ganzen weiter wie zuvor, wenn sich auch einige seiner äußeren Formen (vor allem im politischen Bereich) beträchtlich änderten. Um das Jahr 2000 werden Robespierre und Lenin — so schok-kierend das für ihre Verehrer klingen mag — allgemein als milde Reformer gelten.

Ungleich den Revolutionen der Vergangenheit wird die sich anbahnende Metamorphose keine charismatischen Führer mit scharfgeschliffenen Doktrinen kennen, aber ihre Wirkungen werden viel tiefer gehen. Was sich in der menschlichen Geschichte bisher an Wandel vollzogen hat, war größtenteils graduell; die großen „Revolutionen" waren bloße Interpunktionszeichen in einem langsamen, kaum merklichen Prozeß. Die herannahende Transformation dagegen wird schneller kommen und wird tiefere Konsequenzen für die Weise und vielleicht auch für den Sinn des menschlichen Lebens haben als alles, was die Generationen vor uns erlebt haben.

Amerika beginnt schon diese Wandlungen zu spüren und wird mehr und mehr eine „tech-netronische" Gesellschaft, das heißt eine Ge-Seilschaft, die kulturell, psychisch, sozial und ökonomisch von Technik und Elektronik geprägt wird, besonders von Computern und Kommunikationsmitteln. Der industrielle Prozeß ist nicht mehr die Hauptdeterminante des sozialen Wandels, der Veränderung von Sitten, Sozialstruktur und Werten der Gesellschaft. Dieser Wandel trennt die Vereinigten Staaten von der übrigen Welt, reißt die ohnehin zunehmend differenzierte Menschheit noch weiter auseinander und erlegt den Amerikanern die besondere Verpflichtung auf, die Härten der daraus resultierenden Auseinandersetzung zu mildern.

Die technetronische Gesellschaft

Die tiefgreifenden Umgestaltungen, vor denen wir stehen, werden in erster Linie aus der Einwirkung von Wissenschaft und Technik auf den Menschen und seine Gesellschaft erwachsen, besonders in der entwickelten Welt. In den letzten Jahren ist eine Fülle von anregender und aufregender Literatur über die Zukunft erschienen. Ein guter Teil davon ist nicht bloß Science fiction, sondern durchaus ernst zu nehmen Außerdem gibt es in den Vereinigten Staaten und — in geringerem Maße — auch in Westeuropa systematische, wissenschaftliche Bemühungen, das, was die Zukunft für uns bereithält, sich vorzustellen, vorauszusagen und beherrschen zu lernen. Merkwürdigerweise hört man aus der kommunisti-Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber dem Januar-Heft der New Yorker Vierteljahres-zeitschrift FOREIGN AFFAIRS entnommen (Copyright by the Concil on Foreign Relations Inc., New York). sehen Welt sehr wenig über dieses Thema, obwohl doch die kommunistischen Doktrinäre immer behaupten, ihre aus dem 19. Jahrhundert stammende Ideologie biete den besten Schlüssel zum 21. Jahrhundert.

Die Anzeichen sprechen dafür, daß die in der entwickelten Welt lebenden Menschen in den nächsten Jahrzehnten eine Mutation durchmachen werden, die potentiell ebenso grundlegend sein wird wie diejenige, die sich während des langsamen Evolutionsprozesses von der tierischen zur menschlichen Existenz vollzog.

Diesmal wird sich jedoch der Prozeß auf eine viel kürzere Zeitspanne zusammendrängen, und daher kann der Wandel eine schwere Schockwirkung auslösen. Das menschliche Verhalten wird weniger spontan und weniger geheimnisvoll werden — mehr vorbestimmt und „programmierbar". Zunehmend wird der Mensch die Fähigkeit erlangen, das Geschlecht seiner Kinder zu bestimmen, durch Drogen den Grad ihrer Intelligenz zu beeinflussen und ihre Persönlichkeit zu verändern und zu lenken. Das menschliche Gehirn wird verstärkte Kräfte gewinnen; Computer werden die Denkfähigkeit des Menschen ebenso selbstverständlich erweitern wie heute Automobile seine Beweglichkeit. Der menschliche Körper wird verbessert und dauerhafter gemacht werden: Es gibt Schätzungen, wonach die durchschnittliche Lebensdauer des Menschen im Laufe des nächsten Jahrhunderts etwa 120 Jahre erreichen könnte.

Diese Entwicklung wird große soziale Auswirkungen haben. Die Verlängerung des Lebens wird unsere Werte, unsere beruflichen Laufbahnen und unsere sozialen Beziehungen verändern. Neue Formen der sozialen Kontrolle werden vielleicht nötig sein, damit der einzelne nicht wahllos Gebrauch von seinen neuen Kräften macht. Die Möglichkeiten und Gefahren der chemischen Gedankenkontrolle, des Individualitätsverlusts durch Transplantationen, der Manipulation genetischer Strukturen werden von der Gesellschaft verlangen, Grenzen für die Nutzung der neuen Fähigkeiten festzulegen. Wissenschaftler sagen mit einiger Zuversicht voraus, daß am Ende dieses Jahrhunderts die Computer den Menschen in ihren Denkleistungen nicht mehr nachstehen und zu „schöpferischem" Denken imstande sein werden; mit Robotern oder „Laboratoriumsgeschöpfen" gekoppelt, könnten sie handeln wie Menschen. Es ist nicht zu verkennen, daß diese Entwicklungen genügend Stoff für einen höchst vertrackten — und vielleicht bitteren — philosophisch-politischen Dialog über die Natur des Menschen liefern.

Andere Entwicklungen und Verfeinerungen werden die Gesellschaft, wie wir sie jetzt kennen, weiter verändern. Die Informations-Revolution — Speicherung großer Mengen jederzeit abrufbarer Informationen, eines Tages vielleicht die Möglichkeit, durch Knopfdruck benötigte Informationen in fast jeder Privatwohnung visuell und akustisch verfügbar zu machen — wird der institutionalisierten kollektiven Erziehung einen anderen Charakter geben. Die gleichen Techniken könnten dazu benutzt werden, jeden Bürger einer totalen politischen Überwachung auszuliefern; das Problem der Privatsphäre wird damit viel akuter werden, als es heute ist. Kybernetik und Automation werden die Arbeitsgewohnheiten revolutionieren: Muße wird die Regel werden, aktive Arbeit eine Ausnahme — und ein Privileg der Begabtesten. Die leistungsorientierte Gesellschaft weicht vielleicht der vergnügungsorientierten Gesellschaft, in der Zuschauer-spiele (Massensport, Fernsehen) als Opium für Massen dienen, die in ihrem Leben immer weniger ein Ziel erkennen können.

Während sich aber für die Massen das Leben verlängern und die Zeit scheinbar ausdehnen wird, wird für die aktivistische Elite Zeit eine knappe Ware werden. Das ganze Zeitgefühl der Elite wird sich ändern. Schon jetzt steht unser Leben unter dem Diktat der Geschwindigkeit — statt umgekehrt. Die Verkehrsmittel werden immer schneller, hauptsächlich durch die eigene Dynamik der technischen Entwicklung; und der Mensch stellt fest, daß ihm gar nichts anderes übrigbleibt, als von dieser Beschleunigung Gebrauch zu machen — entweder, weil er mit anderen Schritt halten will, oder, weil er auf diese Weise mehr leisten zu können glaubt. Das gilt besonders für die Elite, für die anscheinend keine vermehrte Freizeit in Aussicht steht. Je mehr die Geschwindigkeit wächst, desto mehr schrumpft die Zeit zusammen — und desto mehr verstärkt sich der Druck auf die Elite.

Am Ende dieses Jahrhunderts werden die Bürger der entwickelten Länder überwiegend in Städten leben; ihre Umwelt wird fast völlig von Menschenhand gemacht sein. Die Begegnung mit der Natur könnte für sie das gleiche sein, was für unsere Vorväter die Begegnung mit den Elementen war: eine Konfrontation mit dem Unbekannten, das man nicht notwendig lieben muß. Unsere Nachkommen werden sich eines persönlichen Lebensstandards erfreuen, der (in einigen Ländern) an die 10 000 Dollar pro Kopf erreichen mag; sie werden künstliche Nahrung essen, mit großer Geschwindigkeit von einem Ende des Landes zum anderen zur Arbeit fahren, in ständigem visuB ellem Kontakt mit Arbeitgeber, Regierung oder Familie stehen und im Kalender nachsehen, ob an einem bestimmten Tag Regen oder Sonnenschein vorgesehen ist. Kurz, sie werden fast gänzlich von dem geprägt sein, was sie selbst schaffen und kontrollieren.

Aber von diesen weitreichenden Veränderungen ganz abgesehen, kann man feststellen, daß schon die heutige Gesellschaft ihrer industriellen Vorgängerin immer unähnlicher wird In der industriellen Gesellschaft wurde technisches Wissen primär zu einem Zweck angewandt: Beschleunigung und Verbesserung der Produktionsmethoden. Soziale Folgen waren ein Nebenprodukt, das man später bemerkte. In der technetronischen Gesellschaft steigert wissenschaftliches und technisches Wissen nicht nur die produktiven Fähigkeiten, sondern beeinflußt schnell und direkt fast alle Aspekte des Lebens.

Besonders deutlich zeigt sich das an der Wirkung der Kommunikationsmittel und Computer. Die modernen Kommunikationsmittel schaffen eine außerordentlich eng verflochtene Gesellschaft. Fast alle ihre Mitglieder sind in ständigem visuellem und akustischem Kontakt miteinander, sie haben zur gleichen Zeit die gleichen intensiven sozialen Erlebnisse, ihre persönliche Beteiligung ist viel größer, und ihr Bewußtsein wird auf eine sporadische Weise geformt, die (wie McLuhan gezeigt hat) grundsätzlich verschieden ist von der Informationsübermittlung durch das gedruckte Wort, die charakteristisch für das industrielle Zeitalter war. Mit der Fähigkeit, jederzeit komplizierteste Wechselwirkungen zu berechnen, und der Verfügbarkeit biochemischer Mittel zur Beeinflussung von Menschen wächst der Spielraum bewußter Lenkung und damit auch der Zwang zu lenken, zu wählen und zu verändern.

Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die sich von der industriellen Gesellschaft in einer Vielzahl ökonomischer, politischer und sozialer Aspekte unterscheidet. Einige dieser Kontraste sollen hier kurz vorgeführt werden: 1. In der industriellen Gesellschaft verlagert sich die herrschende Produktionsweise von der Landwirtschaft zur Industrie; der Gebrauch von Muskeln und Tieren wird durch Maschinenbedienung ersetzt. In der technetronischen Gesellschaft wird die Beschäftigtenzahl in der Industrie von der in den Dienstleistungsbetrieben überflügelt; Automation und Kybernetik treten an die Stelle individueller Bedienung von Maschinen.

2. Probleme der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit — ganz abgesehen vom Frühstadium der städtischen Sozialisierung der neu vom Lande kommenden Arbeitskräfte — bestimmen das Verhältnis zwischen Arbeitgebern, Arbeitern und Markt in der industriellen Gesellschaft; den neuen industriellen Massen ein Minimum an Fürsorge zu sichern, ist eine der schwierigsten Aufgaben. In der entstehenden neuen Gesellschaft wird das Verhältnis beherrscht von Fragen der Sicherheit, der Ferien, der Freizeit, der Gewinnbeteiligung und des Veraltens von Fachkenntnissen; das psychische Wohlbefinden von Millionen relativ sichergestellter, aber potentiell zielloser Arbeiter aus der unteren Mittelschicht wird zu einem immer ernsteren Problem. 3. In der Industriegesellschaft ist es ein Hauptziel der Sozialreformer, die traditionellen Bildungsschranken niederzureißen und damit die grundlegende Voraussetzung für sozialen Aufstieg zu schaffen. Der Unterricht, für den nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, dient zunächst der Überwindung des Analphabetentums, später der fachlichen Ausbildung; er ist weitgehend schriftlich orientiert. In der technetronischen Gesellschaft ist das Bildungswesen universell geworden, und höhere Bildung steht fast jedem offen, der über ein Grundmaß an Begabung verfügt. Gegenüber der Massenausbildung liegt jetzt der Akzent viel mehr auf der Qualitätsauslese. Das Hauptproblem besteht darin, die wirksamsten Methoden für die rationelle Ausnutzung der in der Gesellschaft vorhandenen Begabungen zu finden. Die neuesten Kommunikations-und Rechentechniken werden zu diesem Zweck angewandt. Der Bildungsprozeß umfaßt längere Zeiträume und bedient sich in viel höherem Maße visueller und akustischer Mittel; die Flut neuer Erkenntnisse macht häufigere Auffrischungsstudien nötig. 4. In der industriellen Gesellschaft geht die soziale Führung von der traditionellen ländlich-aristokratischen an eine städtische „plutokratische" Elite über. Neuerworbener Reichtum ist ihr Fundament. Eine intensive Konkurrenz bietet ihrer Energie ein Betätigungsfeld und spornt sie zugleich immer wieder an. In der nachindustriellen technetronischen Gesellschaft wird die Vorherrschaft der Plutokratie dauernd von der politischen Führung in Frage gestellt; in diese wiederum dringen mehr und mehr Einzelpersonen ein, die besondere Fähigkeiten und intellektuelle Talente besitzen. Wissen wird ein Werkzeug der Macht und die wirksame Mobilisierung von Talent ein wichtiger Weg zum Machterwerb. 5. Die Universität ist in der industriellen Gesellschaft — sehr zum Unterschied vom Mittelalter — ein abgelegener Elfenbeinturm, ein Speicherplatz irrelevanter, wenn auch geachteter Weisheit und nur für kurze Zeit eine Bildungsstation lür angehende Mitglieder der etablierten sozialen Elite. In der technetronisehen Gesellschaft wird die Universität eine intensiv beteiligte „Denkfabrik", eine Quelle ständiger politischer Planung und sozialer Innovation. 6. Die Verwirrung, die mit dem Übergang von der starr traditionellen ländlichen zur städtischen Existenz einhergeht, erzeugt eine Tendenz, totale Antworten auf soziale Fragen zu suchen; daher wuchern in der industriellen Gesellschaft die Ideologien In der technetronischen Gesellschaft wächst die Fähigkeit, soziale Konflikte auf quantifizierbare und meßbare Dimensionen zurückzuführen; damit verstärkt sich die Tendenz, soziale Fragen mehr auf pragmatische, problemlösende Weise anzufassen. 7. Die Aktivierung bisher passiver Massen führt in der Industriegesellschaft zu scharfen politischen Konflikten über Fragen wie die des allgemeinen Wahlrechts. Enscheidend ist das Problem der politischen Teilnahme. Im technetronischen Zeitalter geht es mehr und mehr darum, wirkliche Teilnahme an Entscheidungen sicherzustellen, die für den Durchschnitts-bürger zu kompliziert, zu fernliegend erscheinen. Politische Entfremdung wird zum Problem. Ähnlich tritt die Frage der politischen Gleichheit der Geschlechter zurück gegenüber dem Kampf um die sexuelle Gleichheit der Frau. In der industriellen Gesellschaft hört die maschinenbedienende Frau auf, dem Mann körperlich unterlegen zu sein — eine Tatsache, die im Landleben eine gewisse Rolle spielte —, und sie beginnt, ihre politischen Rechte zu fordern. In der entstehenden neuen Gesellschaft benachteiligt die Automation Mann und Frau gleichermaßen; intellektuelles Talent ist berechenbar; die Pille fördert sexuelle Gleichheit. 8. In der industriellen Gesellschaft werden die erstmals wahlberechtigt gewordenen Massen durch Gewerkschaften und politische Parteien koordiniert und durch relativ einfache und etwas ideologische Programme integriert. Auch Appelle an nationalistische Gefühle beeinflussen die politische Haltung. Vermittelt werden diese Programme und Appelle durch die gewaltig an Verbreitung gewinnenden Zeitungen, die sich natürlich der jeweiligen Muttersprache bedienen. In der technetronischen Gesellschaft scheint die Tendenz dahin zu ge-hen, daß attraktive, magnetische Persönlichkeiten, die die neuesten Kommunikationstechniken wirksam zur Manipulierung der Gefühle und zur Steuerung des Denkens ausnutzen, sich die individuelle Anhängerschaft von Millionen unkoordinierten Bürgern sichern. Das Fernsehen ersetzt Sprache weitgehend durch Bilder, die keine nationalen Grenzen kennen; seine Berichterstattung umfaßt auch Themen wie Hungersnot in Indien oder Kriegsszenen. Das bewirkt beim Zuschauer eine etwas kosmopolitischere, wenn auch stark impressionistische Beteiligung am Weltgeschehen. 9. ökonomische Macht tendiert in der industriellen Gesellschaft zur Personalisierung; sie verkörpert sich in großen Unternehmern wie Henry Ford oder in bürokratischen Industria-lisierern wie Kaganowitsch in Rußland und Mine in Polen. Im nächsten Stadium dagegen zeigt sich eine Tendenz zur Depersonalisie-rung, gefördert durch die hochgradige Interdependenz von staatlichen Einrichtungen (einschließlich des Militärs), wissenschaftlichen Institutionen und industriellen Organisationen. ökonomische Macht verquickt sich unauflöslich mit politischer Macht; im gleichen Maße verschwindet sie aus dem Blickfeld, und beim einzelnen wächst das Gefühl der Entbehrlichkeit. 10. Entspannung und Vergnügung in der industriellen Gesellschaft lassen — in ihren derberen Formen — das ländliche Trinkgelage fortleben, an dem gute Freunde und Familien-mitglieder teilnahmen. Kneipen und Vereine suchen eine intime Atmosphäre zu schaffen. In der technetronischen Gesellschaft erzeugen zwar die Kommunikationsmittel, besonders das Fernsehen, eine beispiellose Unmittelbarkeit des sozialen Erlebens; dennoch ist das soziale Leben so atomisiert, daß Gruppenintimität durch künstliche Anregung äußerlich geselligen Gruppenverhaltens nicht zu erzielen ist. Das neue Interesse an Drogen sucht Intimität auf dem Wege der Introspektion — angeblich durch Ausweitung des Bewußtseins •— zu schaffen.

Diesö und viele andere Veränderungen — darunter auch solche, die die Persönlichkeit und Qualität des Menschen selbst viel unmittelbarer berühren — werden schließlich dazu führen, daß die technetronische Gesellschaft von der industriellen ebenso verschieden ist wie die industrielle von der agrarischen.

Der amerikanische Übergang

Amerika befindet sich heute mitten im Über-gang. Die amerikanische Gesellschaft verläßt die Phase der Spontaneität und betritt eine Phase größerer Bewußtheit; sie hört auf, eine Industriegesellschaft zu sein, sie wird zur ersten technetronischen Gesellschaft. Das ist zumindest teilweise die Ursache vieler heutiger Spannungen und Gewaltsamkeiten.

Die Spontaneität förderte einen fast automatischen Optimismus im Hinblick auf die Zukunft, auf das „amerikanische Wunder", auf Gerechtigkeit und Glück für alle. Dieser Mythos verstellte den Blick auf verschiedene Aspekte des amerikanischen Lebens, die nicht in das optimistische Bild paßten, besonders die Behandlung der Neger und der Fortbestand von Enklaven der Armut. Die Spontaneität war verbunden mit dem Glauben an die inhärente Güte der amerikanischen sozio-ökonomischen Dynamik: in dem Maße, wie Amerika sich entwickelte, wuchs und reicher wurde, würden sich auch verbliebene oder neu auftauchende Probleme von selber lösen.

Diese Phase endet jetzt. Heute ist die amerikanische Gesellschaft in Unruhe und zum Teil in Aufruhr. Die sozialen Scheuklappen werden weggerissen; es verbreitet sich ein Gefühl der Ungenügens. Durch die Ausbreitung der Volksbildung, besonders dadurch, daß etwa 40 Prozent der Jugendlichen Zugang zu College und Universität haben, ist eine neue Schicht entstanden, die die früher isolierte Gruppe der städtischen Intellektuellen verstärkt. Sie duldet keine sozialen Scheuklappen und teilt nicht den selbstzufriedenen Glauben an die spontane Güte des amerikanischen sozialen Wandels.

Doch es ist leichter, zu wissen, was falsch ist, als zu sagen, was geschehen soll. Wie schwer das ist, zeigt nicht nur die Unfähigkeit der neuen Sozialrebellen, ein konretes und sinnvolles Programm aufzustellen. Die Schwierigkeit wird dadurch vergrößert, daß Amerikas Problem so neu ist. Der Rückgriff auf Ideologien des 19. Jahrhunderts ist keine Antwort. Es ist symptomatisch, daß es der „Neuen Linken" äußerst schwerfällt, die vorhandenen — namentlich marxistischen — Doktrinen auf die neue Wirklichkeit anzuwenden. Wenn sie, empfänglich für tiefempfundene psychologische Bedürfnisse, die Bedeutung der Menschenrechte, die Übel der Entpersönlichung, die Gefahren der Staatsallmacht betont, dann zeigt ihr Denken starke Parallelen mit konservativeren Auffassungen über den Platz und die Unverletzlichkeit des Individuums in der Gesellschaft.

In gewisser Hinsicht besteht eine Ähnlichkeit zwischen unserer „Neuen Linken" und verschiedenen unzufriedenen Gruppen im Europa des frühen 19. Jahrhunderts, die auf die ersten Erscheinungsformen des industriellen Zeitalters reagierten. Sie verstanden nicht ganz seine Bedeutung, waren nicht sicher, wohin es führen würde, hatten aber ein Gefühl für die Nöte und die Möglichkeiten, die es brachte, und mühten sich verzweifelt, ältere Doktrinen aus dem 18. Jahrhundert der neuen Wirklichkeit anzupassen. Marx erreichte schließlich, was vielen Millionen als sinnvolle Synthese erschien: er verband utopischen Idealismus über die Zukunft des industriellen Zeitalters mit ätzender Kritik seiner Gegenwart. Die Suche nach einem Sinn ist charakteristisch für das heutige Amerika. Sie könnte ein Vorzeichen sein für äußerst scharfe ideologische Konflikte, zumal sich die Unzufriedenheit der Intellektuellen mit der wachsenden Verbitterung der benachteiligten Negermassen verbindet. Im extremen Fall könnte den Vereinigten Staaten eine Phase gewaltsamer, destruktiver innerer Kämpfe bevorstehen, wobei ideologische und rassische Intoleranz Hand in Hand gingen.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß eine einigende Ideologie der politischen Aktion, die eine Massenanhängerschaft mobilisieren kann, in Erscheinung tritt — so, wie der Marxismus als Reaktion auf die industrielle Ara entstand. Während in Westeuropa und Japan — von Sowjetrußland ganz zu schweigen — noch die Konsequenzen und Auswirkungen des industriellen Prozesses das politische, soziale und wirtschaftliche Leben umgestalten, haben in Amerika Wissenschaft und Technik (besonders in ihrer sozialen Anwendung als Kommunikationsmittel und Computer, beides Abkömmlinge des industriellen Zeitalters) bereits den größeren Einfluß auf das soziale Verhalten in einer Gesellschaft, die ihre industrielle Phase hinter sich hat. Wissenschaft und Technik haben eine notorische Abneigung gegen einfache, absolute Rezepte. In der technetronischen Gesellschaft mag Raum für pragmatischen, auch ungeduldigen Idealismus sein, kaum für doktrinären Utopismus.

Zugleich ist schon jetzt offenkundig, daß die Lösung einiger Probleme, die die industrielle Ära hinterlassen hat, immer dringlicher wird. Zum Beispiel hätte der Neger während der amerikanischen industriellen Revolution in die Gesellschaft der Vereinigten Staaten integriert werden müssen. Aber diese Revolution kam, ehe Amerika — wenn auch nicht der Neger — zur vollen Integration bereit war. Wäre der Neger nur ein ökonomisches Erbe des vorindustriellen Zeitalters gewesen, so hätte er vielleicht wirksamer integriert werden können. Heute haben die entwickelten städtisch-industriellen Gebiete Amerikas große Schwierigkeiten, den Neger, der sowohl eine rassische Minderheit als auch Amerikas einziges „feudales Erbe" darstellt, zu integrieren, gerade weil sie sich im Übergang zu einer neuen, komplexeren Phase befinden, die noch stärker entwickelte soziale Fähigkeiten erfordert. Paradoxerweise könnte man den Standpunkt vertreten, daß der amerikanische Süden heute auf lange Sicht bessere Chancen hat, den Neger voll zu integrieren: das amerikanische Bewußtsein verändert sich, der Neger rührt sich und der Süden betritt den Weg in das industrielle Zeitalter. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß er den Neger dabei mitnehmen wird.

Was immer der Ausgang sein mag, praktische Antworten auf die folgenden großen Fragen unserer Zeit werden jedenfalls zuerst in der amerikanischen Gesellschaft gesucht werden müssen: Können Individuum und Wissenschaft koexistieren oder wird der dynamische Schwung der Wissenschaft das Individuum grundlegend verändern? Kann der Mensch im wissenschaftlichen Zeitalter an geistiger Tiefe und philosophischer Sinngebung gewinnen und so auch an persönlicher Freiheit? Können die Institutionen der politischen Demokratie ohne Verfälschung ihres demokratischen Charakters den neuen Verhältnissen schnell genug angepaßt werden, um den Krisen zu begegnen? Die Herausforderung birgt zwei Gefahren in sich: die der Zersplitterung und die der übermäßigen Kontrolle. Ein paar Beispiele: Symptome der Entfremdung und der Entpersönlichung sind schon heute in der amerikanischen Gesellschaft leicht zu finden. Viele Amerikaner fühlen sich „weniger frei"; dieses Gefühl scheint damit zusammenzuhängen, daß sie kein „Ziel" mehr sehen; Freiheit impliziert die Wahl, so oder so zu handeln, und Handeln erfordert Zielbewußtheit. Wenn der gegenwärtige Übergang Amerikas ins technetronische Zeitalter keine persönliche Befriedigung zu bieten vermag, dann könnte das nächste Stadium ein verdrossenes Sich-Zurückziehen von der sozialen und politischen Teilnahme sein — eine Flucht vor sozialer und politischer Verantwortung in die „innere Emigration". Politische Frustration könnte es den Menschen erschweren, rasche Umweltveränderungen zu verarbeiten und zu internalisieren; das widerum würde die psychische Anfälligkeit vergrößern.

Gleichzeitig werden die Möglichkeiten, soziale und politische Kontrolle über den einzelnen zu gewinnen, ins Ungeheure wachsen. Wie schon bemerkt, wird man bald imstande sein, jeden Bürger fast ununterbrochen zu überwachen und lückenlose, stets auf den neuesten Stand gebrachte Akten über ihn zu führen, die neben den herkömmlichen Angaben auch höchst persönliche Informationen über seine Gesundheit oder sein Privatleben enthalten. Diese Akten werden den Behörden auf Verlangen blitzschnell zur Verfügung stehen.

Bei dem rapiden Tempo des Wandels wird von besonderer Bedeutung die Fähigkeit sein, Ereignisse vorauszusehen und für sie zu planen. Die Macht wird mehr und mehr in die Hände derjenigen übergehen, die über die Informationen verfügen und in der Lage sind, sie schnellstens miteinander in Beziehung zu bringen. Unsere bestehenden Institutionen für Nach-Krisen-Management werden wahrscheinlich zunehmend ersetzt werden durch Institutionen für Vor-Krisen-Management, deren Aufgabe es sein wird, sich anbahnende soziale Krisen im voraus zu erkennen und Programme zu ihrer Bewältigung zu entwickeln. Das könnte in den nächsten Jahrzehnten Tendenzen in Richtung auf eine technokratische Diktatur fördern, die immer weniger Raum für die uns jetzt geläufigen politischen Prozeduren ließe.

Blickt man schließlich bis zum Ende dieses Jahrhunderts voraus, so erheben sich äußerst schwierige Fragen im Zusammenhang mit den Möglichkeiten biochemischer Gedankenkontrolle, genetischer Experimente mit dem Menschen und der Erschaffung von Wesen, die wie Menschen funktionieren und auch wie Menschen denken können. Nach welchen Kriterien können solche Lenkungsmittel angewandt werden? Wie soll die Machtverteilung zwischen Individuum und Gesellschaft im Hinblick auf Mittel sein, die den Menschen völlig verändern können? Welches soll der soziale und politische Status künstlicher Wesen sein, wenn sie in ihrem Verhalten und ihren schöpferischen Fähigkeiten dem Menschen zu ähneln beginnen? (Man wagt nicht zu fragen, was geschehen soll, wenn sie anfangen, den Menschen zu „überholen" — für das nächste Jahrhundert liegt das nicht außerhalb des Bereichs des Möglichen!)

Es wäre indessen ganz verkehrt, ein einseitiges Bild zu zeichnen, ein neues Stück Orwell-sche science fsction zu liefern. Viele der Wandlungsprozesse, welche die amerikanische Gesellschaft durchmacht, verheißen Gutes für die Zukunft und gestatten eine einigermaßen optimistische Auffassung von der Fähigkeit dieser Gesellschaft, sich den Erfordernissen der neuen Entwicklungsstufe anzupassen.

So müssen in der politischen Sphäre verstärkter Informationsfluß und wirksamere Koordinierungstechniken nicht notwendig eine Machtkonzentration in ominösen Kontrollbehörden an der Regierungsspitze zur Folge haben. Paradoxerweise ermöglichen diese Entwicklungen auch eine stärkere Verlagerung von Macht und Verantwortung auf die unteren Ebenen der Verwaltung und der Gesellschaft. Mit der Teilung der Macht ergaben sich traditionell Probleme der Ineffizienz, der mangelnden Koordination und der Auflösung der Autorität. Heute jedoch schaffen die neuen Kommunikationsmittel und Computertechniken die Möglichkeit, verstärkte Autorität auf der unteren Ebene mit fast augenblicklicher Koordination auf nationaler Ebene zu verbinden. Sehr wahrscheinlich wird die Stellung der Unionsstaaten und der lokalen Behörden im Laufe der nächsten zehn Jahre stärker werden; sie werden viele Aufgaben übernehmen, für die gegenwärtig die amerikanische Bundesregierung zuständig ist

Die Verlagerung der finanziellen Verantwortung auf die unteren Stufen könnte dazu führen, daß die dann wichtiger gewordene Lokal-politik mehr Talente anzieht und überhaupt mehr Interesse findet. Nationale Koordination und lokale Teilnahme ließen sich auf diese Weise durch die neuen Koordinationssysteme miteinander verbinden. Von einigen großen Firmen sind schon erfolgreiche Versuche in dieser Richtung unternommen worden. Diese Entwicklung hätte auch den wünschenswerten Effekt, die Anziehungskraft neu entstehender Integrationsideologien zu schmälern; denn Ideologien gedeihen nur so lange, wie ein akutes Bedürfnis nach abstrakten Antworten auf große und fernliegende Probleme besteht. Ein hoffnungsvolles Zeichen ist auch darin zu erblicken, daß die Kreise, die Kenneth Boulding als „Educational and Scientific Establishment"

(EASE) bezeichnet, zunehmend Anteil an den nationalen Angelegenheiten nehmen; sie beeinflussen damit das Verhalten der Regierung günstig und machen sie empfänglicher für soziale Bedürfnisse. Einst, im Mittelalter, war die Universität eine wichtige soziale Institution. Die politischen Führer holten sich dort ihre schriftkundigen Ratgeber und Vertrauten — eine knappe Kategorie in jenen Tagen. Später löste sich die akademische Gemeinschaft von der Realität. In jüngster Zeit kehrt sie mit großen Schritten in die Welt des Handelns zurück.

Heute ist die Universität das schöpferische Zentrum des gewaltigen Kommunikationsnetzes; von ihr geht ein Großteil der strategischen Planung für die innere und die internationale Politik aus. Durch ihre Teilnahme am Weltgeschehen fördert sie die Heraufkunft eines neuen Typs von intellektuellen Politikern, die Wert darauf legen, sich bei der Aufstellung ihrer politischen Programme auf die beste fachmännische, wissenschaftliche und akademische Beratung zu stützen. In der Öffentlichkeit steigt dadurch die Hochachtung vor dem Expertentum — und das wiederum veranlaßt die Politiker, einander in der Heranziehung von Experten Konkurrenz zu machen.

In der intellektuellen Gemeinschaft selbst vollzieht sich dabei auch ein tiefgehender Wandel. Der zumeist humanistisch orientierte, manchmal auch ideologisch denkende intellektuelle Nonkonformist, der seine Hauptaufgabe in der Gesellschaftskritik sah, weicht mehr und mehr dem Experten und Spezialisten, der sich an speziellen staatlichen Unternehmungen beteiligt, oder dem Generalisten und Integrator, der praktisch zum Hausideologen der Machthaber wird und für ganz verschiedenartige Handlungen die umfassende intellektuelle Integration liefert. Eine Gemeinschaft von organisationsorientierten, auf Anwendung bedachten Intellektuellen, die engere Beziehungen zum politischen System unterhält als ihre Vorgänger, kann dem politischen System Anregungen vermitteln, die weiter ausgreifen als die vom System selbst produzierten, und vielleicht relevanter sind als jene, die von außen-stehenden Kritikern artikuliert werden

Die Expansion des Wissens und der Eintritt der intellektuellen Gemeinschaft in das gesell-schaftlich-politische Leben haben den weiteren Effekt, die Ausbildung zu einem fast ununterbrochenen Prozeß zu machen. Um 1980 werden nicht nur annähernd zwei Drittel der amerikanischen Stadtbewohner College-Bildung besitzen; so gut wie sicher wird auch eine systematische „Elite-Weiterbildung" zum politischen System gehören. Es wird normal sein, daß jeder hohe Beamte sich nahezu ständig neue Kenntnisse und Methoden aneignet und außerdem periodisch Weiterbildung betreibt. Die Einführung der obligatorischen Elementar-schulbildung war ein revolutionärer Akt des Industriezeitalters. Ebenso wird es notwendig sein, daß jeder, der einen hinreichend verantwortlichen Posten bekleidet, etwa alle zehn Jahre einen zweijährigen Weiterbildungskurs absolviert. (Vielleicht wird sogar eine Vorschrift in die Verfassung ausgenommen, die verlangt, daß der gewählte Präsident vor seinem Amtsantritt mindestens ein Jahr darauf verwendet, seine Bildung auf den neuesten Stand zu bringen.) Anders wird es nicht möglich sein, mit der Wissensvermehrung Schritt zu halten und die neuen Kenntnisse aufzunehmen. Angesichts verschiedener Bedürfnisse ist damit zu rechnen, daß das Bildungssystem einen fundamentalen Strukturwandel durchmachen wird. Fernseh-Computer-Kombinationen für die Wohnung werden eine extensive, ständige Erwachsenenweiterbildung ermöglichen. Auf höherem Niveau werden wahrscheinlich Regierungsstellen und Firmen ihre eigenen, auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnittenen Weiterbildungssysteme entwickeln; einige haben damit schon begonnen. Je mehr die Ausbildung zu einem Kontinuum wird und sich auf praktische Anwendung orientiert, desto mehr wird sich ihr organisatorischer Rahmen im Sinne unmittelbarer Verbindung mit dem sozialen und politischen Handeln verändern.

Eine zunehmend auf Lernen eingestellte Gesellschaft wird vermutlich die erwarteten Veränderungen im sozialen und individuellen Leben elastischer aufnehmen. Mechanisierung der Arbeit und Einführung von Robotern werden die Mühsal von Millionen vermindern, die Dinge tun müssen, welche sie nicht mögen. Dank dem Wachstum des Bruttosozialprodukts (das vielleicht 10 000 Dollar pro Kopf und Jahr erreichen wird) und der verbesserten Bildung könnte sich bei denen, die weniger in die soziale Praxis’ verstrickt und weniger an wissenschaftlichen Fragen interessiert sind, ein verstärktes Interesse an den kulturellen und humanistischen Aspekten des Lebens entwikkeln. Daneben werden rein hedonistische Beschäftigungen stehen; aber auch sie werden als soziales Ventil dienen, werden Spannungen und politische Frustrationen verringern. Eine größere Kontrolle über die äußere Umwelt kann die Existenz leichter und weniger ungewiß machen.

Aber am wichtigsten für die erfolgreiche Anpassung an die neuen Bedingungen ist die richtige Auslese, Verteilung und Ausnutzung der in der Gesellschaft vorhandenen Talente. Man kann sagen, die industrielle Gesellschaft entwickelte sich durch einen Kampf ums Dasein, bei dem die Kräftigsten überlebten. Demgegenüber verlangt die technetronische Gesellschaft, wenn sie gedeihen soll, die wirksame Mobilisierung der Fähigsten. Es wird nötig sein, objektive und systematische Kriterien für die Auslese der Begabtesten zu entwickeln und optimale Möglichkeiten für ihre Ausbildung und Förderung zu schaffen. Die neue Gesellschaft wird sehr viele Talente — und dazu ein gerüttelt Maß philosophischer Weisheit — brauchen, um die erwarteten Veränderungen zu meistern und wirksam zu integrieren. Sonst könnte die Dynamik der Veränderungen einen chaotischen sozialen Wandel erzwingen.

Glücklicherweise wächst in der amerikanischen Gesellschaft das Bewußtsein, daß neben dem Grundsatz der gleichen Chancen für alle auch der Grundsatz der besonderen Chancen für die wenigen besonders Begabten gelten muß. Die Vereinigten Staaten, die niemals ein wirklich aristokratischer Staat waren (abgesehen von Einsprengseln wie dem Süden und New England), keine wirklich ideologische oder charismatische Führung kannten und allmählich aufhören, eine plutokratisch-oligarchische Gesellschaft zu sein, entwickeln sich zu einer — wie man es nennen könnte — „me-ritokratischen Gesellschaft". Der Volkswille wird nach wie vor respektiert, aber Einzelpersonen mit besonderen intellektuellen und wissenschaftlichen Fähigkeiten spielen eine immer größere Rolle in den Institutionen, die die wichtigsten Entscheidungen treffen. Bildungs-und Gesellschaftssystem machen es für diese meritokratischen Wenigen immer leichter und attraktiver, ihr spezielles Potential voll zu entfalten. Die Aufspürung und Förderung von Talenten muß noch auf die ärmsten, am meisten unterprivilegierten Schichten ausgedehnt werden — doch auch das kommt. Niemand kann sagen, ob dies genügen wird, um der kommenden Herausforderung zu begegnen; aber die zunehmend kultivierte und programmierte amerikanische Gesellschaft, geführt von einer meritokratischen Demokratie, wird jedenfalls bessere Chancen haben.

Das Trauma der Konfrontation

Für die Welt insgesamt könnte die Herauf-kunft der neuen technetronischen Gesellschaft die paradoxe Wirkung haben, auf einem Planeten, der infolge der Revolution im Kommunikationswesen ständig weiter einschrumpft, mehr getrennte Welten zu schaffen. Wahrscheinlich wird sich nicht nur die Kluft zwischen der entwickelten und der unterentwikkelten Welt verbreitern — besonders was die meßbaren wirtschaftlichen Größen betrifft —, es ist auch möglich, daß sich eine neue Kluft innerhalb der industrialisierten, städtischen Welt auftut.

Tatsache ist, daß Amerika die industrielle Phase verlassen hat und heute in eine neue historische Ara eintritt, die nicht mehr identisch ist mit der Ära, in der sich Westeuropa und Japan befinden. Die Folgen sind schwer faßbare und noch undefinierbare Veränderungen in der amerikanischen Psyche; sie bilden die psycho-kulturelle Grundlage der deutlicher sichtbaren politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Seiten des Atlantiks. Gewiß gibt es Enklaven der Neuerung und der Verzögerung auf beiden Seiten.

Schweden teilt mit den Vereinigten Staaten die Probleme der Freizeit, des psychischen Wohlbefindens, der Ziellosigkeit; Mississippi erlebt die Konfrontation mit dem Industriezeitalter auf ähnliche Weise wie manche Teile Südwesteuropas. Dennoch glaube ich, daß man verallgemeinernd sagen kann: Europa und Amerika leben nicht mehr in der gleichen historischen Ara.

Was Amerika in unserer Zeit seine einzigartige Stellung verleiht, . ist die Tatsache, daß die amerikanische Gesellschaft als erste die Zukunft erlebt. Die Konfrontation mit dem Neuen — bald auch mit vielem von dem, was ich hier skizziert habe — gehört zur täglichen amerikanischen Erfahrung. Die übrige Welt braucht nur zu beobachten, was in den Vereinigten Staaten geschieht, um zu wissen, was ihr selbst bevorsteht, im Guten wie im Schlimmen: neueste Weltraumerfolge und elektrische Zahnbürste im Badezimmer, Pop-Art und LSD, Klimaanlagen und Luftverschmutzung, Altersprobleme und Jugendkriminalität. Auf Gebieten wie dem der Musik, des Stils, der Werte, der sozialen Sitten sind die Verhältnisse nicht ganz so eindeutig; aber auch hier weist der Ausdruck „Amerikanisierung" auf die Quelle hin. Amerika ist heute die schöpferische Gesellschaft; die anderen eifern ihm bewußt oder unbewußt nach.

Besonders stark ist die wissenschaftliche Führungsstellung Amerikas in den sogenannten „Neuland" -Industrien, die mit den fortgeschrittensten Wissenschaftszweigen verbunden sind. Man hat geschätzt, daß ungefähr 80 Prozent aller wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten gemacht worden sind. Etwa 75 Prozent aller existierenden Computer arbeiten in den Vereinigten Staaten. Noch größer ist der amerikanische Vorsprung in der Laser-Technik. Es ließen sich zahllose weitere Beispiele für die wissenschaftliche Führungsrolle Amerikas anführen.

Die Annahme ist begründet, daß es bei dieser Vorrangstellung bleiben wird. Amerika hat viermal soviel Wissenschaftler und in der Forschung Beschäftigte wie die Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammengenommen und dreieinhalbmal soviel wie die Sowjetunion. Die Abwanderung von wissenschaftlichen Kräften ist ein fast völlig einseitiger Vorgang. Die Vereinigten Staaten geben auch mehr für Forschung aus: siebenmal soviel wie die EWG-Länder, dreieinhalbmal soviel wie die Sowjetunion. Da die wissenschaftliche Entwicklung ein dynamischer Prozeß ist, kann man annehmen, daß der Abstand noch größer werden wird

In der sozialen Sphäre zeigt sich das Neue in Amerika am eindeutigsten daran, wie die neue meritokratische Elite die Führung des amerikanischen Lebens übernimmt, die Universitäten ausnutzt, Gebrauch von den neuesten Kommunikationstechniken macht und die jüngsten technischen Erfindungen so schnell wie möglich in ihren Dienst stellt. Die Technetronik beherrscht das Leben Amerikas, aber bisher noch nicht das einer anderen Nation. Soziale, politische und mithin auch psychologische Konsequenzen können nicht ausbleiben;

in der entwickelten Welt entsteht eine psychokulturelle Kluft.

Gleichzeitig werden die rückständigen Gebiete der Erde im Verhältnis zur entwickelten Welt immer ärmer. Grob geschätzt ist das Pro-Kopf-Einkommen der unterentwickelten Welt etwa zehnmal so niedrig wie das Amerikas und Europas zusammengenommen (und fünfundzwanzigmal so niedrig wie das Amerikas allein). Am Ende des Jahrhunderts dürfte das Verhältnis etwa 15 : 1 (im Falle der Vereinigten Staaten 30 : 1) sein. Die zurückgeblie-benen Ländern werden bestenfalls den jetzigen Stand der sehr armen europäischen Länder erreichen, viele jedoch (zum Beispiel Indien) nicht einmal dieses bescheidene Niveau.

Die sozialen Eliten dieser Gebiete werden aber natürlicherweise, soweit es ihre Mittel erlauben, den Lebensstil der fortgeschrittensten Länder übernehmen, mit denen sie durch Fernsehen, Film, Reisen, Ausbildung und internationale Zeitschriften in engem Kontakt stehen. Die internationale Kluft wird ein Gegenstück im Inland erhalten; denn da selbst in den rückständigsten Gebieten Transistor-Radios vorhanden sind (und bald Fernsehgeräte vorhanden sein werden), kommt den Massen immer schärfer zu Bewußtsein, was sie alles entbehren müssen.

Es ist schwer vorstellbar, wie sich unter solchen Umständen demokratische Institutionen in einem Land wie Indien . halten oder in anderen Ländern entwickeln sollen. (Diese Institutionen sind größtenteils aus dem Westen übernommen; typisch sind sie aber nur für die stabileren und wohlhabenderen westlichen Länder.) Wahrscheinlicher ist für die voraussehbare Zukunft eine Wendung zur persönlichen Diktatur, verbunden mit einer integrierenden Doktrin: Man kann nur hoffen, daß diese Kombination für jenes Mindestmaß an Stabilität sorgt, das zur sozial-ökonomischen Entwicklung erforderlich ist. Dabei ergibt sich jedoch ein Problem: In der Vergangenheit flossen Ideologien des Wandels von der entwickelten zur weniger entwickelten Welt und regten zur Nachahmung der entwik-kelten Welt an (so war es beim Kommunismus); heute hingegen sind die Unterschiede zwischen den beiden Welten so ausgeprägt, daß man sich schwer eine neue ideologische Welle vorstellen kann, die ihren Ursprung in der entwickelten Welt hätte, wo die Tradition des utopischen Denkens allgemein im Niedergang begriffen ist.

Da die immer breiter werdende Kluft jedes Nacheifern von vornherein hoffnungslos macht, wird sich wahrscheinlich eine Ideologie der Ablehnung der entwickelten Welt herausbilden. Rassenhaß könnte die nötige emotionale Kraft liefern, die sich von xenophobischen und romantischen Führern ausnutzen ließe. Ein gutes Beispiel sind die rassistischen, Gewalt predigenden Schriften von Frantz Fanon. Solche Ideologien der Ablehnung, die Rassismus und Nationalismus miteinander verbinden, würden die Chancen einer sinnvollen regionalen Zusammenarbeit, die für die nutzbringende Anwendung von Wissenschaft und Technik so wichtig wäre, weiter vermindern. Gewiß würden sie die bestehenden psychologischen und emotionalen Gräben verbreitern. Hier kann man nun die Frage stellen:

Wer ist der getreuere Träger jener undefinierbaren Eigenschaft, die wir menschlich nennen? Der technisch dominierende, von Technik geprägte Technetron, der geschult wird, sich auf mehr und mehr Freizeit einzustellen, oder der „natürlichere", rückständige Agrarier, den wachsende rassische Leidenschaften beherrschen und der ständig ermahnt wird, härter zu arbeiten, wobei aber das Ziel eines guten Lebens immer weiter in die Ferne schwindet?

Das Ergebnis könnte eine moderne, weltumfassende Version des alten Gegensatzes von Stadt und Land sein. Die Spannungen, die in der Vergangenheit beim Übergang von einer überwiegend agrarischen Wirtschaft zu einer mehr städtischen entstanden, trugen viel bei zu den Ausbrüchen von revolutionärer Gewalt Auf den Weltmaßstab übertragen, könnte diese Zweiteilung die kühne These von Lin Piao rechtfertigen:

„Wenn bei Betrachtung des ganzen Erdballs Nordamerika und Westeuropa , die Städte der Welt'genannt werden können, dann bilden Asien, Afrika und Lateinamerika , die Land-gebiete der Weit'. ... In gewissem Sinne bietet die gegenwärtige Weltrevolution auch das Bild einer Einkreisung der Städte durch die ländlichen Gebiete."

Wenn man solch eine dichotomische Konfrontation auch nicht ins Auge faßt, so kann man doch sagen, daß die unterentwickelten Gebiete ständig schwieriger werdenden Problemen der politischen Stabilität und des sozialen über-lebens gegenüberstehen werden. Um es komprimiert auszudrücken: Bedroht ist in der entwickelten Welt die Natur des Menschen als Menschen, in der unterentwickelten Welt die Gesellschaft. Beides im Verein kann zum Chaos führen.

Sicher werden die fortgeschrittensten Staaten immer tödlichere Vernichtungswaffen besitzen, mit denen sich vielleicht sogar die Konsequenzen der — anscheinend unvermeidlichen — Streuung von Atomwaffen anhalten lassen. Chemische und biologische Waffen, Todes-strahlen, Neutronenbomben, Nervengase und viele andere Kampfmittel, die in ihrer ganzen raffinierten Vielfalt wahrscheinlich nur den beiden Superstaaten zur Verfügung stehen werden, können der Welt ein gewisses Maß an Stabilität aufzwingen. Gleichwohl erscheint es angesichts der Rivalität zwischen den beiden Hauptmächten sehr fraglich, ob sich ein wirklich sicheres System gegen internationale Gewaltanwendung einrichten läßt. Es mag zu einigen lokalen Kriegen zwischen schwächeren, ärmeren, nationalistisch besonders aufgepeitschten Nationen kommen — vielleicht sogar zur totalen nuklearen Auslöschung einer oder mehrerer kleiner Nationen —, ehe im Gefolge der dadurch ausgelösten weltweiten moralischen Schockwirkung eine größere internationale Kontrolle durchgesetzt werden kann. Das eigentliche Problem lautet jedoch: Wie kann man verhindern, daß die kulturelle und psycho-soziale Kluft, die mit der wachsenden Differenzierung der Welt entstanden ist, noch breiter wird? Zwar hat sich während der ganzen menschlichen Geschichte eine allmähliche Differenzierung vollzogen, aber scharfe Unterschiede zwischen den Gesellschaften begannen erst mit der industriellen Revolution zu erscheinen. Heute leben noch manche Nationen unter annähernd den gleichen Verhältnissen wie in vorschristlicher Zeit; viele leben nicht wesentlich anders als im Mittelalter. Einige wenige aber werden bald auf eine so neue Weise leben, daß es heute schwer ist, sich die sozialen und individuellen Konsequenzen vorzustellen. Wenn die entwickelte Welt einen Sprung in eine Realität macht, die sich von unserer heutigen mehr unterscheidet als die unsere von der eines indischen Dorfes — und das scheint unausweichlich —, dann wird die Kluft nicht schmaler werden und die damit verbundenen Spannungen werden nicht nachlassen.

Im Gegenteil, die Tatsache, daß die ganze Menschheit ständig in elektronischer Verbindung untereinander ist, wird die Konfrontation verschärfen und den sozialen und internationalen Frieden belasten. In der Vergangenheit waren Unterschiede „erträglich", weil man durch Zeit und Raum getrennt war. Heute, wo die Unterschiede ohnehin immer größer werden, hebt die Technetronik auch noch die trennenden Faktoren von Zeit und Entfernung auf. Das daraus resultierende Trauma könnte völlig verschiedene Lebesperspektiven schaffen und Unsicherheit, Neid und Feindseligkeit zu den vorherrschenden Empfindungen wachsender Menschenmassen machen. Eine Dreiteilung in ländlich-rückständige, städtisch-industrielle und technetronische Gesellschaften kann die Menschheit nur noch weiter spalten, die bestehenden Hindernisse für eine weltweite Verständigung vergrößern und latente oder akute Konflikte verschärfen.

Das amerikanische Entwicklungstempo verbreitert einerseits die Kluft, die die Menschheit teilt, bietet aber andererseits Ansatzpunkte für eine konstruktive Antwort. Freilich können weder militärische Macht noch materieller Reichtum, die Amerika beide im Überfluß besitzt, direkt dazu benutzt werden, der wachsenden Spaltung im Denken, in den Normen und im Charakter des Menschen zu begegnen. Macht kann bestenfalls durch Eindämmung oder Milderung des potentiellen Weltbürgerkrieges eine relativ stabile äußere Umwelt sichern; Reichtum kann sozio-ökonomische Reibungsflächen glätten und damit die Entwicklung erleichtern. Aber je mehr der Mensch — vor allem in den fortgeschrittensten Gesellschaften — fähig wird, seine Umwelt zu beherrschen, ja zu erschaffen, desto wichtiger wird es, seinem Leben einen sinnvollen Inhalt zu geben — die Qualität des Lebens für den Menschen als Menschen zu verbessern. „Der Mensch hat niemals wirklich versucht, von der Wissenschaft im Reich seines Wert-systems Gebrauch zu machen. Ethisches Denken ist schwer zu ändern, aber die Geschichte zeigt, daß es sich doch ändert. ... In begrenztem Umfang lenkt der Mensch wirklich seine sehr wichtige und viel schnellere psycho-soziale Erziehung. Die Entwicklung solcher Dinge wie Automobile, Flugzeuge, Waffen, Rechtsinstitutionen, Korporationen, Universitäten und demokratische Regierungen sind Beispiele progressiver Evolution im Laufe der Zeit. Wir haben jedoch niemals wirklich versucht, bewußt eine bessere Gesellschaft für den Menschen qua Menschen zu schaffen . . ." Die dringende Notwendigkeit, eben das zu tun, wird Amerika vielleicht zwingen, seine weltpolitische Stellung neu zu definieren. Angesichts der hier skizzierten Zukunftsperspektiven wird Amerika in den restlichen Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wahrscheinlich weniger damit beschäftigt sein, „den Kommunismus zu bekämpfen" oder „eine Welt in gesicherter Vielfalt" zu schaffen, als vielmehr damit, gemeinsam mit der übrigen Menschheit eine Antwort auf die Forderungen einer wahrhaft neuen Ära zu finden. Das will sagen, daß die Verbreitung wissenschaftlich-technischer Kenntnisse in größtem Maßstab ('ine der weltpolitischen Hauptaufgaben Amerikas werden wird.

In gewissem Grade erfüllen die Vereinigten Staaten diese Aufgabe schon jetzt — einfach indem sie vorhanden sind. Durch ihre Realität und ihre weltweiten Verflechtungen spornen sie zum Nacheifern an. Die Entstehung riesiger internationaler Firmenzusammenschlüsse, die meist von den Vereinigten Staaten ausgehen, erleichtern den Austausch von Fertigkeiten, Leitungsmethoden, Marketing-verfahren und wissenschaftlich-technischen Neuerungen. Das Auftreten dieser Firmen auf dem europäischen Markt hat den Europäern drastisch die Notwendigkeit vor Augen geführt, ihre Hilfsquellen zu integrieren und das Tempo ihrer eigenen Forschung und Entwicklung zu beschleunigen.

Ebenso haben heimkehrende Absolventen amerikanischer Universitäten eine intellektuelle und organisatorische Revolution im akademischen Leben ihrer Länder in Gang gesetzt. Wandlungen im akademischen Leben Großbritanniens, Deutschlands, Japans, neuerdings auch Frankreichs und (in noch höherem Grade) der weniger entwickelten Länder lassen sich auf den Einfluß der amerikanischen wissenschaftlichen Institutionen zurückführen. Die führende technische Hochschule der Türkei hält ihre Vorlesungen auf „Amerikanisch" und ahmt bewußt das amerikanische Vorbild nach, nicht nur in den Lehrmethoden, sondern auch im Verhältnis zwischen Studenten und Professoren. Ist es angesichts der Entwicklung der modernen Kommunikationsmittel nicht nur eine Frage der Zeit, daß Studenten der New Yorker Columbia University und, sagen wir, der Universität Teheran gleichzeitig die Vorlesung desselben Dozenten verfolgen werden? Das Auftreten einer universalen intellektuellen Elite, die gewisse Werte und Bestrebungen gemeinsam hat, wird die wachsende Differenzierung zwischen Menschen und Gesellschaften etwas ausgleichen. Aber sie wird nicht das Problem lösen, das diese Differenzierung aufwirft. In vielen zurückgebliebenen Ländern wird die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein kann, sich verstärken. Und, wie Kenneth Boulding bemerkt hat:

„Das Netz der elektronischen Kommunikationsmittel produziert unausweichlich eine Weltsuperkultur, und die Beziehungen zwischen dieser Superkultur und den traditionelleren nationalen und regionalen Kulturen der Vergangenheit bleiben das große Fragezeichen der nächsten fünfzig Jahre."

Diese „Superkultur", die stark vom amerikanischen Leben beeinflußt ist und ihre eigene universale Elektronik-und Computer-Sprache hat, wird nicht leicht eine Beziehung zu den „traditionelleren nationalen und regionalen Kulturen" finden, vor allem dann nicht, wenn sich die fundamentale Kluft weiterhin verbreitert. Um diese Kluft zu überwinden, wird Amerika, nachdem es seine weltpolitischen Aufgaben neu definiert hat, allmählich Stil und Akzentsetzung seiner Diplomatie verändern müssen.

Die Berufsdiplomatie wird der intellektuellen Führung Platz machen müssen. Wenn die Regierungen direkt miteinander verhandeln — oder jeweils schnell Unterhändler entsenden—, werden Botschafter, die residierende Diplomaten sind, nicht mehr so nötig gebraucht; um so nötiger aber Botschafter, die als schöpferische Interpreten des neuen Zeitalters auftreten können, die zu einem sinnvollen Dialog mit der intellektuellen Gemeinschaft des Gastlandes bereit sind und denen die möglichst weite Verbreitung des verfügbaren Wissens am Herzen liegt. Ihre Aufgabe wird es sein, Programme für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit anzuregen und auszuarbeiten. Internationale Zusammenarbeit wird nahezu auf jedem Lebensgebiet notwendig sein: zur Reformierung und Modernisierung des Bildungswesens, zur Erschließung neuer Ernährungsquellen, zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung, zur Ankurbelung des technischen Wachstums, zur Beeinflussung des Klimas, zur Verbreitung neuer medizinischer Kenntnisse. Da indessen die neuen Eliten ein verständliches Interesse am Bestand ihrer jungen Nationalstaaten haben und da die Xenophobie unter den Massen der Dritten Welt im Wachsen begriffen ist, wird der Nationalstaat noch lange Zeit Schwerpunkt der Loyalität sein, besonders für Völker, die ihre Selbständigkeit erst erreicht haben und wirtschaftlich unterentwickelt sind. Den Tod des Nationalstaates vorauszusagen oder so zu handeln, als wäre er schon tot, könnte eine ungünstige Reaktion derer hervorrufen, die man zu beeinflussen wünscht (wie das stellenweise in Europa geschehen ist). Man wird also den Regionalismus nur mit gebührendem Respekt vor der symbolischen Bedeutung der nationalen Souveränität fördern können. Dabei wird man vor allem diejenigen ermutigen müssen, die selbst ein Interesse daran haben, in größeren Regionen zu denken.

Noch wichtiger wird es sein, einen dringend nötigen Dialog anzuregen, einen erstmals in der Geschichte weltweit geführten Dialog über die Frage, wie es denn um dieses Menschenleben steht, das wir sichern und vorwärtsbringen wollen, und wieweit die existierenden Moralsysteme noch gültig sind für ein Zeitalter, das nicht in die engen Begriffsschranken verblassender Doktrinen paßt. Die Suche nach neuen, über die greifbaren Tatsachen der Wirtschaftsentwicklung hinausweisenden Orientierungen wäre ein angemessenes Thema für einen speziellen Weltkongreß über die technetronischen und philosophischen Probleme des kommenden Zeitalters. Auf diese Fragen kann keine noch so fortgeschrittene Gesellschaft allein eine Antwort geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die wohl nützlichste einzelne Quelle ist das im Sommer 1967 erschienene Heft der Zeitschrift Dae-dalus mit dem Thema „Toward the Year 2000: Work in Progress". Professor Daniel Bell, Vorsitzender des Ausschusses für das Jahr 2000 der American Academy (dem auch der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes angehört), berichtet in seiner Einleitung zu dem Heft kurz über die wichtigste Literatur zum Thema.

  2. Siehe Daniel Bells bahnbrechende Arbeit: Notes on the Post-Industrial Society, in The Public Interest, Nr. 6 u. 7, 1967.

  3. Daß Amerika von dieser Regel eine Ausnahme macht, ist auf das Fehlen einer feudalen Tradition zurückzuführen. Gut wird dieser Punkt herausgearbeitet bei Louis Hartz, The Liberal Tradition in America, 1955.

  4. Erwähnenswert ist, daß die amerikanische Armee ihre Kontrollsysteme so weit entwickelt hat, daß jetzt massive Luftangriffe und Artilleriefeuer nicht selten von Sergeanten ausgelöst und koordiniert werden. Im Zweiten Weltkrieg waren Oberste dafür zuständig.

  5. All das birgt jedoch eine Gefahr in sich, die nicht übersehen werden sollte. Die intensive Beschäftigung mit der Anwendung des Wissens könnte dazu führen, daß die Tradition der Wissenschaft um der Wissenschaft willen allmählich verschwindet. Die intellektuelle Gemeinschaft einschließlich der Universität könnte eine „Industrie" wie alle anderen werden; sie würde soziale Bedürfnisse nach dem Diktat des Marktes befriedigen, und die Intellektuellen würden nach möglichst hohem materiellem und politischem Entgelt streben. Die Sorge um Macht, Prestige und gutes Leben könnte das aristrokratische Ideal der geistigen Freiheit und der interesselosen Wahrheitssuche verdrängen.

  6. In der Sowjetunion hat die starre Ressorttrennung zwischen geheimer militärischer Forschung und industrieller Forschung einen sterilisierenden Effekt gehabt; dadurch ist verhindert worden, daß bei der Waffenforschung gesammelte Erkenntnisse zur industriellen Anwendung kamen.

  7. Siehe hierzu Barrington Moores Dokumentation in seiner bahnbrechenden Studie: Social Origins of Dictatorship and Democracy, 1967.

  8. Hudson Hoagland, Biology, Brains, and Insight, in: Columbia University Forum, Sommer 1967.

  9. Kenneth Boulding, Expecting the Unexpected, in: Prospective Changes in Society by 1980, 1960.

Weitere Inhalte

Zbigniew K. Brzezinski, Direktor des Research Institute on Communist Affairs und Professor für Public Law and Government der Columbia-Universität; geb. 28. März 1928 in Warschau. Veröffentlichungen u. a.: The Soviet Bloc — Unity and Conflict, Cambridge, Mass. 1960 (deutsch: Der Sowjetblock — Einheit und Konflikt, Köln 1962), Ideology and Power in Soviet Politics; Africa and theCommunist World, Cambridge, Mass. 1964; Political Power USA —USSR, New York 1964 (deutsch: Politische Macht Washington — Moskau, Köln 1966).