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Frieden und Macht Ein Vorblick auf die siebziger Jahre | APuZ 4/1969 | bpb.de

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APuZ 4/1969 Frieden und Macht Ein Vorblick auf die siebziger Jahre Das Wesen der politischen Unterweisung Gedanken zur Bundestagsdebatte über politische Bildung am 15. November 1968

Frieden und Macht Ein Vorblick auf die siebziger Jahre

Zbigniew Brzezinski

Bestandsaufnahme des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses

Macht dient in der Politik nicht nur, sie verführt auch. Im kommenden Jahrzehnt wird die Macht der beiden Superstaaten beginnen, sich global zu überschneiden; deshalb könnte die Konkurrenz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion schärfer und labiler werden, zumal da die Verhältnisse in einigen Gebieten der Erde die Großmächte zur Einmischung geradezu einladen. Es ist möglich, daß dann beide Mächte in feindliche Auseinandersetzungen verwickelt werden, auch wenn sie das gar nicht wünschen. Mit der Beendigung des Vietnamkrieges braucht keineswegs eine neue Ara der Entspannung zwischen Washington und Moskau zu beginnen; vielmehr kann eine kompliziertere Phase der internationalen Politik einsetzen, wenn wir nicht jetzt darüber nachdenken, wie sich ein neues Gerüst für den Frieden in den siebziger Jahren konstruieren läßt. Das Wesen und die Implikationen der neuen Phase versteht man leichter, wenn man die Dinge historisch betrachtet. In der Haltung der beiden Mächte zueinander hat sich in den letzten Jahren ein auffallender Wandel vollzogen. Die Vereinigten Staaten legen jetzt den Akzent auf das Motiv des „friedlichen Übereinkommens"; im großen und ganzen haben sie aufgehört, die Sowjetunion als stärkste Bedrohung oder Hauptfeind hinzustellen. Hingegen scheint die Sowjetunion (besonders seit dem Sturz Chruschtschows) gegenüber den Vereinigten Staaten eine Haltung einzunehmen, die an die Einstellung John Foster Dulles'gegenüber Moskau erinnert: moralische Verdammung verbunden mit Betonung der Notwendigkeit, Washingtons angeblich ungezügelte Ambitionen „einzudämmen".

Die amerikanische Politik des „friedlichen Übereinkommens"

Der Wandel in der offiziellen amerikanischen Haltung wurde gegen Ende der Amtszeit Präsident Eisenhowers von J. F. Dulles und Christian Herter eingeleitet. Zum etablierten Begriff der Eindämmung trat das Motiv der Zusammenarbeit. Diesem neuen Element gab die Regierung Kennedy hohen Vorrang, besonders nach der Kuba-Konfrontation von 1962. Die Rede an der American University, die so starken Nachdruck auf die Notwendigkeit eines „neuen Anfangs" legte, hatte eindeutig den Zweck, Moskau von der neuen amerikanischen Interpretation des gegenseitigen Verhältnisses zu unterrichten. Präsident Johnson verfolgte den eingeschlagenen Weg weiter; trotz der zunehmenden Verhärtung zwischen Washington und Moskau im Zusammenhang mit Vietnam trat er am 7. Oktober 1966 für eine umfassende Aussöhnung zwischen Ost und West ein. Dabei revidierte er einige wesentliche Konzeptionen der amerikanischen Politik: Er erklärte, daß die Wiedervereinigung Europas der Deutschlands vorangehen müsse, und er betonte den Wunsch nach engeren Beziehungen sowohl zur Sowjetunion wie zu Osteuropa, womit er indirekt von der Taktik abrückte, einen Keil zwischen die Osteuropäer und Moskau zu treiben.

Diese amerikanische Kursänderung entsprang nicht einfach der naiven Sehnsucht, mit der Sowjetunion zu einer Verständigung zu kommen. Sie war Ausdruck der zunehmenden Sorge, daß man Moskau dazu „erziehen" müsse, nukleare Mitverantwortung in einer Welt zu übernehmen, deren Vorräte an Kernwaffen mit immer größerer Vernichtungskraft ständig wachsen. So bemühten sich die Vereinigten Staaten um eine Verbesserung der labilen Beziehungen zu Moskau auch dann, als sich der Krieg in Vietnam verschärfte. Sie übten weiterhin Zurückhaltung in ihrer Sprache, obwohl die antiamerikanischen Beschimpfungen aus Moskau — viele davon gegen den Präsidenten persönlich gerichtet — immer heftiger wurden und eine Tonart annahmen, wie man sie seit den frühen fünfziger Jahren nicht mehr gehört hatte. Sie bestritten weiterhin, daß die Sowjetunion den Vietnamkrieg verlängern wolle, obschon die sowjetischen Waffenlieferungen in steigendem Maße für die Kriegführung im Süden — und nicht nur für die Verteidigung des Nordens — bestimmt waren. Sie vermieden es, nach dem sowjetischen Einfall in die Tschechoslowakei eine antisowjetische Stimmung zu schüren. Sie fuhren fort, in ihren Verteidigungsprogrammen sorgfältig Maß zu halten, um keine übermäßigen sowjetischen Besorgnisse zu erregen.

Allgemein kann man wohl sagen, daß der Zerfall des stalinistischen Monolithen und der chinesisch-sowjetische Konflikt in Amerika die Hoffnung erweckten, es werde nach und nach zu bedeutsamen Wandlungen in der sowjetischen Sehweise kommen; das Verhalten der Vereinigten Staaten war klar darauf berechnet, eine solche Evolution zu fördern. Die einstige Furcht — gemildert durch das Gefühl nuklearer Sicherheit — wich nun der Hoffnung, die nur gelegentlich durch sowjetisches Raketenrasseln getrübt wurde.

Zickzackkurs der sowjetischen Einstellung

Während der Wandel in der amerikanischen Einstellung zur Sowjetunion durch nahezu ein Jahrzehnt einen relativ stetigen Fortgang nahm, unterlag die sowjetische Einstellung zu den Vereinigten Staaten einem pragmatischer orientierten Zickzackkurs. Als wichtigster Wendepunkt kann der Sturz Chruschtschows im Herbst 1964 gelten. Zwar war Chruschtschows Politik in den vorangegangenen Jahren bei weitem nicht konsequent gewesen, doch schien sie auf jeden Fall dem amerikanisch-sowjetischen Verhältnis eine hohe Priorität einzuräumen. Während der kubanischen Raketenkrise hatte Chruschtschow mit beträchtlichem Risiko gelernt, daß das Ziel, die USA als stärkste Weltmacht abzulösen, nicht durch Überrumpelung zu erreichen war. Augenscheinlich war er gewillt, sich im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten mit einer längeren Periode des Stillhaltens oder gar der Verständigung abzufinden, die mindestens so lange dauern sollte, bis die sowjetische Waffenentwicklung die 1962 zutage getretenen Mängel überwunden hatte.

Bei der Verfolgung dieses vorrangigen Ziels war er sogar bereit, seine Beziehungen zu den militanteren kommunistischen Staaten zu opfern. Am Vorabend seines Sturzes traf Chruschtschow offenbar Vorbereitungen für den endgültigen Bruch mit China, und ein paar Monate zuvor distanzierte er sich fast unverhohlen von den Nordvietnamesen, nachdem diese gerade die erste Kostprobe der amerikanischen Luftangriffe bekommen hatten.

Die neuen Sowjetführer traten die Macht mit einer ganz anderen Prioritätenliste an, wie ihre Reden und Handlungen erkennen ließen. Zwar waren sie daran interessiert, die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen von Störungen freizuhalten (und sie gaben sich große Mühe, dies Washington klarzumachen); doch ihre eigentliche Sorge galt anderen Dingen: der Wieder-herstellung der internationalen kommunistiB sehen Einheit und der Festigung der Autorität der herrschenden kommunistischen Bürokratie im eigenen Lande. Selbst Bürokraten mittleren Alters aus der Stalinschen Schule (die meisten von ihnen hatten ihre Karriere in den schmerzlichen Tagen der „Großen Säuberung" begonnen), waren sie geneigt, die Beziehungen zu den radikaleren Parteien Nordvietnams und Nordkoreas zu pflegen; sie hatten keine Lust, die Chinesen zum endgültigen Bruch zu treiben, und sie betrachteten die Restauration einer gewissen ideologischen Einheit als unmittelbar förderlich für die politische Stabilität bei sich zu Hause.

Aus dieser Rangordnung der Ziele und dem tatsächlichen Ablauf der Ereignisse kristallisierte sich im Laufe der nächsten zwei Jahre die neue sowjetische Haltung gegenüber Washington heraus. Wie bisher beruhte sie auf der intelligenten Einsicht, daß die Sowjetunion ein Interesse daran hat, ein sachliches Verhältnis zu den Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten. Es ist beachtenswert, daß in dieser Zeit trotz des Vietnamkrieges mehr amerikanisch-sowjetische Abkommen erfolgreich ausgehandelt wurden als im vorangegangenen Jahrzehnt. Jedoch handelte es sich dabei hauptsächlich um Verträge zur Förderung spezifischer bilateraler Interessen oder gemeinsamer negativer Interessen (Beispiel: der Atomsperrvertrag); zu einer umfassenden Verständigung über die eigentlichen Streitfragen — das Wettrüsten, Berlin usw. — kam es nicht. In der Überzeugung, daß die Vereinigten Staaten sich aus Vietnam zurückziehen wollten, strebten die neuen Sowjetführer gleichzeitig energisch nach Herstellung einer sowjetischen Präsenz in Hanoi. Offensichtlich hofften sie, an einer Regelung mitwirken zu können, die den amerikanischen Rückschlag sozusagen aktenkundig machte; damit würde sich Moskau ein „revolutionäres Verdienst" erwerben, ohne sein Verhältnis zu Washington aufs Spiel zu setzen. Moskau gedachte, „seinen Kuchen aufzuessen und doch zu behalten", so wie Washington „die Beziehungen zu Moskau verbessern" wollte, während es einen kommunistischen Staat bombardierte.

Im Kreml reifte auch die Überzeugung heran, daß die Vereinigten Staaten unter Präsident Johnson, gestützt auf die neuerworbene Kapazität zur Beförderung von Truppen auf dem Luft-und Seeweg über weite Entfernungen, eine zunehmend aggressive Politik betrieben. Die neuen Sowjetführer waren demgemäß geneigt, Initiativen wie Präsident Johnsons Rede vom 7. Oktober 1966 als Täuschungsmanöver zur Bemäntelung einer militanteren antikommunistischen Politik abzutun. Das war die offizielle Interpretation, auf die sich auch Moskaus osteuropäische Verbündete festlegten, von denen einige versucht gewesen waren, positiver auf das amerikanische Plädoyer für eine Ost-West-Aussöhnung zu reagieren.

Wie es scheint, kamen 1967 die Sowjetführer (und mit ihnen damals auch viele Führer anderer kommunistischer Parteien) zu dem Schluß, daß sich die kommunistischen Kräfte einer neuen imperialistischen Offensive unter Führung der Vereinigten Staaten gegenübersähen. Die Sowjetführer — so Breschnew bei der Fünfzigjahrfeier der Oktoberrevolution und Suslow auf der internationalen kommunistischen Tagung in Budapest im März 1968 — erklärten, Ereignisse wie die Ermordung Lumumbas, der Sturz Goularts, die Entmachtung Sukarnos, die Intervention in der Dominikanischen Republik, der Staatsstreich in Griechenland, ja sogar der israelische Überraschungsangriff auf Ägypten seien samt und sonders Teile einer geplanten, von den USA inszenierten politischen Offensive. Symptomatischerweise äußerte Tito nach Gesprächen mit Moskau die gleichen Auffassungen. Auch das theoretische Organ der Kommunistischen Partei Italiens, Rinascita (4. August 1967), entwickelte systematisch solche Ideen: „Die Politik des Status quo und die Versuche, die Welt zwischen den beiden Supermächten in Einflußzonen aufzuteilen, ersetzt der amerikanische Imperialismus nach und nach durch eine durchgesehene und verbesserte Neuauflage der alten Politik des roll back. Im Rahmen der nuklearen Koexistenz mit der UdSSR (verursacht durch iorce majeure) unternimmt er eine Reihe von Interventionen (wirtschaftliche, politische, militärische) mit dem Ziel, das Kräfteverhältnis in der Welt zu ändern: er setzt reaktionäre Regimes ein oder gewährt ihnen Unterstützung, und er liquidiert die progressiven Kräfte und Bewegungen in einzelnen Ländern."

Die sowjetische Besorgnis erhielt weitere Nahrung durch die Einsicht, daß eine effektive „Eindämmung" der USA nicht möglich war, wenn man sich allein auf die apokalyptische Macht der sowjetischen Kernwaffen verließ. Die Sowjetführer erkannten, daß die Vereinigten Staaten nach Entwicklung einer über weite Distanz einsatzbereiten konventionellen Kampfstärke aufgehört hatten, eine apokalyptische Nuklearmacht zu sein und eine globale Macht geworden waren. Chruschtschows Drohungen mit Raketen (ähnlich wie Dulles'„massive Vergeltung") waren zu fürchterlich, um in Situationen, die mäßigen, aber wirksamen militärischen Druck erforderten, glaubwürdig zu sein. Feindseligkeit, Frustration und Besorgnis gingen somit als wichtige Ingredienzen in die neue Analyse ein, und sie verstärkten ideologische Vorurteile, welche die weltpolitische Gesamtperspektive der Sowjets prägten.

Sowjetische Reaktionen auf die Probleme in einzelnen Regionen

Diese Erwägungen bildeten den allgemeinen Rahmen, innerhalb dessen die Sowjetführer auf spezifische Probleme reagierten. Im Hinblick auf China zum Beispiel zeigten sich die neuen Sowjetführer besonders besorgt über die Möglichkeit eines amerikanisch-chinesischen Zusammenspiels. Daß sich Russen wegen solch einer „neuen Einkreisung" beunruhigen, ist historisch verständlich; aber die neuen Sowjetführer waren mehr als Chruschtschow disponiert, eine amerikanisch-chinesische Zusammenarbeit zu fürchten, gerade weil sie weniger zum Bruch mit China neigten und weniger an einer Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen interessiert waren. In den letzten drei Jahren haben sowjetische Diplomaten in den Vereinigten Staaten mehrfach sondiert, ob man in offiziellen Kreisen ernsthaft an eine derartige Zusammenarbeit denke. In dieser Hinsicht müssen mehrere Erklärungen von sehr hoher amerikanischer Stelle, die bemüht schienen, China auf das unmißverständlichste als „Friedensbedrohung Nummer Eins" hinzustellen, beruhigend gewirkt haben. Diese Erklärungen machten auch den Sowjetführern Mut, in ihrem Verhältnis zu Peking Geduld zu üben — in der Hoffnung, die Dinge würden sich nach Maos Tod wieder ins Geleise bringen lassen.

Im Laufe der Zeit wurde der Vietnamkrieg zum Zentralproblem der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Anfangs befürchtete die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten könnten den Krieg zu schnell eskalieren und dadurch ernste Schwierigkeiten für Moskau schaffen. Die USA taten das nicht, und zweifellos wurde der Kreml durch das sehr gemäßigte Tempo der amerikanischen Eskalation beruhigt (das auch die Nordvietnamesen allmählich an die Folgen gewöhnte). Derart beruhigt und gleichzeitig darauf bedacht, die Beziehungen zu den radikaleren Parteien zu verbessern, steigerte die Sowjetunion schrittweise ihren eigenen Einsatz und wurde mit der Zeit der Hauptversorger für die eigentliche Kriegführung im Süden Vietnams.

Je höher die Sowjetunion die internationalen Implikationen des Krieges einschätzte, desto mehr beteiligte sie sich. Die ursprüngliche Besorgnis des Kremls — vielleicht war es sogar Ambivalenz — wich allmählich der Einsicht in die relativen politischen Vorteile des Krieges für die Sowjetunion und seine politischen Nachteile für die Vereinigten Staaten. Etwa 1967 müssen die Sowjetführer zu der Erkenntnis gekommen sein, daß der Krieg für die Freundschaft zwischen den USA und West-europa eine Belastung darstellte; daß er jeden Fortschritt in der Politik der „friedlichen Verständigung" an der Ost-West-Front paralysierte und es der Sowjetunion erleichterte, ihre Position in Osteuropa aufrechtzuerhalten; daß er die innenpolitischen und finanziellen Spannungen in den Vereinigten Staaten verschärfte; daß er jährlich ungefähr den Betrag verschlang, um den der Zuwachs des amerikanischen Bruttosozialprodukts die entsprechende sowjetische Größe überstieg; und daß er die Feindseligkeit Chinas von der Sowjetunion ablenkte.

Natürlich war den Sowjetführern zweifellos klar, daß der Krieg auch für sie einige Belastungen mit sich brachte. Es war ein peinlicher Anblick, wie ein kommunistischer Staat Tag für Tag bombardiert wurde, ohne daß die Sowjetunion wirksam einschritt. Das amerikanische Militär erwarb sich die nötigen Erfahrungen und konnte sein Gerät erproben. Der Krieg brachte der Sowjetunion wirtschaftliche Einbußen und beeinträchtigte sicherlich die Chancen für einen verstärkten Ost-West-Handel. Aber alles in allem war, wenn eine direkte amerikanische Niederlage nicht zu erreichen war, die Fortführung des Krieges einem Sieg der USA vorzuziehen. Man kann wohl mit Sicherheit annehmen, daß die Sowjetführer als Realisten wußten, daß eine wirkliche Kompromißlösung ebenso wenig praktikabel war wie in Spanien 1938, daß sie vielmehr im gegenwärtigen Zeitpunkt nur eine sehr durchsichtige Verschleierung für den Sieg der einen und die Niederlage der anderen Seite sein konnte.

Die sowjetische Strategie war daher in erster Linie darauf gerichtet, die Risiken des Krieges zu begrenzen und gleichzeitig seine Fortführung politisch auszubeuten. Die einzigen Staatsmänner, die bisher auf diesen Punkt hingewiesen haben, waren U Thant in seiner Erklärung vom Februar 1968 und Lord Avon in seiner Cornell-Rede im März 1968. Natürlich könnte der Kreml Hanoi nicht davon abhalten, sich für den Friedensschluß zu entscheiden, und er würde sicherlich gern als diplomatischer Vermittler einer für Hanoi günstigen Lösung dienen. Aber von dieser Möglichkeit abgesehen, war die Sowjetdiplomatie in den zwei letzten Jahren vor allem damit beschäftigt, die Gefahren des Krieges einzudämmen und ihn zugleich politisch gegen die Vereinigten Staaten auszunutzen. (Hin und wieder zeigte die Sowjetunion vorübergehend Interesse an der Förderung von Verhandlungen; aber das geschah bezeichnenderweise immer dann, wenn eine weitere amerikanische Eskalation erwartet wurde.) Diese Überlegungen sollten uns davon abhalten, der sowjetischen Rolle in den von Präsident Johnson Ende März 1968 eingeleiteten Friedensverhandlungen mit allzu-viel Optimismus entgegenzusehen.

Die offizielle Einstellung der Vereinigten Staaten erleichterte es der Sowjetunion, in dieser Haltung zu verharren. Einerseits bezeichneten amerikanische Sprecher Vietnam als „globale Feuerprobe" — womit gesagt wurde, daß auch sowjetische Interessen berührt seien —, andererseits sprachen sie die Sowjetunion von der Verantwortung für die Fortführung des Krieges frei und beruhigten sie hinsichtlich der damit verbundenen Risiken. Die Folge war, daß die Sowjetunion allmählich immer mehr in die Auseinandersetzungen verstrickt wurde, ohne jedoch innehalten und abwägen zu müssen, ob ein rein regionales Problem zu einer direkten amerikanisch-sowjetischen Konfrontation führen könnte.

Das Verhalten der Sowjets in anderen Teilen der Welt läßt einen großen Entwurf vermissen (sehr im Gegensatz zur Chruschtschow-Ara), doch sind sie immer schnell bei der Hand, besondere Gelegenheiten auszunutzen. So scheint die Frage der sowjetischen Politik in Europa in der Schwebe zu sein. Die Sowjet-führer haben sich offenbar noch nicht entschieden, ob sie ihre altgewohnte Feindschaft gegen Bonn aufgeben und versuchen sollen, aus der zunehmenden Frustration der Westdeutschen Kapital zu schlagen. Eine Politik der Verständigung könnte einige schwere Risiken für die sowjetische Position in Osteuropa in sich bergen. Es scheint, daß eine Mehrheit in der sowjetischen Führung für eine konservative Haltung eintrat; sie wies auf „wachsenden deut-sehen Einfluß" in Rumänien und der Tschechoslowakei hin und warnte vor den ernsten Rückwirkungen, die eine Kehrtwendung im Verhältnis zu Bonn in Warschau und Ost-Berlin haben könnte. Die Ambivalenz und der Konservatismus der Sowjets fanden ihren klassischen Ausdruck im Fall Tschechoslowakei. Die Furcht vor der Demokratisierung trieb die Sowjets zum Handeln — doch ihre militärische Operation war von keiner klaren politischen Konzeption getragen.

Die gegenwärtige sowjetische Politik gegenüber Lateinamerika ähnelt auffallend der amerikanischen Politik gegenüber Osteuropa: hier muß man kurztreten und sanft reden, hier darf man nicht mit dem großen Knüppel, sondern nur mit Geschenken kommen. Ungarn 1956 und die Dominikanische Republik 1965 bekräftigten für jede der beiden Großmächte erneut das Prinzip des „geographischen Fatalismus": allzu weitgehende Veränderungen in einem unmittelbar an eine Großmacht angrenzenden Gebiet lösen eine überwältigende Reaktion aus. Man darf daher in solchen Gebieten keine Revolution schüren wollen, sondern muß die etablierten Eliten umwerben, auf allmählichen Wandel bauen und engere wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen mit den herrschenden Kreisen entwickeln. Dadurch, daß die Sowjets eine solche Politik betrieben, kühlten sich ihre Beziehungen zu Fidel Castro merklich ab; und ähnlich trug Kennedys Ostpolitik zu einer Abkühlung seiner Beziehungen zu Konrad Adenauer bei.

Die Nahost-Ereignisse im Juni 1967 stellten für die Sowjetunion zunächst einen schweren Rückschlag dar; aber die Sowjetführer konnten die Zweideutigkeit der amerikanischen und israelischen Erklärungen hinsichtlich einer künftigen Friedensregelung ausnutzen und ihre Verbindungen mit den herrschenden Regierungen aufrechterhalten. Das erlaubte es Moskau, sowohl das traditionelle russische Interesse an der Herstellung einer direkten Präsenz im Mittelmeer als auch das kommunistische Interesse an der Radikalisierung der arabischen Eliten und Massen zu fördern. Man kann sich ausrechnen, daß die grundlegende sowjetische Taktik abzielt auf die Verhinderung sowohl eines neuen Krieges, der nur mit einer weiteren arabischen Niederlage enden könnte, wie auch einer wirklichen Regelung, die zweifellos die aktive diplomatische Teilnahme der Vereinigten Staaten verlangen würde.

Das übrige Afrika und auch Asien — mit der wichtigen Ausnahme Indiens — scheint die gegenwärtigen Sowjetführer weniger zu interessieren als seinerzeit Chruschtschow. An die Stelle seiner Politik einer undifferenzierten politisch-ökonomischen Offensive ist ein mehr selektives Verfahren getreten; die sowjetischen Mittel werden auf einige wenige Ziele konzentriert. Anscheinend ist man zu dem Schluß gelangt, daß ein längerer Evolutionsprozeß nötig sein wird, ehe die meisten neuen Staaten „ideologisch reif für den Sozialismus" sind. Die verfehlte revolutionäre Zuckung des indonesischen Kommunismus muß in Moskau gründlich untersucht worden sein. Zwar werden die militärischen Hilfsprogramme noch weiter ausgebaut und ermöglichen es der Sowjetunion, Konflikte wie den in Nigeria auszubeuten, aber im großen und ganzen gewinnt man den Eindruck, daß das Interesse an der Dritten Welt und die in sie gesetzten Erwartungen nachgelassen haben.

Die einzige Ausnahme bildet Indien. Das Interesse der Sowjetunion an der Stabilität Indiens ist höchstwahrscheinlich eine Funktion der sowjetisch-chinesischen Beziehungen. Demgemäß hat die sowjetische Hilfe zugenommen, und Indien ist wohl das einzige größere Gebiet in der Welt, wo die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion tatsächlich stillschweigend zusammenarbeiten, um die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.

Schließlich — und damit wollen wir diese kurze Übersicht über die Haltung der Sowjets im Zusammenhang mit ihrer Einschätzung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen beenden — haben die Sowjetführer zum erstenmal seit Jahren wieder einen größeren Versuch unternommen, so etwas wie eine kommunistische Einheit auf „antiimperialistischer" Grundlage zu schmieden. Der letzte derartige Versuch wurde 1957 gemacht. Die internationale kommunistische Konferenz von 1960 war ambivalenter und wurde von dem chinesisch-sowjetischen Streit beherrscht. Auf der Budapester Tagung Anfang 1968 waren vor allem antiamerikanische Töne zu hören, und wenn auch die neue „antiimperialistische" Front vorerst noch mehr verbal als real ist, so wäre es doch ein Irrtum, sie als bloße Übung in Semantik abzutun. In größerem Rahmen gesehen, ist sie ein weiteres Symptom für die gegenwärtige sowjetische Stimmung.

Militärische Veränderungen

Die politischen Veränderungen gehen einher mit einer allmählichen Verlagerung im strategischen Kräfteverhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion. Vor sechs Jahren, das heißt während der kubanischen Raketenkrise von 1962, besaß die Sowjetunion bereits die Fähigkeit zu einem Vergeltungsschlag (second strike capacity), der den USA einen Verlust von mehreren Dutzend Millionen Menschenleben zufügen konnte — allerdings um den Preis ihrer eigenen nationalen Existenz. Heute sind die Vereinigten Staaten zwar immer noch in der Lage, die nationale Auslöschung der Sowjetunion herbeizuführen, aber die Sowjetunion kann hundert Millionen Amerikaner vernichten. Die Parität des Nichtüberleben-Könnens ist also fast schon vorhanden, und da sich das Niveau der sowjetischen Raketen-rüstung dem der amerikanischen nähert, wird sie bald erreicht werden.

Das ist eine bedeutende Veränderung. Es ist falsch zu argumentieren, auch ein potentieller Verlust von zwanzig oder dreißig Millionen amerikanischer Menschenleben wäre schon vor sechs Jahren unannehmbar gewesen. Natürlich war er das vom amerikanischen Standpunkt aus und gewiß auch unter moralischen Aspekten. Wenn man aber die amerikanisch-sowjetische Konfrontation von Moskau aus betrachtet, so gewinnt die damalige Asymmetrie entscheidende politische Bedeutung; sie verlieh amerikanischen Drohungen eine gewisse Glaubwürdigkeit und zwang die Sowjets, sich beim Bluffen Zurückhaltung aufzuerlegen. Die Sowjetführer wußten, daß die Sowjetunion für eine Fehlkalkulation einen qualitativ höheren Preis würde entrichten müssen als die Ver-einigten Staaten. Die Vereinigten Staaten wären sicherlich aufs höchste beunruhigt, falls sich die Situation umkehrte.

Das Gleichziehen der Sowjetunion mit den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Interkontinentalraketen, die Einführung des FOBS (Fractional Orbit Bombardment System), die Möglichkeit, daß einige sowjetische Weltraum-versuche der jüngsten Zeit die Entwicklung eines MOBS (Multiple Orbit Bombardment System) zum Ziele haben, das sowjetische Interesse an Antiraketen-Raketen und Zivilverteidigung, auf amerikanischer Seite die erwartete rasche Entwicklung von MIRVs (Multiple-Individually-Targeted-Re-entry Vehicles), die Indienststellung einiger Antiraketen-Raketen, vielleicht die Entwicklung der Spektrum-Bombe — all das wird beitragen zu einer zunehmend komplexen Situation, die sich mit klaren Berechnungen und psychologischem Selbstvertrauen schlecht verträgt. Ob dieser Zustand zu größerer beiderseitiger Zurückhaltung führen wird oder vielmehr zu ausgiebigerem Manövrieren und Bluffen, läßt sich nicht sicher voraussagen; aber es mag wohl Grund zum Pessimismus vorhanden sein.

Das neue amerikanisch-sowjetische Verhältnis, wie es sich abzeichnet, birgt potentiell eine verhängnisvolle Unvereinbarkeit zwischen dem entstehenden Gleichgewicht der Kräfte und der Struktur des internationalen Systems. In den letzten zwanzig Jahren bestand schlecht und recht Harmonie. Es gab zwei ziemlich homogene Blöcke, der eine geführt von einer stärkeren Nuklearmacht, die im wesentlichen für Erhaltung des Status quo war, der andere geführt von einer schwächeren Nuklearmacht, die gegen den Status quo war; die übrige Welt verhielt sich im großen und ganzen ruhig. Jetzt beginnen die beiden Blöcke sich aufzulösen; im Laufe des nächsten Jahrzehnts wird die schwächere und im wesentlichen apokalypti-sche Nuklearmacht in militärischer (wenn auch noch nicht in anderer) Hinsicht ebenfalls eine globale Macht werden; und die Dritte Welt droht in internationale Anarchie und sporadische Gewalttätigkeit auseinanderzufallen.

Gefahren des Zustandes der „symmetrischen Abschreckung"

Bis jetzt wurde der Friede durch asymmetrische Abschreckung gesichert. Die amerikanische Selbstbeschränkung und einseitige Abschreckung („wir können euch unter allen Umständen mehr Schaden antun als ihr uns") wirkten zusammen mit dem sowjetischen Selbsterhaltungsinstinkt und den absichtlich zweideutigen, ja übertriebenen Angaben Moskaus über seine eigene Macht. Dieses System funktionierte zwanzig Jahre lang. Jetzt wird es abgelöst von einem neuen Zustand symmetrischer Abschreckung! Selbsterhaltungsinstinkt und Rationalität der Amerikaner („wir können euch antun, was ihr uns antun könnt") wirken zusammen mit Selbsterhaltungsinstinkt und Rationalität der Sowjets. Vielleicht genügt auch das, um Zurückhaltung aufzunötigen; aber Tatsache ist, daß bisher die Abschreckung nicht gleichgewichtig war und daß die Vereinigten Staaten noch nie einer Krise ausgesetzt waren, in der sich die Sowjetunion in einer Situation der Parität befand.

In der Vergangenheit wurde oft davor gewarnt, sich allzusehr mit dem angeblich bösen Chrarakter der sowjetischen Absichten herumzuquälen; man solle in erster Linie die sowjetischen Möglichkeiten ins Augen fassen. Heute besteht die Tendenz, sich mehr auf den angeblich friedlichen Charakter der sowjetischen Absichten zu verlassen und die Bedeutung der gewachsenen sowjetischen Möglichkeiten zu verkleinern. Aber ganz ungeachtet der Motive ist es ein Unterschied, ob die Möglichkeiten größer oder geringer sind. Wir wissen nicht, wie die Sowjetführer rückblickend die Kuba-Raketenkrise interpretieren; aber könnten sie nicht jetzt Spekulationen darüber anstellen, daß die amerikanische Führung bei Vorhandensein einer symmetrischen Abschreckung anders gehandelt hätte? Wenn man die Berichte nachliest, könnte man sich das sehr wohl fragen. Und könnte man nicht spekulieren, daß die Sowjets in diesem Fall anders auf die nukleare Drohung der USA reagiert hätten? Während der Kubakrise behaupteten die Vereinigten Staaten ihre Interessen nicht nur in Kuba, sondern auch in Berlin — wo sie taktisch unterlegen waren, sich aber durch ihre nukleare Überlegenheit schützten. In einer Situation der Parität hätten die Sowjets durchaus mit einer Gegenblockade Berlins antworten können.

Da wir noch keine Krise in einer Situation der Parität erlebt haben, waren wir noch nicht gezwungen, ernsthaft darüber nachzudenken, was nach der Abschreckung kommt. Unterbewußt haben wir uns gesagt: Die Abschreckung wird funktionieren, weil sie funktionieren muß. Aber dieser Grenzen setzende Imperativ wirkte sich stärker auf das schwächere Glied in der nuklearen Gleichung aus. Daher kann es sein, daß die Abschreckung in Zukunft nicht mehr so gut funktionieren wird. Damit soll kein umfassender Atomkrieg vorausgesagt werden; es wird nur festgestellt, daß die symmetrische Abschreckung möglicherweise weniger geeignet zur Verhütung von Kriegen ist — wozu dann noch die Unstabilität der Dritten Welt kommt.

Man kann argumentieren, die neue Situation werde sich positiv auswirken, indem sie in Washington und Moskau ein Gefühl der Schicksalsgemeinschaft erzeuge. Sie könne die Befürchtungen des Schwächeren und die Selbstsicherheit des Stärkeren verringern. In gewissem Mäße ist dies bereits eingetreten. Das Ar-B gument wäre jedoch beruhigender, wenn sich die beiden Mächte in jeder anderen Hinsicht — Haltung, Ambitionen, Interessen — wirk-lich glichen und wenn der internationale Kontext und das Wettrüsten beide relativ stabil wären.

Die globale Überschneidung der beiden Militärmächte und ihre möglichen Folgen

Noch ein weiterer unwägbarer Faktor ist zu berücksichtigen. Die siebziger Jahre werden zum erstenmal in der Geschichte zwei einander überschneidende globale Militärmächte sehen. Amerikanische und sowjetische Interkontinentalwaffen, vielleicht Weltraumwaffen, aber auch mit Schiffen und Flugzeugen beförderte Interventionsstreitkräfte werden gegenseitig ihre Wege kreuzen, Seite an Seite dahinziehen und miteinander in engste Berührung kommen. Man braucht der Sowjetunion keine aggressiven Pläne und den Vereinigten Staaten keine ausschließlich friedlichen Absichten zuzuschreiben, um die Frage zu stellen, ob der Weltfriede gewahrt werden kann, wenn zwei einander überschneidende globale Militär-mächte in einer dynamischen, unstabilen Dritten Welt globale Ziele verfolgen, die miteinander nicht verträglich sind. Frühere imperiale Systeme waren territorial begrenzt; überlappende, fließende (oder mobile) imperiale Macht ist etwas Neues. Das gegenwärtige internationale System scheint schlecht gerüstet für die Aufgabe, sie einzudämmen.

In den nächsten Jahren freilich wird es zwischen den beiden Mächten noch große Unterschiede geben hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Truppen auf dem Luft-und Seeweg über weite Entfernungen zu befördern. Aber auch hier scheint die Sowjetunion entschlossen zu sein, ihre derzeitigen Schwächen zu überwinden. Die Truppentransportflugzeuge vom Typ Antonow-22, die drei im Bau befindlichen Hubschrauberträger und die Verstärkung der sowjetischen Marineinfanterie — all das zeigt deutlich, wohin die sowjetische Militärplanung zielt und welche Rolle die Sowjetunion in der Welt zu spielen gedenkt.

Es ist unwahrscheinlich, daß Veränderungen im internationalen Klima an dem Bild etwas ändern werden. Mit ziemlicher Sicherheit kann man sagen, daß die Ausdehnung der sowjetischen Militärmacht ihre eigene Dynamik hat; offensichtlich sind ihr technische und fiskalische Grenzen gesetzt, aber internationalen atmosphärischen Schwankungen ist sie nicht unterworfen. Die gelegentlichen Perioden der Entspannung haben die sowjetische Militär-entwicklung nicht verlangsamt; es scheint sogar, daß einige Entscheidungen, von denen man vielleicht sagen könnte, daß sie „aggressive" oder „destabilisierende" Konsequenzen haben (zum Beispiel die über das sowjetische Raketenabwehrprogramm), in Perioden der Entspannung getroffen wurden. Hinzu kommt, daß die sowjetischen Führer unter dem traditionellen Antrieb der Außenpolitik natürlich entschlossen sind, die Vereinigten Staaten in ihrer militärischen Entwicklung und Entfaltung einzuholen und möglichst zu überholen.

Je größer die Fähigkeit ist, sich an den Unruheherden der Welt einzumischen, desto größer wird höchstwahrscheinlich auch die Versuchung sein, es zu tun. Die die Sowjetunion nicht direkt in den Vietnamkonflikt eingriff, wurde ihr allgemein verziehen, weil selbst militante Kommunisten wußten, daß sie es nicht konnte. Es wäre für die Sowjetunion viel schwieriger gewesen, nicht die Gefangene ihrer eigenen Macht zu werden, wenn sie nachweislich die Mittel für eine Intervention über weite Entfernungen besäße. Mithin gibt es a priori keinen Grund, der die Möglichkeit ausschlösse, daß in zehn Jahren sowjetische Marineinfanteristen in Nigeria oder Ceylon an Land gehen. Je mehr die sowjetische Kapazität wächst, Truppen auf dem Luft-und Seeweg über weite Strecken zu befördern, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit einer Konfrontation neuen Typs, nämlich einer direkten Konfrontation amerikanischer und sowjetischer Interventionsstreitkräfte. Gerade die Furcht vor dieser Möglichkeit könnte jede der beiden Groß-mächte geneigt machen, als erste einzuschreiten und ihre Ansprüche „abzustecken", in der Hoffnung, dadurch die andere vom Eingreifen abzuhalten. Auf das Zuerstkommen wäre also eine Prämie gesetzt; dies aber würde eine Spirale der Interventionen bedeuten.

Bei den bisherigen Überlegungen wurde vorausgesetzt, daß die Sowjetunion in der internationalen Rivalität zwischen den beiden Superstaaten Stehvermögen beweist. Das gleiche Stehvermögen wurde für die Vereinigten Staaten vorausgesetzt. Eine innere Krise in Amerika, insbesondere ein durch die Enttäuschungen des Vietnamkrieges verursachter panikartiger Rückzug aus der Weltpolitik, würde verheerende Auswirkungen auf die Stabilität der Welt haben. Wahrscheinlich käme es zu einer Welle von Erhebungen, die ihrerseits in Moskau einen gefährlich sprunghaften Optimismus erzeugen würden; die Sowjetunion würde sich möglicherweise in Aktionen stürzen, die sie bisher sorgfältig vermieden hat. Eine verspätete, extrem rechte Reaktion in den Vereinigten Staaten würde dann die Wirkung haben, eine noch unstabiler, noch chaotischer gewordene Welt zu polarisieren.

Das Durchhaltevermögen der Sowjetunion könnte auch geschwächt werden durch wachsende Widersprüche zwischen dem sowjetischen politischen System und der sowjetischen Gesellschaft. Heute besitzt diese Gesellschaft alles, was für eine soziale Weiterentwicklung nötig ist, und sie rebelliert gegen viele der dogmatischen Einschränkungen, die ihr von der herrschenden Elite auferlegt werden. Die Kreise, die an einer schnellen wirtschaftlichen Entwicklung interessiert sind, rufen nach umfassenden Wirtschaftsreformen, andere wünschen mehr geistige Freiheit, wieder andere verlangen größere Autonomie für die nichtrussische Hälfte der sowjetischen Bevölkerung. Die jüngsten osteuropäischen Erfahrungen haben gezeigt, daß sich sozio-ökonomische Reformen nicht lange auf ein bestimmtes Gebiet eingrenzen lassen; läßt man Wirtschaftsrefor men zu, so öffnet man gefährlich die Tür fü Reformen in anderen Sphären.

Aber die Türen überhaupt nicht zu öffnen, ha auch seine Gefahren. Eine Stagnation in de sowjetischen Wirtschaft würde sich bedenk lieh auf das Verhältnis zwischen der Sowjet union und den Vereinigten Staaten auswirken Nimmt man für die USA eine Wachstumsrat von 3 bis 5 Prozent an, so wird sich das ameri kanische Bruttosozialprodukt im Jahre 198; auf rund 1500 Milliarden Dollar belaufen; da: sowjetische wird selbst bei einer Wachstums rate von 5 Prozent nur etwa 800 Milliarde! betragen, und die Differenz wird somit in ab soluten Zahlen größer geworden sein. Sollt« die sowjetische Wachstumsrate zurückgehen so wäre der Kontrast noch auffälliger; die Fol gen für die sowjetische Position im Kräftever hältnis wären schwerwiegend.

Daß Reformen notwendig sind, bedeutet jedocl nicht, daß es wirklich zu Reformen kommt. An gesichts der politischen Realitäten in der So wjetunion kann man nicht völlig die Möglich keit ausschließen, daß das sowjetische politi sehe System, statt sich zu einer gemäßigterer Einstellung hin zu entwickeln, in die Hände einer dogmatischeren, chauvinistischen Führung übergeht, die sich auf ein Bündnis zwischen Agitprop, einigen Partei-Apparatschiki und dem Militär stützt. Auch das würde eine polarisierende Wirkung auf die weltpolitische Szene haben.

Einen weiteren Unsicherheitsfaktor hinsichtlich der künftigen sowjetischen Orientierung bringt China ins Spiel. Ein vollständiger Bruch zwischen China und der Sowjetunion — ganz zu schweigen von offenen Feindseligkeiten — könnte die Sowjetführer zwingen, sich mehr um Verständigung mit dem Westen zu bemühen. Ein gemäßigtes China, das auf Avancen aus Washington positiv reagierte, könnte der Sowjetunion ihr Interesse an besseren Ost-West-Beziehungen gleichfalls stärker zu Bewußtsein bringen. Aber außerhalb dieser beiden extremen Positionen tendiert China dazu, die Haltung des Kreml zu versteifen. Maos verbal militantes China übt auf Moskau Druck aus, seine eigene Orthodoxie durch Schaffung der neuen „antiimperialistischen Front" und durch Unterstützung Nordvietnams und Nordkoreas zu beweisen. Ein nach-maoistisches, etwas maßvolleres China könnte die Sowjets stärker verlocken, Verständigung mit Peking zu suchen, was wiederum die sowjetische Haltung gegenüber dem Westen versteifen würde. Und schließlich noch eine Möglichkeit: Käme es in China zu innerer Zersetzung, so könnten die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten jeweils eine der streitenden Parteien begünstigen, wodurch ein weiteres Feld der Konkurrenz zwischen ihnen geschaffen würde.

Auf einigen Gebieten kann es freilich auch zu wachsender Zusammenarbeit kommen. Indien mag, wie schon bemerkt, das eine Beispiel sein. Ein anderes mag die Weltraumforschung werden, nachdem der Mond erreicht ist. Die beiden Länder werden in aller Wahrscheinlichkeit jene Verbindungen weiter ausbauen, die für beide unmittelbaren Nutzen bringen. Es wäre auch möglich, daß Europa, erbittert gegen die beiden „Hegemonien" (ein Gefühl, das durch die amerikanische Passivität angesichts der Invasion in die Tschechoslowakei verschärft worden ist), sich aus dem Kalten Krieg zurückzöge und de facto eine neutrale Zone würde.

All das ist jedoch meilenweit entfernt von wirklicher und positiver internationaler Zusammenarbeit. Es ist unwahrscheinlich, daß die Sowjetunion bald ein Partner der Vereinigten Staaten bei der Schaffung internationaler Stabilität werden wird. Die sowjetische Vermittlung in Taschkent zwischen Indien und Pakistan verfolgte einen ganz spezifischen Zweck, da sich Moskau Sorgen wegen der chinesischen Position machte. Ehe man solche Fälle verallgemeinert und eine grundsätzlich neue Einstellung der Sowjetunion zur Stabilität der Dritten Welt herausliest, sollte man bedenken, wie sie sich in jüngster Zeit im Nahen Osten verhalten hat.

Vorerst bleibt die sowjetische Haltung im wesentlichen bestimmt von taktischen Grundsätzen, die man so formulieren könnte: „Risiken klein halten, Gelegenheiten ausnutzen". Diese Prinzipien fanden Anwendung im Nahen Osten, in Vietnam und sogar beim „Pueblo“ -Zwischenfall. In jedem Fall war die Sowjetunion bestrebt, möglichst große politische Vorteile herauszuschlagen, dabei aber die möglichen Gefahren in Grenzen zu halten. Das sowjetische Interesse an der Reduzierung von Risiken ist an sich ein willkommenes und positives Element; aber man muß ein klares Urteil über den ersten Faktor der Taktik gewinnen, ehe man den zweiten so interpretiert, als offenbare er eine weitgehende Identität der Interessen mit den Vereinigten Staaten.

Offene Konflikte zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion können häufiger werden, wenn einige Länder der Dritten Welt infolge sozialer Zersplitterung, herbeigeführt durch Fehlschläge der Wirtschaftsentwicklung und anhaltende Unfähigkeit der politischen Führung, in Anarchie versinken. Diese düstere Perspektive scheint sich zumindest mehreren Entwicklungsländern zu eröffnen. Sporadische Gewaltausbrüche, verbunden mit der Tatsache, daß auf das Zuerstkommen eine Prämie gesetzt ist, können eine Sogwirkung auf amerikanische und sowjetische Interventionsstreitkräfte ausüben und in den siebziger Jahren zu mehreren Konfrontationen führen, wie es sie bisher noch nicht gegeben hat. Ein „Faschoda" ist mindestens zu erwarten. Die Frage ist natürlich, ob ein amerikanisch-sowjetisches „Faschoda" unter den Bedingungen des neuen nuklearen Gleichgewichts ebenso friedlich ausgehen wird wie das englisch-französische am Ende des 19. Jahrhunderts.

Das Problem ist um so dringlicher, als das nukleare Gleichgewicht wahrscheinlich ein sehr dynamisches bleiben wird. In absehbarer Zeit ist mit dem Zustandekommen eines amerikanisch-sowjetischen Systems der Rüstungskontrolle oder des Rüstungs-„Einfrierens" nicht zu rechnen. Manchmal wird der Gedanke ge-äußert, die Parität werde das vielleicht erleichtern. Das Problem ist jedoch, wie man angesichts unterschiedlicher Bedürfnisse, unterschiedlicher Verpflichtungen, unterschiedlicher Bevölkerungsstrukturen und unterschiedlicher historischer Perspektiven den Begriff „Parität" definieren soll. Man könnte sogar argumentieren, ein künstlich geschaffenes Paritäts-Arrangement erzeuge ein falsches Gefühl berechenbarer Sicherheit und ermuntere damit zum übereilten Eingehen von Risiken.

Beide Mächte werden wohl auch weiterhin der Überzeugung sein, daß es vom Standpunkte des Friedens nützlich ist, den derzeitigen Vorsprung gegenüber anderen nuklearen Aspiranten — wie China — beizubehalten, und das können sie nur, wenn sie bei Fortschritten in ihren eigenen Waffensystemen immer gleichziehen. Da eine förmliche Paritätsvereinbarung unwahrscheinlich ist, wird ferner die Sowjetunion versuchen, das, was noch an strategischer Überlegenheit der USA vorhanden ist, aus der Welt zu schaffen, und dabei wird sie unvermeidlich den Eindruck erwecken, selbst nach Überlegenheit zu streben, was immer auch die tatsächlichen Kalkulationen des Kreml sein mögen. Das wird seinen ideologischen und psychologischen Preis fordern und einen friedlichen Ausgleich widerstreitender Interessen erschweren.

Eine Gemeinschaft der entwickelten Länder zur Friedenssicherung

Wie läßt sich ein internationales System konstruieren, das geeignet ist, diese neuen Gefahren zu vermindern? Das wird die zentrale Frage des kommenden Jahrzehnts sein. Die Aufstellung des neuen Ziels erfordert schöpferische Phantasie und die Fähigkeit, das Denken und die Energien von Völkern zu mobilisieren, die wohl spüren, wohin die Strömung geht, aber nicht imstande sind, die notwendige Reaktion zu definieren. Vergangene Konflikte und gegenwärtiger Argwohn werden diese Aufgabe noch komplizierter machen, als sie ohnehin ist. Auch ist nicht klar, welches das spezifische Ziel sein soll und wer die Führung auf dem Weg dahin übernehmen kann. Europa ist trotz der Reaktionen, welche die sowjetische Besetzung der Tschechoslowakei hervorgerufen hat, in einer Rückzugsstimmung. Die Sowjetunion, den USA feindlicher als zuvor gesinnt und um ihre zerbröckelnde Position in Osteuropa besorgt, wird vielleicht Trost in ihrer wachsenden Militärmacht suchen. Die Vereinigten Staaten, in Asien frustriert, vollauf mit innenpolitischen Problemen beschäftigt und zunehmend außerstande, den Europäern irgend etwas Attraktives zu sagen, mögen aus reiner Trägheit den außenpolitischen Grundsatz vertreten: Das gleiche wie bisher, nur mehr davon. Aber es sollte jetzt klar sein:

Das gleiche wie bisher, nur mehr davon — das genügt einfach nicht mehr.

Die notwendige Antwort müßte in dem Versuch bestehen, eine Gemeinschaft der entwikkelten Länder zu schaffen, bestehend aus den atlantischen Staaten, den fortgeschritteneren europäischen kommunistischen Staaten (einschließlich der Sowjetunion) und Japan. Es müßte nicht — und könnte auch zunächst für sehr lange Zeit nicht — eine homogene Gemeinschaft sein wie die EWG oder die einstmals erhoffte „atlantische Gemeinschaft". Aber wenn man sich bewußt darum bemühte, einige gemeinsame Ziele auf den Gebieten der Entwicklung, der technischen Hilfe und der Ost-West-Sicherheitsfragen zu definieren, so könnte das dazu beitragen, ein Gefühl der gegenseitigen Verflechtung zu schaffen und die Entstehung rudimentärer institutioneller Gebilde zu fördern (zum Beispiel durch formelle Verbindungen zwischen der OECD und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe oder der NATO und dem Warschauer Pakt sowie durch die Schaffung eines informellen politischen Konsultativorgans).

Fortschritte in dieser Richtung hätten die bedeutsame Wirkung, beizutragen zur Beendigung des Bürgerkrieges zwischen den entwikB kelten Nationen, der in den letzten hundertfünfzig Jahren die internationale Politik beherrscht hat. Die nationalistischen und ideologischen Streitigkeiten zwischen diesen Nationen haben mit den wirklichen Problemen der Menschheit immer weniger zu tun, aber ihre Fortdauer verhindert eine konstruktive Antwort auf die menschlichen Dilemmata, die sowohl die demokratischen als auch die kommunistischen Staaten mehr und mehr als die Hauptprobleme unserer Zeit erkennen. Das Fehlen eines einigenden Prozesses der Verflechtung hat alte Streitigkeiten am Leben erhalten und die Ziele der Staatskunst verwischt.

Eine realistische Antwort auf die Herausforderung der Gegenwart

Eine solche Gemeinschaft zu fordern und ihre Schaffung als die Aufgabe des nächsten Jahrzehnts zu bezeichnen, ist kein Utopismus. Unter dem Druck der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Gegebenheiten bewegt sich die Menschheit stetig fort zu immer umfassenderer Zusammenarbeit. Trotz periodischer Rückschläge zeigt die ganze Menschheitsgeschichte eindeutig, daß der Fortschritt in diese Richtung geht. Die Frage ist, ob eine spontane Bewegung genügen wird, die schon genannten Gefahren abzuwehren. Und da die Antwort wahrscheinlich „nein" lautet, folgt daraus, daß Bemühungen, den Prozeß der internationalen Zusammenarbeit unter den fortgeschrittenen Nationen zu beschleunigen, notwendig sind und eine realistische Antwort auf die Herausforderung der Gegenwart darstellen.

Die Bewegung zu der größeren Gemeinschaft hin wird zwangsläufig allmählich vor sich gehen, und sie wird homogenere Verhältnisse innerhalb des größeren Gebildes nicht ausschließen. Die osteuropäischen Länder zusammen mit der Sowjetunion, die OECD-Länder und erst recht die EWG-Länder werden noch lange Zeit engere Verbindungen untereinander pflegen. Die Sowjetunion ist in konservativer Stimmung und wird vermutlich zunächst nicht positiv reagieren. Es kommt jedoch darauf an, eine umfassendere Struktur zu entwickeln, die die bisherigen Strukturen in verschiedenen regionalen oder funktionalen Formen der Zusammenarbeit miteinander verbindet. Eine solche Struktur würde die grundlegende Realität der nuklearen Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nicht aus der Welt schaffen; sie bliebe die Achse des Machtgefüges der Welt. Aber eingebettet in das umfassendere kooperative System, könnten die amerikanisch-sowjetischen Konflikte einen Charakter gewinnen, der eher an die englisch-französische Kolonialkonkurrenz des späten 19. Jahrhunderts erinnern würde: „Faschoda" hat die entstehende europäische Entente nicht beeinträchtigt.

Was die Sowjetunion wahrscheinlich zum Anschluß an ein solches größeres Gefüge bewegen wird, ist erstens die Anziehungskraft des Westens auf die Osteuropäer, denen sie folgen muß, um sie nicht ganz zu verlieren, und zweitens ihr eigenes Bedürfnis, stärker an der technischen und wissenschaftlichen Revolution mitzuarbeiten. Daß die Osteuropäer sich näher auf Westeuropa zubewegen werden, ist sicher. Die jüngsten Ereignisse in der Tschechoslowakei sind nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen wird; die sowjetische Macht kann den Prozeß nur verlangsamen, aber nicht aufhalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann einzelne kommunistische Staaten an die Türen der EWG und der OECD klopfen werden; daher könnten umfassendere Ost-West-Arrangements selbst für Moskau ein Mittel zur Aufrechterhaltung wirksamer Verbindungen mit den osteuropäischen Hauptstädten werden. Und schließlich könnte auch die von China ausgehende Drohung den wünschenswerten Effekt haben, die sowjetischen Führer zu einer weniger doktrinären Betrachtungsweise zu veranlassen.

Sehr wichtig ist auch die Erwägung, daß bei einer umfassenden Gemeinschaft der entwikkelten Länder, die eine Vielfalt von Beziehun-gen zwischen den verschiedenen Mächten und Unter-Gemeinschaften (wie EWG und Comecon) einschlösse, der Anschein vermieden würde, es handle sich um ein zweiseitiges Geschäft zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Die meisten Europäer, im Osten wie im Westen, würden sich an einem solchen „Kuhhandel" stoßen und gegen ihn arbeiten. Zudem ist es auch unwahrscheinlich, daß die Sowjetunion zu einem direkten Arrangement mit den Vereinigten Staaten verführt werden könnte, solange sie sich schwächer und ärmer als diese fühlt. Für eine Sowjetunion wiederum, die gegenüber den Vereinigten Staaten erstarkte, hätte ein derartiges Arrangement weniger Verlockendes, und auch die Haltung der USA könnte ambivalenter werden.

Die Definition des umfassenderen Ziels hätte auch andere vorteilhafte Wirkungen. Es ist anzunehmen, daß die Sowjetunion zunächst zögernd oder sogar feindselig reagieren würde. Ein Annäherungsversuch auf bilateraler Basis, wie er von vielen Kritikern der amerikanischen Politik befürwortet wird, könnte sich daher schnell als Fehlschlag erweisen, und die Folge wäre vermutlich eine erhöhte Spannung. Bemühungen um Schaffung einer größeren kooperativen Gemeinschaft hätten den Vorteil, daß sie nicht eingestellt zu werden brauchten, wenn Moskau zunächst noch Zurückhaltung übte; auch könnten sie nicht so leicht von den Sowjets zur Verewigung des Kalten Krieges ausgenutzt werden. Im Gegenteil: Für die Sowjetunion hätte Abseitsstehen nur kostspielige Isolierung zur Folge. 1985 wird das kombinierte Bruttosozialprodukt der Vereinigten Staaten, Westeuropas und Japans rund drei Billionen Dollar betragen, das heißt viermal soviel wie das der Sowjetunion (wenn man für diese eine günstige Wachstumsrate zugrunde legt). Nimmt man noch hinzu, daß mehrere osteuropäische Staaten allmählich ihre Zusammenarbeit mit der EWG und der OECD verstärken, so wird deutlich, daß die Sowjetunion nur mit großem Schaden für ihre eigene Entwicklung und Weltstellung abseits bleiben könnte.

Die USA als Wegbereiter

Die Initiative und der Anstoß für ein so groß-angelegtes Unternehmen muß zu einem großen Teil von den Vereinigten Staaten ausgehen. Wenn eine konstruktive amerikanische Initiative ausbliebe, so würde das angesichts der alten Spaltungen in der fortgeschrittenen Welt und der Schwächen und des Provinzialismus der Entwicklungsländer bestenfalls bedeuten, daß das gegenwärtige Treibenlassen in der Weltpolitik unbegrenzt weiterginge. Das Treibenlassen würde sicherlich nicht aufhören, wenn die Vereinigten Staaten den Weg einschlügen, den zu empfehlen heutzutage große Mode ist: den Weg des Disengagements. Selbst angenommen, Amerika könnte das trotz des Gewichts und der Stoßkraft seiner Macht tun, so liegt dennoch etwas seltsam Altmodisches in der wortreichen Verurteilung der globalen Verflechtung der USA, besonders wenn sie von Europäern kommt, die sich in der erfolgreichen Wahrung des Weltfriedens nicht gerade hervorgetan haben. Außerdem können selbst die brillantesten, wenn auch einseitigen Anklageschriften gegen die amerikanische Politik, zum Beispiel Stanley Hoffmans Gulliver's Troubles (1968), nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, daß die Vereinigten Staaten trotz ihrer angeblich so langen Liste von Fehlern und Fehleinschätzungen irgendwie die einzige Macht geworden sind, die in globalen Begriffen denkt und sich aktiv um konstruktive weltweite Regelungen bemüht. In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, daß Initiativen wie der Teststoppvertrag oder der Atomsperrvertrag auf den Widerstand von Regierungen stießen, die einige Kritiker der globalen Verflechtung gewöhnlich loben. Daß die Vereinigten Staaten jetzt internationale Politik in globalem Maßstab betreiben müssen, ist von der Geschichte so entschieden worden; dies kann nicht rückgängig gemacht werden. Es bleibt nur die Frage, in welchen Formen und mit welchen Zielen das geschehen soll.

Die Vereinigten Staaten — das ist eine ihrer wichtigen Aufgaben bei der Schaffung der neuen Struktur — müssen helfen, die Sowjetunion von der Nutzlosigkeit ihrer Strategie des Konflikts in der internationalen Politik zu überzeugen. Die Sowjetführer müssen lernen, daß sie auf lange Sicht den Interessen der Sowjetunion nicht dienen, wenn sie sich auf den Wiederaufbau einer „antiimperialistischen kommunistischen Gemeinschaft" konzentrieren (der ohnehin mit den gegenwärtigen Trends in Osteuropa nicht vereinbar ist) oder wenn sie sich weitgehend auf die Entwicklung ihrer militärischen Stärke verlassen. Das bedeutet: Während der Schaffung eines umfassenderen Systems, von dem sich die Sowjetunion nur zu ihrem eigenen Nachteil fernhalten könnte, und bis zum Abschluß eines praktikablen Abkommens über Rüstungskontrolle werden die Vereinigten Staaten bemüht bleiben müssen, erstens eine, wie man es nennen könnte, asymmetrische Zweideutigkeit im nuklearen Verhältnis aufrechtzuerhalten, daß heißt einen qualitativen Vorsprung im Hinblick auf schußbereite Waffen (wenn auch nicht mehr eine klar berechenbare höhere Überlebenschance), und zweitens neue Waffensysteme zu entwikkeln, damit die Sowjetführer nicht in Versuchung geraten, auf Grund des neuen Gleichgewichts kalkulierte Risiken einzugehen.

Das Bemühen, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu fördern und die Feindseligkeit zu verringern, verlangt ein sorgfältig nuanciertes Gleichgewicht zwischen freundlicher Werbung und Anwendung des Grundsatzes „Wie du mir, so ich dir". Das letztere — dies muß ganz deutlich gesagt werden — ist eine notwendige Komponente. Sonst würde nämlich abweisendes Verhalten belohnt und die Stellung der dogmatischeren Elemente in der Sowjetführung gestärkt, die den Standpunkt vertreten, eine einseitige Politik verursache keine oder nur geringe Kosten. Dieses „Wie du mir, so ich dir" muß sehr genau dosiert werden, damit es erzieherisch, aber nicht eskalierend wirkt. Die erzieherischste Form besteht darin, möglichst genau die Handlungsweise nachzuahmen, auf die man reagieren will, sei es eine willkürliche, einseitige Annullierung eines vereinbarten Austauschs, sei es ein Mißbrauch diplomatischer Privilegien. Aber selbst dann sollten solche notwendigen Schritte nicht im Geiste des Kalten Krieges unternommen werden, sondern als bedauerliche Reaktionen auf einseitige Aktionen.

Schließlich werden hartnäckige Anstrengungen notwendig sein, um das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu „entdämonisieren". Seit den fünfziger Jahren sind auf beiden Seiten große Fortschritte gemacht worden, aber noch immer herrscht starkes Mißtrauen. Es wäre sowohl symbolisch wie praktisch von Nutzen, neben den regelmäßigen Treffen mit befreundeten oder verbündeten Regierungen alljährlich ein zweitägiges informelles Diskussionstreffen zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Regierungsoberhaupt abzuhalten. Das Treffen brauchte nicht immer eine formelle Tagesordnung zu haben und sollte nicht mit einem offiziellen Staatsbesuch verbunden sein. Es wäre vielmehr am besten, wenn es an Orten mit möglichst wenig Publizität und Trara statt-fände: das eine Jahr in Alaska, das andere im sowjetischen Fernen Osten usw. Sein Zweck wäre es, den Regierungschefs der beiden benachbarten führenden Nuklearmächte regelmäßig Gelegenheit zum Meinungsaustausch und zur Aufrechterhaltung des persönlichen Kontakts zu geben. Wenn es regelmäßig statt-fände — auch in Zeiten, wo die beiden Mächte in einer wichtigen Frage verschiedener Meinung sind —, würde es verhindern, daß falsche Erwartungen und falsche Eindrücke verallgemeinert werden (wie zum Beispiel der Anschein allzu großen Eifers, den Präsident Johnson im August 1968 erweckte), und vielleicht würde es allmählich ein Bewußtsein gegenseitiger Verpflechtung in die Weltpolitik erzeugen und ein neues, reiferes Verhältnis zwischen den beiden Hauptmächten der Welt herbeiführen.

Politik jenseits überholter Doktrine

Wir leben in einer Zeit, da sich ein globales Bewußtsein herausbildet. Dieses Bewußtsein, noch zaghaft und unsicher, gerät unvermeidlich in Konflikt mit Denkweisen, die von den letzten hundertfünfzig Jahren voller nationaler und ideologischer Auseinandersetzungen geprägt worden sind. Die nationale Politik der ersten globalen Macht muß mit dieser Tendenz zu einem universellen Bewußtsein in Einklang stehen. Sie muß die Tatsache widerspiegeln, daß es für die Menschheit entscheidend notwendig ist, Konflikte zu beenden, deren historische Wurzeln und Ziele einer anderen Ära angehören. Deshalb ist es Sache der Vereinigten Staaten — gleichgültig, wie die Sowjetunion zunächst reagieren mag —, über Doktrinen hinauszugehen, die den Stempel der bi: herigen Konfrontation tragen, und nach un fassenderen Lösungen, ehrgeizigeren Ziele zu streben als jenen, die die amerikanisch Außenpolitik in den letzten zwanzig Jahre, beherrscht haben. Auch auf kürzere Sicht wär das eine gute Taktik. Die meisten Europäe (und die Japaner) würden einen großangeleg ten Versuch zur Schaffung einer neuen Struk tur begrüßen, und das wäre schon für sich ge nommen ein Schritt vorwärts zur Bildung eine neuen Kerns für die internationale Politik. Au! lange Sicht ist es die zwingend gebotene Strategie des Friedens im Zeitalter der sich überschneidenden totalen Macht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Konfrontation der englischen und französischen Kolonialstreitkräfte im Jahre 1898, wobei die Franzosen schließlich klein beigaben.

Weitere Inhalte

Zbigniew K. Brzezinski, Direktor des Research Institute on Communist Affairs und Professor für Public Law and Government der Columbia-Universität; geb. 28. März 1928 in Warschau. Veröffentlichungen u. a.: The Soviet Bloc — Unity and Conflict, Cambridge, Mass. 1960 (deutsch: Der Sowjetblock — Einheit und Konflikt, Köln 1962), Ideology and Power in Soviet Politics; Africa and the Communist World, Cambridge, Mass. 1964; Political Power USA —USSR, New York 1964 (deutsch: Politische Macht Washington — Moskau, Köln 1966).