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Demokratie und Demokratismus | APuZ 44/1968 | bpb.de

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APuZ 44/1968 Die „Neue Linke" und die Institutionen der Demokratie Spätkapitalismus ? Demokratie und Demokratismus

Demokratie und Demokratismus

Manfred Hättich

Wenn auch die Studentenunruhen Hintergrund unserer Überlegungen sind, so spielen die Studenten dennoch eine sekundäre Rolle. Es geht primär um die Frage: Welche Demokratievorstellungen sind es, mit denen wir uns auf Seiten der „Neuen Linken" auseinanderzusetzen haben? Dies ist also keine allgemeine Analyse der Studentenunruhen und erst recht nicht der Probleme unserer Hochschulen.

I.

Man kann, wenn man von der Herausforderung der Demokratie durch diese Unruhen und Proteste spricht, die Herausforderung in dreierlei Gestalt formulieren: 1. Es handelt sich einmal um Herausforderung im Sinne eines direkten Angriffs, eines Angriffs auf die parlamentarische Demokratie, wie sie in unserer Verfassung grundgelegt ist. Hier hat die Herausforderung also zum Ziel die Zerstörung der Demokratie als eines Systems von Regeln für das Zusammenleben von Verschiedenen. Dieser Herausforderung gegenüber dürfte es vermutlich nichts anderes geben als die klare Verteidigung der parlamentarischen Demokratie. 2. Die zweite Form, mit der wir uns eher auseinandersetzen müssen, ist die Herausforderung als partielle Kritik, über deren Berechtigung diskutiert werden kann und diskutiert werden muß. Es handelt sich um das Offenbar-werden von Schwächen, von Versäumnissen, von Fehlentwicklungen und vor allen Dingen um Leistungsschwächen des Systems. Hier liegt eine der wesentlichen Wurzeln der Unruhen, insoweit die Bewegung aus dem Bereich der Bildungspolitik kommt bzw. in ihm ihren Anlaß hat. 3. Die dritte Form der Herausforderung wird weniger diskutiert. Es geht nicht nur um die Demokratie als ein politisches System, sondern generell um die Frage des Gesellschaftsbildes. Ich sehe im Zentrum dieser Unruhen einen Angriff auf die freiheitliche Gesellschaft überhaupt. Natürlich ist damit das Problem der politischen Demokratie verschränkt; beide Probleme sind aber nicht identisch.

Zu diesen drei Formen einige Bemerkungen: ad 1. Es gibt Beweise und Belege genug für diese von mir als Angriff bezeichneten Bestrebungen gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Ich mache nur auf die ständig wiederholte These des SDS aufmerksam, daß es nicht auf Spielregeln ankomme, sondern auf die Substanz dessen, was gewollt ist. Da das Geforderte gut ist, spielen „formale" Spielregeln keine Rolle. Argumente, die aus der Theorie des Rechtsstaates etwa kommen, werden bekanntlich als formal und inhaltlos abgetan. Ich glaube, daß diese These von der Irrelevanz der Spielregeln in ihrer Sprengkraft noch ungenügend in das allgemeine Bewußtsein getreten ist. Sie scheint im Gegenteil bei vielen Leuten, vor allem bei studentischen Mitläufern, den Schein der größeren Moralität für sich zu haben. Da das Gute gewollt ist, kann dieses Gute und sein Fortschritt nicht gebremst werden durch irgendwelche Formalien. Natürlich impliziert diese These einen Absolutheitsanspruch, einen Gewißheitsanspruch, das Wissen dessen, was das Richtige und das Gute ist. Dies ist aber ein Anspruch, mit dem freiheitliche Demokratie in keinem Falle funktionieren kann. Freiheitliche Demokratie ist nur möglich, wenn Konkurrenz der Auffassungen möglich ist und wenn verbindliche Spielregeln für die Austragung der Konflikte gelten. Meiner Auffassung nach haben wir in der politischen Bildung die Bedeutung der formalen Seite der Demokratie nicht einsichtig genug gemacht. Es wurde viel eher mit moralischen Kategorien gearbeitet. Statt der Demokratie wurde der Demokrat gezeichnet. Und nun sehen wir uns einem moralischen politischen Rigorismus gegenüber, der schon bei jedem Anschein von Amoralität das System verwirft, der Anforderungen an die Politik stellt, wie sie sonst in keinem Lebensbereich, weder im privaten noch im öffentlichen, gestellt werden.

ad 2. Zweifellos sind Versäumnisse und Fehlentwicklungen festzustellen. Ich glaube allerdings, daß es sich hier nicht so sehr um institutionelle Fragen handelt, sondern vor allem um Stilfragen. Hier haben die zur Schau getragene Selbstsicherheit und eine gewisse Unfähigkeit zum Dialog der in der Politik Agie-renden zu Friktionen geführt. Auch die Leichtfertigkeit, mit der das gerade für die Demokratie so wichtige Problem der Rekrutierung und Auslese des politischen Personals jahrelang gehandhabt wurde, ist ein solches Versäumnis. Dennoch bin ich immer noch der Meinung, daß unsere Demokratie besser ist als ihr Ruf. Daß aber ihr Schein so negativ ist, das deutet auf eine allgemeine Schwäche hin, die ich mit dem Kommunikationsproblem umschreiben möchte. Die Kommunikation zwischen politischen Institutionen und der Gesellschaft ist unzulänglich. Gerade auch im Hinblick auf die Parteien wäre hier viel zu sagen. Sie sind zu sehr Apparaturen der reinen Selbst-bestätigung geworden. Das mag so lange gut gehen, wie der Bürger sich durch diese Formen der Selbstbestätigung der Partei auch wiederum selbst bestätigt fühlt. Aber dazu gehören bestimmte Voraussetzungen der allgemeinen Zufriedenheit. Politik wurde bei uns nicht wirklich diskutiert. ad 3. Der dritte Aspekt führt in den Kern unserer Überlegungen. Ich sprach von der Herausforderung als einem Angriff auf die freiheitliche Gesellschaft. Es wird das angegriffen, was wir als pluralistische Gesellschaft zu bezeichnen pflegen. Als Reaktion scheint mir — um das gleich vorwegzunehmen — die Forderung wichtig zu sein, daß wir diesen Pluralismus nicht nur duldend hinnehmen, sondern ihn als einzig mögliche Basis für ein freiheitliches Dasein in unserer modernen Gesellschaft bejahen. Im allgemeinen aber hat man den Eindruck, daß man diesen Pluralismus eher mit Widerwillen erträgt als wirklich gutheißt.

Nun heißt pluralistische Gesellschaft aber nicht nur Vielfalt der Normen und der Wertvorstellungen. Es kommt mir in diesem Zusammenhang auf eine andere Seite der pluralistischen Gesellschaft an. Sie ist umschrieben mit den Begriffen der partiellen sozialen Integration und mit der Rollendifferenzierung. Der Mensch ist heute in seine Gesellschaft nicht mehr auf diese Weise einbezogen, daß gewissermaßen die Gesellschaftsbereiche wie konzentrische Kreise um ihn herum liegen. In diesem früheren System werden die sozialen Bezüge immer über den nächst kleineren Kreis von der Gesellschaft an den einzelnen vermittelt. Das Gegenbild der heutigen Gesellschaft läßt die sozialen Bezugskreise sich im einzelnen selbst überschneiden und überlagern. Der einzelne ist vielen gesellschaftlichen Bezügen gleichzeitig verbunden.

Der Mensch ist heute von keiner sozialen Einheit mehr in seiner Gesamtheit, als ganze Person ergriffen, sondern immer nur partiell. Das ist bekannt, und die Kulturkritiker haben sich mit diesem Phönomen schon ausreichend in negativem Sinne befaßt. Ich erinnere nur an die Stichworte: Gefährdung der Persönlichkeit, Zerfall der Person, der angepaßte Mensch. Ich stimme diesen ausschließlich negativen Bestimmungen nicht zu. Und ich glaube auch nicht, daß die Nichtangepaßtheit als Gegenbild früherer Gesellschaften überhaupt zutrifft. Wahrscheinlich war der Mensch früher sogar stärker „außengelenkt" als heute (um eine von D. Riesman geprägte und hierzulande populär gewordene Dichotomie zu benutzen). Der Mensch in der heutigen Gesellschaft kann an einem einzigen Tag mehrere soziale Bezugsgruppen durchlaufen. Jede von ihnen kann mit verschiedenen Verhaltenserwartungen an ihn herantreten. Das moderne Anpassungsphänomen liegt nun darin, daß er diese sozialen Gruppen durchlaufen kann, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten, obwohl sie vielleicht sogar entgegengesetzte Verhaltenserwartungen an ihn heranbringen. Hierin liegt zweifellos so etwas wie Gefährdung; man kann jedoch in diesem elastischen System der sozialen Bezüge auch ein großes Stück dessen sehen, was man die Möglichkeit von Freiheit in einer hochdifferenzierten Gesellschaft nennen kann. Wir haben es nicht mehr mit einem hierarchischen System sozialer Bezugs-gruppen mit vorgegebenen Prioritäten zu tun. Man kann gar nicht mehr generell sagen, diese oder jene Gruppe hat unbedingt und auf jeden Fall den Vorrang. Vielmehr wechseln die Prioritäten je nach Situation und Aspekt.

Damit verbunden ist die Differenzierung der Rollen, die der Mensch in der Gesellschaft spielt. Im Protest haben wir nun unter anderem auch eine Reaktion auf dieses System der sich überschneidenden und elastischen, nicht mehr im Schema festhaltbaren sozialen Bezüge. Diese Reaktion der „Neuen Linken" möchte ich als „neuen Integralismus" bezeichnen. Und zwar handelt es sich vor allem um einen Integralismus vom Politischen her: Die „Desintegration" soll vom Politischen her überwunden werden. Das müssen wir sehen, wenn wir uns dem Anspruch gegenüber finden, die ganze Gesellschaft in allen ihren Lebensbereichen und Daseinsformen zu „demokratisieren". Es handelt sich dabei nicht nur um die Analogie demokratischer Formen, sondern vor allem um Demokratisierung im Sinne der Politisierung aller Daseinsbereiche — also um Totalitarismus unter Berufung auf Demokratie. Diesem Phänomen müssen wir ausführlicher nachgehen.

II.

Der Aspekt dieses „Demokratismus" als totale Politisierung menschlicher Existenz ist die Bezugnahme auf Demokratie per Analogieschluß, die „demokratische Analogie". Es handelt sich um den Anspruch, die Ideale der politischen Demokratie auf alle anderen Lebensbereiche zu übertragen. Dieses Postulat ist nicht neu und wurde gerade auch in der politischen Bildung nach dem Zweiten Weltkrieg häufig von Personen vertreten, die mit der gegenwärtigen revolutionären Bewegung direkt nichts zu tun haben.

Bis jetzt hat man allerdings keinen überzeugenden Grund für diese Analogie vorgebracht. Die Begründung kann nicht schon in der Konzeption der politischen Demokratie liegen. Die Frage der Strukturformen und der Kooperationsformen in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft kann nur sinnvoll von den jeweiligen Zwecken dieser Bereiche her beantwortet werden. Die einfache, gedankenlose Übertragung (weil wir in Bonn ein Parlament haben, deshalb brauchen wir auch in der Schule, in der Hochschule, im Betrieb usw. ein solches) ist blasses Analogiedenken. Natürlich kann es bei übelegungen in der Praxis zu solchen Analogien kommen. Entscheidend ist aber, wie sie begründet werden. Demokratie ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel. Man entscheidet sich auf Grund bestimmter Wertentscheidungen für das Mittel der Demokratie.

Eine generelle Begründung für alle Strukturüberlegungen in den verschiedenen Bereichen des Lebens in hochdifferenzierten Industriegesellschaften kann die Frage nach der Freiheit sein. Wir wissen, daß die Menschen heute in keinem Lebensbereich mehr nur im autoritären Sinne behandelt werden wollen. Es wird zu Recht nach der Möglichkeit der Entfaltung des Selbstbewußtseins in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen gefragt. Das gilt primär für die Bereiche, die den Alltag des einzelnen und die unmittelbaren persönlichen Beziehungen direkt betreffen. So ist beispielsweise die Frage der Mitwirkung der Studenten in Instituten der Universität wichtiger als die Frage der Mitwirkung auf gesamtuniversitärer oder noch höherer Ebene. Dies gilt auch deshalb, weil die Mitbestimmung auf höherer Ebene im allgemeinen gar nicht zum Abbau der Herrschaft von Manipulationsmöglichkeiten führt, sondern zu deren Zunahme. Der VDS ist ein solches Beispiel für Zunahme von Herrschaft und für Zunahme von Manipulation im Namen der Demokratie. Die Gründe für die Übertragung demokratischer Formen auf andere Lebensbereiche müssen aus diesen Sach-und Sozialbereichen selbst gewonnen werden. Wenn über-betriebliche Mitbestimmung die Zwecke des Wirtschaftssystems fördert und verbessert, dann liegen darin Gründe für sie. Die allgemeine Formel der Demokratisierung der Gesellschaft ist keine überzeugende Begründung; es handelt sich eher um Ideologie.

Mit dem generellen Demokratisierungspostulat ist mehr oder weniger ausdrücklich eine Politisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche gemeint. Hier scheint mir ein ernsthafter Angriff auf die Strukturprinzipien einer freiheitlich pluralistischen Gesellschaft vorzuliegen. In diesem Zusammenhang gehört etwa die Behauptung vom politischen Mandat der Studentenschaft als Organisation — wobei innerhalb der Gesamtkonzeption die Studentenschaft nur ein Beispiel für viele andere Bereiche darstellt. Nun wird gesagt, daß sich in der freiheitlichen Gesellschaft jede Gruppe äußern darf, wozu sie auch immer will, wenn sie nur die demokratische Legitimation ihrer Mitglieder hat. Von der Gesellschaft aus gesehen ist das richtig. Das ändert jedoch nichts daran, daß die Übertragung des Mebrheitsprinzips auf alle anderen Bereiche, auch wenn die demokratische Legitimation vorliegt, eine Zunahme von Herrschaft und eine Zunahme von Manipulationsmöglichkeiten bedeuten kann. Politische Herrschaft bedeutet nicht nur die Möglichkeit, Befehle erteilen zu können, sie bedeutet auch immer die Möglichkeit, im Namen einer Gruppe, der Gesellschaft, des Staates sprechen zu können. Auch das ist eine Form von Herrschaft. Auch der, der unterliegt, muß es sich gefallen lassen, daß im Namen der Gemeinschaft gesprochen wird, zu der er gehört, also in seinem Namen. Das ist eine notwendige Konsequenz aller Mehrheitsentscheidungen. Sie besteht natürlich ebenso dann, wenn wir etwa innerhalb der Universität über inneruniversitäre Probleme abstimmen. Nur vollzieht sich diese Abstimmung dann im Bereich der Institution und lediglich auf deren Zwecke. In dem Maße aber, in dem der Entscheidungsgegenstand die den Sachbereich konstituierenden Zwecke übersteigt, nimmt ihr Herrschaftscharakter zu, weil meine Rolle als Universitätsangehöriger mit meinen anderen Rollen identifiziert wird. Wer heute von seinem Grundrecht der freien Berufswahl Gebrauch macht und sich in der Universität einschreibt, wird automatisch Mitglied einer Zwangskooperation mit Beitragszahlung. Diese Organisation nimmt nun mit einem Mal zu Problemen wie Notstand, Vietnam-Krieg, Große Koalition Stellung, tritt aber eines Tages vielleicht für die Wiedereinführung der Todesstrafe oder für die gewaltsame Rückeroberung der Oder-Neiße-Gebiete ein.

Man kann auch fragen, woher die Führung einer Organisation mit begrenzten Zwecken das Recht nimmt, Zwänge zur permanenten politischen Aktion auszulösen. Natürlich ist es formal in Ordnung, wenn in einer Vollversammlung nur ein geringer Prozentsatz der Gesamtstudentenschaft einer Universität anwesend ist, daß dann die Mehrheit der Anwesenden entscheidet. Hält sich die Entscheidung in den Organisationszwecken, können die Abwesenden sich nicht über sie beklagen, auch wenn die bestimmte Mehrheit auf die Gesamt-studentenschaft bezogen eine Minderheit sein mag. Wiederum haben wir es hier mit einer Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Mehrheitsentscheidung zu tun. Wenn aber häufig solche Versammlungen mit dem Zweck der Legitimierung politischer Stellungnahmen im Namen der Studentenschaft stattfinden, dann kann sich der einzelne gegen solche Manipulation nur wehren, indem er sich in die permanente Beteiligung an diesen Veranstaltungen treiben läßt. In diesem Zwang zur permanenten Teilnahme nach den Entscheidungen von Funktionären oder hochpolitisierten Minoritäten sehe ich nicht eine Verstärkung der Freiheit, sondern deren Verminderung.

Die freiheitliche Demokratie konstituiert das Recht eines jeden, sich politisch zu betätigen, sich zu engagieren, sei es für sich allein, sei es in Gruppen. Aber dazu gehört auch das Recht, es zu unterlassen. Das wird in unserer politischen Bildung selten ehrlich zugegeben. Die politische permanente Aktion ist ein Kennzeichen totalitärer Systeme. In der totalitären Demokratie ist jede soziale Rolle politisiert. In meiner Rolle als Vater, als Mitglied eines Sportklubs, als Mitglied einer Kirche, als Mitglied der Universität usf.: stets wird mein politisches Bekenntnis und meine Unterordnung unter politische Zwecke gefordert. Wahr oder gut ist in einem jeden Lebensbereich, was dem Sozialismus oder irgendeinem anderen -ismus nützt. Zumindest wird die moralische Forderung erhoben, daß ich, wo immer ich mich auch befinde und in welcher Funktion ich auch gerade bin, mich zu politischen Problemen zu äußern habe, wann immer dies ein anderer verlangt. Auch das Verlangen nach dem permanenten politischen Bekenntnis ist ein typisches Merkmal totalitärer Systeme. Nur wird es dort von der bereits etablierten Herrschaft gehandhabt, bei uns im Augenblick von denen, die gegen die Etablierten angehen. Es ist aber nützlich, sich heute schon zu vergewissern, wie es uns ergehen wird, wenn diese Minoritäten selbst etabliert sein sollten.

Demokratie im Sinne der „Neuen Linken" bedeutet permanente Funktionsunfähigkeit der Sachbereiche. Wiederum ein Beispiel: Ich bin durchaus der Auffassung, daß in den verschiedenen Gremien der Universität die Beteiligung der Studenten verstärkt werden sollte. Diese Position aber stellt sich für mich selbst immer mehr in Frage, je mehr sie mit der Totaldemokratisierung im Sinne des unbeschränkten politischen Mandats der Universität verknüpft wird. Man braucht sich nur unsere Fakultätssitzungen vorzustellen, in denen dann stundenlang über die Frage diskutiert wird, ob wir eine vorgelegte Resolution verabschieden sollen oder nicht. Ein Gremium wie eine Fakultät ist auf spezifische Aufgaben hin geordnet. In ihm ist Kooperation in der konkreten Sache jenseits aller generellen politischen Positionen möglich. Wenn diesem Gremium nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zugesprochen wird, sich zu den politischen Fragen zu äußern, dann wird es auf seine eigentlichen Funktionen hin unfähig. Die politische Stellungnahme einer Fakultät, der Universität, der Studentenschaft ist eben etwas anderes als das politische Engagement von Gruppen, von Dozenten oder von Studenten oder beider zusammen. Die Arbeitsteilung und Funktionsdifferenzierung in hochentwickelten Gesellschaften hat ihren Grund in Sachgesetzlichkeiten, nicht in irgendeinem manipulatorischen Willen von Mächtigen. Bei der Frage nach der Übertragung von Strukturen der politischen Demokratie auf andere Lebensbereiche wurde zunächst gesagt, daß Strukturüberlegungen an der Effektivität des jeweiligen Systems orientiert sein müssen. Nun kann es allerdings Gründe für Kooperationsformen und Strukturen geben, die nicht ausschließlich aus dem Sachbereich selbst kommen, sondern sich aus der Frage nach der Stellung des Menschen in dem jeweiligen Sozialbereich ableiten. Bei sozialer Kooperation handelt es sich ja nie um bloße Sachfragen, sondern auch um ein Zusammen, Gegeneinander und Nebeneinander von Menschen. Es können in der Tat Spannungen entstehen zwischen dem Prinzip der Berücksichtigung der Freiheit des Menschen und dem Prinzip der Sachgesetzlichkeit und der Effektivitätsgesichtspunkte. Die moderne pluralistische Gesellschaft hat allerdings eine Tendenz, diese Spannung zu vermindern.

Durch die partielle soziale Integration mit ihrer Rollendifferenzierung nimmt die Notwendigkeit ab, in jedem Teilbereich der Gesellschaft immer den ganzen Menschen voll zu berücksichtigen. Die Fremdbestimmung des Menschen beschränkt sich immer mehr auf den jeweiligen engeren Sachzusammenhang. Der Lehrling, Geselle oder Knecht war im handwerklichen oder bäuerlichen Betrieb voll integriert. In jedem Familienbetrieb mit der Deckung von Arbeits-, Wirtschafts-und Lebensbereich war der Mensch in allen seinen Dimensionen seinem Flerrn anvertraut. Der heutige Arbeitnehmer ist der Unternehmensleitung nicht mehr in diesem Sinne „anvertraut".

Der Arbeitnehmer bringt eine Leistung ein, die einen begrenzten Raum seines Daseins einnimmt, und sein Leben darüber hinaus geht den Unternehmer bzw.den von ihm delegierten Vorgesetzten im Grunde nichts mehr an. Das gilt jedenfalls für die in einem Betrieb unter Sachgesichtspunkten notwendigen Befehls-und Machtstrukturen. Prinzipiell können heute zwei Personen im Betrieb in einem Ubergeordnetenverhältnis von A zu B stehen. Gleichzeitig können beide in einem Freizeit-verein gleichrangige Positionen haben, und gleichzeitig können sie in einer Partei im umgekehrten Übergeordnetenverhältnis von B zu A existieren. Natürlich gibt es hier zahlreiche Friktionen, vor allen Dingen in den Verhaltensweisen, die sich an diese plurale Struktur noch nicht angepaßt haben. Gerade bei der Universität muß man sich fragen, ob das Gerede vom gesamtmenschlichen Erziehungsauftrag noch sinnvoll ist. Ich vertrete auch hier die partielle Integration und sehe entsprechend den Auftrag der Universität und der Hochschule begrenzter, als es der wesentlich vorindustriellen Tradition entspricht.

Demokratische Strukturen sind nicht Selbstzweck. Das scheint eine der falschen Prämissen des „Demokratismus" zu sein. Die Forderung nach mehr Demokratie ist eine abgeleitete; Demokratie ist nicht ein Wert in sich, sondern ein Instrument zur Vermehrung von Freiheit. Man entscheidet sich für Demokratie um der Freiheit willen und nicht um der Demokratie selbst willen. Die Frage ist immer wieder die: Wie kann Freiheit im jeweiligen Lebensbereich am ehesten realisiert werden? Wie stellt sich Freiheit ökonomisch dar, wie politisch, wie religiös, wie pädagogisch? Was ist z. B.der eigentliche Zweck des Sozialbereichs Wirtschaft? Auf eine einfache Formel gebracht kann man sagen: Die möglichst rationelle Bereitstellung wirtschaftlicher Güter. Was kann in diesem Zusammenhang Freiheit heißen? Zunächst doch nichts anderes als die größtmögliche Freiheit des Menschen, der diese Güter konsumiert.

Die Entscheidung des Konsumenten soll letzten Endes den Wirtschaftsprozeß bestimmen. Dann erst stellt sich die Frage: Geschieht das am besten dadurch, daß dem Produzenten von irgendwoher Weisungen erteilt werden, oder geschieht es besser dadurch, daß mit der Konsumentenfreiheit die Produzentenfreiheit gekoppelt wird? Dieser Koppelung gegenüber hat sich bis jetzt ökonomisch gesehen noch kein System überlegen gezeigt. Natürlich gibt es zahlreiche Friktionen. Die Postulate werden immer nur in größerer oder geringerer Annäherung erfüllt. Und natürlich ist auch der freie Konsument bei seinen Entscheidungen sozial gebunden. Es gibt den nur rational individuell entscheidenden Homo oeconomicus genausowenig wie den Homo politicus. Der Mensch ist immer eingebunden in ein Geflecht vielfältigen Einflusses, einschließlich der Werbung, der Propaganda. Aber wenn man schon demokratische Elemente im Sinne des Mehrheitsprinzips sucht, dann sollte man im Bereich der Wirtschaft zunächst einmal das Mehrheitsverhalten der Konsumenten berücksichtigen, das prozeßlenkend wirkt und das eben letzten Endes doch auf unendlich vielen individuellen Entscheidungen beruht.

Bei dieser Art ökonomischer Willensbildung handelt es sich um einen sich selbst regulierenden, permanenten Anpassungsprozeß, nicht aber um eine Entscheidungsstruktur mit Befehlscharakter. Diese Aussage führt hin zu einem weiteren Mißverständnis des Demokratismus. Demokratisierung wird nicht zuletzt mit dem Hinweis auf Dynamik, Bewegung, Beweglichkeit und Fortschritt verlangt. Soziale Prozesse verlaufen je nach Bereich sehr unterschiedlich. Damit hat aber auch die Demokratisierung in den verschiedenen Bereichen unterschiedliche Wirkung. Im politisch-staatlichen Bereich sind demokratische Strukturen gegenüber autoritären oder gar totalitären tatsächlich ein Instrument von größerer Anpassungsfähigkeit. In Bereichen aber, in denen die Automatismen der Dynamik in das System eingebaut werden konnten, bedeutet die Einführung demokratischer Entscheidungsstrukturen genau das Gegenteil, nämlich eine Tendenz zur Starrheit, zur Verhinderung der Dynamik. Man muß in diesen Fällen die Dynamik wieder bewußt einführen. Demokratisierung würde hier heißen, daß der Anpassungsprozeß herrschaftlich reguliert wird. Das bedeutet aber immer auch, daß um der Anpassung willen Entscheidungssätze in bestimmten Abständen sprunghaft wieder korrigiert werden müssen. Allgemeine „Demokratisierung" des Wirtschaftsbereiches bedeutet somit, daß der Anpassungsprozeß ersetzt werden soll durch verbindliche Befehle an die einzelnen Wirtschaftssubjekte. Es stimmt einfach nicht, daß derjenige, der revolutionäre Demokratisierungstendenzen zurückweist, damit auch gleichzeitig ohne weiteres für ein statisches, dem Fortschritt sich entgegenstellendes System votieren muß. Wir können generell sagen, daß Systeme, in denen wir ohne Herrschaftsakte auskommen, durch Einführung demokratischer Strukturen, die eben Herrschaftsstrukturen sind, nicht beweglicher und dynamischer werden.

Das wird natürlich nicht erkannt, wenn sich mit dem Begriff der Demokratie die Assoziation verbindet, es handelt sich gerade bei ihr um ein herrschaftloses System. Dagegen ist festzuhalten, daß auch eine Mehrheitsentscheidung ein Herrschaftsakt ist. Das wird jedem deutlich, der in einer Abstimmung unterliegt. Er beugt sich einem fremden Willen, ohne diesen Willen in seinem Inhalt unbedingt gutzuheißen. Infolgedessen bedeutet Einführung demokratischer Strukturen in Bereichen, wo wir solcher Herrschaftsakte nicht unbedingt bedürfen, nicht einen Abbau, sondern eine Zunahme von Herrschaft.

Ein weiterer Gesichtspunkt wäre die Frage nach der Wirkung einer solchen Durchdemokratisierung aller Lebensbereiche auf die demokratische Legitimation im engeren politischen System. Man darf nämlich nicht übersehen, daß hinter diesen Demokratisierungsideen auch der Gedanke steht, den politischen Willensbildungsprozeß der Sachbereiche in den politischen Gesamtprozeß einmünden zu lassen. In dem Maße, in dem dies de jure oder de facto geschieht, wird die eigentliche demokratische Legitimierung der politischen Führung im Gemeinsamen zumindest relativiert. Das hängt unter anderem zusammen mit dem Unterschied vom Zählwert und dem Erfolgs-wert der Wahlstimmen. Der Zählwert der Wahlstimmen ist bekanntlich heute in der Demokratie durchgehend der gleiche. Hingegen stellt der Erfolgswert einer Wahlstimme stets ein Problem dar, das sich aus der Natur der Sache ergibt. Zunächst hängt der Erfolgswert meiner Stimme vom Wählerverhalten aller anderen Wähler ab. Nicht ich bestimme, ob meine Stimme zu Erfolg führt, sondern dieser Erfolg ist abhängig vom Wahlverhalten der anderen. Das ist eine völlig legitime Einschränkung der Bedeutung meiner Stimme. Es gibt nun aber auch Faktoren, die den Erfolgswert der Stimme beeinflussen und nicht aus dem Prozeß der Wahl selbst folgen, sondern anderen Bereichen entstammen. Auch sie werden nie ganz auszuschalten sein. Schon die Notwendigkeit einer Wahlkreiseinteilung zeigt dies: Je nachdem, wo ich wohne, kann der Erfolgswert meiner Stimme ein anderer sein.

Wenn man neben der eigentlichen Legitimation der politischen Führung durch allgemeine Wahlen noch weitere Systeme politischer Mitwirkung, auf die einzelnen Sozial-und Sachbereiche hin entworfen, hinzunimmt, dann hat dies wiederum Friktionen im Hinblick auf die Fremdbestimmung des Erfolgswertes der Stimmen zur Folge. Dieser Erfolgswert wird zum Beispiel abhängig von sehr banalen Dingen, wie etwa der Größe der sozialen Gruppen, die für sich eine Mehrheitsentscheidung herbeiführt. Wir stoßen hier auf Probleme, die immer auftauchen, wenn man daran geht, eine Art zweites Parlament im Sinne einer leistungsgemeinschaftlichen Gliederung der Gesellschaft (oder so etwas wie eine Wirtschaftskammer) zu institutionalisieren. Diese Projekte führen entweder zur Vermehrung der Möglichkeiten einer Herrschaft durch Minderheiten oder zur Anarchie auf der Ebene der eigentlich politischen Führung. Dieser Gesichtspunkt sollte hier nur angedeutet werden, weil ich den Verdacht habe, daß es sich bei den Demokratiemodellen, die uns mit dem Anspruch der Modernität vorgetragen werden, bei genauem Zusehen und unter bestimmten Gesichtspunkten um eine Neuauflage ständestaatlicher Vorstellungen in plebiszitärer Fassung handelt. Das ganze Rätesystem wäre auch unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Manfred Hättich, Dr. rer. pol., o. Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Mainz, geb. am 12. Oktober 1925.