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„Reale Utopien" als politische Integrationsfaktoren in der Bundesrepublik | APuZ 9/1969 | bpb.de

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APuZ 9/1969 Das Berlin-Problem — Rückblick und Gegenwart „Reale Utopien" als politische Integrationsfaktoren in der Bundesrepublik

„Reale Utopien" als politische Integrationsfaktoren in der Bundesrepublik

Helmuth Pütz

Zwei Thesen sollen hier aufgestellt und begründet werden: Jede in einem Staat organisierte Gesellschaft braucht zu ihrer sozialen Integration und politischen Orientierung „reale Utopien", d. h. kreative, die politische Anteilnahme fördernde Visionen. Streben nach materiellem Wohlstand kann einer Gesellschaft nur für eine befristete Zeit als Zielvorstellung genügen. Der zu Wohlstand gelangten Gesellschaft der Bundesrepublik fehlen ebenso wie den meisten anderen Gesellschaften der westlichen Welt „reale Utopien". Dieser Mangel bewirkt die geistige und politische Unsicherheit der Bevölkerung und der Politiker in der Bundesrepublik.

1. Die Begriffssubstanz der „realen Utopie'

Seit Thomas Morus’ „Utopia" ist der Begriff Utopie negativ besetzt. Vorwiegend wird darunter im sozialen Bereich ein irreales, welt-und wirklichkeitsfremdes, unerfüllbares Wunschbild von einem idealen Gesellschaftszustand verstanden 1). Zwar kann dem Buch von Morus nicht eindeutig entnommen werden, ob der Autor selbst seine Vorstellungen von der Gesellschaft als unerfüllbar und wirklichkeitsfremd angesehen hat, doch ergibt sich aus „Utopia" schlüssig ein realer Bezug der Kritik zu den sozialen Zuständen in England, verbunden mit damals (1516) weitverbreitetem antik-humanistischem, christlichem Gedankengut. Erörterungen über einen diesseitigen oder jenseitigen möglichst idealen Gesellschaftszustand können aber generell nicht mit dem abfälligen Begriff „utopisch" abgetan werden; denn ein gleichermaßen abwertendes Urteil müßte dann auch die marxistischen und christlichen Utopien treffen 2).

Der Begriff „Utopie" wird in der Hauptsache mit zwei Bedeutungsinhalten verbunden: Einmal kann die soziale Utopie jedes realen Bezugs ermangeln und eine irreale Wunschvorstellung vom Idealzustand der Gesellschaft sein, zweitens kann die Utopie als ein Entwurf von jenen Sozialzuständen gedacht werden, die durch zielbewußte politische Aktivität erst herbeigeführt werden sollen. In diesem Sinne wird als Utopie also nicht das Traumbild einer unwirklichen Welt verstanden, sondern eine gedankliche Antizipation der Zukunft, die jeder zielorientierten Handlung vorausgeht

Picht bezeichnet die Utopie in diesem Sinnzusammenhang als „aufgeklärte Utopie" um auszudrücken, daß diese moderne Form der Utopie ein zwar noch nicht realisierter, aber potentiell realisierbarer vernunftbestimmter Entwurf ist.

Auch bei Dirks nimmt der Utopiebegriff eine realitätsbezogene Bedeutung an. Ein Zukunftsentwurf ist zwar noch Utopie, weil er noch „keinen Ort" (ou topos), das heißt keine Stelle der Realisierung gefunden hat. Andererseits wird eine derartige Utopie als real gekennzeichnet, weil sie als reale Veränderung des Bestehenden gedacht und gewollt ist.

Der Staat Israel beispielsweise war bis zu seiner Gründung eine solche „reale Utopie", die in der Vorstellung und Zielsetzung vorhanden, aber noch nicht realisiert worden war. Auch die kreative Vision des Weltfriedens ist eine „reale Utopie", die noch „keinen Ort hat", aber als reale Veränderung der Wirklichkeit gedacht und gewollt ist. Nicht realisierte „reale Utopien" sind ferner z. B. Johnsons „Great Society" und Ludwig Erhards „Deutsches Gemeinschaftswerk".

2. Utopie, Prognose, Planung

Der Weg, der von der „unrealen Utopie" zur Realisierung eines Zukunftsentwurfs führt, geht über einige wichtige Zwischenstufen: Problemanalyse, Prognose und Planung. Am Beginn dieses Weges steht eine Art Zukunftszielbewußtsein, das über Zukunftsforschung und -projektion zur Zukunftsgestaltung führt. Die „reale Utopie" geht zunächst von vagen sozialen und politischen Zielvorstellungen aus, wird immer dann mehr konkretisiert und stellt schließlich eine Skizze von Möglichkeiten für jenen Status dar, der durch zielorientiertes Handeln verwirklicht werden kann.

Um diesen Status realisieren zu können, wird der Ist-Zustand einer Gesellschaft, das heißt der Zustand ihrer politischen, sozialen, kulturellen und technischen Wirklichkeit analysiert. Die Analyse bietet Anhaltspunkte und Daten, die es ermöglichen, dem Soll-Zustand der „realen Utopie" schärfere Konturen zu geben. Der Diagnose des Ist-Zustandes von Gesellschaft und Politik schließt sich die Zukunftsprognose an. Die wissenschaftliche Prognose ist keine ungesicherte Voraussage, sondern eine Vorauserkenntnis, die aufgrund der in der Analyse erarbeiteten Daten, Trends und Wahrscheinlichkeiten gewonnen wird.

Die Planung stellt ein ausgearbeitetes Konzept von Direktiven und Wegen zur Realisierung der „realen Utopie" dar. Dabei werden Alternativ-Lösungen dargestellt, gewertet und in Rangskalen gebracht. Für einzelne Lösungsvorschläge werden die erforderlichen Mittel errechnet und die aus der Realisierung erwachsenden Folgen dargestellt

Planung, insbesondere Wirtschaftsplanung, war in der Bundesrepublik Deutschland über viele Jahre schlecht angesehen. Heute hat sich bei vielen Politikern die Einsicht durchgesetzt, daß Planung auf der Basis allen verfügbaren relevanten Wissens als gesellschaftspolitisches ist. Instrument wertfrei

Planung kann allerdings nicht im Singular gesehen werden, wie das in totalitären Regimen immer der Fall ist. Pläne und Planungen verschiedener Art müssen in der demokratisch pluralistischen Gesellschaftsordnung miteinander konkurrieren können und auf eine Vielzahl von zukünftigen Möglichkeiten, auf den „Plural von Zukunft" ausgerichtet sein. Zahlreiche und vielzielige Planungen können miteinander im Wettbewerb liegen und „Zukünfte" sind denkbar, also Zukunftsvorstellungen mannigfaltiger Art. Ein Ausschließlichkeitsanspruch, wie ihn auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) für sein Bild von Staat und Gesellschaft in der Zukunft postuliert, ist antiwissenschaftlich und antidemokratisch.

3. Der Bedarf an Zukunftsprojektionen und ihre Notwendigkeit

Besonders bei der älteren Generation ist die fatalistische Auffassung verbreitet, daß zukünftige Ereignisse und Entwicklungen nicht prognostiziert und gesteuert werden könnten. Demgegenüber setzt sich immer stärker die. Einsicht durch, daß Zukunftsentwicklungen in erheblichem Maße beeinflußt werden können. Die in verantwortliche Positionen nachrük-kende mittlere und jüngere Generation in allen Parteien weiß, daß die Weichen für langfristige politische und soziale Entwicklungen und Fehlentwicklungen heute gestellt werden.

Die Exploration von Zukunftsperspektiven und die Erarbeitung von Konzeptionen zur Ausgestaltung von „realen Utopien" sind eine eminent politische Aufgabe, wenn die Politiker nicht planlos und unvorbereitet zukünftigen sozialen und politischen Wandlungen gegenübertreten wollen. Strukturelle Wandlungen, die sich in der Gegenwart anbahnen und in der Zukunft Auswirkungen zeigen, müssen von den Politikern rechtzeitig erkannt und durch vorbeugende Maßnahmen erfaßt werden.

Mit diesem Postulat ist eine eindeutige Absage an überwiegend reaktives Handeln der Politiker ausgesprochen. In der Aufbauphase existierten in der Bundesrepublik Deutschland echte „reale Utopien" in Form von weitsichtigen politischen Zielprojektionen. Solche Ziel-B Vorstellungen, die durch Adenauer und Erhardverkörpert wurden, waren z. B. europäische Intergration, Widerstand gegen die damals drohende kommunistische Expansion, atlantische Partnerschaft mit geminderter deutscher Souveränität und soziale Marktwirtschaft. Auf der politischen Gegenseite war beispielsweise die Forderung nach Sozialisierung der Industrie, verfochten von Kurt Schumacher, eine „reale Utopie", die die politische Phantasie der Bundesbürger anregte.

Seit Ende der fünfziger Jahre ist keine „zün-i dende" politische Idee von den Politikern entwickelt worden, die als Integrationsfaktor für einen großen Teil der Gesellschaft in der Bundesrepublik hätte dienen können. Aus diesem Zustand erwächst zu einem beträchtlichen Teil das Desinteresse der Bürger, insbesondere der Jugend und hier vorwiegend der Studenten an der ideenarmen Politik in der Bundesrepublik. Es fehlen soziale Leitbilder, politische Ideen, zukunftsorientierte „reale Utopien", die dem Bürger das Gefühl geben, daß technologischer, sozialer und politischer Fortschritt nicht richtungsblind, sondern an langfristigen Leitbildern orientiert ist. Hierzu ist experimentelles Denken und, wie Robert Jungk gefordert hat, die Ausarbeitung von Modellen notwendig, in denen sich die Wünsche der heutigen Generationen mit neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten vereinen, um Leitbilder für die kommende Zeit zu finden. Der technologischen Rationalisierung mit ihrer begeisterungslosen Nüchternheit müssen für den sozialen und politischen Bereich kreative Visionen an die Seite gestellt werden. Das ist eine mögliche Form der sozialen und politischenlntegration der Gesell-schäft in der Bundesrepublik, an der auch die Jugend beteiligt werden kann

Politischer Pragmatismus ist für unser demokratisch-pluralistisches Gesellschaftsund Regierungssystem eine nicht zu unterschätzende Tugend, wenn sich die Politiker bewußt bleiben, daß politischer Pragmatismus allein und überwiegend reaktives Handeln den Bürger das Interesse an der Politik verlieren lassen. Bertrand de Jouvenel hat zu Recht darauf hingewiesen daß es von geistiger Immobilität zeuge, wenn Politiker auf die Dringlichkeit von politischen Aufgaben warten, wenn also ein Problem erst dann auf die Tagesordnung der politischen Aktion gesetzt wird, wenn es sich nicht länger hinausschieben läßt. Für die politische Führung herrscht in diesem Fall „Zugzwang", das heißt, die Politiker haben keine ausreichende Wahl mehr, und ihre Entscheidungsfreiheit ist eingeengt. Statt dessen ist es erforderlich, daß die Politiker sich herausbildende Veränderungen rechtzeitig zur Kenntnis nehmen, solange diese noch formbar sind. Ohne prävisioneile Aktivität — so de Jouvenel — gibt es keine politische Entscheidungsfreiheit.

Die Richtigkeit von de Jouvenels Forderung kann nicht besser belegt werden als mit dem reaktiven Handeln der Politiker in den Fragen der Hochschul-und Bildungsreform sowie bei den Studentenunruhen in der Bundesrepublik. Hier sind die Politiker zum „Zugzwang" gedrängt worden, da sie die Dringlichkeit eines Problemkataiogs solange negierten, bis er gebieterisch zwingende Form angenommen hatte.

4. Die Bedeutung der Zukunftsforschung wächst

Das Wissenschaftsgebiet der Zukunftsforschung ist bemüht, bei der Analyse, Prognose und Planung von Zukunftsproblemen mit Hilfe eines wissenschaftlichen Instrumentariums Forschungsergebnisse vorzulegen, die den Politikern als Entscheidungshilfe dienen können Es kann nicht als „Modetorheit" ab-getan werden, daß die Beschäftigung mit verschiedenen Aspekten der Zukunftsprognosen und -planung überall in der Welt sprunghaft zugenommen hat. Die Arbeiten einer steigenden Zahl von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen auf dem Gebiet der Zukunftsforschung zeigt, daß in dem Bereich, der durch die Stichworte „reale Utopie", Prognose, Planung und Programmierung umschrieben werden kann, ein wachsender Bedarf vorhanden ist. Nicht alle oder auch nur die wichtigsten Institutionen, die sich mit „realen Utopien", Prognosen und Zukunftsplanung beschäftigen, können hier genannt werden Das Interesse an Zukunftsforschung und ihren Ergebnissen ist jedenfalls weltweit und umfaßt Forschungsprojekte und -institute in den USA, in der Sowjetunion, in den osteuropäischen Staaten (hier besonders Tschechoslowakei, Polen und DDR), im westeuropäischen Raum und in der letzten Zeit in verstärktem Maße auch in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Idee, Europa zu einem Kristallisationszentrum der Zukunftsforschung zu machen, ist vom Europarat in Straßburg aufgegriffen worden. Auf seine Initiative hin tagte im Januar 1968 zum ersten Male eine „Table Ronde 2000" oder „Horizont 2000" genannte Expertenkom-mission für Fragen der Zukunftsprognose und Zukunftsplanung.

Im Kreis der mit Zukunftsproblemen beschäftigten Wissenschaftler haben zwar die naturwissenschaftlichen Fachleute aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden erprobten Methoden und ihrer Möglichkeiten, Prognosen mathematisch und experimentell besser absichern zu können, festeren Grund unter den. Füßen als Geistes-und Sozialwissenschaftler. Doch ist die Notwendigkeit, „reale Utopien", Prognosen und Zukunftsplanungen zu erarbeiten, für keinen der technologisch, wirtschaftlich, kulturell, sozial und politisch relevanten Wissenschaftszweige bestritten. Koo-peration der verschiedenen Disziplinen in der Zukunftsforschung ist wegen des interdisziplinären Charakters der zu lösenden Probleme und zur Erhaltung und Förderung eines Methodenpluralismus in der Zukunftsforschung erforderlich.

5. Methoden und Prozedur der Problemanalyse und Zukunftsplanung

Es gibt heute weder ein einheitliches Wissensgebiet „Zukunftsforschung" noch eine einheitliche Methode. Bei der Vielfalt und Breite der zu erforschenden Zukunftsprobleme ist Einheitlichkeit für beide unrealisierbar. Unverzichtbar ist jedoch für eine objektive und fachlich begründete technologische, ökonomische, soziologische und politologische Prävision sowie für ökonomische und politische Entscheidungsfindung das zu gegenseitiger Information führende Gespräch zwischen den Fachbereichen, sowohl auf der wissenschaftlichen als auch auf der politischen Ebene wie auch zwischen ihnen.

Am Anfang des Weges der zukunftorientierten Planung steht die Findung „realer Utopien", die Erarbeitung von Ideen und Konzepten, die irgendwann, irgendwie und irgendwo realisiert werden sollen. Um diesen Utopien schärfere Konturen geben zu können, muß in die Skala der Utopien Ordnung gebracht werden, das heißt, es müssen Prioritäten gesetzt werden.

Als weiterer Schritt folgt eine möglichst umfassende Informationssammlung und -Programmierung, die das Datenmaterial und dessen Verarbeitung für die Systemanalyse (Ist-Analyse) ergibt. Orientierungs-und Entscheidungshilfen für schnelle und sachgemäße Entscheidungen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik werden durch operationale Entscheidungsprogrammierung gewonnen, die Handlungsalternativen aufzeigt.

Die Verwirklichung der „realen Utopie" erfolgt über eine instrumentelle Planung, die den Ablaufweg der schrittweisen Annäherung an den Zielzustand angibt. Die Alternativlösungen, die zur Erreichung des Ziels der Zukunftsprojektion möglich sind, werden nach Auswahlkriterien in eine Rangfolge gebracht Durch Simulationen dieser Alternativlösungen beispielsweise mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung können die zweckmäßigsten Lösungen des Problems erarbeitet werden.

Der letzte Schritt besteht in der Ausarbeitung von Empfehlungen an die, welche Entscheidungen treffen müssen — in unserem Falle die Politiker.

Die Entscheidungsfreiheit des Politikers muß jederzeit gesichert sein. Die Informationen, die er erhält, müssen verläßlich und nur am Problemgegenstand orientiert sein. Der Politiker muß umfassend über die voraussichtlichen Folgen seiner Entscheidungen unterrichtet werden, bevor er sich für eine der Lösungsalternativen entscheidet.

Mit der Verwirklichung einer „realen Utopie" ist in keinem Fall über eine Zukunftsplanung entschieden, die ein für allemal gültig ist. Soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen erfordern unablässig die Über-prüfung von getroffenen Zukunftsprojektionen, den Entwurf neuer „realer Utopien" unc ihrer Verwirklichungswege.

6. Aktuelle Themen für „reale Utopien"

Die demokratisch-soziale Ordnung in der Bundesrepublik ist kein starres System, sondern mit der Entwicklung der Gesellschaft selbst in Bewegung. „Die Zukunftsaussichten des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik" hängen weitgehend davon ab, ob das Parlament von der Gesellschäft als Repräsentationsgremium angesehen wird oder nicht Der selbstverantwortliche und mitentscheidende Bürger muß das Gefühl haben, daß seine Probleme im Parlament diskutiert, seine Angelegenheiten von der Verwaltung angemessen entschieden werden und sein Recht von den Institutionen der Justiz verteidigt wird. In der Realität hat der Bürger nur selten irgendeine Art von Kommunikation mit dem Parlament.

Vor dem Gestrüpp der Instanzenwege und vor dem Vielerlei der Justiz-und Verwaltungsinstitutionen steht er oft hilflos und ohne Verlrauen im Gefühl der Einflußlosigkeit mächtigen Apparaten gegenüber. Deshalb ist eine „reale Utopie" für eine Parlaments-, Verwaltungs- und Justizreform notwendig, die das Konzept des mündigen Bürgers zu verwirklichen trachtet.

Ein „soziales Vorwarnsystem" müßte entwickelt werden, das die langfristigen Folgen der technischen Entwicklung für das Individuum, die Gesellschaft und die menschliche Umwelt frühzeitig erkennt und Lösungsalternativen anzubieten vermag. Potentielle gesellschaftliche Krisenherde müßten so rechtzeitig aufgezeigt werden, daß Gefahren für den sozialen Frieden und die soziale Gerechtigkeit abgewendet werden können.

Ungelöste Probleme der Infrastruktur sind in der Bundesrepublik seit Kriegsende zu einem ganzen Bündel angewachsen. Jedes dieser Einzelprobleme der Infrastruktur ist einer eigenen „sozialen Utopie" würdig. Langfristige Zielprojektionen fehlen für Fragen der Raum-ordnung, der Stadtsanierung, des Verkehrswesens einschließlich der Verkehrswege, ferner für den Krankenhaus-, Hochschul-und Schulbedarf. Verkehrsmodelle könnten z. B. Aufklärung über zu erwartende Verkehrs-ströme und den Bedarf an verschiedenartigen Verkehrsmitteln im europäischen Raum für das Jahr 1980 und 2000 geben. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die Zukunft unserer Städte unter den Bedingungen der ständig wachsenden Zahl von privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln liegt jetzt noch ohne jede politische Orientierungshilfe und Plan-ziffer im Dunkeln.

Das Problem der Vereinigung oder Nichtvereinigung der Teile Deutschlands wird voraussichtlich bis zum Jahre 2000 auf irgendeine Art gelöst werden. Deutschland-Modelle, in denen alle politischen Möglichkeiten impliziert wären, könnten mehr Klarheit in die Fülle von Lösungsalternativen, bringen und zur Aufstellung einer Prioritätenskala beitragen. Der Film von Rüdiger Allmann „Der Deutsche Bund" kann als Schritt zu einem Modell für eine „reale Utopie" in der deutschen Frage angesehen werden.

In welcher Richtung soll die Integration Europas fortschreiten, und wie soll Europa 1980 aussehen? Europamodelle müßten Alternativen für die Zukunft Europas unter Berücksichtigung potentieller, politischer und ökonomischer Konzepte und Strategien aufzeigen. Die „reale Utopie" von einem politisch ge-einten Europa ist obsolet geworden und trägt zur Frustration der deutschen Jugend bei. „Es fehlen der deutschen Jugend weile politische Perspektiven, die den Einsatz lohnen" Ein geeintes Europa als Mil-Garant des Weltfriedens, als Helfer der Entwicklungsländer und als Schrittmacher der technologischen Zukunft ergibt genug Stoff für reale Europa-Utopien.

Die ungewisse Zukunft des nordatlantischen Bündnisses stellt einen unbefriedigenden Zustand für den politischen und den militärischen Bereich dar. Die NATO als militärisches und politisches Bündnis liegt im Dämmerzustand, weil keine langfristige Konzeption für politische Einsatzmöglichkeiten des Bündnisses existiert. Der militärische Auftrag der Bundeswehr als eines konventionellen Schildes oder atomaren Schwertes ist im Zwielicht. Uber Vergrößerung oder Verminderung der militärischen Anstrengungen gehen die Ansichten der Bündnispartner auseinander. Ein Bündnis, das nicht auf einer konkreten Zielvorstellung begründet ist (eine unmittelbare militärische Bedrohung der Bundesrepublik durch die Sowjetunion ist derzeit nicht wahrscheinlich) und dessen langfristiger Auftrag nicht — entsprechend den gewandelten außenpolitischen Verhältnissen — neu formuliert wird, verliert allmählich seine Existenzberechtigung. Die alte Zielvorstellung der nur-militärischen Defensive Westeuropas muß durch eine politische Zielplanung für das atlantische Bündnis ergänzt werden.

Nur in Ansätzen besteht in der Bundesrepublik die Friedensiorschung. Im öffentlichen Bewußtsein wird die Tatsache, daß die Erkenntnisse der Friedensforschung dazu bei tragen können, Kriege globalen Ausmaße zu verhindern, kaum bemerkt. Systemanaly sen der Kriegsverhinderung, der Rüstungsbe schränkung und Abrüstungsmodelle könnei zu verbreiteten „realen Utopien" führen, di« einer Art Weltbürgerschaft ständig bewuß machen, daß die Friedenserhaltung eines de höchsten politischen Ziele ist und daß für die Lösung dieser Aufgabe konzeptionell gearbei tet werden kann.

7. „Reale Utopien" als politische Handlungsmaßstäbe

Politische Aktivität darf nicht nur kurzfristig, sondern muß auch langfristig orientiert sein.

Den Bürgern müssen politische Zielvorstellungen angeboten werden, damit sie wissen, in welche Richtung der politische Weg gehen soll. Zwar sind die Zukunftserwartungen, -ziele und -ansprüche in der Gegenwartsgesellschaft zumeist recht vage gefaßt, jedoch gehört es zur Führungsaufgabe der Politiker, daß sie Zielprojektionen artikulieren, die dem Bürger als Leitideen für die Zukunft dienen können.

Politische Handlungsmaßstäbe ergeben sich aus den Vorstellungen darüber, wie die Zukunft in einzelnen sozialen und politischen Bereichen gestaltet sein soll. Zukunftserwartungen zielen — das liegt in der Veranlagung des Menschen — auf Verbesserungen. Soziales Unbehagen ist hierbei der Motor fortschrittlicher Zukunftsentwicklung.

Obwohl einsichtig ist, daß Konflikte in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft unvermeidbar sind und ausgetragen werden müssen, zielt menschliches Bestreben doch darauf ab, politische und soziale Disharmonien zu mildern und Spannungen in der Gesellschaft möglichst vor ihrem Entstehen auszuräumen. „Zukunft" kann aber nicht als Ende aller Zeiten angesehen werden, als das Paradies auf Erden, sondern lediglich als eine Kulturstufe, auf der viele der jetzt erkannten sozialen und politischen Mängel zwar behoben wurden, der aber durch inzwischen eingetretene soziale Wandlungen und Verschiebungen neue politisch-soziale Probleme erwachsen sind, die ihrerseits einer Lösung in der Zukunft harren. Die jeweilige Lösung von Sozialproblemen bedeutet nicht Endzustand, sondern ständige politische Aufgabe. Zukunftsprognosen und Zukunftsplanung erfolgen immer auf der Basis von heutigen Wertvorstellungen, die ebenfalls an geänderten Sozialverhältnissen zu überprüfen sind.

„Reale Utopien" und die auf sie ausgerichteten politisch-intentionalen Aktionskriterien bleiben selbst nur für eine gewisse Zeit gültig. Neue „reale Utopien" müssen entwickelt werden, wenn sich herausstellt, daß die Prämissen, auf denen die alten Zukunftsprojektionen beruhten, durch gewandelte Sozialverhältnisse überholt sind.

Allgemeine und umfassende Utopien, wie z. B.

die Ausgestaltung einer humaneren Gesellschaftsordnung, müssen konkretisiert werden durch detaillierte kurz-und mittelfristige „reale Utopien", die Maßstäbe für politische Handlungsweisen setzen. Das Problem des Weltfriedens ist beispielsweise eine umfassende Utopie, die etwa durch die „reale Utopie" der Rüstungsminderung schärfere Konturen erhält.

Die Einsicht, daß die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland eine „dynamische Gesellschaft" ist, um einen Ausdruck Richard F. Behrendts zu benutzen, hat zur Konsequenz, daß diese Dynamik nicht ziellos bleiben darf, sondern von Wissenschaftlern und Politikern durch kreative Visionen im sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich auf Zukunftsaufgaben gerichtet wird, die den Erwartungen der Menschen gerecht werden und die ihnen Handlungsmaßstäbe für ihr politisches und soziales Tun nahelegen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl.: Art. Sozialismus, in: Staat und Politik, Das Fischer-Lexikon, Bd. 2, Neuausgabe, Frankfurt 1964, S. 305; ferner Wilhelm Dultz, Fremdwörterbuch, Frankfurt/M. —Berlin 1965, S. 501

  2. Hierzu beispielsweise: Bernhard Gebauer, Zum Zukunftsbild von Staat und Gesellschaft im Marxismus, in: Material zum Thema Futurologie, Prognostik, Planung, hrsg. von der Politischen Akademie Eichholz und dem Wissenschaftlichen Institut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oktober 1968, S. 15— 17; ferner Albert Baumhauer, Zur christlichen Zukunftsvorstellung, ebenda, S. 17— 22

  3. Vgl. hierzu: Georg Picht, Prognose, Utopie und Planung. Die Situation des Menschen in der Zukunft der technischen Welt, Schriften der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e. V. H. 6, Stuttgart 1967, S. 13 ff.

  4. Ebenda

  5. Vgl. Walter Dirks, Die Zukunft als Tabu, in: Deutschland ohne Konzeption? Modelle für eine neue Welt, hrsg. von Robert Jungk und Hans Josef Mundt, München, Wien, Basel 1964, S. 33— 54

  6. Hierzu auch: Helmuth Pütz, Gegenstand, Methodik und Intention der Futurologie, in: Materialsammlung zum Thema Futurologie, Prognostik, Planung, a. a. O., S. 12— 15

  7. Joseph H. Kaiser, Expose einer pragmatischen Theorie der Planung, in: Planung I, Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft, Baden-Baden 1965, S. 19

  8. Praktische Beispiele hierfür: Informationsbroschüre „Zentrum Berlin für Zukunftsforschung e. V.", Berlin 1968. — Ferner: Robert Jungk im General-Anzeiger, Bonn, 22. /23. Juni 1968, Sonderseite

  9. Dazu: Das studentische Unbehagen an der Entwicklung der Bundesrepublik, in: Schönbohm, Runge, Radunski, Die herausgeforderte Demokratie, Mainz 1968, S. 27 ff.

  10. Vgl. Bertrand Jouvenel, Die Kunst der Voraus-schau, Politica Bd. 34, Neuwied und Berlin 1967, S. 204 ff.

  11. Helmuth Pütz, Wissenschaftliche Beratung als Mittel politischer Entscheidungshilfe, in: Materialsammlung zum Thema Futurologie, Prognostik, Planung, a. a. O., S. 53- 55

  12. Vgl. hierzu: Futurum, Zeitschrift für Zukunfts-rorschung, Bd. I, H. 1, 1968, S. 153— 161

  13. Vgl. Wilhelm Hennis, Wie wollen wir regiert werden? Die Zukunftsaussichten des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik, in: Die Zeit, Nr. 11, 15. 3. 1968, S. 9 f.

  14. Vgl. Manfred E. Ritterbach, Zukunftsaspekte der demokratischen Staatsordnung, in: Materialsammlung zum Thema Futurologie, Prognostik, Planung, a. a. O., S. 23— 27

  15. Vgl. Informationsbroschüre Zentrum Berlin für Zukunftsforschung e. V.", Berlin 1968, S. 15 und 18 f.

  16. Vgl. Ernst Majonica, Geben wir Europas Jugend ein Beispiel, in: DUD, Deutschland-Union-Dienst, Nr. 103, 22. Jahrgang (A), 30. 5. 1968, S. 1

Weitere Inhalte

Helmuth Pütz, Diplom-Politologe, geb. 12. Juni 1940 in Köln, Studium der Politischen Wissenschaft und Neueren Geschichte in München und an der Freien Universität Berlin; Mitarbeiter im Wissenschaftlichen Institut der Konrad-Adenauer-Stiftung (WIKAS); Mitglied des Politischen Beirats des RCDS-BundesVorstands. Veröffentlichungen: „Gegenstand, Methodik und Intention der Futurologie" und „Wissenschaftliche Beratung als Mittel politischer Entscheidungshilfe", in: Materialsammlung zum Thema Futurologie, Prognostik, Planung, hrsg. von der Politischen Akademie Eichholz und dem Wissenschaftlichen Institut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Eichholz 1968; „CDU ohne Konzept?" in: Sonde, Neue Christlich-Demokratische Politik, Nr. 1, Oktober 1968.