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Die „Neue Linke" und die Institutionen der Demokratie | APuZ 44/1968 | bpb.de

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APuZ 44/1968 Die „Neue Linke" und die Institutionen der Demokratie Spätkapitalismus ? Demokratie und Demokratismus

Die „Neue Linke" und die Institutionen der Demokratie

Ulrich Lohmar

Die Ereignisse dieses Sommers in Osteuropa haben den Kommunismus in seinem Selbstverständnis und in seiner geistigen Wirkungsmacht stark beeinflußt. Unberührt davon wird die „Neue Linke" bleiben, die von vielen fälschlich mit Kommunisten gleichgesetzt wird.

Die „Neue Linke" ist eine tiefreichende Form des Protestes gegen die Industriegesellschaft. Ihre Anhänger sind sich einig in der Kritik der industriellen Welt. Sie definieren die Produktionsmittel in ihrer Bedeutung für das Verhalten und die Ordnung der Menschen umfassender als die Kommunisten und meinen, daß der Zwang der Arbeitswelt, der Werbung, der Reklame oder der Massenkommunikationsmittel den ganzen Menschen bis in sein Inneres forme und verforme. In diesem Sinne halten sie die Industriegesellschaft sowohl in ihrer bürokratisch-kommunistischen wie auch in ihrer sozial-kapitalistischen Form für totalitär, für unterdrückend, für repressiv.

übereinstimmend mit den Kommunisten setzen sie die analytische Bewertung der Industriegesellschaft absolut. Für die „Neue Linke“ ist es uninteressant, ob sich eine Mehrheit oder eine Minderheit im Sinne ihrer Definition unterdrückt fühlt. Wer sich der Repression nicht ausgeliefert empfindet, hat eben ein „falsches“ Bewußtsein. Hier begegnet sich das Denken der „Neuen Linken" wiederum insoweit mit dem der Kommunisten, als beide es für objektiv beschreibbar halten, was dem Menschen frommt. Die Meinung der Leute über sich selbst und über das, was sie glücklich und frei macht, interessiert die „Neue Linke" nur insofern, als solche Auffassungen dem vermeintlich objektiven Gesellschaftsmodell der „Neuen Linken" entsprechen. Dennoch weigert sich die „Neue Linke" oder ist dazu nicht fähig, den tendenziell angestrebten Zustand der Gesellschaft genauer zu beschreiben. So eindeutig die „Neue Linke“ in ihrer analytischen Kritik der bestehenden Industriegesellschaft zu sein versucht, so vage bleibt sie in den Entwürfen einer neuen Ordnung. Darauf angesprochen, flüchten sich ihre Interpreten in die These, man wolle die Spontaneität der Menschen ja erst einmal freisetzen, und dann werde sich schon alles zum Neuen und Besseren wenden.

Das Establishment ist die Zielscheibe der „Neuen Linken". Dazu gehören alle Menschen, Gruppen und Institutionen, die die analytischen Prämissen und ideologischen Perspektiven der „Neuen Linken" nicht für richtig halten und zugleich eine führende Stellung in der Industriegesellschaft haben. Wie sich die ideologische Speerspitze der Kommunisten stets in erster Linie gegen die Sozialdemokraten und nicht so sehr gegen die Konservativen gerichtet hat, so empfindet die „Neue Linke" vor allem entschiedene Reformer als ihre eigentlichen Gegner. Denn sie argwöhnt, daß alle Reformen, die sich innerhalb des Establishment und von ihm ausgehend durchsetzen lassen, zu einer Verfestigung des vermeintlich falschen Bewußtseins im ganzen führen müssen. Dementsprechend weist die „Neue Linke" jedes Angebot zurück, sich auf Spielregeln z. B.der parlamentarischen Demokratie oder des Rechtsstaates festlegen zu lassen. Das ist nicht Bosheit oder Dummheit, sondern ergibt sich folgerichtig aus der totalen Kritik der Industriegesellschaft. Auch die Anwendung von Gewalt ist im Prinzip dann nicht nur erlaubt, sondern unter Umständen notwendig — wenn man die ideologischen Voraussetzungen der „Neuen Linken" akzeptiert.

In der Bundesrepublik Deutschland kommt hinzu, daß sich die „Neue Linke" als Außer-parlamentarische Opposition (APO) begreift, wenn auch einstweilen nicht organisiert. Die parlamentarische Demokratie ist für die APO das bevorzugte Ziel ihrer Opposition. Nicht wenige vermeintlich linke Literaten, Schriftsteller und Publizisten suchen und finden in der APO eine institutioneile Geborgenheit, die ihnen gleichzeitig ein ganz persönliches Votum gestatten und es dennoch erlaubt, sich irgendwo „einzuordnen". Es ist eine Art Engagement ohne konkrete und präzisierbare Verantwortlichkeit, ein Bekenntnis ohne differenzierte Einsicht. Als zweite Besonderheit der „Neuen Linken" kommt in Deutschland der Anspruch vieler ihr zuneigender Studenten auf ein bevorrechtigtes politisches Mandat der Universität und damit der Studierenden hinzu.

Es wäre fatal, wollte das Establishment übersehen, daß die „Neue Linke" zu ihren Thesen und zu ihren Aktionen vielfach deshalb kommt, weil sie das Spannungsverhältnis zwischen demokratischem Leitbild und politischer Wirklichkeit mit mehr Sensibilität wahrnimmt als andere, aber eben nicht hinnehmen mag. Die „Neue Linke" will eine bruchlose Ordnung, und der Hinweis auf die Relativität alles menschlich und damit politisch Erreichbaren genügt ihr nicht, um den taktischen Opportunismus und die gedankenlose Betriebsamkeit zu begründen, denen man in der Tagespolitik so oft begegnet. Es ist eine Sache, den totalitären Charakter der Grundpositionen der „Neuen Linken" deutlich zu erkennen und klar anzusprechen. Aber es ist eine andere Sache, vor allem den Studenten unter den Anhängern der „Neuen Linken" bestätigen zu müssen, daß sie durch ihre Opposition endlich ein Reformklima in der Bundesrepublik geschaffen haben und daß viel intellektuelle Redlichkeit sie zu ihren Thesen und Taten inspiriert. Zum ersten Mal in der neuen deutschen Geschichte bekundet eine große Mehrheit der Studenten politisches Interesse — in ihrem subjektiven Verständnis zugunsten von mehr, nicht von weniger Demokratie. Das ist ja das paradoxe: Die „Neue Linke" wendet sich in ihrem Selbstverständnis nicht gegen die Demokratie, sondern viele ihrer Anhänger glauben ernsthaft und aufrichtig, den Stein der demokratischen Weisheit gefunden zu haben. Dies ist, soweit Logik und Erfahrung uns Auskunft geben können, ein Irrtum. Dennoch wäre es für die intellektuelle Qualität der Meinungsbildung in unserer Gesellschaft verhängnisvoll, wenn sich das Establishment der Politik und der Wissenschaft auf die Ablehnung der Thesen der „Neuen Linken" und auf ihre politische Ausschaltung beschränken würde. Es geht vielmehr darum, ein größeres Maß an Überein-stimmung zwischen den Prinzipien der Demokratie und der Wissenschaft einerseits und dem politischen wie wissenschaftlichen Alltag andererseits durchzusetzen.

„Objektivität" und Herrschaftsfreiheit

Christian Watrin Spätkapitalismus? ................................ Manfred Hättich Demokratie und Demokratismus .... S. 12 S. 24

Die Ausblendung des subjektiven Bewußtseins der Menschen, also ihrer eigenen Einschätzung der Vorzüge und Nachteile in ihrem Leben und in ihrer Umwelt, ist der eigentlich totalitäre Ansatz in der Argumentation der „Neuen Linken". Ihre monokausale Thesenreihe wird absolut gesetzt; würde man sie im Sinne eines kritischen wissenschaftlichen Disputs begrifflich und dem Anspruch auf Geltung nach relativieren, dann käme man ja in der Phase der politischen Verwirklichung sofort wieder zu der alten Frage jeder gesellschaftlichen Ordnung, auf welche Weise denn politisch entschieden werden soll in all den Fällen, in denen ein allgemeines Einverständnis nicht herzustellen ist. Es ist nur folgerichtig, daß die Kritik der „Neuen Linken" am Establishment ebenfalls total angelegt ist, und die Ungenauigkeit alternativer Gesellschaftsmodelle paßt ebenfalls in dieses Bild.

Die „Neue Linke" weigert sich — was eine beträchtliche intellektuelle Ignoranz voraussetzt —, die beiden Kriterien wissenschaftlichen Denkens und Forschens ihrer eigenen Gesellschaftsanalyse zugrunde zu legen: Logik und Erfahrung. Ihre analytische Einseitigkeit und ihre ideologische Vorfixiertheit bringen sie in das Dilemma, in der konkreten Ausformung dessen, was die „Neue Linke" Freiheit nennt, entweder beim „demokratischen Zentralismus" der konservativen Kommunisten zu landen oder beim Anarchismus. Diese Alternativen zu sehen oder gar zu ziehen, weigert sich die „Neue Linke" dennoch beharrlich, denn auf diese Weise würden ihre Prognosen von den Resultaten her fragwürdig.

Nirgendwo findet man deshalb eine genauere Beschreibung dessen, was es etwa mit der herrschaftsfreien Gesellschaft konkret auf sich haben könnte. Vor der Einsicht, daß Herrschaftsfreiheit als institutionell zu sichernder Zustand nicht zu erreichen ist, zieht sich die auf ungewisse „Neue Linke" die Hoffnung zurück, die freizusetzende Spontaneität werde das schon zuwege bringen. Die „Neue Linke" läßt sich gar nicht erst auf eine Untersuchung der Frage ein, welche Strukturmerkmale und Verhaltensanforderungen der Industriegesellschaft immanent sind, also unaufhebbar und unaufgebbar, und welche anderen mit dem Ziel einer relativen Herrschaftsfreiheit verändert oder kompensiert werden könnten. Das Ausweichen in den totalen Protest und in die totalitäre Opposition ist nicht nur eine neue Stilart eines scheinbar progressiven Utopismus, sondern hier begegnet die „Neue Linke“ in einer denkwürdigen Weise den konservativen Kulturkritikern, die den Einbruch der modernen Wissenschaft und Technik in unsere Welt und den steigenden Lebensstandard immer noch für den modernen Sündenfall halten.

Die „Neue Linke" hat keinen intellektuellen Zugang zu der Einsicht, daß die Verständigung der Demokraten darüber, mit Mehrheit über politische Streitfragen zu entscheiden, auf der Erfahrung beruht, daß es eine objektive Richtigkeit in der Politik selten gibt. Und in der Wissenschaft ist das prinzipielle Infragestellen einer einmal erreichten Position ja erst recht gerade die Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt. Die Weigerung der „Neuen Linken", das subjektive politische Bewußtsein der Menschen als legitime und hinzunehmende Größe in ihre Rechnung einzustellen, läßt sie ganz im Gegensatz zu ihrem Plädoyer für mehr kritische Rationalität zurückfallen in einen oberflächlichen Determinismus.

Es ist die Ignoranz einer Scheinobjektivität, die den Denkstil der „Neuen Linken" prägt; sie mündet in den Anspruch, darüber zu befinden, was die Menschen für ihre Pflicht und für ihr Glück halten. Das zu tun, liegt jedoch wiederum keineswegs in der subjektiven Absicht der Anhänger der „Neuen Linken", aber es ist nichtsdestoweniger in der vermeintlichen Objektivität ihres Anspruchs beschlossen. Politische Utopie, ideologischer Determinismus und persönlicher Idealismus verbinden sich bei der „Neuen Linken" in einer neuen Weise.

Der Angriff auf das Establishment

Eine Definition dessen, was die „Neue Linke" unter Establishment jeweils im einzelnen versteht, gibt es nicht. Statt dessen bedienen sich ihre Anhänger symbolähnlicher Einrichtungen, an denen sie ihre Kritik und ihre Opposition exemplifizieren. In der Bundesrepublik sind das der Bundestag, der Springer-Konzern und die Professoren. Im Parlament sehen die „Neuen Linken", zumal angesichts der Großen Koalition in Bonn, das Zentrum der zum Establishment geronnenen Spielregeln. Viele Professoren, vor allem aber die Rektoren der Universitäten, erscheinen den Studenten der „Neuen Linken" als Figuren einer vergangenen Welt oder als Gefangene des Establishments. Geradezu dämonisiert hat die „Neue Linke" Axel Springer; sie baut ihn zu einer negativen Symbolfigur auf. Aufschlußreich ist es dabei, daß die Kritik an Springer sich meist keineswegs in den distanzierten Formen einer rationalen Kritik hält, sondern in persönliche Abneigung gegen den Verleger umschlägt.

Die Kritik der „Neuen Linken" am Establishment in der Bundesrepublik richtet sich nicht darauf, daß die etablierten Parteien, Parlamente, Regierungen und Organisationen überfällige Reformen unterlassen hätten. Einen solchen Vorwurf könnte man ja mit Grund in vielen Fällen erheben. Was der „Neuen Linken" am deutschen Establishment mißfällt, ist dessen Weigerung, die analytischen Prämissen und die ideologischen Perspektiven der Jünger Marcuses zu übernehmen. Es ist für die „Neue Linke" ganz unerheblich, daß die Angehörigen des Establishments in ihren politischen Zielen keineswegs übereinstimmen. Ihr einziger Maßstab ist, ob die für objektiv gehaltenen Thesen der „Neuen Linken" akzeptiert werden oder nicht. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich." Der Vorwurf gegen das Establishment, es erweise sich im Hinblick auf die Anpassung an die Industriegesellschaft und deren qualitative Fortentwicklung als unfähig, bedeutet aus diesem Grunde im Verständnis der „Neuen Linken" nicht viel. Infolgedessen begrüßt sie jeden noch so vereinzelten Politiker oder Professor in ihren Reihen, der sich der totalen Kritik anschließt und sich zur „Neuen Linken" „bekennt". Gerade in der Art und Weise, wie sich die Anhänger der „Neuen Linken" selber identifizieren und „solidarisieren", zeigt sich der Umschlag von der geforderten Rationalität in eine aggressive Emotionalität und eine dogmatische ideologische Kameraderie. Schon mit ihrem eigenen Verhaltensstil demonstriert die „Neue Linke" ihre im Ansatz totalitäre Selbstentfremdung.

Ihr bisheriger politischer Mißerfolg in der deutschen Politik hat die „Neue Linke" keineswegs zu der Überlegung veranlaßt, daß ihre Grundpositionen vielleicht überprüft werden sollten. Vielmehr neigen die meisten ihrer Anhänger dazu, den politischen Mißerfolg geradezu als einen Beweis für die Unüberwindlichkeit des Establishments innerhalb der bestehenden Industriegesellschaft zu werten, darin ihre totale Kritik bestätigt zu sehen und daraus zu folgern, trotz der Mißerfolge in der Sache eben recht zu haben. Zur Ignoranz der Scheinobjektivität kommt die Arroganz der Ohnmacht; die ideologischen Thesen finden ihren Ausdruck in einer entsprechenden Verhaltensweise.

Ignoranz und Ohnmacht sind dominierende Seiten im Erscheinungsbild der „Neuen Linken". Hier und da versucht sie jedoch auch, praktikable Alternativen zu entwickeln. In London, Berlin und Hamburg z. B. haben sich Studenten und wenige Dozenten darangemacht, Gegenmodelle auszuprobieren und „Kritische Universitäten" zu gründen. Dieser Versuch hat eine erste, wenn auch begrenzte Selbstreflexion innerhalb der „Neuen Linken" bewirkt und etwa ihre These von der möglichen Herrschaftsfreiheit doch relativiert. Auch an einer „Kritischen Universität" kommt man um die Erfahrung nicht herum, daß einmal vereinbarte Vorlesungen, Übungen oder Seminare eingehalten, daß Aufgaben und Prüfungen bewältigt werden müssen. Das Problem der Fixierung von Spielregeln ist eben in keiner Instituion zu umgehen.

Allerdings täten die etablierten Universitäten gut daran, diese verspätete Einsicht der „Neuen Linken" an ihren „Kritischen Universitäten" nicht nur nachsichtig zur Kenntnis zu nehmen, sondern zugleich Hinweise aufzunehmen, die in der inhaltlichen, methodischen und organisatorischen Anlage der „Kritischen Universitäten" zu finden sind. Die „Kritischen Universitäten" spiegeln nicht nur die ideologische Selbsttäuschung ihrer Initiatoren wider, sondern sie lassen auch Versäumnisse im wissenschaftlichen Angebot, im methodischen Verfahren und im kooperativen Verhalten der alten Hochschulen erkennen.

Ein politisches Mandat der Hochschule?

Das verbreitete Desinteresse der Mehrheit der deutschen Studenten bis in die sechziger Jahre hinein hatte dazu geführt, für die politische Bildung an den Hochschulen größeren Raum zu fordern und die politische Relevanz wissenschaftlicher Aussagen aufmerksamer zu registrieren. Dann entwickelte sich zunächst eine zunehmend starke studentische Opposition gegen die staatliche Hochschulpolitik und gegen die Handhabung der Hochschulautonomie durch die Professoren. Die „Neue Linke" suchte diese Reformbewegung in der ihr eigenen Weise zu politisieren. Beide Bestrebungen begegnen sich jetzt in dem Anspruch auf ein akademisches politisches Mandat allgemeiner Art.

Die Führung des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) begründet diesen Anspruch damit, daß die Wissenschaft in ihrer konkreten Arbeitsgestaltung in Forschung und Lehre, ungeachtet der Selbstverwaltung und der Autonomie der Hochschulen, politisch weitgehend vorgeformt sei und ihrerseits beträchtliche politische Wirkungen erzeuge. Die Studenten denken dabei nicht nur an den naturwissenschaftlichen und technologischen Bereich. Die Hochschule dürfe also, sagen der VDS und mit ihm die „Neue Linke" in Deutschland, der politischen Relevanz ihrer Tätigkeit und ihrer Aussage nicht ausweichen. Dies ziehe die Pflicht nach sich, sich auch zu Vietnam, zur Notstands-gesetzgebung oder zur Pressekonzentration zu äußern, und zwar aus der wissenschaftlichen, nicht aus der staatsbürgerlichen Kompetenz der Professoren, Assistenten und Studenten. Um die Hochschule in die Lage zu versetzen, dieser ihrer — sich vermeintlich aus der wissenschaftlichen Arbeit ergebenden — Verpflichtung zur Übernahme eines politischen Mandats angemessen nadikommen zu können, soll sie nach den Vorstellungen des VDS ihre Autonomie gegenüber dem Staat zwar behaup-ten, aber anders praktizieren. Dem angestrebten Zustand einer Herrschaftsfreiheit an den Hochschulen glauben die Studenten dadurch näherkommen zu können, daß sie eine andere Zusammensetzung der akademischen Organe durchsetzen. Mit Hilfe der Drittelparität wollen sie die Hochschule „demokratisieren" und der Herrschaftsfreiheit annähern. Für die „Neue Linke" sind das jedoch nur Vorstufen einer angestrebten Politisierung der Hochschule in ihrem Sinne.

Der Anspruch auf ein spezifisch akademisches politisches Mandat ist nur im Rahmen des Erscheinungsbildes der „Neuen Linken" zu begreifen. Selbstverständlich spricht die „Neue Linke" mit ihrer These von der Interdependenz der Wissenschaft und der Politik einen gegebenen Tatbestand zutreffend an. Doch ihre Folgerung, aus der Kompetenz der Wissenschaft ergäben sich Chance und Pflicht zur politischen Äußerung, beruht auf einem Mißverständnis der Wissenschaft wie der Demokratie,

Die Wissenschaft kann sich mit den ihr entsprechenden Mitteln der Logik und der durch Forschung weitergeführten Erfahrung in den meisten Fällen nicht dazu verstehen, der Politik eine sachlich eindeutige Lösung vorzuschlagen. Sie kann den Konflikt zwischen gesetzten politischen Zielen und Werten, dem bestehenden Zustand der Gesellschaft und den möglichen Mitteln zu seiner Veränderung nur durchschaubarer machen, ein Instrumentarium methodischer Art für die Politik bereitstellen und Alternativen verifizieren. Eine inhaltlich zwangsläufige und sachlich eindeutige Einflußnahme von der Wissenschaft auf die Politik ist nur dann vorstellbar, wenn man von einem parteilichen Begriff der Wissenschaft ausgeht, der Forschung und Lehre in vorgegebene ideologische Ansichten einfügt. Dann aber folgt die Politik nicht der Wissenschaft, sondern die Wissenschaft der Politik.

Die ideologische Vorfixiertheit der „Neuen Linken" geht in der Verbindung mit dem politischen Mandat der Hochschule denn auch auf einen parteilichen Wissenschaftsbegriff aus oder würde ihn doch zwangsläufig zur Folge haben. Die These des VDS, aus der Interdependenz von Wissenschaft und Gesellschaft folge ein allgemeines politisches Mandat der Hochschule, ist deshalb nichts anderes als eine durch die Formeln der Herrschaftsfreiheit und der Demokratisierung verdeckte Intervention zugunsten einer parteilichen Wissenschaft im inhaltlichen Sinne der „Neuen Linken". Hätte die „Neue Linke" sich intensiver mit Ideologie-kritik beschäftigt, dann würde es ihr nicht schwerfallen, zu dieser Einsicht über sich selbst zu gelangen.

Doch gehen wir ein wenig ins Detail. Unterstellt man einmal, die Handhabung des politischen Mandats kraft wissenschaftlicher Einsicht sei praktikabel, dann wäre ja nicht einzusehen, wieso Professoren, Assistenten und Studenten nicht zu denselben Schlüssen aus wissenschaftlichen Einsichten oder Resultaten kommen sollten. Insofern verlöre dann die Forderung nach der Drittelparität ihre logische Berechtigung — es sei denn, man ginge davon aus, daß die Professoren wegen eines „falschen Bewußtseins" nicht in der Lage seien, „richtige" Schlüsse aus ihren Forschungen zu ziehen und die Studenten ihnen also dabei behilflich sein müßten. Hier stoßen wir auf den Begriff der parteilichen Wissenschaft, denn wo sonst könnte man „objektive" Maßstäbe für die Bestimmung dessen finden, was politisch aus der Wissenschaft zu folgern ist?

Weicht man der Konsequenz, den parteilichen Wissenschaftsbegriff im Sinne der „Neuen Linken" inhaltlich zu akzeptieren, aber aus, dann bleibt zu fragen, wo denn eine demokratisierende Wirkung der Drittelparität bei der Handhabung des allgemeinen politischen Mandats erwartet werden könnte. Demokratie hängt ihrem historischen Verständnis und ihrer geschichtlichen Entwicklung nach untrennbar mit der formalen Gleichheit der Mitwirkenden zusammen. Wie verträgt sich dies aber mit der Drittelparität? Wäre es, wenn man Demokratie im Sinne einer vermeintlich möglichen Umsetzung wissenschaftlicher Einsichten in politische Aktionen will, dann nicht angemessen, die Stimmen der Professoren, Assistenten und Studenten nicht nach der Drittelparität zu wägen, sondern nach dem demokratischen Prinzip der Gleichheit zu zählen?

Die Umsetzung wissenschaftlicher Einsichten in politische Ansichten bleibt inhaltlich gebunden an die Meinungsbildung des einzelnen, die Diskussion mit anderen und die gemeinsame Entscheidung darüber, was geschehen soll. Die Drittelparität erweist sich weder als geeignet, im Rahmen der Handhabung eines politischen Mandats zu einer Demokratisierung der Hochschulen zu kommen, noch dazu, den an Logik und Erfahrung gebundenen Wissenschaftsbegriff mit persönlichem politischen Engagement zu verbinden. Zugleich bedeutet der Anspruch auf ein allgemeines politisches akademisches Mandat einen Rückfall in ständestaatliches Denken. Wenn der VDS ein von der Wissenschaft abgeleitetes und von ihr inhaltlich bestimmbares politisches Mandat für möglich hält und praktizieren will, dann sieht und setzt er sich — abgesehen von dem wissenschaftstheoretischen Widersinn der Forderung — außerhalb der demokratischen Grundordnung, die von der prinzipiellen Gleichheit der Bürger ausgeht und davon bestimmt bleiben muß. Das allgemeine akademische politische Mandat ist nichts anderes als eine Art ständestaatlicher Anspruch einer „Elite" ohne Mandat auf Führung. Der gleichzeitig beibehaltene Anspruch des VDS, ein Zwangsverband aller Studenten auf der Ebene der Allgemeinen Studentenausschüsse zu sein, ohne alle Studenten in Urabstimmung oder wenigstens in repräsentativ besetzten Vollversammlungen zu strittigen Problemen konkret zu befragen, kommt dem faschistischen Korporationsdenken und der Einparteienvorstellung sehr nahe. Es fehlt nur noch das Führerprinzip oder das des „demokratischen Zentralismus".

Das deutsche Establishment und die „Neue Linke"

Die Mehrheit der deutschen Professoren ist offensichtlich verstört über die unerwartete Erscheinung und Offensive der „Neuen Linken"

an den Hochschulen. Es ist sicher unberechtigt, dem deutschen Ordinarius allgemein nachsagen zu wollen, er habe ein ausgeprägtes Herrschaftsbedürfnis entwickelt. Aber er befand und befindet sich vielfach noch an der Spitze zweier Hierarchien: als Ordinarius im Bereich der Lehre, als Institutsdirektor in der Forschung. Die deutschen Ordinarien in ihrer Gesamtheit besetzten bisher die akademischen Beratungs-und Entscheidungsorgane und behielten sich im wesentlichen alle Rechte vor. Aber ihre Organe, die Fakultäten, Senate und Rektoren, haben sich über zwanzig Jahre als im ganzen nic. fähig erwiesen, die Selbstverwaltung und die Autonomie der Hochschulen in einer Weise zu handhaben, daß oine Hochschulreform daraus hätte entstehen können. Wiederum wäre es jedoch unrichtig, diese allgemeine Feststellung nicht durch die Anmerkung zu ergänzen, daß einzelne Hochschullehrer in ihrem Arbeitsbereich vieles geändert haben und nicht wenige von ihnen der mangelhaften Funktionsfähigkeit der akademischen Organe mit deutlicher Kritik begegnen. Aber wir müssen den Tatbestand zur Kenntnis nehmen, daß die deutschen Hochschulen zu einem Reform-Selbstverständnis im ganzen nicht gelangt sind.

Die Kultusverwaltungen wie die Parlamente haben die Hochschulreform ihrerseits erst ernsthaft im Visier, seit die Rebellion der Studenten sie darauf nachdrücklich aufmerksam gemacht hat. Allmählich zeichnen sich Planungen einer zukünftigen Gestalt der Hochschulen ab. Doch politische Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen, wird durch die relative Isolierung der Kulturpolitiker in den Parteien, Fraktionen und Regierungen immer noch erschwert. Einer im ganzen nach wie vor unpolitischen Professorenschaft steht eine politisch unentschlossene Staatsführung gegenüber, soweit es sich um die Hochschulreform handelt.

Dies erklärt u. a., warum die Hochschullehrer von der Rebellion der Studenten so beeindruckt worden sind. Es gibt kaum eine Unterhaltung unter Professoren, in der „die Studenten" nicht das beherrschende Thema sind. Natürlich haben die meisten Professoren ihre eigene Auffassung darüber, was man eigentlich tun müßte. Aber über Resolutionen der Rektoren und einzelner Professorengruppen hinaus — in gemessener und distanzierter Sprache verfaßt — sind keine greifbaren Entscheidungen gefallen. Bezeichnend für das geringe Engagement an einer koordinierten Neugestaltung der Hochschulen ist die Gleichgültigkeit vieler Professoren gegenüber den Hochschulen neuen Typs in Konstanz, Bochum und Bielefeld. Diese als Reformuniversitäten gedachten Hochschulen läßt man mit verhaltener Zustimmung entstehen, aber kein repräsentatives Organ der Wissenschaft hat sich der Frage gestellt, was denn von den dort versuchten Reformen für alle Hochschulen richtig oder gar notwendig sein könnte.

Besonders irritiert die Professoren der politische Charakter der studentischen Rebellion. Nur schwer können sie sich in die Vorstellungswelt der „Neuen Linken" versetzen, und so ist es auch selten zu politischen Antworten an die „Neue Linke" gekommen. Das unpolitische Selbstverständnis der Mehrheit der Hochschullehrer verstärkt ihre Unsicherheit gegenüber der „Neuen Linken", die ihnen in tagtäglichen Auseinandersetzungen entgegentritt. Ein nicht geringer Teil der Ordinarien reagiert auf die Herausforderung mit einem Rückzug auf das traditionelle Selbstverständnis und die damit verbundenen institutionellen und rechtlichen Positionen. Doch haben sich die Professoren andererseits, weil ihnen politische Aktionen fremd sind, nirgendwo zu einer wirksamen Gegenmaßnahme entschließen mögen. Sonst wäre gewiß die eine oder andere Kultusverwaltung von den Professoren mit der Alternative konfrontiert worden, entweder die Ausübung des Hochschullehrerberufs in der gewohnten Weise zu garantieren oder es hinzunehmen, daß die Hochschullehrer „streiken".

Eine unbedeutende Minderheit unter den Hochschullehrern, teilweise durch ideologische Sympathien mit der „Neuen Linken" verbunden, paßt sich den Forderungen der studentischen Rebellen an oder übernimmt sie. Sie weiß sich damit der Zustimmung der „Neuen Linken" sicher, aber sie verzichtet im Grunde darauf, eigenständiger und kritischer Gesprächspartner der rebellierenden Kommilitonen zu bleiben.

Dieser mühseligen Aufgabe stellen sich eigentlich nur diejenigen Professoren, die die Forderungen der „Neuen Linken" in ihren vielfältigen Erscheinungsformen sachlich daraufhin untersuchen, was davon mit den immanenten Regeln wissenschaftlicher Lehre und Forschung zu vereinbaren ist und was nicht. Die ideologisierte Kerngruppe der „Neuen Linken" wertet diese Reformprofessoren als ihre eigentlichen Gegner, denn sie stellen genau den Teil des Establishments an den Hochschulen dar, der zu einer Reform willens und fähig ist und damit die totale Kritik der „Neuen Linken" fragwürdig macht. Zugleich fällt es den Reformprofessoren oft schwer, mit ihren in die Anpassung oder in die Reaktion ausweichenden Kollegen eine Übereinstimmung zu bewahren oder herzustellen. Der Zerfall der Professorenschaft in die drei Gruppen, die zur Reaktion, zur Anpassung oder zur Reform neigen, macht die akademischen Organe nicht handlungsfähiger. Zermürbende und ermüdende Dauerdiskussionen über stets die gleichen Themen mit der normalerweise üblichen Folgenlosigkeit führen dazu, daß die Spannkraft vieler Hochschullehrer nachläßt, denn sie kommen zunehmend weniger zu ihren eigentlichen Aufgaben in Lehre und Forschung.

Die Führung der Studentenschaft kann demgegenüber, da sie die Legitimitätsgrundlage ihres eigenen Vorgehens nicht mehr in Frage stellt und nur ungern kritisieren läßt, relativ geschlossen agieren. Zwischen die Professoren und Studenten schiebt sich jetzt die Gruppe der Assistenten, die man dem zur Reform neigenden Teil der Professorenschaft zurechnen kann. Ein Kooperationsrahmen, der Professoren, Assistenten und Studenten gemeinsame Beratungen und Entscheidungen ermöglichen könnte, ist jedoch vorerst nicht das Ziel der beteiligten Partner. Wie die Tarifpartner in einem Sozialkonflikt sitzen die Sprecher der einzelnen Gruppen einander gegenüber und führen damit die Selbstverwaltung und die Autonomie der Hochschule mehr und mehr ad absurdum.

Wenn irgendwann, dann müssen die deutschen Universitäten jetzt darauf hoffen können, durch eine Kooperation mit der Politik vor einem institutioneilen Zerfall bewahrt zu werden. Gemeinsame Beratungen mit den Kultusministern, mehrere Hearings im Wissenschaftsausschuß des Bundestages und in manchen Landtagen haben dazu beigetragen, eine kooperativere Atmosphäre zwischen Politikern und Wissenschaftlern anzuregen. Der Wissenschaftsrat hat angekündigt, bis 1969 gemeinsam mit dem Bildungsrat ein Reformprogramm für das Bildungswesen und die Hochschulen vorzulegen. Der VDS hat ein Gegen-programm angekündigt. Man fragt sich, warum der Wissenschaftsrat und der Bildungsrat keinen Weg gefunden haben, die Vertreter der Studenten an ihren Beratungen zu beteiligen, wie das von den politischen Institutionen wenigstens versucht worden ist.

Der nationale Bildungsplan könnte ein Ansatz sein, um den Reformwillen an den Hochschulen zu stärken und zu einer politischen Entscheidungsfähigkeit zu verdichten. Ob das möglich sein wird, hängt wesentlich von der Handlungsfähigkeit der Landesregierungen und der Landtage ab. Die deutschen Politiker haben Hochschulen und Wissenschaft bisher weitgehend mit den Professoren identifiziert. Studenten hingegen wurden eher als förderungswürdige Schüler im höheren Alter gewertet. Den Professoren begegneten die Politiker mit Respekt, den Studenten mit Wohl-wollen. Die Reaktion der Politiker auf die Rebellion der Studenten und auf die Hilflosigkeit vieler Professoren war deshalb gekennzeichnet durch eine allgemeine Enttäuschung darüber, daß das gewohnte Bild von den Professoren und Studenten plötzlich nicht mehr stimmte. Den Professoren werfen die Politiker vor, daß sie nicht imstande seien, einerseits über die Schatten ihrer eigenen Tradition zu springen und andererseits eine sachbezogene Autorität zu bewahren, den Studenten rät man, lieber zu studieren statt zu demonstrieren. Diese Reaktion auf der politischen Seite deckt sich weitgehend mit dem Verhalten der Gruppe unter den Professoren, die in der Ratlosigkeit verharren oder auf die Tradition pochen.

Dabei waren die politischen Parteien gegenüber den ihnen nahestehenden Verbänden seit langem Kummer gewöhnt. Die Sozialdemokratische Partei trennte sich schon vor Jahren vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), und mit dem als Nachfolgeorganisation zunächst geförderten Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) verbindet sie politisch gegenwärtig kaum mehr eine nennenswerte Gemeinsamkeit. Die FDP weiß nicht recht, ob der Liberale Studentenbund Deutschland (LSD) mit der gegenwärtigen Bonner Oppositionspartei überhaupt noch etwas im Sinn hat. Und die CDU wundert sich darüber, daß die heute vom Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) erhobenen Forderungen zur Hochschulreform ziemlich genau dem entsprechen, was der SDS in den fünfziger Jahren wollte. Doch wurden die Parteien bis zum Beginn der offenen Rebellion der „Neuen Linken" an den Hochschulen in ihrer eigenen Aktion und Reaktion von diesen Warnzeichen kaum beeindruckt. Weder mochten sie sich dazu durchringen, „ihre" Studentenverbände an der langen Leine laufen zu lassen, noch dazu, sich ernsthaft mit den Forderungen des SHB, des LSD und des RCDS auseinanderzusetzen. Erst nachdem Demonstrationen und Tumulte an den Hochschulen sich mehrten und dazu führten, die Wähler in der deutschen Provinz zu beunruhigen, wurde den Parteien das Problem von dieser Seite her einleuchtender. Ihre Abgeordneten hörten überall, das gehe doch wohl zu weit mit den Studenten, es müsse endlich etwas geschehen. In den Parlamenten begannen sich die Fraktionen in ihrer Gesamtheit plötzlich für Hochschulpolitik zu interessieren. Was jahrelange Debatten und viele Resolutionen der Experten aus Wissenschaft und Politik nicht zuwege gebracht hatten, das gelang der politischen Offensive der „Neuen Linken" in wenigen Monaten — ein für die linken Rebellen unbeabsichtigter und hinderlicher Nebeneffekt. Der Bundestag und die Landtage befaßten sich in Sondersitzungen mit dem Thema der „Neuen Linken".

Kaum jemals wurden — abseits von der von allen Parteien betonten Notwendigkeit, die Auseinandersetzung in zivilisierten Formen zu führen — die unterschiedlichen Vorstellungen der Parteien und auch innerhalb der Parteien vom Staat, von der Demokratie und vom Sinn der Hochschulen und der Wissenschaft so deutlich wie in diesen Debatten. Die einen, den „Reaktionären" unter den Professoren verbunden, ziehen sich auf die bloße Ordnungsaufgabe des Staates zurück, sehen den Staat dem Bürger vorgeordnet und verlangen, daß an den Universitäten endlich wieder Ruhe herrschen und gearbeitet werden müsse. Die anderen sehen die Grenze gegenüber der „Neuen Linken" da, wo sie die Grundordnung der Demokratie in Frage stellt, zeigen sich aber bereit, den Staat als einen freiheitlichen Kooperationsrahmen der Bürger zu begreifen und dabei an der Spielregel der Mehrheitsentscheidung festzuhalten — nicht deshalb, weil die Mehrheit immer recht hat, sondern aus der Einsicht und Erfahrung, daß es keine weniger willkürliche Form zur Herbeiführung von Entscheidungen gibt. Die Parteien, Parlamentarier und Minister schwanken in ihrer Meinungsbildung zwischen der Auffassung der Mehrheit der Bevölkerung, die Demonstrationen zu beenden, und ihrer unterschiedlichen Bereitschaft, den zur Reform drängenden Professoren, Assistenten und Studenten in vielem recht zu geben und die Hochschulreform zu einer erstrangigen politischen Aufgabe zu machen.

Die eigentliche Herausforderung der „Neuen Linken" an das Establishment, nämlich die Grundstruktur und die Eigenart der Demokratie kritisch zu durchdenken und zugleich zu behaupten, wurde in den bisherigen Auseinandersetzungen auf der politischen Seite allerdings meist nur ungenau erkannt. Die komplizierte Sprache und das irritierende Gebaren der linken Rebellen taten das ihre, um vielen Politikern den Zugang zu den eigentlichen Thesen der „Neuen Linken" zu erschweren. Außerdem herrscht eine weitgehende politische Unklarheit über die Grundfragen der Beziehungen von Staat und Hochschule. Hat der Staat das Recht, in die institutioneile Ordnung der Hochschule einzugreifen? Was bedeutet für den demokratischen Staat der Autonomieanspruch der Hochschule, der ja gegenüber einem ganz anderen Staatstyp durchgesetzt wurde? Die Unschlüssigkeit der politischen Meinungsbildung zu diesen und anderen Fragen wird deutlich in ganz unterschiedlichen Gesetzentwürfen zur Hochschulreform. Dies erschwert die Erarbeitung und politische Durchsetzung einer schlüssigen hochschulpolitischen Konzeption. Die „Neue Linke" stellt das politische und wissenschaftliche Establishment nicht nur vor ein Generationsproblem, sie ist nicht primär eine neue Spielart einer Jugendbewegung, sondern sie fordert zu einer kritischen Überprüfung unserer Vorstellungen von der Industriegesellschaft, der Demokratie und der Wissenschaft heraus. Es ist deshalb nicht so wesentlich, daß die außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik, deren Kern die „Neue Linke" stellt, kaum die Chance hat, zu einer Massen-bewegung zu werden. Sie konfrontiert uns nicht als Machtfaktor, sondern intellektuell mit der Frage nach dem Sinn unserer Ordnung. Das ist eine politische Problemstellung, der nur auf politische Weise begegnet werden kann.

Und darüber Klarheit zu schaffen, wird leichter möglich sein, wenn die Strukturmerkmale einer demokratischen Gesellschaft deutlicher herausgestellt werden. Dazu gehören die Gleichheit der Chance, die Transparenz des gesellschaftlichen Geschehens, die Kontrollierbarkeit der Herrschaft und die Auswechselbarkeit der Inhaber von Führungspositionen. Soweit diese Kriterien unklar, bestritten oder in der politischen Wirklichkeit vernachlässigt werden, entfernen wir uns von einer demokratischen Qualität der Gesellschaft. Funktionale Effektivität und intellektuelle Liberalität müssen nicht als Gegensätze begriffen und praktiziert werden; sie können einander ergänzen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ulrich Lohmar, Dr. sc. pol., Mitglied des Deutschen Bundestages, Chefredakteur der „Neuen Westfälischen Zeitung", Bielefeld, Privatdozent für Politische Soziologie an der Universität Münster, geb. am 30. April 1928.