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Ist die Lücke technisch? | APuZ 22/1968 | bpb.de

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APuZ 22/1968 Amerika im technetronischen Zeitalter Ist die Lücke technisch?

Ist die Lücke technisch?

John Diebold

I. Forschung und Entwicklung in Europa im Vergleich zu Amerika

Seit etwa drei Jahren gibt die sogenannte „technische Lücke" zwischen Europa und den Vereinigten Staaten Staatsmännern und Wirtschaftsführern auf beiden Seiten des Atlantiks Anlaß zu wachsender Besorgnis. Premierminister Harold Wilson erklärte in warnendem Ton, Europa sei im Begriff, in eine Art „industrielles Helotentum" gegenüber den Vereinigten Staaten zu geraten. Ähnlich äußerten sich Charles de Gaulle, Ludwig Erhard und Franz-Josef Strauß. An diesem Punkt zeigt sich besonders deutlich die Ambivalenz, mit der nichtkommunistische Länder die Vereinigten Staaten betrachten. Man fürchtet die Macht der USA, man braucht sie aber auch. Man fürchtet sie zum Teil gerade deshalb, weil man sie braucht. Und man braucht sie zum Teil deshalb, um die Ursachen der Furcht zu beseitigen. Es ist an der Zeit, eine zusammenfassende Diagnose zu stellen und mit der Formulierung praktischer politischer Konzeptionen für Europa und Amerika zu beginnen.

Ist die Lücke zwischen Europa und den Vereinigten Staaten wirklich technisch oder hat sie einen ganz anderen Charakter? Ist sie wirklich so gefährlich, wie einige Freunde Amerikas in Europa zu glauben scheinen? In diesem Artikel komme ich zu dem Schluß, daß die Lücke nicht technischer Natur, sondern eine Sache des Managements ist; daß ihre Konsequenzen zwar ernst genug sind, um die Aufmerksamkeit Europas zu rechtfertigen, daß sie aber doch nur die Existenz eines relativen Vorsprungs widerspiegelt, wie er unter Industrieländern natürlich ist. Mit anderen Worten: Die Lücke zwischen Europa und den Vereinigten Staaten sollte nicht als Vorwand für Autarkiemaßnahmen dienen, und sie kann, zumindest in gewissem Grade, als ein notwendiges Element der fortdauernden internationalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsfähigkeit der Vereinigten Staaten angesehen werden.

Um uns über Natur und Ursachen der Lücke — wie immer man sie nennen mag — Klarheit zu verschaffen, wollen wir untersuchen, auf welche wirtschaftlichen, ausbildungsmäßigen, kulturellen und politischen Schwierigkeiten die Europäer bei ihren Bemühungen stoßen, wissenschaftliche und technische Erkenntnisse zu fördern und ihre Früchte zu verwerten. Aber es ist zweckmäßig, uns vorher anzusehen, welchen Platz die Vereinigten Staaten in diesem Bild einnehmen. Auf der einen Seite beobachten wir in den Vereinigten Staaten selbst, wie in einem anscheinend unwiderstehlichen Prozeß ständig neue Erfindungen gemacht und angewandt werden. Teilweise vom Staat finanziert, vollzieht sich dieser Prozeß in riesigen und noch wachsenden Firmen. Auf der anderen Seite haben wir die Übertragung dieses Phänomens nach Europa durch amerikanische Unternehmungen.

Die Vereinigten Staaten sind nicht nur die Heimat gigantischer Firmen, die es sich leisten können, kostspielige Grundlagenforschung und Entwicklung zu betreiben und die Risiken der Innovation einzugehen; sie kennen auch seit langem die Praxis, relativ kleine Betriebe eigens zum Zweck der Entwicklung und Ausnutzung der fortgeschrittenen Technik zu errichten. Diese technologisch fundierten Unternehmen findet man vor allem auf den Gebieten der Elektronik, der Akustik, der Optik, der Festkörperphysik, der Hochenergiephysik, der Meßtechnik, der Metallurgie, der Pharmazeutik und der Kunststofferzeugung. Europa hat keine solche Tradition eines industriellen Unternehmertums auf breiter Grundlage; dieser Mangel und seine etwas starre Sozialstruktur hemmen die Gründung neuer Firmen, die sich auf die jüngste Technik stützen. Es fehlt auch an Risikokapital für die Verwertung neuer Techniken. Der europäische Kapitalmarkt ist noch zuwenig darauf eingerichtet, die Anfangsfinanzierung für kleinere, auf Innovation ausgehende Unternehmen zu liefern. Ein anderes großes Hindernis besteht darin, daß die Regierungen nicht genügend interessiert sind und den aus der fortgeschrittenen Forschung hervorgehenden Produkten dieser neuen Firmen keine gesicherten Märkte bieten. In den Vereinigten Staaten dagegen ist die Regierung oft der Hauptkunde oder anfangs gar der einzige Kunde und leistet im kritischen Stadium des Firmenaufbaus Markt-unterstützung. Die Übertragung amerikanischer Aktivität nach Europa läßt sich am Umfang unserer unmittelbaren privaten Investitionen und am Umsatz amerikanischer Tochtergesellschaften in Europa messen. Beide sind in den letzten acht Jahren dreimal so schnell gewachsen wie die europäische Wirtschaft insgesamt. Zwar machen die Umsätze amerikanischer Tochter-gesellschaften bis jetzt in keinem Land mehr als 5 Prozent des Gesamtumsatzes aus, aber das immer augenfälligere Eindringen amerikanischer Waren — von der Zahnpasta bis zum Computer — gibt den Europäern Anlaß zur Beunruhigung. Berücksichtigt man ferner unsere günstige Handelsbilanz mit Europa, so begreift man leicht, daß europäische Regie-rungs-und Wirtschaftskreise empfänglich sind für Befürchtungen, in Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu geraten. Natürlich kommt noch hinzu, daß in Lizenz hergestellte amerikanische Produkte einen wichtigen Faktor auf den europäischen Verbraucher-und Industriemärkten bilden. Nach den neuesten verfügbaren Zahlen nehmen die Vereinigten Staaten an Lizenzgebühren fünfmal soviel ein wie sie ausgeben (jährlich 251 Millionen Dollar Einnahmen gegenüber 45 Millionen Dollar Ausgaben).

Anfang 1951 beliefen sich die direkten privaten amerikanischen Investitionen in Europa auf 7 Milliarden Dollar. Fünfzehn Jahre später, Ende 1965, waren es 13, 9 Milliarden — also das Achtfache. Der größte absolute Zuwachs — über 9, 7 Milliarden — erfolgte in der zweiten Hälfte dieser Periode, nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde. Bezeichnenderweise waren jedoch in diesem zweiten Zeitabschnitt die amerikanischen Neuinvestitionen in den EWG-Ländern geringer als im übrigen Europa 1). Man kann daher sagen, daß die Gründung der EWG den amerikanischen Großangriff zwar auslöste, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten des europäischen Marktes lenkte, sich seither aber amerikanische Firmengiganten in Europa innerhalb und außerhalb der EWG breitgemacht haben, anscheinend unbeeindruckt von einer politischen und wirtschaftlichen Teilung, die für die europäische Psyche fundamental ist. Die amerikanische Geschäftswelt mit ihrem internationalen Charakter und ihren gewaltigen Mitteln hat es nicht nur verstanden, mehr als die weitaus meisten europäischen Firmen von dem supranationalen Klima und Potential der EWG zu profitieren; sie hat auch mit Erfolg die fortdauernde Spaltung zwischen den Sechs und dem übrigen Europa ignoriert.

In Europa greift deshalb eine gewisse Entmutigung um sich, die nicht nur zu Feindseligkeit führt, sondern auch zum Verzicht darauf, praktische Schritte zu unternehmen, um der amerikanischen Konkurrenz zu begegnen. Nach Ansicht Peter Hiltons vom Institute for New Products Inc. besteht „bei der europäischen Industrie die Neigung, Mittel für Forschung und Entwicklung zu kürzen, mit der Begründung, man entdecke ja doch nur das noch einmal, was die Vereinigten Staaten schon entdeckt hätten".

II. Europäische Versäumnisse

Als ein wichtiges Element der Lücke gilt die unterschiedliche Stellung zu Forschung und Entwicklung. Zweifellos sind die Forschungsund Entwicklungsausgaben in den Vereinigten Staaten höher als in Europa; sie betragen in den USA etwa 23 Milliarden Dollar jährlich, in Europa 9 Milliarden. Auf den Kopf der Bevölkerung umgerechnet ist das Verhältnis gegenüber Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland 3: 1, gegenüber Belgien 8 : 1 und gegenüber Italien 25 : 1. Die Proportionen verringern sich jedoch, wenn man Bruttosozial-, produkt und Kaufkraft berücksichtigt. Außerdem fließt der weitaus überwiegende Teil der amerikanischen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in militärische und Raumfahrt-Vorhaben, die mit den Erfolgen der USA in der kommerziellen Nutzung der Technik nur indirekt zu tun haben. Wie indirekt, ist eine wichtige Frage.

Einerseits bietet die Regierung der Vereinigten Staaten einen Markt für Firmen, die auf Gebieten mit fortgeschrittener Technik arbeiten, und eine raison d'etre für das ausgebildete Personal, das zur Bedienung dieses Marktes angestellt ist. Andererseits ist die Frage berechtigt, wie wirksam die von der Regierung geförderten Forschungs-und Entwicklungsarbeiten den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft und der internationalen Wettbewerbsposition Amerikas dienen.

Schließlich gibt es klare Beweise dafür, daß Forschung und Entwicklung in Europa erstklassig sind. Wie wir sehen werden, ist es die Anwendung und (mit den Worten des Vorsitzenden einer großen amerikanischen Elektronikgesellschaft) „die technische Durchführung, die die Verantwortung für die unterschiedlichen Resultate hier und dort trägt". Ohne das Thema hier ausführlich zu erörtern, kann gesagt werden: Es ist zwar fraglich, ob die Unterschiede im Aufwand für Forschung und Entwicklung und in der Qualität dieser Arbeiten wirklich ein so wesentlicher Faktor zugunsten der Vereinigten Staaten sind, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag; aber jedenfalls tragen sie zweifellos dazu bei und bilden ein Element von einiger Bedeutung.

Es gibt jedoch andere Elemente, die wesentlicher sind. Eines davon ist die vorherrschende — wenn auch keineswegs allgemeine — Hal-tung der Europäer zum Risiko. Der Wettbewerb und die daraus folgende Notwendigkeit der Innovation werden in Europa weitgehend abgelehnt. Oft besteht die Rolle europäischer Regierungen darin, die Wirtschaft vor Innovation zu schützen; private Unternehmungen überlassen die harte Arbeit, Neuland zu beackern, nur allzu gern anderen, in der Hoffnung, an der traditionellen Art, die Dinge zu erledigen, werde sich grundlegend nichts ändern.

Diese Haltung berührt die entscheidenden Probleme des Managements: die Ausnutzung von Erfindungen zur Befriedigung von Marktbedürfnissen, die Bewertung und Erschließung von Märkten, die Produktplanung, die Produktionsplanung, einen gewissen Typ von Staatsabhängigkeit, schließlich der Umgang mit dem leitenden Personal selbst (Ausbildung, Beförderung, Anreize). Folgende Beispiele drängen sich auf: 1. Die französische Compagnie des Machines Bull verlor ein einträgliches Geschäft (und ist trotz reichlicher Kapital-und Know-how-Spritzen von General Electric noch jetzt in großen Schwierigkeiten) in erster Linie deshalb, weil sie die Konkurrenz in der Computer-Branche nicht beachtete und sowohl ihren Markt wie ihre eigenen Fähigkeiten falsch einschätzte.

Bei einem richtigen Management auf diesen Gebieten hätte Bull wahrscheinlich seine bedeutende und unabhängige Position als Computer-Hersteller halten können.

2. Die in britischem Besitz befindliche Firma ICT, die ebenfalls Computer produziert, hatte bis vor kurzen kein Management, das stark genug gewesen wäre, die verschiedenen Teile des durch Fusion entstandenen Unternehmens zu koordinieren. Am meisten litten darunter Produktplanung und Marketing.

3. Die Elektronik-Abteilung einer großen europäischen Firma hatte überhaupt keine Produktplanung und war dadurch ohne Fühlung mit dem Markt. Sie arbeitete mehrere Jahre lang mit Verlust. Es wurde empfohlen, auf höchster Leitungsebene einen Posten für Produktplanung zu schaffen. Es verging ein Jahr, bis die Firmenleitung die Notwendigkeit anerkannte, und ein weiteres Jahr, bis der Posten tatsächlich besetzt wurde.

Natürlich kommen solche Fälle von Versagen auch in amerikanischen Firmen vor. Aber die hier erwähnten Beispiele sind nicht nur typisch für die europäische Situation, sie betreffen auch einige der bedeutendsten Firmen der jeweiligen Länder. Ein weiteres Charakteristikum europäischer Unternehmungen ist fehlende Anpassung an die Erfordernisse der Innovation und ein Mangel an Bereitschaft, Aufträge kurzfristig auszufuhren.

Ein gutes Beispiel in Hinsicht auf Marketing linden wir auf dem Gebiet der durch Magnetband gesteuerten Werkzeugmaschinen. Europäische — vor allem britische — Firmen entwickelten einige ausgezeichnete Steuervorrichtungen. Da sie aber die tatsächlichen Marktbedürfnisse außer acht ließen, konzentrierten sie sich auf Geräte von sehr hoher Präzision, die dementsprechend auch sehr teuer waren. Eine große amerikanische Firma, die Steuervorrichtungen für den amerikanischen Markt entwickelte, stellte fest, daß bedeutend größere Toleranzen durchaus annehmbar waren; sie benutzte deshalb eine andere, viel weniger kostspielige Technik und produzierte ein verhältnismäßig billiges Steuersystem. Das Ergebnis: Die Firma hat nicht nur eine bedeutende Marktposition in den Vereinigten Staaten, sondern nimmt außerdem den europäischen Lieferanten den größten Teil des europäischen Marktes weg. Dieser Fall zeigt besonders eindrucksvoll, daß die Europäer eine Technik ersten Ranges besitzen, aber trotz — und in gewissem Grade vielleicht wegen — ihrer technischen Fähigkeiten es versäumen, wirkliche Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Lücke ist sicherlich nicht technischer Natur. Ein unternehmerisches Konzept, das Europa eigentümlich und in einigen seiner bedeutendsten Firmen anzutreffen ist, ist das Bestreben, unter Hinnahme von Betriebsverlusten und unrentablen Produktionszweigen so groß zu werden, daß sich die Regierung einen Zusammenbruch des Unternehmens nicht mehr leisten kann. Das führt zu einer besonderen Art Abhängigkeit vom Staat und verbreitert die Kluft zwischen der Produktion der Firma und dem Markt, den sie eigentlich bedienen sollte.

Es gibt auch eine Tradition, die Manager vor Entlassung schützt — es sei denn, sie haben ganz schwere Fehler begangen — und die von Wagnissen abschreckt, weil man nicht getadelt wird, wenn man keine neuen Wege beschreitet, wohl aber getadelt werden könnte, wenn eine Neuerung fehlschlägt. In einer solchen Atmosphäre kann kaum die Rede sein von Geschäfts-und Gewinnplanung, von konsequenter Suche nach Märkten und Anpassung an Märkte. Zu dieser Atmosphäre trägt auch bei, daß führende Wissenschaftler und Manager selten Anteile der Gesellschaften besitzen, denen sie dienen. Europa braucht nicht nur Kapitalmärkte, die wagemutige, dem Neuen aufgeschlossene Unternehmen finanzieren; nötig ist auch, daß sich an solchen Investitionen die Männer beteiligen, die sie zum Erfolg führen können. Es gibt Anzeichen dafür, daß jetzt die ersten Schritte in dieser Richtung getan werden.

Einige weitere Beispiele mögen die These stützen, daß Europas Unzulänglichkeiten nicht so sehr im Bereich der wissenschaftlich-technischen Erfindungen, der Forschung und Entwicklung zu suchen sind, als vielmehr in der Sphäre des Unternehmertums, des Manager-geschicks und des Kapitals, die erforderlich sind, um Erfindergeist in gewinnbringende Innovation umzusetzen. Viele technische Neuerungen der Luft-und Raumfahrtindustrie, darunter das Schwenkflügel-Flugzeug und das Luftkissen-Fahrzeug, wurden ursprünglich in Westeuropa entwickelt, werden aber jetzt erfolgreich in den Vereinigten Staaten angewandt. Das gleiche gilt für Lasertechnik und Kältetechnik. Die entscheidenden Erfindungen für die Kopiergeräte-Industrie, in der die Vereinigten Staaten dominieren, stammen in ihrer Mehrzahl aus Europa, besonders aus Frankreich, England und den Niederlanden. Die Fluidik, von wesentlicher Bedeutung für die Triebwerk-Kontrolle in Überschallflugzeugen, und die Holographie, mit weiten Anwendungsgebieten in der Fotografie, der Molekularbiologse, der Großraum-Datenspeicherung und der direkten Übertragung von Handschrift in

Computersprache, sind beide europäischen Ursprungs und werden jetzt in den Vereinigten Staaten praktisch genutzt.

Einblick in Natur und Ursachen der Lücke zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gewinnt man auch, wenn man die Patenterteilung in verschiedenen Ländern untersucht. Dabei zeigt sich, daß Europa nicht nur in der tatsächlichen oder beabsichtigten Anwendung von Erfindungen nachhinkt, sondern daß auch der Erfindungsprozeß selbst nachläßt. Für diese Untersuchung sind Belgien, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Schweden ausgewählt worden; zum Vergleich werden Japan und die Vereinigten Staaten herangezogen. Zwischen 1951 und 1965 ging in diesen europäischen Ländern die Erteilung von Patenten an ihre eigenen Staatsbürger allgemein zurück. Unter Ausschluß von Großbritannien, für das keine vergleichbaren Daten vorliegen, sank die Zahl der an Einheimische erteilten Patente von 42 616 auf 28 085, daß heißt um mehr als ein Drittel.

In Japan und den Vereinigten Staaten dagegen nahm die Zahl der Inlandspatente in dieser Periode beträchtlich zu — von 4350 auf 17 797 bzw. von 39 606 auf 50 332. In den untersuchten europäischen Ländern — mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland — wurden 1965 bedeutend mehr Patente an Ausländer als an Inländer erteilt. In den Vereinigten Staaten betrug hingegen die Zahl der an Ausländer erteilten Patente nur ein Viertel der an Inländer erteilten, in Japan die Hälfte. Von den Patenten, die die europäischen Länder zwischen 1951 und 1965 Ausländern erteilten, ging — außer in Schweden — ein wachsender Prozentsatz an amerikanische Staatsbürger. Die Zahl der amerikanischen Patente, die in der gleichen Zeit Bürgern der europäischen Länder erteilt wurden, stieg — mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland — nicht nennenswert. Demgegenüber schnellte die Zahl der amerikanischen Patente an Japaner von praktisch Null im Jahre 1951 auf nahezu 10 Prozent aller an Ausländer erteilten Patente im Jahre 1965 empor. Diese Zunahme mag zum Teil auf Japans Wiederaufbau zurückzuführen sein. Da der Zuwachs nach 1960 aber bei weitem am stärksten war, gibt es hierfür auch noch andere Gründe. In Japan herrscht ein Geist des internationalen Wettbewerbs, der dazu anspornt, Kapital in Entwicklungsund Anwendungstechnik zu investieren und vor allem in neue Formen des Managements und Marketings, die dafür sorgen, daß sich die Technik auszahlt. Die Japaner haben gelernt, was Peter Drucker „schöpferische Nachahmung" nennt. Viele ihrer Patente führen schon entwickelte Produkte und Prozesse einen oder zwei Schritte weiter, verbessern die Qualität, die Rentabilität der Produktion und die Markt-fähigkeit. Und ihre Adaptation amerikanischer Leitungsmethoden — ein anderes Beispiel für „schöpferische Nachahmung" — ist, wie es scheint, die treibende Kraft hinter ihren erfolgreichen Anwendungen und dem Anwachsen der für sie einträglichen Märkte.

Ein Hauptgrund für die geschilderte Situation im Patentwesen liegt in der Kompliziertheit und Unverträglichkeit der verschiedenen nationalen Patentsysteme. Das macht es schwierig und kostspielig, Patente in fremden Ländern zu beantragen. Die amerikanische Industrie, die eine relativ große Kapitalgrundlage hat und bestrebt ist, die Ergebnisse ihrer eigenen Forschung und Entwicklung international zu verwerten, kann derartige Kosten am ehesten aufbringen und rechtfertigen. Darüber hinaus scheint es in den Patentgesetzen bestimmter europäischer Länder fundamentale Schwächen zu geben. Europa bietet seinen Patentinhabern weniger Schutz als die Vereinigten Staaten. Das schreckt nicht nur von Erfindertätigkeit ab, sondern führt auch zu Geheimnistuerei zwischen Erfindern und Arbeitgebern, was wiederum den Informationsfluß beträchtlich hemmt.

Ein vieldiskutiertes Phänomen im Zusammenhang mit der „Lücke" zwischen Europa und den Vereinigten Staaten ist die Abwanderung von qualifizierten Kräften, der sogenannte brain drain. In den fünf Jahren von 1962 bis 1966 kamen über 60 000 akademisch und technisch ausgebildete Personen aus Europa in die Vereinigten Staaten. Die jährliche Zahl war ziemlich konstant; sie bewegte sich zwischen 11 000 und 13 000. In manchen Fächern sind es 15 oder 20 Prozent der Absolventen-Jahrgänge europäischer Hochschulen, die auswandern, und oft sind es die Besten auf ihrem Gebiet.

Die Gründe für diese Abwanderung sind leicht zu finden. Startchancen und Gehälter liegen in Europa weit unter dem, was Hochschulabsolventen in den Vereinigten Staaten geboten wird. In Europa haben es Wissenschaftler und Techniker viel schwerer, Gehör bei der Firmenleitung zu finden und Einfluß auf die täglich zu treffenden Entscheidungen zu nehmen, und ihre Chancen, eines Tages selbst in Leitungspositionen aufzusteigen, sind weit geringer. Finanzielle Beteiligung an den Resultaten von Innovationsprozessen gibt es praktisch überhaupt noch nicht. Zahlreiche europäische Wissenschaftler und Techniker werden somit durch bessere Bezahlung, höheren Status und größere Möglichkeiten zu schöpferischer und verantwortlicher Arbeit bewogen, in die Vereinigten Staaten zu kommen. Ein sehr wesentlicher Aspekt dieser Vorteile ist die soge-nannte „auftrags-orientierte" Einstellung der amerikanischen Forschung und Entwicklung. Durchaus nicht alle wissenschaftlichen Angestellten möchten auf profitbringende Ziele festgelegt sein, aber viele finden in dieser Einstellung nicht nur finanzielle Befriedigung, sondern auch Entfaltung ihrer schöpferischen Fähigkeiten. Die amerikanische Industrie ist dafür bekannt, daß sie auf den fortgeschrittensten Gebieten, besonders in der Computer-, Kommunikations-, Luft-und Raumfahrttechnik und in bestimmten Zweigen der Metallurgie, schöpferische Tätigkeit an greifbare Ziele bindet.

Die Anreize für potentielle europäische Ein-wanderer in die Vereinigten Staaten kommen gut zum Ausdruck in folgendem Auszug aus einer typischen Werbeanzeige in einem europäischen Blatt: „Die Arbeitgeber werden die vollen Kosten der Übersiedlung in die Staaten für Sie, Ihre Familie und Ihr Hab und Gut tragen; sie werden Ihnen wahrscheinlich die Teilnahme an einem Studienkurs für Fortgeschrittene anbieten; sie werden Ihnen Hilfskräfte und Hilfsmittel in einem Maße zur Verfü-fung stellen, wie Sie es bisher nicht kannten. Die mächtige amerikanische Wirtschaft bietet gewaltige Perspektiven für Fachleute auf allen Stufen der Berufserfahrung. Große langfristige Projekte, die in Angriff genommen werden, bieten neue Chancen. Die Rolle des Fachmannes in Forschung, Entwicklung und Produktion ist in den USA hochgeschätzt. Die Arbeitgeber sind mehr denn je bereit, einen Mann auf Grund seines Potentials einzustellen und ihm rasch große Verantwortung zu übertragen."

Daran ist eigentlich nichts Neues. Eine ähnliche Lage schilderte vor fast anderthalb Jahrhunderten Alexis de Tocqueville, der 1831 schrieb: „Ob es sich um den Bau eines Hauses, die Bedienung eines Schiffes, die Herstellung eines Gegenstandes, die Erzeugung von Weizen handelt, die Amerikaner fanden stets Mittel und Wege, die Aufgabe mit halb soviel Arbeitskräften zu bewältigen, wie man in Europa braucht. Daher sind die Löhne doppelt so hoch, und das zieht immer größere Scharen von Einwanderern an."

III. Herausragende europäische Leistungen und amerikanische Schwierigkeiten

Damit das Bild, das wir zeichnen, nicht einseitig wird, ist daran zu erinnern, daß die europäischen Leistungen auf Gebieten, die knapp unterhalb dem Gipfel der fortgeschrittenen Technik liegen, keineswegs zu verachten sind. Sie sind von grundlegender Bedeutung für den wissenschaftlichen und menschlichen Fortschritt, und wenn es ihnen manchmal auch an Glanz fehlen mag, so bringen sie doch großen wirtschaftlichen Nutzen.

Das in England entwickelte und angewandte hat Pilkington-Glas-Verfahren die Herstellung von Tafelglas in den Vereinigten Staaten und der übrigen Welt revolutioniert. Neue Verfahren zur Stahlherstellung sind zuerst in Europa angewandt worden, die noch nicht alle in den Vereinigten Staaten Eingang gefunden haben, weil die amerikanische Stahlindustrie durch riesige Investitionen in veraltete Verfahren gehemmt ist und außerdem ihr Markt durch die Einführung von Ersatz-stoffen gelitten hat. Die Entwicklung und Herstellung der Philips-Farbfernsehkamera ist eine große europäische Leistung auf dem Gebiet der fortgeschrittenen Elektronik. Die hohe Qualität der europäischen Automobil-und Arzneimittelindustrie und die Überlegenheit der Ausrüstung pharmazeutischer Betriebe in Italien sind weltbekannt. Einige der modernsten und einfallsreichsten Installationen von Computer-und Kommunikationssystemen finden sich, wenn auch weit verstreut, in Europa; sie vertreten den „software" -Aspekt einer Industrie, die für fast alle menschlichen Lebensgebiete immer wichtiger wird. Die Geräte stammen zwar zum großen Teil aus den Vereinigten Staaten, aber ihre fortschrittliche Anwendung ist eine europäische Leistung. Eine Folge dieser europäischen Fortschritte ist, daß der Anteil der Vereinigten Staaten am Welt-export von Industrie-Erzeugnissen im letzten Jahrzehnt zurückgegangen ist. Die Anteile der meisten europäischen Länder haben sich behauptet oder sind sogar gestiegen.

Was den brain drain betrifft, so wären die Urteile über seine Gefährlichkeit seine Auswirkungen vielleicht zu revidieren, wenn die europäischen Länder einmal genau ihren Arbeitskräftebedarf untersuchten und ihm die tatsächlichen Verluste gegenüberstellten. Dabei wäre auch die Frage zu klären, wieweit europäische Wissenschaftler und Techniker, die nach einem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten in ihre Heimatländer zurückkehren, als brain drain mitgezählt werden. Nicht eingerechnet werden vermutlich diejenigen, die auf Grund eines staatlich finanzierten Ausbildungsprogramms in die Vereinigten Staaten kommen —-ausgenommen das eine Prozent, das den gesetzlichen Erfordernissen genügt, die ihm zu bleiben gestatten. Wie steht es aber mit anderen, die heimkehren, nachdem sie wertvolle Kenntnisse erworben haben? Meine Firma zum Beispiel holt dieses Jahr sechs Mitarbeiter aus unseren europäischen Tochtergesellschaften zur Ausbildung in die Vereinigten Staaten. In einem oder zwei Jahren werden sie wieder nach • Hause fahren. Gehören sie zum brain drain? Hinzu kommt, daß Europa selbst, ebenso wie die Vereinigten Staaten, einen bedeutenden Zustrom von Menschen aus den Entwicklungsländern zu verzeichnen hat. Sie kommen, um ihre Ausbildung zu vervollständigen, kehren aber leider oft nicht in ihre Heimatländer zurück. Werden sie bei der Gesamteinschätzung des europäischen Problems berücksichtigt? Und in welchem Grade machen die europäischen Wissenschaftler (was durchaus verständlich ist) selber Gebrauch vom Problem des brain drain, besonders ihren Regierungen gegenüber, um für sich bessere Bezahlung und bessere berufliche Chancen durchzusetzen?

Endlich ist es, um „die Lücke" richtig zu beurteilen, notwendig, die Entwicklung der amerikanischen Industrie selbst mit kühlem Blick zu betrachten, und zwar in technischer wie in geographischer Hinsicht. Es vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht von dem folgenschweren Zustand irgendeines Industriezweigs liest, von seiner Rückständigkeit bei der Anwendung moderner Mittel der Wissenschaft und Technik, vom Zögern der Finanzwelt, Kapital für neue Verfahren und notwendige Entwicklungen zu riskieren. Und kaum ein Tag vergeht, an dem Mitarbeiter meiner Firma sich nicht mit den Problemen eines großen Unternehmens zu befassen haben, wo allzu große Vorsicht der Geschäftsleitung oder Mangel an ausgebildetem Personal den Durchbruch zu neuen Produkten und notwendigen Dienstleistungen verhindert.

Innerhalb der Vereinigten Staaten gibt es größere Lücken und mehr brain drain als zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Der Glanz, den ein paar Zentren an der Ost-und der Westküste um sich verbreiten, kann uns nicht blind machen für die dunklen Flek-ken der Rückständigkeit im Appalachengebiet und in anderen Regionen. Aus dem Mittel-B westen wandert mehr ausgebildetes Personal nach Kalifornien, Massachusetts und New York ab als aus sämtlichen Ländern der Erde nach den Vereinigten Staaten. Politiker und Geschäftsleute in Illinois, Indiana und Michigan führen ganz ähnliche Klagen wie ihre Kollegen in England, Frankreich und Italien: junge Einwohner dieser Staaten würden mit großem Kostenaufwand ausgebildet, nur um sich dann vom Geglitzer Berkeleys, des Massachusetts Institute of Technology und der Zentren an der mittleren Atlantikküste weg-locken zu lassen.

Freilich ist anzunehmen, daß diese Ungleichheiten innerhalb der Vereinigten Staaten durch die natürlichen Kräfte unseres auf Konkurrenz beruhenden Wirtschaftssystems und durch eine weise Regierungspolitik mit der Zeit verschwinden oder sich sogar umkehren werden. Aber das Problem existiert. Das Gesetz über die technischen Dienste der Unionsstaaten (State technical Services Act), das der Kongreß 1965 verabschiedete, soll die Einzelstaaten dazu anspornen, örtlichen Firmen Informationen über die neuesten Fortschritte von Wissenschaft und Technik zu liefern und ihnen Möglichkeiten zu deren Anwendung zu schaffen. Allein schon die Existenz dieses Gesetzes — wie auch anderer Gesetze, z. B. über die Schaffung von Produktivitätsräten, die Unterstützung kleiner Geschäftsbetriebe und die Aufstellung regionaler Entwicklungspläne — erinnert uns daran, daß große Teile der Vereinigten Staaten und der amerikanischen Wirtschaft noch in der Vergangenheit stecken, mögen wir auch in manchen Gebieten und Industriezweigen weit in die Zukunft vorgestoßen.sein.

Gewiß: IBM beherrscht 60— 65 Prozent des europäischen Computer-Marktes; fast alle europäischen Langstreckenflugzeuge werden in den Vereinigten Staaten gebaut; das von Frankreich und England entwickelte Überschallflugzeug „Concorde" mag drei Jahre nach Produktionsbeginn durch das in den Vereinigten Staaten gebaute Uberschall-Verkehrs-flugzeug überholt sein; und der brain drain der fünfziger und sechziger Jahre hin zu dem technischen und ökonomischen Koloß Amerika mag ebenso schwerwiegend sein wie der Exodus von Wissenschaftlern, Philosophen und Dichtern hinweg aus dem politischen Wahnsinn Europas in den dreißiger und vierziger Jahren. Andererseits ist zu bedenken: Unsere technische Überlegenheit in einer Anzahl von Industrien ist nicht mühelos erreicht worden, und es ist auch nicht sicher, daß wir sie behalten. Die Gebiete, auf denen wir führen, sind wichtig, aber nicht allein ausschlaggebend für wirtschaftliche und politische Macht. In einigen Fällen handelt es sich um weit vorgeschobene Außenbastionen, die sich auf keine genügend starke wirtschaftliche, ausbildungsmäßige und politische Basis stützen können. Vielleicht sind sie gar keine Ausgangspunkte für weiteren unwiderstehlichen Vormarsch. Der Vorsprung, den sie repräsentieren, ist nicht immer notwendig und muß auch nicht langfristig sein. Die „Dollar-Lücke" hat sich binnen weniger Jahre in riesige Dollar-und Goldbestände westeuropäischer Zentralbanken verwandelt. Und Hiroshima ist heute eine der größten Städte eines der mächtigsten Industrieländer der Welt.

IV. Vorschläge für die Überwindung der Lücke, die nicht technisch ist

Es steht außer Zweifel, daß auf bestimmten Gebieten der fortgeschrittensten Technik und Wissenschaft etwas wie eine Lücke zwischen Europa und den Vereinigten Staaten existiert. Aber die Bezeichnung „technische Lücke" ist falsch. Die wirklichen Ursachen sind Unzulänglichkeiten des Managements und Finanzwesens, veraltete Bildungssysteme, soziale Immobilität und politische Schranken in Europa. Die Konsequenzen dieser Lage geben Anlaß zu berechtigter Sorge.

Es gäbe verschiedene Dinge, die getan werden könnten, aber wohl nicht getan werden sollten. Die Vereinigten Staaten könnten durch ein Hilfsprogramm nach Art des Marshallplans Westeuropa (Regierungen und private Interessenten) dabei unterstützen, amerikanische wissenschaftliche und technische Kenntnisse und Leitungsmethoden zur Auswertung der Ergebnisse von Forschung und Entwicklung zu erwerben. Die Vereinigten Staaten könnten beispielsweise organische Teile ihrer großen akademisch-industriellen Komplexe auf europäischen Boden verpflanzen. Diese Komplexe würden ausschließlich Europäer ausbilden und beschäftigen und dabei weiterwachsen. Vorbedingungen für solche Hilfen könnten sein: die beschleunigte Aufnahme Großbritanniens und der anderen EFTA-Mit-glieder in den Gemeinsamen Markt, die schnelle Rationalisierung oder Vereinheitlichung des westeuropäischen Gesellschafts-, Steuer-, Patent-und Sozialversicherungsrechts, vielleicht auch die Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung unter Aufsicht eines Organs wie die alte Europäische Zahlungsunion, aber mit mehr Befugnissen ausgestattet als diese.

Ferner könnten die Vereinigten Staaten ihre Einwanderungsgesetze die Ein -abändern und wanderung solchen Westeuropäern verwehren, deren Verbleiben im Heimatland als im Interesse des betreffenden Staates liegend bezeichnet würde. Sie könnten sogar Ausländer, die die amerikanische Staatsbürgerschaft noch nicht beantragt oder erhalten hätten, ausweisen, wenn ihre Dienste von ihren Heimatstaaten beansprucht würden.

All das könnte getan werden. Im Lichte vergangener Aktionen der Vereinigten Staaten ließe sich ein derartiger Kurs sogar historisch rechtfertigen. Es liegt jedoch auf der Hand, daß dies Dinge sind, die besser nicht getan werden sollten. Wir schreiben nicht mehr das Jahr 1947. Damals, nach dem Krieg, lag Europa am Boden und war bereit, die amerikanische Vormundschaft zu akzeptieren, wenn ihm dafür wieder auf die Beine geholfen wurde. Jetzt rivalisiert es schon seit über zehn Jahren immer erfolgreicher mit den Vereinigten Staaten um Märkte und politischen Einfluß. Jeder Versuch, amerikanische Hilfe an irgendwelche Bedingungen außer Bezahlung zu knüpfen, würde nur die Ressentiments neu anfachen, die noch von den Tagen der amerikanischen Hegemonie her schwelen.

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird Europa lernen müssen, die fortgeschrittenen Methoden der amerikanischen Wissenschaft und Technik und des amerikanischen Managements auf die Produktion und den Absatz derjenigen Erzeugnisse anzuwenden, in denen seine Stärke liegt.

Was soll Europa also tun? Ausgehend von dem, was wir heute wissen, wären folgende Schritte zu erwägen: 1. In jedem Land und auf supranationaler Ebene müßten technisch-wissenschaftliche Prioritäten und Ziele festgelegt werden. Insbesondere geht es hier um die Auswertung von Informations-, Kommunikationsund anderen fortgeschrittenen Techniken für die Expansion der europäischen Industrien und ihrer weltweiten Märkte. Für die staatliche Finanzierung privater Computer-Hersteller sind in Großbritannien, Frankreich und Westdeutschland in den nächsten fünf Jahren 500 Millionen Dollar vorgesehen. Es ist notwendig, beträchtlich über diese Summe hinauszugehen. Dies sind nationale Investitionen, die in erster Linie auf nationale Märkte berechnet sind. Sie schrecken von Fusionen und anderen Formen der Zusammenarbeit ab und verstärken die Tendenz, weiterhin nicht zusammenpassende und ungenügend differenzierte Systeme zu entwickeln, die den Bedürfnissen der europäischen Industrie nach neuester Technik nicht gerecht werden. Dieser Typ der nationalen Finanzierung leistet den Computer-Herstellern auch nicht viel Hilfe im Kampf gegen die außereuropäische Konkurrenz. 2. Durch innereuropäische politische Abkommen müßte das Gesellschafts-, Steuer-, Patent-

und Sozialversicherungsrecht einheitlich gestaltet werden, damit Zielsetzungen für Firmenfusionen und Marketing aufgestellt werden können. Nach dem Stand von 1964 haben die Vereinigten Staaten 55 Firmen mit Umsätzen von mehr als 1 Milliarde Dollar jährlich, das sind dreimal soviel Firmen dieser Größenordnung wie in Europa. Bei den Firmen mit über 250 Millionen Dollar Umsatz ist der Vorsprung der Vereinigten Staaten nicht ganz so überwältigend: es sind 248 amerikanische Firmen gegenüber 119 europäischen.

Sollte die Harmonisierung der europäischen Rechtssysteme verwirklicht werden, so darf man mit einer beträchtlichen Zunahme der Zahl der europäischen Firmen dieser Größenordnung rechnen. Diese Firmen werden in der Lage sein, hohe Aufwendungen für Forschung und Entwicklung und für Marketing zu machen. Aber noch wichtiger als die Größe der einzelnen Firmen ist wahrscheinlich die Formulierung von wettbewerbsorientierten Marketing-Strategien und die Entwicklung einer entsprechenden Ausstattung in den technisch fortgeschrittenen europäischen Industriezweigen. Dieser Prozeß muß sich auf supranationaler Ebene vollziehen und erfordert ein supranationales juristisches und unternehmerisches Klima.

3. Die schon eingeleiteten Veränderungen im europäischen Bildungssystem müßten beschleunigt und erweitert werden. Das ist von grundlegender Bedeutung. Dr. James A. Perkins, Präsident der Cornell University und Vorsitzender des Beraterkomitees des Präsidenten für Auslandshilfeprogramme, schrieb im Juli-Heft 1966 von Foreign Affairs-. „Vielleicht ist kein Wind des Wandels in Europa wichtiger als die soeben begonnene Revolution, die unvermeidlich zur Demokratisierung und Modernisierung der Schulen und Universitäten führen wird. Solange diese Reform nicht abgeschlossen ist, wird das europäische Bildungssystem der Engpaß sein, der die Erschließung der Menschenreserven Europas blockiert und das Leben seiner großen Träume verkürzt." Eine der wichtigsten Empfehlungen der Konferenz von Deauville im Mai 1967, die der „technischen Lücke" gewidmet war, betraf die Schaffung eines Europäischen Instituts für Wissenschaft und Technik. Es würde nicht nur zahlreiche Wissenschaftler höchster Qualität ausbilden, sondern eine proportional noch höhere Zahl von Technikern und Managern der zweiten und dritten Stufe für lebenswichtige Unterstützungsfunktionen. Bis 1970 wird Europa beispielsweise weitere 50 000 Computer-Programmierer und 25 000 System-Analytiker brauchen — das ist ein Zuwachs von 140 bzw 270 Prozent gegenüber 1966. Wichtig ist auch die Modernisierung und Erweiterung der bestehenden Hochschuleinrichtungen. Eine ganze Anzahl von Maßnahmen ist denkbar, zum Beispiel die Finanzierung von Lehrstühlen, Forschungsstätten und Stipendien durch Firmen. Auf der Grundlage solcher Subventionen wäre auch der Abschluß von Verträgen zwischen Studenten und Firmen sowie zwischen Universitäten und Firmen zu erwägen. 4. Regierungen ild private Firmen müßten sich bemühen, amerikanische Fachleute zu gewinnen für Aufgaben wie die Verbesserung des europäischen Kommunikationswesens und anderer technischer Infrastrukturen, die Einrichtung von Management-Ausbildungsprogrammen die spezifische Auswertung und von Forschung und Entwicklung für die Produktion marktfähiger Waren und Dienstleistungen. Die Vereinigten Staaten müssen in ihrer Rolle sowohl als Konkurrenz wie als Partner der atlantischen Gemeinschaft bereit sein, solche europäischen Bemühungen zweckentsprechend zu unterstützen. Die amerikanische Mitarbeit könnte folgende Formen annehmen: 1. Die Regierung der Vereinigten Staaten könnte amerikanischen Firmen steuerliche und andere Anreize bieten, zusätzliche Forschungsund Entwicklungseinrichtungen in Europa zu schaffen. Derartige Institutionen würden dem Wissenschaftler-, Techniker-und Managernachwuchs ein Betätigungsfeld bieten und dazu beitragen, die Abwanderung frisch ausgebildeter europäischer Fachkräfte zu verlangsamen oder umzukehren. M. E. ist das richtig, was David Rockefeller kürzlich sagte: Der wichtigste Beitrag, den wir zu Europas technischer Entwicklung leisten können, besteht darin, mehr von unserer eigenen Forschung in Europa selbst zu tun. 2. Die Vereinigten Staaten könnten zur Ausbildung von Wissenschaftlern, Technikern und vor allem Managern in Europa beitragen. Finanzielle Unterstützung von amerikanischen Firmen und Stiftungen könnte hauptsächlich dazu verwendet werden, den Austausch von Professoren zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu erleichtern, besonders auf dem Gebiet der Management-Ausbildung. Die direkte Teilnahme amerikanischer Geschäftsleute an der europäischen Management-Ausbildung könnte eine lohnende Erfahrung für beide Seiten sein. 3. Die amerikanische Regierung sollte das Exportkontrollgesetz (Export Control Act) von 1949 und seine Handhabung überprüfen. Der Kongreß hat die Geltungsdauer des Gesetzes, das praktisch unverändert geblieben ist, mehrmals verlängert. Das Gesetz und vor allem seine Handhabung haben die Vereinigten Staaten zu einer unzuverlässigen Bezugsquelle für Maschinen aller Art — vom Computer bis zur Druckerpresse — gemacht. Da der Ost-West-Handel im letzten Jahrzehnt von Amerika und den westeuropäischen Ländern immer unterschiedlicher gehandhabt worden ist, hat dieses Gesetz den Europäern viel Verdruß bereitet und amerikanische Firmen um Export-chancen gebracht. Jetzt, wo in den Vereinigten Staaten bei Regierung und Privatwirtschaft ein grundlegendes Umdenken über den Handel mit den meisten kommunistischen Ländern im Gange ist, scheint der Augenblick gekommen, die entzweienden und oft uns selbst schadenden Aspekte des Exportkontrollgesetzes zu beseitigen. Die häufig willkürlichen Entscheidungen, die im Namen dieses Gesetzes ergangen sind, haben in Europa die Abneigung verstärkt, beim Bezug dringend benötigten modernen technischen Materials von den Vereinigten Staaten abhängig zu sein. Diese Situation wird begreiflicherweise dazu benutzt, die Tatsache zu rechtfertigen, daß Europa seine Hilfsmittel unökonomisch verzettelt, um technisches Material zu entwickeln, das ökonomischer von den Vereinigten Staaten produziert und geliefert werden könnte. 4. Es sollte versucht werden, die finanzielle Beteiligung Europas an amerikanischen Unternehmungen bedeutend zu erhöhen. Hier müßten freilich beide Seiten mitwirken; europäische Banken, Firmen und Einzelpersonen müßten bereit sein, das Geld aufzubringen. Trotzdem könnte viel mehr dafür getan werden, die Idee finanzieller Partnerschaften zu propagieren. Das würde so gut wie sicher den Geldgebern Gewinn bringen, die internationale Atmosphäre verbessern und die politische Zusammenarbeit über den Atlantik hinweg verstärken. Diese Anregungen sind keineswegs erschöpfend; immer wieder werden neue Ideen, neue Formen der Zusammenarbeit auftauchen. Absichtlich ausgelassen habe ich Vorschläge, die primär politisch sind. Zum Beispiel: Sind die kürzlich in Angriff genommenen Bestrebungen der EWG nach technischer Zusammenarbeit politisch breit genug angelegt, um die hier skizzierten Ziele zu erreichen? Das muß Europa entscheiden. Die Frage nach Form und Ausmaß der europäischen Integration, die die erforderliche Harmonisierung der Rechtssysteme ermöglichen würde, bleibt offen; wie die bisher getroffenen Maßnahmen koordiniert werden sollen, überläßt man am besten den beteiligten Parteien selbst, überhaupt sollte die Initiative bei Europa liegen, während die Vereinigten Staaten aktive Unterstützung gewähren müßten. Bei dieser Unterstützung sollten wir in erster Linie davon ausgehen, daß es in unserem eigenen Interesse liegt, in Europa einen gleichberechtigten und einen kraftvollen Partner in der Weltpolitik zu besitzen. Ich glaube, das Ergebnis dieser Überlegungen läßt sich so zusammenfassen: die so-genannte technische Lücke sollte für Europa weder ein Grund der Isolierung noch der Rückständigkeit sein. Sie ist nicht ein Ausdruck technischen Versagens, das Europa durch die iso-sierte Entwicklung seiner eigenen Technik überwinden müßte. Sie ist vielmehr das Resultat der politischen Zerrissenheit Europas und der Ungleichheiten, die zwischen Europa und den Vereinigten Staaten in Flinsicht auf die finanziellen Möglichkeiten und die Fähigkeiten des Managements bestehen. Sie ist außerdem der Ausdruck einer natürlichen relativen Überlegenheit im internationalen Wirtschaftsleben. Sie ist gar keine „technische" Lücke. Wenn die Nationen der atlantischen Gemeinschaft das verstehen und danach handeln, dann braucht die Lücke, die es tatsächlich gibt, nicht breiter zu werden und keine Bedeutung zu gewinnen, die sie nicht hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ende 1965 beliefen sich die direkten privaten amerikanischen Investitionen in EWG-Ländern auf 6, 25 Mrd. Dollar; das waren 4, 57 Mrd. mehr als 1957. Im übrigen Europa betrugen Ende 1965 die amerikanischen Investitionen 7, 64 Mrd. Dollar, 5, 17 Mrd. mehr als 1957. Es muß allerdings vermerkt werden, daß der prozentuale Zuwachs in den EWG-Ländern größer war als im übrigen Europa — 272 Prozent gegenüber 209 Prozent. Ferner entfielen 20 Prozent des Zuwachses der Nicht-EWG-Länder auf die Schweiz; Großbritannien hatte mit 3, 15 Mrd. Dollar zusätzlichen Investitionen nur einen Zuwachs von 159 Prozent zu verzeichnen. Trotzdem ist nicht an der Tatsache zu rütteln, daß die amerikanischen Investitionen im übrigen Europa um 594 Mill. Dollar höher waren als in den EWG-Ländern.

Weitere Inhalte

John Diebold, Präsident der Diebold-Gruppe (Unternehmensberatung), Mitglied der Beratergruppe des amerikanischen Außenministeriums für die Entwicklung eines Planungssystems für die Außenpolitik.