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Das „preußische Beispiel" in Propaganda und Politik des Nationalsozialismus | APuZ 27/1968 | bpb.de

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APuZ 27/1968 über die Bedeutung von Skandalen für die politische Bildung Das „preußische Beispiel" in Propaganda und Politik des Nationalsozialismus

Das „preußische Beispiel" in Propaganda und Politik des Nationalsozialismus

Manfred Schlenke

Wer dem „preußischen Beispiel" oder dem „Appell an das Preußentum" in der Propaganda und Politik des Nationalsozialismus nachspürt, sieht sich alsbald mitten in jener allgemeinen Diskussion über das Verhältnis von Nationalsozialismus und Preußentum, die nach dem großen Umbruch des Jahres 1945 im In-und Ausland so lebhaft geführt wurde und noch geführt wird, überblickt man die zu diesem Thema erschienene Literatur — einschließlich ihrer zahlreichen publizistischen Ausläufer —, so erscheint zweierlei bemerkenswert: 1. Noch heute stehen sich in dieser Debatte — von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen — Ankläger und Verteidiger des Preußentums ziemlich unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite behaupten die Ankläger, in Preußen lägen die Wurzeln des deutschen Untertanengehorsams, des deutschen Militarismus und des alle natürlichen und geschichtlichen Grenzen sprengenden nationalsozialistischen Imperialismus. Friderizianismus, Bismarckianismus und Hitlerismus seien ihrem Wesen nach ein und dasselbe. Auf der anderen Seite beteuern die Verteidiger: die drei genannten Ismen hätten nichts miteinander gemein; von Friedrich dem Großen zu Bismarck führe kein Weg — und zu Hitler schon gar nicht. 2. Die vorliegenden Studien zum Thema Preußentum und Nationalsozialismus ergehen sich zumeist in Jahrhunderte umspannenden historischen und typologischen Vergleichen. Nirgends jedoch findet man bisher, wenn man von gelegentlichen Hinweisen auf den „Tag von Potsdam" absieht, genauere Untersuchungen darüber, welche Rolle denn Preußen — das „preußische Beispiel", der „Appell an das Preußentum" — in der täglichen Propaganda und Politik des Nationalsozialismus gespielt hat. Diese Lücke zu schließen, soll das Ziel dieser Untersuchung sein. Ich folge dabei im wesentlichen dem Gang der Ereignisse von den Anfängen der NSDAP bis zum Untergang des Dritten Reiches.

Der Appell an das Preußentum in der „Kampfzeit" der Bewegung

Wenden wir uns zunächst der sogenannten Kampfzeit der nationalsozialistischen Bewegung zu. Wer in den Jahrgängen des Völkischen Beobachters oder in den Sammlungen früher Hitler-Reden blättert, stößt immer wieder auf das „preußische Beispiel". Im Kreise der „alten Kämpfer", in Parteiversammlungen und Wahlkundgebungen beschwört Hitler stets aufs neue das beispielgebende Vorbild des großen Preußenkönigs Friedrich. Er vergleicht die Lage der Partei mit der Preußens im Siebenjährigen Krieg: Wie damals das fri-derizianische Preußen, so sei heute die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei von einer Welt von Feinden umgeben; wie damals, seien heute Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit, Standhaftigkeit vonnöten, dann werde sich der Sieg eines Tages schon an die eigenen Fahnen heften. Alle Zweifel, alles Zaudern, alles Zagen in den eigenen Reihen zerstreut Hitler immer wieder mit dem Hinweis auf den Erfolg, der dem Preußenkönig am Ende seines Ringens beschieden war.

Aus den sonst nicht sehr ergiebigen Memoiren eines alten Parteigenossen, Ernst Hanfstaengl, wissen wir, daß Hitler in den frühen zwanziger Jahren mit einer Besessenheit sondergleichen Schriften von und Werke über Friedrich den Großen las. Wie hoch Hitlers engste Umgebung diese Vorliebe für Preußens großen König einschätzte, zeigt u. a. auch die Tatsache, daß man sich in Krisensituationen der Partei zur Bekräftigung des eigenen Stand-punktes gern auf Friedrich den Großen berief, weil man hoffte, dann noch am ehesten bei Hitler Gehör zu finden. So wandte sich beispielsweise Gottfried Feder, der „Parteiideologe" der Frühzeit, in einem erstmals 1958 bekanntgewordenen Brief vom August 1923 an Hitler. Er unterbreitete darin Vorschläge zur Neuorganisation der Partei, insbesondere der Führungsspitze. In aller Schärfe rügte er die Anarchie in Hitlers Zeiteinteilung, unmißverständlich kritisierte er Hitlers Fernbleiben von den Besprechungen der führenden Parteileute. Zum Zwecke strafferer Organisation und bes-15 serer Planung der Parteiarbeit schlug er den Aufbau eines „geistigen Generalstabes''vor. Wörtlich mahnte er Hitler: „Wenn wir Ihnen gerne die Ehre einräumen, der Erste zu sein, so doch nur der Erste unter sonst Gleichen und Freien . . . Wir wollen im Geiste Friedrichs des Großen Diener des Staates sein; wir räumen Ihnen gerne die erste Stelle ein, aber für tyrannische Neigungen haben wir kein Verständnis."

Das „preußische Beispiel" apostrophiert Hitler nicht nur in seinen zahllosen Reden, sondern ebenso in seinen beiden literarischen Werken aus der „Kampfzeit": in seinem Buch „Mein Kampf" wie in dem erst 1961 veröffentlichten sogenannten „Zweiten Buch", das Hitler im Sommer 1928 als Ergänzung zu den außenpolitischen Partien seines Hauptwerkes verfaßte, das aber dann auf seinen eigenen Wunsch nicht publiziert wurde. In beiden Werken zollt er den großen Gestalten der preußischen Geschichte, insbesondere Friedrich dem Großen, seine Bewunderung. Er rühmt an ihm die Bereitschaft, im Interesse des Staates Risiken auf sich zu nehmen (etwa beim Einmarsch in Schlesien 1740); er preist das immer erneute Wagnis, die „Unsicherheit des Erfolgs" durch das „Übermaß von Genialität", durch „Kühnheit" und „Entschlossenheit" der Anordnungen zu ersetzen.

Kurzum: der Preußenkönig liefert durch seine Erfolge den Beweis dafür, daß Entschlußkraft und Willensstärke jederzeit, über einen materiell überlegenen Gegner triumphieren können. Eine Erkenntnis oder — sagen wir besser — ein Bekenntnis, an dem Hitler, wie wir noch sehen werden, bis zum bitteren Ende festgehalten hat.

Was war nun nach Hitlers Auffassung die „geschichtliche Leistung" Preußens, an die er anzuknüpfen gedachte? Es war, um seine eigenen Worte zu gebrauchen „die Erwerbung und Durchdringung des Gebietes östlich der Elbe" und „die von den Hohenzollern betätigte Organisation des brandenburgisch-preußischen Staates". Oder in anderen Worten: Gewinnung des „Lebensraums im Osten" und „Züchtung eines besonderen Staatsgedankens" der — von der Wehrpflicht der ganzen Nation ausgehend — durch Disziplinierung und Militarisierung des gesamten Volkes die Einheit aller Deutschen verwirklichte.

Gewiß war Hitler — wie übrigens die meisten der führenden Nationalsozialisten — kein Preuße von Geburt, aber desto mehr „Wahlpreuße von Gesinnung, nämlich insofern ihn das preußische Machtwesen in seinen Bann geschlagen hatte", wie Ludwig Dehio es einmal formuliert hat. In der ganz andersgearteten nationalen Mischwelt Österreichs groß geworden, fühlte er sich nach seinem eigenen Bekenntnis schon früh zum „Preußentum", wie er es verstand, hingezogen, und es verdient wohl festgehalten zu werden, daß er späterhin in den altpreußischen Teilen des Reiches seinen stärksten materiellen und moralischen Rückhalt gefunden hat, wie die Abstimmungsziffern der letzten noch freien Wahlen etwa zeigen. Mit seinem traumwandlerischen Instinkt für Massenwirkungen bediente sich Hitler schon früh des Appells an das Preußentum, an die Tugenden der Sparsamkeit, der Aufopferung, des Dienstes, des Gehorsams und der Disziplin, als eines der wirksamsten Propagandamittel zur Durchsetzung seines Systems der Gewalt. „Unter bewußter Vernachlässigung anderer Stammesmotive spielte er geschickt und mit Erfolg auf dieser Klaviatur preußischer Ideen und Gefühle, sekundiert von den Preußen oder Wahlpreußen innerhalb seiner wachsenden Gefolgschaft" (Hagemann). Schon in der „Kampfzeit" der Bewegung verstand es Hitler, die Illusion zu erwecken und zu verbreiten, als ob er der einzige Erbe und Treuhänder altpreußischer Überlieferungen sei.

Keiner aus dem Kreise seiner engsten Gefolgsleute hat ihn dabei wirksamer unterstützt als Joseph Goebbels, der sich im September 1926 unter dem Eindruck eines Besuches in Sanssouci dazu entschloß, den ihm zunächst gar nicht zusagenden Posten des Gauleiters von Berlin zu übernehmen und der dann als Reichspropagandaleiter der NSDAP seit 1929 wie kein zweiter die preußische Werbetrommel für die Sache der Nationalsozialisten rührte. Es würde einer eigenen Untersuchung bedürfen, um die diabolische Geschicklichkeit, die rhetorische und stilistische Meisterschaft vorzuführen, mit der Goebbels in ungezählten Reden und Aufsätzen seinen „Appell an das Preußentum" variierte und in immer neuen Formulierungen die These verkündete, Nationalsozialismus sei Preußentum und Preußentum sei Nationalsozialismus.

Stellvertretend für eine große Zahl ähnlicher Zeugnisse seien hier einige Sätze aus einem Artikel zitiert, den Goebbels im „Angriff" am 20. April 1932 zu den preußischen Landtagswahlen unter der Überschrift „Preußen muß wieder preußisch werden" veröffentlichte. In zwanzig Sätzen definierte er darin seine Vorstellungen vom „Preußentum" — Sätze, die jeder Preuße freudigen Herzens unterschreiB ben konnte, deren Unaufrichtigkeit und Verlogenheit erst in zwölf Jahren nationalsozialistischer Staatspraxis für jedermann sichtbar und fühlbar wurden. Ich zitiere:

„ 1. Der Staat soll erster Diener des Volkes und der höchste Beamte erster Diener des Staates sein. 3. (Der Staat) muß verwaltet werden von einem sauberen, korrekten Berufsbeamtentum, das sich freihält von Korruption und Parteibuchbonzen. 5. Die Erziehung des Volkes in preußisch-deutschem Sinne muß höchste Pflicht des Staates sein. 8. Das Volk ist nicht für die Organe des Staates, die Organe des Staates sind für das Volk da. 9. Die innere Sicherheit des Staates ruht, wie seit je in Preußen, nicht auf den Bajonetten und Gummiknüppeln, sondern auf der Liebe und Anhänglichkeit seiner Bürger. 15. Die Justiz ist eine Pflegestätte der Gerechtigkeit. Sie hat sich freizuhalten von parteipolitischen Einflüssen und muß unbeirrbar urteilen gegen hoch und niedrig. 16. Die Verwaltungsorgane haben gegen jedermann strengste Objektivität walten zu lassen. Die Freiheit der Meinung und des Geistes wird vom Staate aus gewährleistet. 20. Preußen ist das Kernland des Reiches. Von ihm aus soll und wird die Wiedergeburt der deutschen Nation ausgehen. ..."

Und abschließend: „Wir stehen mit festen Füßen auf der großen preußischen Vergangenheit. Wir wollen es nicht zulassen, daß die Tradition unserer preußischen Geschichte endgültig verlorengeht. Wir wollen sie aus dem Schutt der Gegenwart herausheben und sie in eine bessere Zukunft hinüberretten."

In einer etwa gleichzeitig, nämlich Mitte April 1932 gehaltenen Wahlrede hat Goebbels die Geistesverwandtschaft, ja Identität zwischen Preußentum und Nationalsozialismus noch um einige Grade deutlicher zum Ausdruck gebracht. Er sagte: „Der Nationalsozialismus darf mit Fug und Recht von sich behaupten, daß er Preußentum sei. Wo immer wir Nationalsozialisten auch stehen, in ganz Deutschland sind wir die Preußen. Die Idee, die wir tragen, ist preußisch. Die Wahrzeichen, für die wir fechten, sind von Preußengeist erfüllt, und die Ziele, die wir zu erreichen trachten, sind in verjüngter Form die Ideale, denen Friedrich Wilhelm I., der große Friedrich und Bismarck nachstrebten."

Die Berufung auf das „preußische Beispiel" unmittelbar nach der „Machtergreifung"

Der kurze Rückblick auf die „Kampfzeit" der Bewegung hat uns an der Person ihres „Führers" und an der des „Propagandaleiters" gezeigt, welche große Bedeutung dem „Appell an das Preußentum", dem feierlichen Beschwören des „preußischen Beispiels", insbesondere in der Gestalt des großen Friedrich, bereits in der Frühzeit der NSDAP zukommt. Es besteht kein Zweifel, daß der „Appell an das Preußentum" neben den antibolschewistischen Parolen zu den zugkräftigsten Losungen der nationalsozialistischen Propaganda gerechnet werden muß. Dessen war sich Goebbels wohl bewußt. Bereits am Abend des 30. Januar 1933 ließ er die fackeltragenden Kolonnen seiner Berliner SA unter den Klängen des Frideri-cus-Marsches in die Wilhelmstraße einmarschieren. Aber noch standen der greise Reichs-präsident, in dessen Gestalt sich für die Massen des Volkes die preußische Tradition deutscher Geschichte verkörperte, und der junge Reichskanzler als Führer der nationalsozialistischen Bewegung getrennt an den Fenstern ihrer Amtszimmer und schauten auf die vorbeiziehenden Kolonnen herab. Die Presse des Auslandes sparte nicht mit lakonischen Kommentaren ob dieser für jedermann deutlich erkennbaren „Distanz". Sie für alle Welt und vor aller Welt sichtbar zu überbrücken, war Goebbels nächstes Ziel.

Keine zwei Monate sollten vergehen, da reichten nach der Regieanweisung des neuernannten Reichsministers für Propaganda und Volks-aufklärung der Repräsentant des alten Preußen und der Kanzler des neuen Deutschland in der Garnisonkirche zu Potsdam einander über den Gräbern der Preußenkönige die Hand! Es war Goebbels Einfall gewesen, den am 5. März 1933 neugewählten Reichstag feierlich mit einem Staatsakt in der Garnisonkirche zu Potsdam, der nationalen Weihestätte des Preußentums, zu eröffnen. Schon das für diesen Staatsakt gewählte Datum des 21. März verwies beziehungsreich auf das preußische Beispiel und Vorbild: am 21. März hatte Bis-17 marck vor 62 Jahren den ersten Deutschen Reichstag eröffnet. Bis in die kleinsten Einzelheiten hinein plante und überwachte Goebbels die Vorbereitungen für die Potsdamer Feier, die nach seinem Willen zum ersten-mal „im Stil nationalsozialistischer Formgebung" abgehalten werden sollte. Endlich hatte er Gelegenheit, auf großer Bühne, mit historischer Kulisse, vor den Augen und Ohren der Welt die Vereinigung von Nationalsozialismus und Preußentum zu demonstrieren und dem Regime seines Führers die geschichtliche Weihe zu geben.

Er ist geradezu besessen von dieser Aufgabe und notiert vier Tage vor dem Staatsakt in seinem Tagebuch: „Die Nation muß an diesem Tage teilnehmen. Ich arbeite das Projekt bis tief in die Nacht hinein in allen Einzelheiten durch, rufe in einem kurzen Aufruf die Nation zur Teilnahme auf und tue alles, um diesen feierlichen Staatsakt unverlöschlich in das Gedächtnis der lebenden Generation einzuprägen." In seinem Aufruf an das deutsche Volk spricht Goebbels von dem „geheiligten Boden von Potsdam" — von Potsdam als der Stadt, „in der das unsterbliche Preußentum die Grundlage zu der späteren Größe der deutschen Nation gelegt hat". Das Rundfunkprogramm aller deutschen Sender wird aus Anlaß des Staatsaktes zum erstenmal „gleichgeschaltet": Nicht nur der Staatsakt als solcher wird von allen Sendern übertragen und im ganzen deutschen Land in „Gemeinschaftsempfängen" mitgehört. Sorgfältig ausgesuchte Rundfunk-sprecher, darunter der Reichsjugendführer der NSDAP, Baldur von Schirach, geben laufend Stimmungsberichte über den Festtaumel in der preußischen Garnisonstadt. Eingestreute Funk-dichtungen und preußische Armeemärsche — vom Hohenfriedberger Marsch bis zum Yorck-Marsch von 1813 — tragen Sorge, daß der „Geist von Potsdam" in allen Schichten des Volkes zu neuem Leben erweckt wird.

Das Innere der Garnisonkirche ist mit frischem Lorbeer ausgeschlagen; von den Kirchenpfeilern grüßen die ruhmreichen Fahnen der preußischen Armee; in der festlich geschmückten Kaiserloge nimmt hinter dem freibleibenden Sessel des Kaisers der Kronprinz Platz. Beide, Hindenburg und Hitler, beschwören in der Feierstunde den „Geist des alten Preußen". Der Reichspräsident, dem das von Goebbels inszenierte Schauspiel zunächst gar nicht behagte, mit den mahnenden Sätzen: „Der Ort, an dem wir uns heute versammelt haben, mahnt uns zum Rückblick auf das alte Preußen, das in Gottesfurcht durch pflichttreue Arbeit, nie verzagenden Mut und hingebende

Vaterlandsliebe groß geworden ist ... Möge der alte Geist dieser Ruhestätte auch das heutige Geschlecht beseelen." Der Reichskanzler in den Schlußworten seiner, die deutsche Sprache in Wortwahl und Grammatik strapazierenden Erwiderung: „Möge uns dann aber auch die Vorsehung verleihen jenen Mut und jene Beharrlichkeit, die wir in diesem für jeden Deutschen geheiligten Raum um uns spüren, als für unseres Volkes Freiheit und Größe ringende Menschen zu Füßen der Bahre seines größten Königs."

Die Wirkung dieses wohldurchdachten und glänzend inszenierten Schauspiels war außerordentlich; selbst Hindenburg, der dem Staatsakt zunächst ablehnend gegenübergestanden hatte, wurde völlig in seinen Bann geschlagen. Der Gesamteindruck ist wohl am besten in dem allerdings von Selbstbespiegelungen nicht freien Tagebucheintrag festgehalten, den Goebbels unter dem 22. März vornahm. Dort heißt es: „Am Schluß sind alle auf das tiefste erschüttert. Ich sitze nahe bei Hindenburg und sehe, wie ihm die Tränen in die Augen steigen. Alle erheben sich von ihren Plätzen und bringen dem greisen Feldmarschall, der dem jungen Kanzler seine Hand reicht, jubelnde Huldigungen dar. Ein geschichtlicher Augenblick. Der Schild der deutschen Ehre ist wieder rein gewaschen. Die Standarten mit unsern Adlern steigen hoch. Hindenburg legt an den Gräbern der großen Preußenkönige Lorbeer-kränze nieder. Draußen donnern die Kanonen. Nun klingen die Trompeten auf, der Reichs-präsident steht auf erhöhter Ballustrade, den Feldmarschallstab in der Hand, und grüßt Reichswehr, SA, SS und Stahlhelm, die an ihm vorbeimarschieren. Er steht und grüßt. Uber all dem liegt die ewige Sonne, und Gottes Hand steht sichtbar segnend über der grauen Stadt preußischer Größe und Pflicht." „Gottes Hand sichtbar segnend über der grauen Stadt preußischer Größe und Pflicht" — mit dieser pathetischen Formulierung spielt Goebbels auf ein weiteres Moment der Potsdamer Feier an, das man nicht übersehen sollte, wenn man die gewaltige Wirkung des 21. März 1933 auf weite Kreise auch der nicht-nationalsozialistischen deutschen Öffentlichkeit recht begreifen will. Es war Goebbels mit dem Tag von Potsdam nicht nur gelungen, über den Gräbern der Preußenkönige die nationalsozialistische Bewegung und ihren jungen Kanzler als legitimen Erben der altpreußischen Tradition der deutschen Geschichte erscheinen zu lassen; es fehlte diesem Akt auch nicht die kirchliche Weihe. Der „Nationalversammlung" in der Potsdamer Garnisonkirche (so wurde der Staatsakt des 21. März 1933 schon bald in der nationalsozialistischen Publizistik genannt) waren Gottesdienste vorausgegangen: für die protestantischen Mitglieder des Reichstags, der Reichsregierung und des Diplomatischen Korps in der Nicolaikirche und für die katholischen Regierungs-und Reichstagsmitglieder und Diplomaten in der katholischen Pfarrkirche. Der protestantische Fest-gottesdienst stand unter dem Bibelwort: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?" Auch für den Staatsakt selbst hatte Goebbels auf eine christliche Einrahmung nicht verzichtet. Zu Beginn sang der Staats-und Domchor den aus dem 16. Jahrhundert stammenden Choral „Nun lob, mein Seel, den Herren"; und am Schluß erklang als Orgelspiel das Niederländische Dankgebet „Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten".

Mochte auch die ausländische Presse, die z. T. recht ausführlich über den Tag von Potsdam berichtete, in unfreundlichen und kritischen Stellungnahmen von der „geräuschlosen Beerdigung der Demokratie" und vom feierlichen „Begräbnis des deutschen Parlaments" sprechen — dies war keineswegs die im deutschen Volk vorherrschende Stimmung! Der von Goebbels intonierte Dreiklang „Preußentum-Nationalsozialismus-Christentum" fand ein gewaltiges, gewiß nicht nur spontanes, sondern auch organisiertes Echo. In allen Garnisonstädten wurden Feldgottesdienste abgehalten, in denen fürbittend des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers gedacht wurde; sie wurden zumeist — wie z. B. auf dem Kämpfrasen bei Marburg — eingeleitet mit dem Choral „Großer Gott, wir loben Dich" und schlossen zum Gedenken an Friedrich den Großen mit dem Choral von Leuthen.

Der Dreiklang „Nationalsozialismus-Preußentum-Christentum" beherrschte die sogenannten „nationalen Kundgebungen", die im ganzen Reich bis hin in die kleinsten Dörfer veranstaltet wurden. Abschluß und Höhepunkt dieser örtlichen Feiern bildete jeweils ein Fak-kelzug, an dem sich nicht nur die Formationen und Verbände der Partei, sondern alle „nationalgesinnten" Vereine beteiligten. In der Universitätsstadt Marburg gehörten dazu, wie der Korrespondent der Oberhessischen Zeitung berichtet, nicht nur die Vereinigten Kriegervereine, Jäger-, Schützen-und Marinevereine, nicht nur die Chargierten der einzelnen Korporationen, nicht nur die Marburger Polizei, nicht nur die Schulen, die Sport-und Turnvereine der Stadt, sondern auch die Evangelische Jungenschaft (BK), der christliche Verein junger Männer, das Ortskartell des Deutschen Beamtenbundes, die Postbeamtenvereinigung, der Innungsausschuß sowie der Bäcker-und Metzgergesellenverein „in zunftmäßiger Kleidung". Der Fackelzug hob sich, wie der Chronist bemerkt, „weit über das rein Parteimäßige hinaus" und war „so ganz auf den Gedanken der Einheit des Volkes gestellt". Eine Feststellung, die gewiß nicht nur für die Stadt Marburg zu-traf.

In Wehrda, einem kleinen Vorort Marburgs, war das ganze Dorf auf den Beinen. An den Ufern der Lahn brachte der Gesangverein— nach einem zeitgenössischen Bericht— „mit abgestimmter Feinheit" den Choral „Lobe den Herren" und ein Matrosenlied zu Gehör. Am Abend bewegte sich der Fackelzug, die Schulkinder voran, nach Hebron; dort sang man gemeinsam mit den Schwestern und Anstaltsinsassen das Horst-Wesselund das Deutschlandlied. In den Marburger Stadtsälen wurde wenige Tage später, am 24. und 25. März, die Symbiose zwischen Nationalsozialismus und Preußentum sogar auf der Bühne gefeiert. Die „Fridericus-Festspiele" — eine historische Revue mit Musik in 20 Bildern aus dem Leben des Großen Königs — kamen zur Aufführung; ein Szenenbild, das man in der Oberhessischen Zeitung vom 25. März 1933 abgebildet findet, zeigt Friedrich und seine Umgebung in historischen Kostümen vor dem Schloß Sanssouci; der Fahnenträger allerdings hat seine alt-preußische Standarte gegen eine Hakenkreuzfahne ausgewechselt!

Genug der Beispiele, die sich leicht vermehren ließen (eine reiche Fundgrube hierfür sind nicht nur die lokalen Tageszeitungen, sondern auch die für die Meinungsspiegelung und Meinungsbildung in den Landgebieten so außerordentlich wichtigen, aber von der Forschung bisher kaum genutzten christlichen Sonntagsblätter). Sie sind hier nicht um ihrer selbst willen angeführt worden, sondern sollen dazu dienen, wenigstens einen flüchtigen Eindruck davon zu vermitteln, wie der von Goebbels mit dem Tag von Potsdam inszenierte „Appell an das Preußentum" in weiten Kreisen einen äußerst lebhaften Widerhall fand, nicht zuletzt im jüngeren Offizierskorps der Reichswehr, etwa auch bei Henning von Tres-ckow und Graf Stauffenberg, später führende Köpfe der Widerstandsbewegung und unerbittliche Gegner Hitlers. Angesprochen waren vor allem auch die deutschnationalen und konservativen Kreise. Selbst ein Oswald Spengler, der im übrigen dem Nationalsozialismus durchaus kritisch gegenüberstand, schrieb unter dem Eindruck der Potsdamer Feier: „Der nationale Umsturz von 1933 war etwas Gewal19 tiges und wird es in den Augen der Zukunft bleiben, durch die elementare, überpersönliche Wucht, mit der er sich vollzog, und durch die seelische Disziplin, mit der er vollzogen wurde. Das war preußisch durch und durch, wie de-Aufbruch von 1914."

Selbstverständlich tat Goebbels alles, um — wa er es in seinem Tagebucheintrag vom 17. März formuliert hatte — den Tag von Potsdam „unverlöschlich in das Gedächtnis der lebenden Generation einzuprägen". In Wort und Bild, in Funk und Film wurde das Ereignis für die Nachwelt festgehalten. Neben Sonderbriefmarken mit dem Bildnis Friedrichs des Großen erschien auf dem deutschen Propagandamarkt jenes fatale, als Radierung montierte Triptychon, das Hitler in Feldherrnpose, flankiert vom „Alten Fritz" und vom „Eisernen Kanzler", verherrlichte und das vor allem auch bei der nicht ausgesprochen nationalsozialistischen Oberschicht als Zimmerschmuck beliebt war, weil es Hitler nicht als SA-Chef in schlechtsitzenden Braunhemd, sondern als historisch-legitimierten „OberstenKriegsherrn" vorführte. Zum Jahrestag der Potsdamer Feier, zum 21. März 1934, wurden 5 Millionen Zwei-Mark-Stücke und 4 Millionen Fünf-MarkStücke mit dem Bild der Garnisonkirche von Potsdam geprägt. Den Deutschen wurde so bei ihren Zahlungsgeschäften die Vereinigung von Preußentum und Nationalsozialismus ins Gedächtnis gerufen.

Das „preußische Beispiel" beim Ausbau der innerstaatlichen Machtstellung 1933— 1938

Wir verlassen damit den „Tag von Potsdam", der von der Geschichtswissenschaft des In-und Auslandes häufig als lächerliche „Rührkomödie" abgetan wird, dem aber für die Ausbreitung und Verfestigung des Nationalsozialismus im deutschen Volk eine kaum hoch genug zu veranschlagende Bedeutung zugemessen werden muß, und wenden uns nun der Frage zu, welche Rolle das „preußische Beispiel" beim innerstaatlichen Machtaufbau und -ausbau in den Jahren 1933 bis 1938 gespielt hat. Nächst Goebbels war es Hermann Göring, der als Präsident des Deutschen Reichstages und dann — seit dem 11. April 1933 — als preußischer Ministerpräsident immer aufs neue das „preußische Beispiel" beschwor und jede Gelegenheit nutze, den Nationalsozialismus als einzigen legitimen Erben altpreußischer Tradition zu erweisen. Schon in seiner Rede, mit der er am Nachmittag des 21. März 1933 den neuen Reichstag in der Kroll-Oper eröffnete, hatte Göring die mit dem Gang nach Potsdam eingeschlagene politische Stoßrichtung unmißverständlich verkündet: „Nun ist Weimar überwunden . . . Wir sind nach Potsdam gegangen, weil wir der Welt zeigen wollen, daß der Geist von Potsdam in Zukunft auch uns erfüllt." Potsdam sollte an die Stelle von Weimar treten — das war das politische Programm. Was Göring und die führenden Nationalsozialisten meinten, wenn sie von der Wiedererweckung des „Geistes von Potsdam" sprachen, war nichts anderes als: Beseitigung auch der letzten Reste demokratischer Staatsgestaltung durch eine autoritäre nationalsozialistische Staatsführung im Reich und in den Ländern. Auf diesem Weg sollte Preußen, wie Hermann Göring am 18. Mai 1933 vor dem preußischen

Landtag ausführte, den übrigen Ländern vorangehen; hier liege die „deutsche Mission", die Preußen im Dienste des Reiches noch zu erfüllen habe. Das preußische Ermächtigungsgesetz vom 18. Mai, das Gesetz über den Preußischen Staatsrat vom 8. Juli und über die Provinzialräte vom 15. Juli 1933 brachten auch auf dem Papier das Ende des Parlamentarismus und der lokalen Selbstverwaltung in Preußen.

Den Sieg des autoritären Führerprinzips feierte Göring — der in seinen Mußestunden in fiktiven Ahnentafeln seine Familie direkt mit Friedrich dem Großen verband — in Anlehnung an den „Tag von Potsdam" am 15. September 1933 mit einem Staatsakt in der neuen Aula der Berliner Universität; wie der Staatsakt in der Garnisonkirche der Eröffnung des Reichstags voranging, so sollte dieser Staatsakt der ersten Sitzung des neuernannten preußischen Staatsrats vorangehen. Wieder wird die preußische Vergangenheit, das preußische Vorbild und Beispiel zur Rechtfertigung und Glorifizierung der eigenen Handlungsweise heraufbeschworen: Am Morgen des 15. September fährt Göring in die Reichskanzlei, um seinem Führer im Namen der preußischen Regierung fünf der schönsten und wertvollsten Siegelstempel aus dem Geheimen Staatsarchiv in silbernen Abgüssen zu überreichen. In seiner Festrede betont Göring in Anwesenheit fast des gesamten diplomatischen Korps, die Bedeutung des Tages liege darin, daß mit der Schaffung des neuen Staatsrates in Preußen der Grundstein zu einer „wahrhaft nationalsozialistischen Staatsverfassung" gelegt sei; Preußen habe damit den wichtigsten Schritt zur Vollendung des Dritten Reiches bereits getan. Wie in Potsdam, so schließt auch dieser feierliche vom Rundfunk übertragene Staatsakt mit dem Niederländischen Dankgebet. Als Zeichen der Verbundenheit des neuen mit dem alten Preußen legt Göring am Reiterstandbild Friedrichs des Großen Unter den Linden einen Kranz nieder. Am nächsten Tage, bevor die erste Arbeitssitzung des Preußischen Staats-rates beginnt, fährt er in brauner Parteiuniform zur Potsdamer Garnisonkirche, um am Grabe Friedrichs des Großen einen Lorbeerkranz niederzulegen. Er trägt die Widmung: „Preußens großem König, Feldherrn und Staatsmann in Ehrerbietung und unauslöschlicher Treue".

In zahlreichen Reden spricht Göring in den nächsten Jahren von der „ewigen Ethik des Preußentums" und feiert seinen Führer als „echten Preußen". Umgekehrt scheut er sich auch nicht, Friedrich den Großen den „ersten Nationalsozialisten auf dem preußischen Thron" zu nennen. In seiner Sportpalast-Rede zum Vierjahresplan vom 28. Oktober 1936 rief er aus: „Ein gewaltiges Programm . . . Jeder soll daran beteiligt werden . . . Aber, meine lieben Volksgenossen, das kann nur sein, wenn auch Ihr, jeder einzelne von Euch, mit alten Vorstellungen brecht, wenn Ihr endlich diese alte, aus Jahrhunderten überkommene ewige Scheu vor dem Neuen beseitigt. Das war schon bei unseren Vorfahren so, als sie einmal keine Kartoffeln pflanzen wollten. Es hat aber damals schon einen Nationalsozialisten auf dem preußischen Thron gegeben, der dem preußischen Volk beibrachte, diese Frucht zu pflanzen." Friedrich der Große als geistiger Ahnherr des Vierjahresplans •—-diese These fand in der nationalsozialistischen Publizistik, etwa in den Schulungsbriefen der Partei, ein lebhaftes Echo.

Eine hervorragende Rolle spielte das „preußische Beispiel" auch für den Schöpfer der SS, Heinrich Himmler. Von Geburt Bayer, war er doch, wie wir nicht nur aus den Memoiren seines Leibarztes Kersten wissen, ein ausgesprochener Anhänger und Verehrer der preußischen Könige, insbesondere des Soldaten-königs und Friedrichs des Großen. Er sah in der preußischen Armee „die erste große Schule absoluter Disziplin", das — sicherlich einseitig ausgedeutete — Vorbild für die zum Lebensprinzip seiner SS-Truppen erhobene Forderung des „bedingungslosen Gehorsams". Auf den Ordensburgen und Junkerschulen der SS nahm die preußische Geschichte einen hervorragenden Platz im historischen und politischen Unterricht ein. Oft hörte man Himmler sagen: „Friedrich der Große hätte in einem solchen Fall folgendes getan." Ein angesehener deutscher Staatsrechtler zog in einem Aufsatz über das Verhältnis von Polizei und SS durchaus ernstgemeinte Parallelen zwischen dem Führerkorps Heinrich Himmlers und dem Offizierskorps Friedrichs des Großen.

Das „preußische Beispiel" wurde aber nicht nur in den Reden führender Nationalsozialisten, nicht nur im internen Dienstbetrieb der Partei und ihrer Gliederungen immer wieder apostrophiert, die Machthaber des Dritten Reiches legten großen Wert darauf, auch dem Ausland gegenüber die Verbindung von Nationalsozialismus und Preußentum immer erneut zu demonstrieren. Dazu mußten die so-genannten Staatsakte herhalten, zu denen jeweils das gesamte diplomatische Korps eingeladen war. Gern führte man befreundete Staatsmänner nach Potsdam und ließ sie an den Särgen der Preußenkönige einen Kranz niederlegen. Im Dienste solcher Demonstrationen stand auch der 50. Geburtstag Hitlers: Das höhere Führerkorps der Partei — nahezu 1600 Mann, angetreten im Mosaiksaal der Reichskanzlei — überreichte als einzige Geburtstagsgabe 50 Originalbriefe Friedrichs des Großen.

Friedrich der Große als „Garant des Sieges" im Zweiten Weltkrieg

Nach alledem nimmt es nicht wunder, daß das „preußische Beispiel" im Denken Hitlers einen so wichtigen Platz gerade in den Jahren des Zweiten Weltkrieges einnimmt. Je aussichtsloser die militärische und politische Lage wurde, desto leuchtender erstrahlte die sieg-verheißende Gestalt Friedrichs des Großen als beispielgebendes Vorbild für zähes Aushalten in scheinbar ausweglosen Situationen. Schon in den Kriegsplänen, wie Hitler sie im November 1937 vor den Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile in Anwesenheit des Reichswehrministers und des Außenministers entwickelte, spielt der Hinweis auf das preußische Beispiel eine bedeutsame Rolle. Hitler erklärt: Zur Lösung der deutschen Frage, d. h. zur Schaffung des Lebensraumes im Osten, gebe es nur den Weg der Gewalt, dieser aber sei niemals risikolos. Aber auch die Kämpfe Friedrichs des Großen um Schlesien und die Kriege Bismarcks gegen Österreich und Frankreich seien von unerhörtem Risiko gewesen. Der Gedanke des Risikos, des Spiels mit dem höchsten Einsatz, bei dem die Existenz des Staates in die Waagschale geworfen wird — das ist es, was Hitler an dem preußischen Beispiel imponiert.

Bereits in den ersten Stunden des Krieges, in seiner Reichstagsrede vom 1. September 1939, beruft Hitler sich — genau wie einst in der „Kampfzeit" — auf Friedrich den Großen: „Ein Wort habe ich nie kennengelernt, es heißt: Kapitulation. Wenn irgend jemand aber meint, daß wir vielleicht einer schweren Zeit entgegengehen, so möchte ich bitten zu bedenken, daß einst ein Preußenkönig mit einem lächerlich kleinen Staat einer der größten Koalitionen gegenübertrat und in drei Kämpfen am Ende doch erfolgreich bestand, weil er jenes gläubig starke Herz besaß, das auch wir in dieser Zeit benötigen." Noch bevor der Polenfeldzug beendet ist, erklärt Hitler am 19. September 1939 in seiner Rede im Artushof in Danzig an die Adresse der Westmächte gewandt, Deutschland werde niemals kapitulieren. „Die Herren mögen zur Kenntnis nehmen: Die Generation, die heute in Deutschland führt, ist nicht die Generation von Bethmann Hollweg. Heute haben Sie ein friderizianisches Deutschland vor sich." Damit war das Schlagwort vom „friderizianischen Deutschland, das nie kapitulieren werde", geprägt; es fand seinen Niederschlag übrigens auch in der historischen Literatur, etwa in der Schrift von F. Bremer aus dem Jahre 1943: „Von Friedrich dem Großen zum friderizianischen Deutschland Adolf Hitlers".

Je länger der Krieg dauerte, je mehr fühlte sich Hitler als der Friedrich der Große des 20. Jahrhunderts. Vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht verglich er am 23. November 1939 seinen Entschluß, in Polen einzumarschieren, mit dem Entschluß Friedrichs des Großen, in Schlesien einzufallen. Daran knüpfte er die Bemerkung, auch Preußen verdanke seinen Aufstieg dem Heroismus eines Mannes. Von seiner Umgebung wurde Hitler bereits nach dem Polen-und Frankreichfeldzug als der „größte Feldherr aller Zeiten" gefeiert. Vor Vertretern der deutschen Presse in Berlin sagte Hermann Göring noch während des Frankreichfeldzuges am 20. Mai 1940: „Es ist selten in der deutschen Geschichte, daß sich in einer Person die Weisheit des Staatsmannes und das Genie des Feldherrn so paaren. In Friedrich dem Großen hatte Deutschland eine solche Persönlichkeit. In Adolf Hitler hat die Vorsehung uns wieder ein solches Genie beschert." Ganz ähnlich äußerte sich General Jodl noch dreieinhalb Jahre später, am 7. November 1943, in einem Vortrag vor den Reichs-und Gauleitern in München.

Strategische oder taktische Kritik seine] meeführer und Generäle erstickte Hitler fig, wenn ihm Argumente fehlten, mit Hinweis auf Friedrich den Großen. S(ging es beispielsweise dem Befehlshabe 2. Panzerarmee, Guderian, der am 20.

zember 1941 im Führerhauptquartier zl stenburg Vortrag über die operative hielt und dafür eintrat, seine Armee schnittsweise auf eine verkürzte Winte hing zurückzunehmen. Hitler widersprach (müssen) sich in den Boden einkrallen jeden Quadratzentimeter Boden verteidig Glauben Sie, die Grenadiere Friedrichs Großen wären gerne gestorben? Sie wc auch leben, und dennoch war der Könit rechtigt, das Opfer ihres Lebens von ihm verlangen. Ich halte mich gleichfalls fü rechtigt, das Opfer ihres Lebens von ihm verlangen. Ich halte mich gleichfalls fü rechtigt, von jedem deutschen Soldaten Opfer seines Lebens zu fordern."

Bis in die letzten Monate, Wochen und des Zweiten Weltkrieges war Friedrich Große sozusagen Hitlers „Garant" dafür, Deutschland — allen Widerwärtigkeiten Trotz — dennoch „siegen" werde. Um einige Beispiele zu nennen, sei auf die sprechung Hitlers mit den Generalen V phal und Krebs vom 31. August 1944, mit Chef der Generalinspektion der Panzer pen, General Thomale, in der Nacht 29. auf 30. Dezember 1944 und nicht zt auf Hitlers Ansprache vor höheren Offiz;

im Adlerhorst bei Ziegenberg in Hessen Beginn der Ardennenoffensive am 12. De ber 1944 hingewiesen.

Bis zum bitteren Ende hat Hitler und mit Goebbels an dem „Friedrich-Mythos" fe halten. Einziger Schmuck in Hitlers Art zimmer im Bunker der Reichskanzlei, 16 N unter der Erde, war das Bildnis Friedrich« Großen von Graff. „Vor diesem Bilde“ bemerkte er Ende Februar 1945 einma Guderian, „hole ich mir immer neue K wenn die schlechten Nachrichten mich nie zudrücken drohen." Goebbels Bindung an ler war in diesen letzten Wochen vor Kr ende wohl enger als je zuvor. Er hatte s Berliner Wohnung, die insgesamt sechs B oder Porträtbüsten Friedrichs des Großer herbergte, verlassen und war seinem Fü in den Bunker der Reichskanzlei gefolgt. 1 zum 30. Januar 1945 hatte er den „Durchh film" „Kolberg" fertigstellen und zur U führung in die eingeschlossene Atlantis stung La Rochelle fliegen lassen. Jetzt rid er seinen Führer auf, indem er ihm aus lyles Helden-Epos über Friedrich den Gr vorlas, und zwar besonders jene Abschnitte aus den schwärzesten Tagen des Siebenjährigen Krieges, als eine Hiobsbotschaft die andere jagte und dann ganz plötzlich durch den Tod der russischen Zarin Elisabeth am 12. Februar 1762 der Ring der Feinde gesprengt wurde. Am 12. April 1945 stirbt Roosevelt. Diese Nachricht schien, wie Augenzeugen berichten, Goebbels unglaublich zu erregen. Er ließ in seinem Arbeitszimmer Champagner servieren und rief sogleich Hitler an: „Mein Führer, ich beglückwünsche Sie. Roosevelt ist tot! Das Schicksal hat Ihren größten Feind geschlagen. Gott hat uns nicht verlassen."

Das „preußische Beispiel" hat für den Nationalsozialismus von der „Kampfzeit" bis zum „bitteren Ende" in Propaganda und Politik eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Friedrich der Große war für den Führer der NS-Bewegung, für den Kanzler des Dritten Reiches und für den „größten Feldherrn aller Zeiten" ein immer wieder beschworenes, wenn auch häufig mißverstandenes Vorbild. Dem „Geist von Potsdam" huldigte man vor aller Welt in jener von Goebbels inszenierten Schau in der Garnisonkirche von Potsdam, die später zu einem symbolischen Wallfahrtsort bei Besuchen befreundeter Staatsoberhäupter wurde. Für die Eröffnung des neugewählten Reichstags wählte man in voller Absicht den 21. März, da am gleichen Tage vor 62 Jahren einst Bismarck den ersten deutschen Reichstag eröffnet hatte. Was Goebbels im Kampf um die preußischen Landtagswahlen von 1932 betont hatte, gab den Tenor ab für die Reden, die Hermann Göring als Reichstagspräsident und als neuernannter preußischer Ministerpräsident hielt: „Preußen ist das Kernland des Reiches. Von ihm soll und wird die Wiedergeburt der deutschen Nation ausgehen." Von der in Preußen durch Göring begründeten Geheimen Staatspolizei ging der organisierte Terror über ganz Deutschland — bis hin zu der Gittertür von Buchenwald. Es ist eine grausige Ironie der preußisch-deutschen Geschichte, daß auf ihr mit eisernen Lettern jene Worte geschlagen waren, die seit 1701 das Motto des Preußischen Ordens vom Schwarzen Adler waren und die durch die Jahrhunderte die Maxime des preußischen Staates verkündeten: „Jedem das Seine!" Für Himmler und seine SS war Friedrich II. eines der wichtigsten historischen Leitbilder, in der preußischen Armee sah er die „erste große Schule absoluter Disziplin". Es ist eine nicht zu übersehende Tatsache, daß über dem verbrecherischen Handeln Hitlers noch in den letzten Monaten, Wochen und Stunden des Krieges das Bild des größten preußischen Königs schwebte.

Zweifellos gibt es Linien, die von Hitler zu Friedrich dem Großen und von Friedrich dem Großen zu Hitler führen. Zweifellos weist das Preußentum Charakterzüge auf, die dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet haben: Gewöhnung an Ordnung, Disziplin und Gehorsam konnten zum „bedingungslosen Gehorsam", zum „Kadavergehorsam" entarten. Ein pflichtbewußtes, aber unpolitisches Beamtentum konnte nur allzu leicht zur Beute einer von Machtgier besessenen Staatsführung werden. Die Beschränkung des Blickfeldes auf den eigenen Staat und seine Bedürfnisse hatte den Mangel an Verständnis für andere Völker und ihre Probleme zur Folge. Die Ausschaltung des Staatsvolkes von der Staatsverantwortung ebnete den Weg für die endgültige Zerschlagung der jungen Demokratie von Weimar und für die Aufrichtung der Diktatur-gewalt Hitlers.

Das alles sollte man bei einer Erörterung des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Preußentum nicht vergessen. Ein Weiteres aber sollte ebenfalls nicht vergessen werden: Keiner der Preußenkönige würde das, was im Dritten Reich geschah, gutgeheißen haben! Preußen war im Rahmen seiner Zeit ein „Rechtsstaat", auf den z. B. die Engländer des 18. Jahrhunderts mit Achtung und Respekt blickten. Preußen war auf religiösem Gebiet der Bahnbrecher des Toleranzgedankens, der keinen Kirchenkampf duldete, dessen Ziel die Ausrottung der christlichen Religionen war. Preußen war in seiner staatlichen Verwaltung ein Vorbild für Sauberkeit, Anständigkeit, selbstlose Hingabe und Pflichterfüllung.

Wenn wir auch mehr Verbindungslinien zwischen Hitler und Friedrich dem Großen sehen, als es gemeinhin geschieht, so bleibt doch bestehen, was bereits von anderer Seite gesagt worden ist, „daß Preußens größter König von der Primitivität eines Adolf Hitler ebensoweit entfernt war wie das Flötenkonzert von Sansscouci vom Horst-Wessel-Lied" (G. Ritter).

Fussnoten

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Manfred Schlenke, Dr. phil., ord. Prof, für Neuere Geschichte, geb. 1. November 1927 in Wuppertal, z. Z. Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim, 1962 bis 1964 Dozent in Marburg, 1964— 1965 Gastprofessor in Chicago. Veröffentlichungen zur englischen und preußischen Geschichte, zur Geschichte der Historiographie und der internationalen Beziehungen zwischen den beiden Weltkriegen. Vers, von: England und das friderizianische Preußen 1740— 1763. Ein Beitrag zum Verhältnis von Politik und öffentlicher Meinung im England des 18. Jahrhunderts, Freiburg 1963; Hrsg, von: Geschichte in Quellen, 6 Bde., München 1961 ff.